Kurzfilmtage 2024 Reader

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70. Internationale Kurzfilmtage

Oberhausen

1.– 6. Mai 2024

Ohnmächtig ist selbst die Tanzkunst sie zu bessern

Heinrich Heine: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum, Caput VII.

70. Internationale Kurzfilmtage

Oberhausen

1. – 6. Mai 2024

3 Inhalt Theodor W. Adorno Resignation 4 Magnus Klaue Objektflucht oder: Irgendwas mit Kunst 12 Christoph Hesse Es war einmal: 1962 18 Christoph Hesse Bohème 2.0: Der Künstler als Aktivist 24 Christoph Hesse/Magnus Klaue Bitte nicht öffnen: Plädoyer für das Postgeheimnis 30 Joseph Vogl Populismus 40 Wettbewerbe 44 Thema 46 Profile 52 Tagung 54 Podien/Workshop 56 Seminar 58 und … 60 Timetable 62 Akkreditierung 63 Channel 64 This is Short 65 Förderer 66 Impressum 72

Theodor W. Adorno Resignation

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Uns älteren Repräsentanten dessen, wofür der Name Frankfurter Schule sich eingebürgert hat, wird neuerdings gern der Vorwurf der Resignation gemacht. Wir hätten zwar Elemente einer kritischen Theorie der Gesellschaft entwickelt, wären aber nicht bereit, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Weder hätten wir Aktionsprogramme gegeben noch gar Aktionen solcher, die durch die kritische Theorie angeregt sich fühlen, unterstützt. Ich sehe ab von der Frage, ob das von theoretischen Denkern, einigermaßen empfindlichen und keineswegs stoßfesten Instrumenten, verlangt werden kann. Die Bestimmung, die ihnen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zugefallen ist, mag fragwürdig, sie selber mögen durch sie deformiert sein. Aber sie sind durch sie auch geformt; gewiß können sie, was sie wurden, nicht aus bloßem Willen abschaffen. Das Moment subjektiver Schwäche, das der Einengung auf Theorie anhaftet, möchte ich nicht verleugnen. Für wichtiger halte ich die objektive Seite. Der Einwand, der leicht abschnurrt, lautet etwa: einer, der an der Möglichkeit eingreifender Veränderung der Gesellschaft zu dieser Stunde zweifelt und der darum weder an spektakulären, gewaltsamen Aktionen teilnimmt noch sie empfiehlt, habe entsagt. Er halte, was ihm vorschwebe, nicht für realisierbar, eigentlich wolle er es nicht einmal realisieren. Indem er die Zustände so lasse, wie sie sind, billige er sie uneingestandenermaßen.

Distanz von Praxis ist allen anrüchig. Beargwöhnt wird, wer nicht fest zupacken, nicht die Hände sich schmutzig machen möchte, als wäre nicht die Abneigung dagegen legitim und erst durchs Privileg entstellt. Das Mißtrauen gegen den der Praxis Mißtrauenden reicht von solchen,

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welche die alte Parole »Genug des Geredes« auf der Gegenseite nachreden, bis zum objektiven Geist der Reklame, die das Bild – das Leitbild nennen sie es – des aktiv tätigen Menschen, sei er Wirtschaftsführer oder Sportsmann, verbreitet. Man soll mitmachen. Wer nur denkt, sich selbst herausnimmt, sei schwach, feige, virtuell ein Verräter. Das feindselige Cliché des Intellektuellen wirkt, ohne daß sie es merkten, tief hinein in die Gruppe jener Oppositionellen, die ihrerseits als Intellektuelle beschimpft werden.

Von denkenden Aktionisten wird geantwortet: zu verändern gelte es, neben anderem, eben den Zustand der Trennung von Theorie und Praxis. Gerade um der Herrschaft der praktischen Leute und des praktischen Ideals ledig zu werden, bedürfe es der Praxis. Nur wird daraus fix ein Denkverbot. Ein Minimales reicht hin, den Widerstand gegen die Repression repressiv gegen die zu wenden, welche, so wenig sie das Selbstsein verherrlichen mögen, doch nicht aufgeben, was sie geworden sind. Die vielberufene Einheit von Theorie und Praxis hat eine Tendenz, in die Vorherrschaft von Praxis überzugehen. Manche Richtungen diffamieren Theorie selber als eine Form von Unterdrückung; wie wenn nicht Praxis mit jener weit unmittelbarer zusammenhinge. Bei Marx war die Lehre von jener Einheit beseelt von der – schon damals nicht realisierten – präsenten Möglichkeit der Aktion. Heute zeichnet eher das Gegenteil sich ab. Man klammert sich an Aktionen um der Unmöglichkeit der Aktion willen. Schon bei Marx allerdings verbirgt sich da eine Wunde. Er mochte die elfte Feuerbachthese so autoritär vortragen, weil er ihrer nicht ganz sicher sich wußte. In seiner Jugend hatte er die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden« gefordert. Nun spottete er über Kritik.

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Aber sein berühmter Witz gegen die Junghegelianer, das Wort »kritische Kritik«, war ein Blindgänger, verpuffte als bloße Tautologie. Der forcierte Vorrang von Praxis stellte die Kritik, die Marx selbst übte, irrational still. In Rußland und in der Orthodoxie anderer Länder wurde der hämische Spott über die kritische Kritik zum Instrument dafür, daß das Bestehende furchtbar sich einrichten konnte. Praxis hieß nur noch: gesteigerte Produktion von Produktionsmitteln; Kritik wurde nicht mehr geduldet außer der, es werde noch nicht genug gearbeitet. So leicht schlägt die Subordination von Theorie unter Praxis um in den Dienst an abermaliger Unterdrückung.

Die repressive Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zu Aktionen beigesellt ist, gründet in Angst. Man muß den ungegängelten Gedanken und muß die Haltung, die ihn nicht sich abmarkten läßt, fürchten, weil man zutiefst weiß, was man sich nicht eingestehen darf: daß der Gedanke recht hat. Ein uralt bürgerlicher Mechanismus, den die Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts gut kannten, läuft erneut, doch unverändert ab: das Leiden an einem negativen Zustand, diesmal an der blockierten Realität, wird zur Wut auf den, welcher ihn ausspricht. Der Gedanke, die ihrer selbst bewußte Aufklärung, droht die Pseudorealität zu entzaubern, in der, nach der Formulierung von Habermas, der Aktionismus sich bewegt. Diesen läßt man nur darum gewähren, weil man ihn als Pseudorealität einschätzt. Ihr ist, als subjektives Verhalten, Pseudo-Aktivität zugeordnet, Tun, das sich überspielt und der eigenen publicity zuliebe anheizt, ohne sich einzugestehen, in welchem Maß es der Ersatzbefriedigung dient, sich zum Selbstzweck erhebt. Eingesperrte möch-

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ten verzweifelt heraus. In solchen Situationen denkt man nicht mehr, oder unter fiktiven Voraussetzungen. In der verabsolutierten Praxis reagiert man nur und darum falsch.

Einen Ausweg könnte einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muß, und die deshalb nicht der Sache weiterhelfen, sondern unweigerlich in Taktik ausarten. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenz zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht. Der Sprung in die Praxis kuriert den Gedanken nicht von der Resignation, solange er bezahlt wird mit dem geheimen Wissen, daß es so doch nicht gehe.

