Magazin #12 der Kulturstiftung des Bundes

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herbst 2008

das magazin der kulturstiftung des bundes

texte von verena auffermann stephanie barron mircea c

arescu rainer erlinger werner nekes georg m. oswald anke te heesen

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1 2 1 Blick in die Produktionshalle der Pausa, 50 er Jahre 2 Pausa-Verwaltungsgebäude und Bogenhalle, Foto um 1958

Im Prinzip sind uns alle Projekte, die wir fördern, gleich lieb und wichtig. Ihre Verschiedenartigkeit und ihr Anspruch auf Innova tion lassen direkte Vergleiche und Rangordnungen kaum zu. Al le Projekte begleiten uns für eine gewisse Zeit und wir sie , bis schließlich mit der Prüfung des Verwendungsnachweises un ser (Förder)Verhältnis endet.

Mit gespanntem Interesse verfolgen wir, wie sich die Projekte vom Antrag bis zur Durchführung entfalten und werden bis weilen überrascht. Manchmal allerdings stellt sich eine spontane Begeisterung schon vor einer erfolgreichen Durchführung ein. So ging es uns mit einem Projekt aus dem KUR -Programm (vgl. S. 12 ): mit der Textilfabrik Pausa im schwäbischen Mössingen mit ihren riesigen Lagern an Stoffen und umfangreichen Archiven an Stoffmustern, in denen man tagelang stöbern möchte. Die Bilder in diesem Magazin und der Beitrag von Anke te Heesen geben Ihnen einen Einblick in die farbenfrohe und formenreiche Welt der Muster in Pausa und sind doch nur eine ganz kleine Auswahl aus dem großen Bestand.

Das Jahr 2009 mit seinen historischen Jubiläen allen voran die Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1949 und die Anbahnung der deutschen Einheit durch den Fall der Mauer 1989 hat in Gestalt etlicher Großprojekte seine Schatten vorausge worfen. Die Kulturstiftung des Bundes bereitet unter anderem

ein großes Geschichtsforum in Berlin vor. (Wir informierten Sie im vorigen Heft darüber und halten Sie weiter auf dem Lau fenden!) Auch die Ausstellung Deutsche Kunst im Kal ten Krieg bietet eine Rückschau auf deutsch-deutsche Paral lelwelten, bevor diese sich endlich bis zur Ununterscheidbarkeit angleichen. Die amerikanische Kuratorin Stephanie Barron er läutert im Interview, warum jenes Kapitel der Kunstgeschichte auch über die Grenzen Deutschlands hinaus für Aufmerksam keit sorgen wird. Der rumänische Schriftsteller Mircea C˘art˘arescu schildert in einem sehr persönlichen Beitrag die Folgen der Ereignisse von 1989 für das Verhältnis zur Elterngeneration. Andere Jubiläen des Jahres 2009 drohen in den Schatten der Er innerung an die geschichtspolitischen Großereignisse zu gera ten. So zum Beispiel die Gründung des Bauhauses 1919 in Wei mar. Rainer Erlinger, als Experte für »Gewissensfragen« inzwi schen eine moralische Instanz in den deutschen Medien, hat sich mit Blick auf die große Bauhaus -Ausstellung 2009 in Berlin mit der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von Design und Ethik beschäftigt.

Ethische Fragen wirft auch die Erzählung des Schriftstellers Ge org M. Oswald auf. Im Rahmen des Heimspiel -Fonds’ für Theaterprojekte entstand eine Produktion über die Situation der Ille galen in München. Seine gleichnamige Erzählung nimmt die

Haltung derjenigen aufs Korn, die die Beschäftigung von Ille galen für eine »gute Tat« oder allenfalls für ein Kavaliersdelikt halten.

Was dürfen wir von Literaturausstellungen erwarten, wenn sie ei nen Beitrag zur Literaturvermittlung leisten und nicht vorausset zungsvoll auf den kenntnisreichen Leser spekulieren? Eine Frage, die sich unsere Jury, die regelmäßig über Anträge zum offen sichtlich immer populärer werdenden Genre der Literaturausstellung berät, immer wieder stellt. Ein Workshop zu Theorie und Praxis von Literaturausstellungen in Frankfurt am Main ist für Verena Auffermann Anlass für grundsätzliche Überlegungen und Anregungen.