Pseudo-Aktivität ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten. Rationalisiert wird das damit, die kleine Veränderung sei eine Etappe auf dem langen Weg zu der des Ganzen. Das fatale Modell von Pseudo-Aktivität ist das »Do it yourself«, Mach es selber: Tätigkeiten, die, was längst mit den Mitteln der industriellen Produktion besser geleistet werden kann, nur um in den unfreien, in ihrer Spontaneität gelähmten Einzelnen die Zuversicht zu erwecken, auf sie käme es an. Der Unsinn des »Mach es selber« bei der Herstellung materieller Güter, auch bei vielen Reparaturen, liegt auf der Hand. Er ist allerdings nicht total. Bei der Verknappung von sogenannten services, Dienstleistungen, erfüllen zuweilen nach dem technischen Stand überflüssige Maßnahmen,

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die ein Privatmensch durchführt, einen quasi rationalen Zweck. Das »Mach es selbst« in der Politik ist nicht ganz vom selben Schlag. Die Gesellschaft, die undurchdringlich den Menschen gegenübersteht, sind sie doch selbst. Das Vertrauen auf die limitierte Aktion kleiner Gruppen erinnert an die Spontaneität, die unter dem verharschten Ganzen verkümmert und ohne die es nicht zu einem Anderen werden kann. Die verwaltete Welt hat die Tendenz, alle Spontaneität abzuwürgen, nicht zuletzt sie in PseudoAktivitäten zu kanalisieren. Das wenigstens funktioniert nicht so umstandslos, wie die Agenten der verwalteten Welt es sich erhofften. Jedoch Spontaneität ist nicht zu verabsolutieren, so wenig von der objektiven Situation abzuspalten und zu vergötzen wie die verwaltete Welt selber. Sonst schlägt die Axt im Haus, die nie den Zimmermann erspart, die nächste Tür ein, und das Überfallkommando ist zur Stelle. Auch politische Tathandlungen können zu Pseudo-Aktivitäten absinken, zum Theater. Kein Zufall, daß die Ideale unmittelbarer Aktion, selbst die Propaganda der Tat, wiederauferstanden sind, nachdem ehemals progressive Organisationen sich willig integrierten und in allen Ländern der Erde Züge dessen entwickeln, wogegen sie einmal gerichtet waren. Dadurch aber ist die Kritik am Anarchismus nicht hinfällig geworden. Seine Wiederkehr ist die eines Gespensts. Die Ungeduld gegenüber der Theorie, die in ihr sich manifestiert, treibt den Gedanken nicht über sich hinaus. Indem sie ihn vergißt, fällt sie hinter ihn zurück.

Erleichtert wird das dem Einzelnen durch seine Kapitulation vorm Kollektiv, mit dem er sich identifiziert. Ihm wird erspart, seine Ohnmacht zu erkennen; die Wenigen werden sich zu Vielen. Dieser Akt, nicht unbeirrtes Den-

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ken ist resignativ. Keine durchsichtige Beziehung waltet zwischen den Interessen des Ichs und dem Kollektiv, dem es sich überantwortet. Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig werde. Unausdrücklich hat sich ein wenig Kantischer kategorischer Imperativ aufgerichtet: du mußt unterschreiben. Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens. Trügend der Trost, im Zusammenhang kollektiver Aktion werde besser gedacht: Denken, als bloßes Instrument von Aktionen, stumpft ab wie die instrumentelle Vernunft insgesamt. Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives. Wer aber regrediert, hat Freud zufolge sein Triebziel nicht erreicht. Rückbildung ist objektiv Entsagung, auch wenn sie sich für das Gegenteil hält und arglos das Lustprinzip propagiert.

Demgegenüber ist der kompromißlos kritisch Denkende, der weder sein Bewußtsein überschreibt noch zum Handeln sich terrorisieren läßt, in Wahrheit der, welcher nicht abläßt. Denken ist nicht die geistige Reproduktion dessen, was ohnehin ist. Solange es nicht abbricht, hält es die Möglichkeit fest. Sein Unstillbares, der Widerwille dagegen, sich abspeisen zu lassen, verweigert sich der törichten Weisheit von Resignation. In ihm ist das utopische Moment desto stärker, je weniger es – auch das eine Form des Rückfalls – zur Utopie sich vergegenständlicht und dadurch deren Verwirklichung sabotiert. Offenes Denken weist über sich hinaus. Seinerseits ein Verhalten, eine Gestalt von Praxis, ist es der verändernden verwandter als eines, das um der Praxis willen pariert. Eigentlich

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ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden. Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zwecken, noch von irgendwelchen Bataillonen. Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.

(Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft. Prismen. Ohne Leitbild. Eingriffe. Stichworte; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1977, pp. 794-799. Alle Rechte: Suhrkamp Verlag, Berlin.)

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Magnus Klaue Objektflucht oder: Irgendwas mit Kunst

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Öffentlichkeitsarbeiter, Kuratoren, Moderatoren, Kommunikationsdesigner und Public-Relations-Experten, aber auch geistes- und kulturwissenschaftlich ausgebildete Profitexter und Katalogartikelschreiber gehören zu denjenigen Berufsgruppen, die am stärksten von einem Zerfall des ästhetischen Werkbegriffs profitieren, der mit dem, was Theodor W. Adorno als »Ausfransung« der Kunstwerke beschrieben hat, nicht zu verwechseln ist. Unter den Begriff der »Ausfransung« fasst Adorno die der Autonomie der Kunstwerke entspringende immanente Auflösung des Scheins ihrer Eigenständigkeit. Der illusorische Charakter des bürgerlichen Ideals vom autonomen Subjekt, das nichts anderem als der ihm innewohnenden Eigengesetzlichkeit gehorche und in solcher Eigengesetzlichkeit das beispielhafte Gesellschaftswesen sei, das sich mit den anderen, ähnlich konstituierten Subjekten zur Verbindung der freien und gleichen Individuen zusammenschließen könne, trete im Prozess der bürgerlichen Vergesellschaftung umso deutlicher zutage, je stärker sich der ökonomisch vermittelte gesellschaftliche Zusammenhang als ein den Einzelnen fremder gegen sie verselbständige. Ästhetisch reflektiert sich dieser Prozess durch die verstärkte Integration des Werkfremden, Werkfernen, das als heterogenes Material in den Immanenzzusammenhang der Werke eintritt: Collage, Montage und Installation sind in der Epoche der Moderne die bekanntesten Formen, mit denen versucht wird, dieser wachsenden Bedeutung des Heterogenen und zugleich Heteronomen, dem Hineinragen des Subjektfernen ins Subjekt, Geltung zu verschaffen, ohne deshalb den Primat des Werks und seiner Eigengesetzlichkeit preiszugeben.

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Was in der Postmoderne, und speziell in der jüngeren aktivistischen Kunst, die eine ihrer Erscheinungsformen ist, an die Stelle solcher Ausfransung tritt, ist in gewisser Weise deren Gegenteil, das dem von Adorno beschriebenen Phänomen äußerlich zum Verwechseln ähnlich ist, obwohl es ihm opponiert: Statt aus sich selbst heraus, ihrem eigenen Autonomieanspruch folgend, durch Entäußerung ans Werkfremde, Heteronome zu dissoziieren, werden die Werke durch ihnen äußerliche Diskurse, politische Praktiken und Bewusstseinsformen gekapert, besetzt, beredet und so lange traktiert, bis sie aus sich selbst heraus nicht mehr sprechen können. Diese postmoderne Umkehrung des Prinzips der Ausfransung hat der Literaturwissenschaftler George Steiner in seinem 1989 erschienenen Buch »Real Presences« (dt.: »Von realer Gegenwart«, 1990) als Wucherung der »sekundären« und »parasitären« Texte beschrieben, die der Erfahrung des primären Textes, des Werks, ebenso den Garaus bereitet wie der Kunstkritik. Diese nämlich ist, wie Steiner in Anlehnung an die frühromantische Kunstphilosophie festhält, als triftige und in sich stimmige immer zugleich ein primärer, kein sekundärer Text. Kunstkritik bedeutet für Steiner die »schöpferische Verantwortung« gegenüber dem Werk, die sich nur in der Form eines neuen, dem gedeuteten Werk ebenbürtigen Werks manifestieren kann. Die »sekundären Texte« hingegen zehren im Unterschied zur Kunstkritik von den Werken, die sie erläutern, deuten und besprechen, ohne den Werken etwas zurückzugeben, geschweige denn aufgrund der Evidenz ihrer Deutung zu eigenständigen Werken zu werden. Sie legen, wie Steiner es nennt, keine »Rechenschaft« vom Werk ab, weil sie sich gegen die Erfahrung seiner Objektivität sperren. Da

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sie sich jedoch der Objekterfahrung entziehen, schneiden sie auch jede objektadäquate, am Gegenstand gewonnene Erfahrung von Subjektivität ab: Die widersprüchliche Spannung zwischen Objekt und Subjekt ist neutralisiert, und übrig bleiben disparat nebeneinander existierende »Diskurse«, die auf das, wovon sie handeln, nur äußerlich bezogen, aber nicht davon erfüllt sind.

Erst wenn das antagonistische Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem, das ihm widersteht, also seinem Gegenstand, solcherart zerschnitten ist, entsteht, was der akademische Diskurs als »Kontext« und »Kontextualisierung« bezeichnet. Die wichtigsten Servicekräfte für die Dienstleistung der Kontextualisierung sind die anfangs erwähnten Diskurslieferanten: Kuratoren, Texter, Moderatoren. Ihre Aufgabe ist nichts anderes als die Ermöglichung einer koordinierten und kollektiven Objektflucht: Damit niemand mehr auf die Werke antwortet, niemand mehr die Erfahrung der Werke durch spontane und eigengesetzliche Selbstentäußerung an die Werke zurückgibt, muss permanent und präventiv über die Werke gesprochen werden, ehe sie überhaupt wahrgenommen werden können. Am drastischsten zeigt sich das im Bereich der Bildenden Kunst, wo die Texte in den immer schwerer werdenden Ausstellungskatalogen längst mehr Platz einnehmen als die Reproduktionen der Werke, von denen sie handeln. Doch auch in anderen Künsten ist das Syndrom allgegenwärtig: Kaum ein Konzert Neuer Musik, bei dem nicht das Beiheft potentielle Hörer wie prospektive Höhrlehrlinge adressiert, die ohne mitgelieferte Höranleitung gar nicht fähig wären wahrzunehmen, was sie da hören; Schriftsteller ornamentieren – wie neuerdings auch Elfriede Jelinek –

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eigene Werke mit Vor- und Nachworten von auf ihr Werk spezialisierten Akademikern, die es so erklären, wie die Schriftsteller es verstanden wissen wollen; Filmfestivals und Ausstellungen bieten nicht mehr einen Rahmen, der die unreglementierte Erfahrung des Heterogenen organisiert und Zusammenhänge aufzeigt, die ohne den Rahmen nicht erkennbar wären, sondern sie entwerfen ideologisch-politische Leitlinien, Wahrnehmungsimperative, denen das Publikum zu folgen (oder eben wegzubleiben) hat. Statt dass die Werke durch die Art und Weise ihrer Präsentation aufgeschlossen würden, werden sie vom Rahmen, der sie nur umgeben soll, umstellt. Statt dass die Formen der Werkpräsentation und -deutung die Schwelle bilden würden, die den Zugang zu den Werken ermöglicht, aber nicht ersetzt, schafft der gegenwärtige Festival- und Kuratierungsbetrieb um sie herum eine Mauer, mit der das Publikum sich anstelle der Werke beschäftigen soll.

Diese Textmauer, diese Form der Erfahrungsverhinderung, wird dann »Kontextualisierung« genannt. Ein Kontext ist etwas anderes als ein Zusammenhang, tendenziell sogar dessen Gegenteil. Die (historischen, biographischen, gesellschaftlichen) Zusammenhänge, in denen ein Werk steht, erschließen sich aus diesem selbst: Sie sind in es eingewandert, durchwirken es immanent und lassen sich allein in ihm, nicht außerhalb, auffinden. Kontexte hingegen sind dem Werk per definitionem äußerlich; deshalb kann man das Werk in sie hineinstellen, es aus ihnen herauslösen und je nach ideologischem Belieben einen Kontext durch den anderen ersetzen. Kontextualisierung ist Objektvermeidung, und wer den Künstler oder den Deuter um Kontextualisierung bittet, bittet in Wahrheit darum, vom Werk

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weg- und woanders hingeführt zu werden: am besten zur eigenen oder fremden, jedenfalls zur vorgefassten und reproduzierbaren Meinung. Solchen manipulativen Veranstaltungen des Kunstbetriebs, bei denen sich Publikum und Künstler zur Community zusammenschließen, verweigert sich Steiner, indem er das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Kunstbetrachter als eines der Gastlichkeit charakterisiert. Nicht nur der Betrachter muss das Werk aufnehmen wie einen Gast, er ist auch selbst im Werk zu Gast wie ein freundlich aufgenommener Fremder; ja sogar Künstler und Werk stehen zueinander im Verhältnis der Gastlichkeit: lassen sich miteinander ein, ohne je alles voneinander zu wissen, und im Bewusstsein, dass sie nur eine begrenzte Zeit miteinander verbringen werden. Die Aufmerksamkeit des Betrachters gegenüber dem Werk entspricht der Aufmerksamkeit des Gastgebers gegenüber dem Gast, dem er in jeder Nuance gerecht werden will, aber auch der Aufmerksamkeit des Gastes, der erst nach und nach herausfinden muss, was sein Gastgeber für einer ist.

Die Agenturen der sekundären Diskurse, gegen die Steiner sich wendet – die Vertreter der immer prekären, aber notorisch freien Berufe, die alle irgendwas mit Kunst machen, ohne Kunst zu machen –, sind in diesem Sinne Gastlichkeitsverhinderer, die – ähnlich stümperhaft-professionellen Touristenführern – denjenigen, die sie bei der Hand nehmen, jegliche Freude am von ihnen besuchten Ort verderben, statt ihnen die Möglichkeit zu geben, den Ort von sich aus, den eigenen Impulsen, der eigenen Neugier und Erfahrung folgend, und auf selbstgewählten Wegen zu erkunden.

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Christoph Hesse Es war einmal: 1962

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»Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen.« So unbescheiden tönte es einst aus dem Oberhausener Manifest von 1962. Dem Text ist anzumerken, dass er selbst schon 62 Jahre alt ist: nicht nur deshalb, weil sich unter den 26 Filmemachern, die ihn unterzeichnet haben, noch keine einzige Frau findet. Die spröde Diktion klingt befremdlich, der knapp formulierte Anspruch umso vermessener. Der Kontext, wie man heute sagen würde, umfasste nicht nur das internationale Kino jener Zeit – die »neuen Wellen«, die, angetrieben von einer »politique des auteurs«, bereits über den Atlantik nach Lateinamerika und über den Pazifik bald bis nach Hollywood reichten –, sondern auch die Geschichte der Avantgarde. Bezeichnenderweise sind die Manifeste des Surrealismus heute besser bekannt als die Romane Bretons und Aragons, und das nicht einmal zu Unrecht, denn sie können selbst ohne weiteres als Literatur bestehen. Hingegen ist das Oberhausener Manifest dezidiert unpoetisch, an gesellschaftlichen Problemen zeigt es sich ebenso desinteressiert wie an den letzten Fragen der Menschheit. Die Rede ist von nichts als dem eigenen Metier und dabei nicht einmal ausdrücklich von Kunst. Alexander Kluge hatte nicht umsonst auch Kirchenmusik studiert. Die angesagte Tonart war Dur, nicht Moll: »Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.« Voilà.

Alain Resnais und François Truffaut, zu denen junge Filmemacher hierzulande ehrfürchtig aufblickten, hatten 1960 in Paris eine andere Erklärung unterzeichnet. Dieses als »Manifest der 121« in die Geschichte eingegangene Dokument hatte, anders als die beeindruckende Liste der Unterzeichner erwarten lassen könnte, mit Film und

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Kunst nichts zu schaffen. Die »Déclaration sur le droit à l’insoumission dans la guerre d’Algérie«, unterschrieben von Künstlern, Schriftstellern, Philosophen und Intellektuellen aller Couleur, deren Namen mindestens zur Hälfte noch heute in der Welt bekannt sind, war ein Aufruf, den Kriegsdienst zu verweigern, vor allem aber eine wortgewaltige Denunziation des französischen Kolonialismus, dessen letztes großes Gefecht gerade in Algerien tobte. Die Auswirkungen des Krieges waren auch in Frankreich zu spüren, nicht nur an der Rekrutierung junger Männer für die Armee, sondern ebenso an Repressionen gegen all jene, die mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten und sich in dieser Frage gegen den Anspruch der nunmehr Fünften Republik stellten. Die Erklärung wurde sogleich verboten, etliche Unterzeichner aus dem öffentlichen Dienst entlassen und gegen manche sogar Anklage erhoben.

So viel Aufmerksamkeit bekamen die Oberhausener nicht, deren Namen damals noch kaum jemand kannte. Sie mussten sich vorerst mit der Häme der etablierten Filmindustrie begnügen. Geschichte wurde anderswo gemacht. Kaum drei Wochen nach Veröffentlichung ihres Manifests ging der Algerienkrieg mit den Verträgen von Évian zu Ende; ein darin vereinbartes Referendum besiegelte wenige Monate später die Unabhängigkeit des Landes. Ob die »121« diesen Prozess befördert haben, wird man nie erfahren. Schließlich war noch im Oktober 1961, ein Jahr nach ihrem aufsehenerregenden Protest, eine Demonstration in Paris von der Polizei auseinandergetrieben worden, wobei 200 in Frankreich lebende Algerier getötet und anschließend etliche Tausend außer Landes gebracht wurden.