Der Filmemacher und Sammler Werner Nekes gewährt in einem Interview Einblick in das Ausstellungsprojekt Blickmaschi nen und beeindruckt mit seiner (Sammel)Leidenschaft für optische Geräte, die die Kulturgeschichte des Sehens geprägt haben. Die Kolumne Einwortphrasen von Burkhard Müller hat schon in der vorigen Ausgabe begeisterte Leser gefunden. Auch diesmal geht es um Begriffe aus dem Kulturjargon, die wie Untote in den Anträgen auf Projektförderung offenbar unsterblich herumgeistern. Viel Vergnügen!

Hortensia Völckers / Vorstand KulturAlexander Farenholtz stiftung des Bundes

themen

rainer erlinger die form des guten 6 anke te heesen die wiederkehr der muster 9 interview mit stephanie barron kunst im kalten krieg 18 mircea car t arescu die gläserne wand 22 verena auffermann wilder ausstellen 26 georg m. oswald illegal 0 interview mit werner nekes spielzeuge für erwachsene  kolumne burkhard müller einwortphrasen ( II) 6 meldungen + 40 gremien 47

Die Fotografien in diesem Magazin stammen aus der denkmalgeschützten Textilfabrik Pausa in Mössingen bei Tübingen. Wir möchten Ihnen mit diesen Bildern ein Projekt vorstellen, das im KUR P R og R amm z UR K ons ER vi ERU ng U n D R E sta U R i ERU ng von mo B il E m K U lt UR g U t durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert und in Kooperation mit der Kulturstif tung der Länder durchgeführt wird. Die Fotos hat der Stuttgarter Fotograf Uwe H. Seyl gemacht. Wir danken der Stadt Mössingen und insbesondere Dr. Herrmann Berner, dem Leiter des Mössinger Stadtmuseums, für seine hervorragende Beratung und die Be treuung der Fotoarbeiten. Unser herzlicher Dank gilt ebenfalls Dr. Dieter Büchner vom Baden-Württembergischen Landesamt für Denkmalpflege. Die Auswahl der Objekte für dieses Heft trafen Daniela Haufe und Detlef Fiedler, die auch das Heft gestalteten, so wie Tinatin Eppmann. Weitere Informationen zur Sammlung und zu den Objekten finden Sie im Beitrag der Tübinger Kulturwis senschaftlerin und Museumsexpertin Anke te Heesen ab Seite 9. Da die Bearbeitung der Sammlung noch aussteht, bitten wir um Verständnis für die unnvollständigen Angaben zu den Abbildungen.

kulturstiftung des bundes magazin 12

 editorial

 Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J. 4 Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J. 5 Entwurfszeichnung, Dessin l infelden von Leo Wollner, 1975 6 Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J.

Entwurfszeichnung, o. J. 8 Entwurfszeichnung, Dessin m ittelpunkt von Leo Wollner, o. J. 9 Entwurfszeichnung, Dessin Harlan , o. J. 10 Entwurfszeichnung, Dessin Dille , o. J.

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Was haben Design und Moral miteinander zu tun? Design bestimmt den Alltag, deshalb drängt sich die Frage nach seiner moralischen Dimension stärker auf als in anderen Kunstsparten. Wenn im Jahr 2009 neben vielen anderen historischen Jubiläen auch die Gründung des Bauhauses vor 90 Jahren mit einer großen, von der Kulturstiftung des Bundes geförder ten Ausstellung gefeiert wird, wird auch die Frage nach der moralischen Erbschaft des Bauhauses für die heutige Gestal tung unserer Lebenswirklichkeit diskutiert werden. Wir haben Rainer Erlinger deshalb keine Gewissensfrage aus dem Lebensalltag gestellt, sondern geradezu eine Jahrhundertfrage.