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Von den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests kann man heute immerhin sagen, dass einige von ihnen den Anspruch, »den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen«, auch eingelöst haben.

Ein Manifest ist ein Programm, eine in mehr oder minder revolutionärer Manier vorgetragene Absichtserklärung. Das irreführenderweise so genannte »Manifest der 121« hingegen ist eine Petition, eine informelle Protestnote. Man höre zum Vergleich das wohl berühmteste Manifest, nämlich das der Kommunistischen Partei von 1848: »Es ist hohe Zeit«, erklären Marx und Engels gleich zu Eingang, »daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen.« Das ist nicht der Sound der Empörung, schon gar nicht der von Bittstellern. So sprechen Leute, die der ganzen Welt etwas zu verkünden haben, ob die es hören mag oder nicht. Ein Manifest ist großsprecherisch und anmaßend, aufreizend selbstbewusst und apodiktisch. Solche Reden würde keine Regierung sich gefallen lassen, darum wird auch keine angesprochen. Ein Manifest schießt, in Bretons berüchtigten Worten, »blindlings so viel wie möglich in die Menge«.

Wenn Künstler heute etwas zu mitzuteilen haben, ist meist nur von Schüssen die Rede, die sie selbst nicht gehört haben. Auch sprechen sie überhaupt wenig von Kunst und dafür aufdringlich viel von sich selbst, nämlich von Künstlern und der gesellschaftlichen Verantwortung, die sie zu tragen hätten, wenn nicht gleich von »Kulturschaffenden« (dieses kernige Wort wird man nicht mehr los, seit am 18. August 1934 im Völkischen Beobachter ein »Aufruf

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der Kulturschaffenden« erschien, in dem Künstler ihre Relevanz bekundeten, oder wie es damals hieß: dem Führer Gefolgschaft gelobten). Kunst soll sich dadurch ausweisen, dass sie im Grunde gar keine ist: dass sie viel mehr und ganz anderes sein will als die nutzlose Arbeit, als die etwa Adorno sie begriff. An ihrem Anspruch, die Kunst ins wirkliche Leben aufzulösen, ist die Avantgarde einst krachend gescheitert; auch deshalb, weil ihre Werke noch in ihrer zur Schau gestellten Schäbigkeit viel zu kunstvoll und daher dem wirklich schäbigen Leben nicht gewachsen waren. Geblieben ist davon der Vorsatz, der Kunst das Privileg ihrer eigentümlichen Ästhetik zu entziehen. An die Stelle des unansprechbaren Werks tritt der engagierte Künstler, der dafür umso mehr spricht, bestenfalls über seine Arbeit, der er Anweisungen beigibt, wie sie zu »lesen« sei, ansonsten über die Schlechtigkeit der Welt, von der er wohl ahnt, dass seine Kunst sie nicht besser machen wird, weswegen er sich selbst desto wichtiger nimmt. Er versteht sich nicht nur als »Interpret« (Dieter Thomas Heck) seiner Kunst – ein Schuhkarton z.B. bedarf einer Aufschrift, der zu entnehmen ist, dass es sich dabei um eine politisch aktualisierte Darstellung von Kafkas »Schloss« handele –, sondern darüber hinaus auch als Künstler im Sinne der gleichnamigen Sozialkasse, das heißt nicht als verkanntes Genie, diese Zeiten sind vorbei, sondern als vorzugweise im Chor sich erhebende Stimme der Verdammten dieser Erde.

Hundert Jahre nach dem ersten Manifest des Surrealismus kann die Kunst, was ihre in Aussicht gestellte Abschaffung betrifft, Vollzug melden: sie hat sich aufgelöst in Kultur, oder was sich nebst Ackerbau und Viehzucht noch so nennt, und Politik, und die wiederum hat, wenn man

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Hannah Arendt glaubt, ja ohnehin weniger mit Wahrheit als mit Macht und Lüge zu tun. In ihrem eigentlichen Element sind Künstler heute, wenn sie ihre kuratorischen Beipackzettel ganz ohne künstlerische Installation unter die Leute bringen, und zwar in Form klebriger Erklärungen, in denen noch das gemeinste Volksvorurteil sich zur ungemein gefährdeten Außenseitermeinung aufspielt.

P.S. Zu den Unterzeichnern des »Manifests der 121« gehörte auch Claude Lanzmann, damals noch Journalist und kein Filmemacher. 1962 war er zu Gast bei den Feiern der Unabhängigkeit Algeriens. »Dort war das ganze revolutionäre Afrika versammelt«, erinnert er sich. Ben Bella, der erste Präsident Algeriens, sei sehr liebenswürdig zu ihm gewesen und habe ihn gar »mein Bruder« genannt. Nur wenige Wochen später verkündete derselbe Ben Bella, er werde hunderttausend Mann in den Nahen Osten entsenden, um Palästina zu »befreien«. – Lanzmann: »Das war für mich ein Schlusspunkt. Ich hatte geglaubt, man könnte gleichzeitig für die Unabhängigkeit Algeriens und die Existenz des Staates Israel sein. Ich hatte mich getäuscht.«

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Christoph Hesse Bohème 2.0: Der Künstler als Aktivist

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»Qu’est-ce que ça peut te faire?« fragt Nana (Anna Karina) zu Beginn von Jean-Luc Godards »Vivre sa vie« (1962) immer wieder: Was geht dich das an? Die Frage hätte sie besser dem Philosophen Brice Parain gestellt, der sie später im Film in einem Café anspricht. Denn »der Intellektuelle ist jemand, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen«. Diesen Vorwurf griff Sartre dankbar auf, um die Rolle der Intellektuellen in einer Gesellschaft zu bestimmen, in der sie scheinbar für nichts zuständig waren und sich darum um Dinge kümmerten, für die niemand sonst zuständig war. Sie maßten sich an, die aus Spezialkenntnissen erwachsenen Zuständigkeiten anderer in Frage zu stellen und sich »im Namen einer globalen Auffassung von Mensch und Gesellschaft«, wie es in Sartres »Plädoyer für die Intellektuellen« heißt, über wirtschaftliche und politische Sachzwänge hinwegzusetzen.

Das »feindselige Cliché des Intellektuellen«, das in Deutschland freilich noch feindseliger war als in Frankreich, findet sich auch in der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno beschrieben. Der Intellektuelle »scheint zu denken, was die anderen sich nicht gönnen, und vergießt nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft.« Indem er sich einen Luxus gesellschaftlicher Unabhängigkeit leistet, den er sich materiell oftmals gar nicht erlauben kann, gerät er in heikle Nachbarschaft: »Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient.« Im Unterschied allerdings zum Bankier, der dem Kapital historisch vorausging und es in seiner fertigen »Fetischgestalt« (Marx) auch

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heute noch verkörpert, von seiner »Systemrelevanz« ganz zu schweigen, blieb der Intellektuelle ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, an dessen Beginn er als solcher überhaupt erst in Erscheinung trat – und an dessen Ende er, so scheint es, auch allmählich wieder verschwand, zusammen mit der in ihm personifizierten Gesellschaftskritik; auch dieser schon reichlich verstaubt anmutende Begriff wurde durch ihn erst geprägt. Heute existiert der Intellektuelle nur mehr als soziologische Kategorie, und ob dazu außer sogenannten geistigen Menschen auch Ingenieure, Ärzte oder gar Bankiers zählen, mögen die selbst zu freudlosen Spezialisten fortgebildeten Soziologen unter sich ausmachen.

Das Verschwinden der Intellektuellen muss man keineswegs nur bedauern oder ihre wunders wie wichtige Rolle rückblickend verklären. Wer wünschte sich etwa einen noch »mit letzter Tinte« geifernden Günter Grass zurück?

Die Intellektuellen betätigten sich schließlich nicht nur als das schlechte Gewissen der falschen Gesellschaft, sondern guten Gewissens auch als Schönredner etwelcher Lumperei, die sie für richtig hielten. Kein Autokrat oder Terrorist, sofern er nur ein hehres Ziel verfolgte, hatte sich je über mangelnde Unterstützung durch Intellektuelle zu beklagen. Verrat warf der heute fast vergessene Julien Benda den Intellektuellen bereits 1927 vor, weil es ihnen um politische Interessen und nicht um Wahrheit und Rechtschaffenheit zu tun sei. Bemerkenswert, dass im Titel seines Buches »La trahison des clercs« aber von Klerikern oder Schreibern die Rede ist. Von solchen Leuten wiederum gibt es heute mehr denn je. Nur kann man ihnen keinen Verrat mehr zum Vorwurf machen. Den Anspruch auf Wahrheit weisen sie von vornherein von sich, und zwar mit dem gewitzten Ar-

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gument, dass es dabei doch eigentlich nur um Macht gehe.

Die »clercs« dieser Tage, ob Künstler oder Akademiker, empfehlen sich selbst als Aktivisten und nicht als Intellektuelle. Darin immerhin beweisen sie historisches Gespür, in der DDR konnte man als »Herausragender Jungaktivist« sogar einen Orden bekommen. Der ewig junge Aktivist ist ziemlich genau das Gegenteil des unabhängigen Intellektuellen, von dem Adorno sagte, »unverbrüchliche Einsamkeit« sei »die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag.« Die soziale Erscheinungsform des Aktivisten ist der Schwarm: nicht Vögel, sondern Fische im Wasser, wie schon Mao wusste. Je stärker allerdings die Strömung, die sie trägt, desto größer ihr Bedürfnis, rückwärts mitzuschwimmen und so zu tun, als strampelten sie todesmutig flussaufwärts.

Das Wort »Aktivist« übrigens kannte Adorno nicht einmal. In seiner Kritik der bald auch gegen ihn protestierenden Studenten sprach er von »denkenden Aktionisten«, um daran zu erinnern, dass sie selbst, wie sehr sie auch gegen angeblich praxisferne Theorie wettern mochten, als Intellektuelle beschimpft wurden. Zumindest dieser Widerspruch ist endlich gelöst. Zusammen mit dem Intellektuellen ging auch das feindselige Klischee dahin. Aktivisten haben zwar ebenfalls nichts Gescheites gelernt, schon von Namens wegen aber sind sie ganz nach dem Geschmack der Gesellschaft, die sich ihr Treiben gefallen lässt. Die Hauptsache ist: sie tun was, bringen sich ein, sind aktiv und also irgendwie relevant. Da können von der Krankenkasse bis zur Arbeitsagentur alle mitsingen.

Ehe die Intellektuellen die Bühne betraten, spielte hinter den Kulissen bereits die Bohème: Hasardeure und Tauge-

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nichtse par excellence, deren innige Verwandtschaft mit dem sogenannten Lumpenproletariat Marx als ihr Zeitgenosse und Benjamin als ihr Historiker so wundervoll beschrieben haben. Die Faszination wurde bei ersterem aber noch von der Verachtung übertroffen, die er für diese als Parias kostümierten Parvenüs übrig hatte. In ihnen erkannte er die Avantgarde der Konterrevolution. Einer von ihnen war Louis Bonaparte, der spätere Kaiser Napoleon III., »der eben als Bohemien, als prinzlicher Lumpenproletarier den Vorzug vor dem schuftigen Bourgeois hatte, daß er den Kampf gemein führen konnte«. Mit den konspirativen Geheimgesellschaften jener Epoche haben die Aktivisten von heute auf den ersten Blick wenig gemein: was sie im Schilde führen, treiben sie ungeniert in aller Öffentlichkeit. Politische Freiheiten und technische Möglichkeiten bieten keinen Anlass mehr, sich im Verborgenen zu halten. Desto besser verstehen sie sich darauf, den Kampf gemein zu führen: boykottieren, denunzieren, sanktionieren. Und das alles im Modus der verfolgenden Unschuld. Und natürlich im Gewande von Kunst & Kultur. Der Metzger spielt die Leberwurst, der Angreifer den notorisch Beleidigten, der sich »mundtot« gemacht wähnt, weil er selbst keinen richtigen Gedanken fassen und erst recht keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.

»Kaum einer, der sich nicht mindestens als ›Künstler und Aktivist‹ vorstellt«, schrieb Claudius Seidl unlängst in der FAZ: »Kaum einer, der nicht trotzdem den Schutzraum der Kunst für sich beansprucht.« Von wirklichen Aktivisten, etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, unterscheiden die Künstleraktivisten der Bohème 2.0 sich nicht zuletzt dadurch, dass sie vom Feldher-

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renhügel ihrer gepflegt eingehegten Kunst nur Kommandos geben, oder in Adornos Worten: »wie Kinder Kondukteur spielen, indem sie Billette verkaufen, die nirgendwohin führen.« Nur sind sie nicht so harmlos, wie ihre Darbietungen vielleicht vermuten lassen. Sie machen das bösartigste Ressentiment intellektuell akzeptabel. Ihr Zorn richtet sich denn auch nicht so sehr gegen die Ungerechtigkeit der Welt, von der sie allenfalls zwei Himmelsrichtungen kennen – nämlich den Westen, der eigentlich die Hölle ist, und einen zum Sehnsuchtsort stilisierten »globalen Süden« –, als vielmehr gegen diejenigen, die den Geist des unabhängigen Intellektuellen von einst noch nicht ganz aufgegeben haben.

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Christoph Hesse/ Magnus Klaue Bitte nicht öffnen: Plädoyer für das Postgeheimnis

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In neuer Rechtschreibung ist er als solcher nicht einmal mehr zu erkennen, nämlich von einem geöffneten Brief nicht zu unterscheiden; vielleicht trägt die verordnete Kleinschreibung auch lediglich der Tatsache Rechnung, dass der offene Brief einer Vergangenheit angehört, in der Briefe geschrieben wurden, die zu veröffentlichen nicht schon eine Beleidigung der Leute darstellte, die sie unverlangt vorgesetzt bekamen. Dazu bedarf es nicht nur eines Autors, der einen solchen Brief schreiben kann, sondern auch einer Öffentlichkeit, die er etwas angeht, obwohl sie selbst darin nicht direkt angesprochen wird. Ein offener Brief ist etwas anderes als nur eine mutwillige Verletzung des Postgeheimnisses, und anderes auch als ein Sendschreiben: weder der Apostel Paulus noch Martin Luther haben je einen offenen Brief verfasst. Diese Form der Mitteilung gedieh erst in politischen Verhältnissen, wie sie die Französische Revolution hervorgebracht hat. Der offene Brief ist genuin bürgerliche Literatur: was auch erklären mag, warum er seine große Zeit hinter sich hat – die er übrigens in Deutschland nie hatte.

Ein »J’accuse« hat die deutsche Geschichte nicht zu bieten. Was aber nicht nur daran liegt, dass es den Konventionen dieser Sprache an höfischen Formeln der Ehrerbietung gebricht, wie sie Émile Zola seinem so überschriebenen Brief an den Präsidenten der Dritten Republik beigab, der am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore erschien. »Veuillez agréer, monsieur le Président, l’assurance de mon profond respect.« In solcher Verbeugung trug der Schriftsteller dem Staatsoberhaupt seine Klage über die Behandlung des Offiziers Alfred Dreyfus vor, der fälschlich des Landesverrats angeklagt und verurteilt worden war. Die

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Wirkung dieses Briefs war so gewaltig, dass, wie Hannah Arendt schrieb, »zu einer Zeit, als die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ noch nicht vorlagen, ein ganzes Volk sich über die Frage, ob das ›geheime Rom‹ oder das ›geheime Juda‹ die Fäden der Welt in der Hand halte, die Köpfe zerbrach und einschlug.« Und zwar ausgerechnet in Frankreich. Wie groß das Entsetzen darüber immer gewesen sein mag: die sogenannte Dreyfus-Affäre, die erst Zolas offener Brief zu einer Angelegenheit machte, die die »unteilbare Nation« spaltete, beweist auch die Existenz einer politischen Öffentlichkeit, die in solchem Maße reizbar, und das heißt überhaupt ansprechbar war.

Der erste in Deutschland je erschienene offene Brief verdankt sich einem petit malheur, oder wie ein Freund des Verfassers es ausdrückte: einer »unverzeihlichen Unvorsichtigkeit«, die erst dazu geführt habe, dass Georg Herweghs Brief an den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen »der Oeffentlichkeit in die Hände gefallen« sei. Ein in die Sache Eingeweihter hatte ihn weitergegeben, und so erschien der Brief, der nie hätte erscheinen sollen, am 24. Dezember 1842 in der Leipziger Allgemeinen Zeitung. »Verbotene Bücher fliegen recht eigentlich durch die Luft, und was das Volk lesen will, liest es allen Verboten zum Trotz«, erklärte der Dichter dem König. Und bekannte ganz offen: »Ich bin nach der Notwendigkeit meiner Natur Republikaner und vielleicht schon in diesem Augenblick Bürger einer Republik. Ich kann, ohne mich selbst zu immerwährender Heuchelei zu verdammen, nicht länger in Staaten leben, woselbst die Zensur aufgehört hat eine Wahrheit zu sein …« Unverhofft stand seine Klage über Pressezensur, die er »Ew. Majestät« in der verwegenen Hoffnung auf ein wenig libe-

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rales Entgegenkommen vortragen wollte, nun ihrerseits in der Presse, wenn auch nur für kurze Zeit, denn besagte Zeitung wurde prompt verboten und Herwegh selbst des Landes verwiesen, in dem er nach eigener Auskunft ohnehin nicht länger leben konnte. Was er dem König mitteilte, war unerhört, der offene Brief jedoch ein Versehen, an falscher Stelle geöffnet und von oberster Stelle sogleich wieder verschlossen; ein Irrläufer, dessen politische Wirkung sich auf das Schicksal des Autors und des Organs beschränkte, dessen er sich selbst nicht einmal bedient hatte.

Einem mindestens ebenso mutigen Brief blieb die Öffentlichkeit, die der Autor sich allerdings wünschte, versagt. Da keine Aussicht mehr bestand, ihn in einer deutschen Zeitung zu veröffentlichen, schickte der Dichter Armin T. Wegner seinen Brief direkt an die »Kanzlei Adolf Hitler« in München, wo er am 23. April 1933 eintraf. »Herr Reichskanzler! Es geht nicht um das Schicksal der Juden allein – es geht um das Schicksal Deutschlands!« mahnte er. Was den Juden widerfahren würde, konnte sich 1933 noch niemand vorstellen. »Das Judentum hat andere Gefahren überlebt«, versicherte Wegner, »aber die Schmach, die Deutschland dadurch trifft, wird für lange Zeit nicht vergessen sein!« Wenn er die von ihm Verfolgten schütze, würde Hitler auch die »Würde des deutschen Volkes« wahren. Von solch großherzigem Patriotismus aber wollte dieser nichts wissen. Wegner wurde wenige Monate später verhaftet. Als man ihn Ende des Jahres aus dem KZ entließ, ging er ins Exil. Sein ursprüngliches Vorhaben, den Brief in Deutschland publik zu machen, konnte er erst nach der Kapitulation des Dritten Reiches verwirklichen. Die einst beabsichtigte Mahnung war da bereits zu einem Mahnmal

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geworden, das Zeugnis politischen Widerstands nur mehr ein historisches Dokument.

Von diesen beiden Fällen aus der deutschen Literaturgeschichte berichtet der Germanist Reinhard Nickisch in einem vor dreißig Jahren publizierten Aufsatz mit dem schönen Titel »Schriftsteller auf Abwegen«. Das von ihm hinzugesetzte Fragezeichen kann man inzwischen getrost weglassen. Schon die Rede von Schriftstellern klingt vermessen, wenn es sich bloß um Unterschriftsteller handelt (diesen Kalauer hat übrigens nicht erst Hermann Gremliza erfunden). Offene Briefe setzen dieser Tage – das heißt seit Oktober letzten Jahres – vornehmlich Leute in die Welt, die das wenige, das sie dafür umso häufiger mitzuteilen haben, in einer Weise zum Ausdruck bringen, die selbst einer gerechten Sache nur schaden könnte. Was Herwegh und Wegner widerfuhr, war tragisch. Was die heute zirkulierenden Briefe aus- oder nur anrichten, ist nicht einmal komisch. Ein bisschen lächerlich allerdings schon, denn die Klage derer, die da rufen, lautet ja nicht: wir werden nicht gehört, sondern: wir dürfen unsere Stimme nicht erheben. Wir, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit am allermeisten reden, sind zum Schweigen verurteilt. Und weit und breit regt sich kein König oder Reichskanzler oder auch nur ein Polizist, der ihrem ostentativ lauten Schweigen wenigstens so viel Aufmerksamkeit schenkte, dass sie sich im nächsten Brief darüber beschweren könnten. Zu fürchten haben sie kein Verbot, sondern allein zu viel Konkurrenz; schließlich muss von der Dringlichkeit der eigenen Besorgnisse nicht einmal mehr eine Zeitungsredaktion überzeugt werden. Zum Glück immerhin verschwinden die meisten dieser Briefe so schnell, wie sie aufgetaucht sind.

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Einer der letzten offenen Briefe, in denen der Widerspruch zwischen Publizität und Privatheit, subjektivem Ausdruck und öffentlicher Kommunikation, der die Gattung des offenen Briefes ausmacht, als Bewegungsgesetz der Form reflektiert wurde, war wohl Theodor W. Adornos Antwort auf eine gegen ihn gerichtete Polemik Rolf Hochhuths, die unter dem Titel »Die Rettung des Menschen« 1965 in einer Festschrift zum 80. Geburtstag von Georg Lukács erschienen war. In diesem Beitrag hatte Hochhuth Adornos vielzitierten Aphorismus aus den »Minima Moralia«, wonach es bei vielen Menschen schon eine Unverschämtheit sei, wenn sie Ich sagten, zum Anlass genommen, Adorno snobistische Inhumanität und Verachtung der Massen vorzuwerfen. Hierauf antwortete Adorno mit einem am 16. Juni 1967 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel »Offener Brief an Rolf Hochhuth« erschienenen Essay, der später unverändert im vierten Band der »Noten zur Literatur« nachgedruckt wurde. Die in diesem offenem Brief mitschwingende Gedächtniszeit umspann somit mehr als 15 Jahre – die »Minima Moralia« waren 1951 erschienen und enthielten zumeist im amerikanischen Exil entstandene Texte –, und die zwischen Adornos Wortäußerung, Hochhuths Antwort und Adornos Replik jeweils vergangene Zeit ist mit dem hektischen Reagieren, in dem im 21. Jahrhundert Ereignis, Stellungnahmen und Antworten auf Stellungnahmen aufeinanderfolgen, schlechterdings unvergleichbar. Adorno begann seine Replik auch ausdrücklich mit der Feststellung, Hochhuths Beitrag setze »mittelbar eine Kontroverse zwischen Lukács und mir fort«, die »schon Jahre zurückliegt«. Es handelte sich um eine Kontroverse über den Begriff des literarischen Realismus und die jeweils spe-

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zifische Form, in der dieser sich artikuliere. War Hochhuths Polemik gegen Adorno eine Verteidigung seines eigenen Konzepts des Dokumentartheaters und des damit verbundenen ästhetischen Realismus gewesen, begriff Adorno Hochhuths Attacke gegen ihn ganz richtig als einen Angriff auf den Gedanken eines Zeitkerns jeglicher realistischen Ästhetik. Wie das Theater Becketts laut Adornos Ausführungen im »Versuch, das Endspiel zu verstehen« gerade in dessen absurden, hermetischen Momenten zu einem der Zäsur von Auschwitz gemäßen antirealistischen Realismus findet, so machte sich für Adorno der ahistorische Realismus des Dokumentartheaters objektiv zum Komplizen der Verleugnung jener historischen Erfahrung. Im »Offenen Brief« fasst er diese Einsicht in dem Satz zusammen: »Die Absurdität des Realen drängt auf eine Form, welche die realistische Fassade zerschlägt«. Der Scheinrealismus des dokumentarischen Theaters gaukele seinem Publikum angesichts der Undurchdringlichkeit der sozialen Realitätsfassade eine scheinhafte Anschaulichkeit vor: »Überall wird personalisiert, um anonyme Zusammenhänge, die dem theoretisch nicht Gewitzigten nicht länger durchschaubar sind (…), lebendigen Menschen zuzurechnen und dadurch etwas von spontaner Erfahrung zu erretten«.

Nicht der Verächter des Snobismus, des Ästhetizismus und des ästhetischen Spezialistentums, als der sich Hochhuth mit seiner Polemik gegen Adornos elitäre Inhumanität gerierte, ergreift Adorno zufolge also das Wort für das wahrhaft Allgemeine – und damit für die Menschen, die nicht identisch sind mit den Massen, die sie bilden –, sondern gerade der Einzelne, den Hochhuth als Snob denunziert: »Überhören denn wirklich Ihre Ohren, wie sehr das

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Schimpfen auf den Snob, der sich für etwas Besseres halte, jener Art Volksgemeinschaft in allen Ländern Zuspruch spendet, die über den Abweichenden herfallen möchte, der vermutlich noch am ehesten Ihrem Begriff vom Individuum entspricht (…)?« Die Stimme, die noch am ehesten das in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Abseits gedrängte und aus ihr ausgeschlossene Allgemeine zum Ausdruck bringt, ist demnach notwendigerweise uneingängig, verschließt sich der prompten Kommunikation und wird von denen, an die sie sich wendet, nicht oder nur momenthaft gehört. Dieser historisch notwendige Widerspruch zwischen Öffentlichkeit und Individuum, Allgemeinem und Besonderem, hat die Gattung des offenen Briefes im 19. Jahrhundert zur Blüte gebracht, weshalb es weder Zufall noch Willkür ist, sondern von Formbewusstsein zeugt, wenn Adorno sich, um zu verdeutlichen, was ihn von Hochhuth scheidet, der Form des offenen Briefes bedient. Die Form ist hier, vielleicht zum letzten Mal, ihrem Gegenstand angemessen und nicht davon loszulösen. Ihre Nachgeschichte seit dem späten 20. Jahrhundert reflektiert die schlechte Aufhebung des Widerspruchs zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, der die Gattung vormals bestimmte.

Was es mit der »digitalen Öffentlichkeit«, in der sich diese schlechte Aufhebung manifestiert, heute auf sich hat, wird man vielleicht erst in fünfzig Jahren im historischen Rückspiegel erkennen. Mit den offenen Briefen der vergangenen zwei Jahrhunderte jedenfalls haben die als solche ausgegebenen Petitionen und Deklarationen, die nun sonder Zahl durch die virtuelle Welt geistern, nichts gemein. Sie haben nicht mal mehr einen Autor, allenfalls Autoren, vor allem aber Unterzeichner, und sie wissen ih-

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rer bloßen Form nach nichts mehr von dem Widerspruch, der zwischen dem sich zu Wort meldenden Einzelnen und den vielen Einzelnen, an die dieser sich richtet, besteht. Dieser Widerspruch aber war es, der der Gattung des offenen Briefs einmal ihre Lebendigkeit verlieh. Der postmoderne Hirtenbrief, von der Herde selbst verfasst und signiert, dient dagegen mehr als jedem anderen Zweck, und nicht selten ausschließlich, der Rückkopplung. Er ist dazu da, dass weitere ihm folgen: eine Art Gruppentherapie mit Schneeballeffekt. Anstelle eines Schriftstellers meldet sich alsbald der gesammelte ideologische Überbau zu Wort: Schluss mit …! Ja mit was eigentlich? Niemand erwartet, dass ein Brief sein erklärtes Ziel erreicht; so naiv sind selbst die nicht, die ihn aufsetzen oder unterzeichnen. Zur propagandistischen Selbstberauschung aber taugen die Briefe allemal, wie peinlich jeder einzelne auch sei. Die Lüge nimmt an schlechtem Stil keinen Anstoß. Sie muss mit einem als Betroffenheit drapierten Behagen nur oft genug gesagt werden, dann lässt sie sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Je geringer die Reichweite ihrer Worte, desto höher und weiter das Ziel, über das sie hinausschießen. Die meisten Menschen kennen sich schon in ihrer nächsten Umgebung nicht aus, wie viel weniger erst auf den Südlichen Sandwichinseln. Wo aber sonst einem Menschen die eigene Unkenntnis eine gewisse Zurückhaltung auferlegen mag, ergreifen notorisch Kreative das Wort am liebsten dort, wo sie mit intellektuellen Transferleistungen aufwarten können, die sie im historisch weidlich ausgehöhlten Brustton des »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« vortragen. Und das stimmt wahrscheinlich sogar: sie können nicht anders.

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Joseph Vogl Populismus*

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Die komplexen medialen Operationen der Meinungsmakler sind auf Erzeugung von Vermittlungsphobien angelegt. Dabei lässt sich der politische Charakter solcher technisch-sozialen Infrastrukturen in vier Aspekten erkennen: erstens im Phantasma eines unmittelbaren Zugangs zu den Adressen politischer Macht, die sich demnach in exklusiven Privatverhältnissen manifest und Teilhabe durch Akklamation verlangt – jede und jeder wird zugleich angesprochen und gehört; zweitens in einer Informalisierung des Transfers und der Ausübung politischer Macht, die sich im Herauskürzen von Vermittlungsinstanzen realisiert und insbesondere den formalen Charakter von repräsentativen Institutionen mit dem Stigma des Falschen oder Verfälschenden versieht, seien es Wahlen oder Parlamente, ›Eliten‹ oder Presse; drittens durch die Aktivierung unspezifischer sozialer Ensembles und Entitäten wie communities, humantity, people, us, coming together oder meaningful groups, die eben in keiner repräsentativen Form aufgehen und sich allenfalls durch eine auffällige Ereignishaftigkeit in ihren kollektiven Bewegungen und Regungen bemerkbar machen. Dabei handelt es sich um eine »metapolitische Fiktion« (Hans Kelsen1) von indefiniten und diffusen Gemeinschaftskräften, welche von unterschiedlichen kollektiven Identitäten aktiviert und konzentriert werden können; über die Prozeduren algorithmischer Tribalisierung finden dann auch die Varianten eines vermeintlich »authentische[n] Volkswillen[s]« oder diverser »politischer Völkchen«2 ihre Adresse und ihren Platz. Viertens schließlich haben die damit verbundenen Reaktionsweisen und Schnellkommunikationen gleichsam ballistischen Charakter, in ihnen geht es um targeting, um Peilung, Adressierung und Treffer – also

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um die Perfektion einer kommunikativen Schlag-Fertigkeit, die mit der Nutzung von Nachrichtengeschossen oder hashtag-gebündelten Formationen ein Modell wohl in den Prozeduren militärischer Feindkennung besitzen: »Boom, ich drücke, und zwei Sekunden später heißt es: Wir haben eine Eilmeldung.«3 Populismus in diesem strukturellen Sinn wäre somit als ein Gefüge von Kommunikationsstrategien zu verstehen, welche die Basis für die Bildung partikularer Kollektive bereit stellen, den Anspruch auf authentische Kommunikation mit der Hoffnung von Exekutivmacht verknüpfen, autoritäre Formen des empowerment begünstigen und sich logistisch an der Identifikation klar profilierter Zielobjekte orientieren. Plattformen und soziale Medien versprechen nicht weniger als eine Immediatisierung politischer Partizipationen und Aktionen.

(aus: Joseph Vogl, Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart, München: Verlag C.H. Beck, 2023, pp. 175-176. * Titel der Redaktion.)

1 Zit. nach Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2016, p. 58.

2 Ebd., pp. 56-57.

3 Nach der Bemerkung des letzten US-Präsidenten, zitiert in: Hubert Wetzel, Mobilisierung per App, in: Süddeutsche Zeitung, 28.05.2020, p. 7 – Überaus plausibel erscheinen darum Forderungen nach dem Einbau von Friktionen, Verzögerungen und Unterbrechungen in der Netzkommunikation; vgl. Forum on Information & Democracy, Report on Infodemics, November 2020 (https://informationdemocracy.org/wp-content/uploads/2020/11/ ForumID_Report-on-infodemics_101120.pdf), pp. 76-77.

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International Deutsch NordrheinWestfalen Kinder

MusikvideosJugendfilm

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International Deutsch NordrheinWestfalen Kinder und MusikvideosJugendfilm

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Thema SP

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Bis 1977 fanden die sogenannten Sportfilmtage alle zwei Jahre in Oberhausen statt – 1968, 1970, 1973, 1975 und 1977. Das »Internationale Film- und Fernseh-Festival« zeigte und prämierte internationale Sportfilme aller Art. Die Veranstaltung war unabhängig, doch eng verbunden mit den Kurzfilmtagen. Die Programme der Sportfilmtage präsentierten heute legendäre oder in Vergessenheit geratene Filme von Jacques Doillon, Werner Herzog, Elem Klimov, Marcel Łoziński oder Michael Pfleghaar. Zahlreiche Preisträger und andere Filmkopien wurden im Archiv der Kurzfilmtage gesammelt. Nun präsentieren die Kurzfilmtage erstmals eine Filmauswahl in fünf Programmen, kuratiert vom Kölner Medienwissenschaftler, Publizisten und Regisseur Dietrich Leder. Insgesamt werden rund 25 Filme im Kino gezeigt, ausgewählte Arbeiten im Vorfeld im Channel. Ergänzt wird das Programm durch eine Auswahl von Lehrfilmen, mit denen das 1950 gegründete »Medieninstitut der Länder der BRD« FWU (Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht) Sport und Körpererziehung in die Bildungsarbeit einbrachte. Unter dem Titel »Leibeserziehung« präsentieren Tobias Hering und Peter Hoffmann eine Filmauswahl aus den 1930er bis 50er Jahren, die zur vergleichenden Betrachtung von Sport- und Körperbildern während und nach der NS-Zeit einlädt. Noch weiter in die Vergangenheit führt »Sport im Ruhrgebiet in Filmdokumenten«: Paul Hofmann zeigt Arbeiten aus den Beständen der Kinemathek im Ruhrgebiet, die ältesten darunter aus dem Jahr 1925.

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Davorin Mox Mäkelä

Abraham Ravett

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Abraham Ravett John Torres Davorin Marc Mäkelä

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Tagung Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit.

Kultur und Öffentlichkeit 1

1. Mai

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Auseinandersetzungen mit Sexismus, Rassismus und anderen Formen von Menschenfeindlichkeit haben in den vergangenen Jahren zur Diskussion und kritischen Überprüfung von Programmatik und Haltung von Kulturinstitutionen geführt. Insbesondere die parlamentarischen Erfolge der AfD mündeten zudem im Anspruch an Kulturinstitutionen, sich zu politischen Debatten zu verhalten. Mittlerweile scheinen die entstandenen Ansprüche jedoch in eine Falle zu laufen. Immer häufiger ist von dem ursprünglich durch rechte Akteure eingeführten Begriff »Cancel Culture« die Rede. Wo Veranstaltungen auf Grund politischer Erwägungen verschoben oder abgesagt werden, lauert der Vorwurf der Zensur. Boykottaufrufe und Proteste entstehen gegen die Zusammenarbeit mit Personen oder Institutionen ihrer Positionierung wegen. Das verursacht bei allen Beteiligten Unsicherheit. Wo zunehmend mit Mitteln der kollektiven Organisierung und Skandalisierung gearbeitet wird, um Druck auf Personen und Institutionen auszuüben, droht die Idee von Kritik in Konformismus umzuschlagen. Ausgehend von einer Kampagne gegen die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen diskutieren Befürworter, Gegner und Beobachter dieser und ähnlicher Kampagnen die Frage: Kommt die größte Gefahr für kritische Diskussionen über den Umgang mit politischen Themen innerhalb des Kulturbetriebs aus dem Kulturbetrieb selbst?

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Podien/Workshop Wozu Festivals? Kultur und Öffentlichkeit 2

2.–5. Mai

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Filmfestivals sind ein universalistisches Projekt, mit dem die Hoffnung verbunden war, gesellschaftliche Partikularisierung und politische Spaltung durch kulturelle Verständigung und künstlerischen Fortschritt zu überwinden – durch etwas, das alle angeht. Dieses Vorhaben ist erkennbar in eine Krise geraten. Mit dem Wandel der Filmkultur und des Kinofilms in den letzten beiden Jahrzehnten, bedingt durch die Durchsetzung des Internets als Massenmedium und die Digitalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche, bedingt aber auch durch die Verschärfung gesellschaftlicher Verteilungskämpfe, sind Filmfestivals zugleich mit zahlreichen neuen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert. Das Kino als Schauplatz von Filmfestivals und öffentlichem Diskurs ist ins gesellschaftliche Abseits geraten. Identitätspolitik und Kulturalisierung, die Übersetzung politischer und ökonomischer Konflikte in Maßstäben von Lebensstil und Weltanschauung auf das Feld der Kultur sind gesellschaftliche Herausforderungen, die neuerdings insbesondere Filmfestivals in ihrem Selbstverständnis und Auftrag betreffen. Währenddessen verschlechtern sich nach der großen Pandemie und mit kriegerischen Auseinandersetzungen die ökonomischen Rahmenbedingungen von Filmfestivals rasant. Unter den sich verändernden Rahmenbedingungen stellt sich die Frage, was vom ursprünglichen Selbstverständnis von Filmfestivals noch geblieben ist und ob und wie Filmfestivals ihren Auftrag noch werden erfüllen können.

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Seminar Leon Kahane

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Künstler und Autor. 1985 in Berlin geboren, absolvierte zunächst eine Fotografie-Ausbildung und studierte anschließend Freie Kunst an der Universität der Künste Berlin. Zentrale Bezugspunkte in seinen Videoarbeiten, Fotografien und Installationen sind Themen wie Migration und Identität und die Auseinandersetzung mit Mehr- und Minderheiten in einer globalisierten Gesellschaft. Fokus seines Interesses sind häufig die kulturelle und künstlerische Repräsentation politischer Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Immer wieder lenkt er die Aufmerksamkeit auf Ereignisse und Institutionen, in denen der Geschichte innewohnende Widersprüche zum Ausdruck kommen. Sie spiegeln historische, politische und ökonomische, aber auch biografische Aspekte wider, die er in seinen Arbeiten aufgreift und verarbeitet. Vor allem die soziokulturelle Verortung aktueller politischer Diskurse und Dynamiken ist von zentraler Bedeutung für seinen künstlerischen Ansatz, der eine Form der Kulturkritik darstellt. Zuletzt waren seine Arbeiten in der Kunsthalle Wien und bei der 6. Moskau Biennale zu sehen. 2015 gewann er den Kunstpreis Europas Zukunft, 2016 den ars viva Preis. Sein Werk wird durch die Galerie Nagel Draxler vertreten.

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Expanded

in Person:

Carolin

NRW Lab

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und …
Wolfgang Verleihe NRW
Ubersehene Filme ¨

Carolin Schmitz NRW Person: re-selected Filme

Wolfgang J. Ruf

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Verleihe

Timetable

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Akkreditierung bis 25. April

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Channel

Der Channel der Kurzfilmtage versteht sich als eine Verlängerung des Festivals in den digitalen Raum. Der Strukturwandel des Festivals, der 2020 mit der pandemiebedingten Verlagerung der Kurzfilmtage ins Internet eingeleitet wurde, setzt sich mit dem ganzjährigen digitalen Angebot des Channels fort. Der Channel ist jedoch nicht nur eine Ergänzung, sondern umfasst auch neuartige Funktionsweisen des Festivals. Dialogische Angebote und filmische Formen treffen sich im digitalen Raum. Der Channel ist offen in der Form, offen für neue Formate und technische Lösungen. Er enthält Filme und Gespräche, bits & pieces – was uns einfällt, aktuell zu neuen digitalen Formaten, Politisierung der Kultur, Sport usw.

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This Is Short

Das Streaming-Portal This Is Short, kuratiert von sechs europäischen Filmfestivals, ist das ganze Jahr hindurch aktiv. Filme stehen im Streaming, soweit möglich, ohne regionale Einschränkungen und in Originalfassung mit englischen Untertiteln zur Verfügung (plus Untertitel in weiteren Sprachen, sofern verfügbar). Nach einer Gratis-Probezeit von zwei Wochen kostet ein Monatsabo 4,99 Euro, das Jahresabo nur 49,99 Euro. This Is Short ist ein Projekt des European Short Film Network (ESFN). Aktuell hat das Netzwerk sechs Mitglieder: Vienna Shorts (AT), Internationale Kurzfilmtage Oberhausen (DE), Go Short (NL), Short Waves (PL), IndieLisboa (PT) und das Uppsala Kortfilmfestival (SE). Das Portal ist ein gemeinnütziges Projekt zur Förderung des europäischen Kurzfilms.

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Hauptförderer

66 Trägerin
67 Förderer
68 Projektförderer
69 Medienpartner
70 MuVi-Partner

Danke: Christoph Hesse, Magnus Klaue, Stella Leder, Henry W. Pickford, Michael Schwarz sowie Verlag

C.H. Beck (München), Columbia University Press (New York), Suhrkamp Verlag (Berlin)

Redaktion und V.i.S.d.P.: Lars Henrik Gass, Oberhausen

Gestaltung und Satz: Daniel Behrens/Public, Hamburg

Druck und Bindung: Brochmann, Essen

Internationale Kurzfilmtage Oberhausen gGmbH

Grillostr. 34

46045 Oberhausen Germany

T +49 (0)208 825-2652

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März 2024

Wenn es ein rationales Moment in diesem von Ressentiment getragenen Aufstand gibt, dann das, dass er auf die Irrationalität des Ganzen verweist.

Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2023, p. 469.

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46045 Oberhausen Germany

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