die form des guten

der designer ist eine art moralist. er wertet. seine tätig keit besteht aus wertungen.1 Dieser Satz des großen Otl Aicher löst Fragen aus: Mit welcher Art von Gestaltung befasst sich der Designer und welche Wertungen trifft er? Zwischen schön und un schön? Zwischen tauglich und untauglich? Zwi schen gut und schlecht? Oder zwischen gut und böse? Mit Letzterem wäre man bei der klas sischen Moral, eben jener Unterscheidung zwi schen »gut« und »böse«. Nur kann ein Produkt das jemals sein: »gut«, »böse«? Oder nur derjeni ge, der das Produkt formt, wie der Wuppertaler Designtheoretiker Siegfried Maser betont? 2 Da bei ist Otl Aicher bei weitem nicht der Einzige, der eine Verbindung zwischen Design und Mo ral behauptete. Es scheint, als bestünde ein inne rer Zusammenhang, womöglich sogar eine Ab hängigkeit des Designs von der Moral, wenn es denn »gut« sein will. Schließlich ist das Gute seit Aristoteles das, wonach man strebt.

Mit dem Buchtitel Die gute Form prägte 1957 der Bauhausschüler und Mitbegründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung Max Bill ei nen feststehenden Begriff. Die m oral der g egenstände titelte 1987 eine Ausstellung über die Ulmer Hochschule für Gestaltung im Bauhaus Archiv. Das Bauhaus selbst wollte über Gestaltung die Lebensumstände der Menschen verbessern, dem Bauhaus nahe stehende Her steller wie die Mössinger Textilfirma Pausa wa ren auf hohe Designqualität bedacht und sahen darin eine kulturelle Haltung. Eine der For derungen des britischen Arts and Crafts Move ment bestand neben handwerklicher Qualität in Material»gerechtigkeit«. Der Deutsche Werk bund hatte sich sogar zum Ziel gesetzt, über die Moral der Dinge, die gute Qualität, Menschen zu besseren Menschen zu erziehen. 1964 und 2000 fanden sich Grafikdesigner zusammen, um in dem Manifest First t hings First die Konzentration ihrer Arbeit auf das wirklich Wichtige, die gesellschaftlich relevanten The men, zu geloben. Und heutzutage feiert das »Grüne Design« mit Verantwortung für die Um welt in Zeiten von Erderwärmung und weltwei ter Rohstoffverknappung eine neue Blüte.

Versucht man diese Ansätze zu ordnen, treten verschiedene Linien hervor, entlang derer De sign und Moral aufeinandertreffen: die Erziehung zum besseren, moralischeren Menschen durch die gute Form, die Auswirkung der Funktion eines Gegen standes auf die Lebensumstände (im Sinne einer Sozialmoral), die Auswirkung seines Gebrauchs auf die Um welt (im Sinne einer ökologischen Moral), die Auswirkung seiner Herstellungs- und Ent sorgungsprozesse (ebenfalls im Sinne einer ökologischen Moral), die Auswirkung der ästhetischen Aussage ei ner Gestaltung auf die Gesellschaft,

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eine mögliche Pflicht zur »Verschönerung der Welt«.

Geht man nun weiter, scheinen diese Linien auf zwei Grundprinzipien zusammenzulaufen, die auch das bekannte Motto der Neuen Sammlung in München widerspiegelt: »Design ist Kunst, die sich nützlich macht.« Es geht im Endeffekt einerseits um die Auswirkungen des materiellen Anteils, der sich der Nützlichkeit, dem Ge brauch zuordnen ließe, und andererseits des nichtmateriellen Anteils, den man vereinfacht den künstlerischen nennen könnte; den Teil, wel chen der Berner Designhistoriker Beat Schnei der genauer in die ästhetischen und hier vor allem wichtig symbolischen Funktionen auf spaltet 3. Die Grundprinzipien haben jeweils ih re spezifischen Auswirkungen auf das Miteinan der der Menschen; und begreift man Moral als die Summe der Grundsätze, die unser Miteinan der bestimmen, kann keiner der beiden Aspekte losgelöst von moralischen Erwägungen bleiben.

Wie unterschiedlich diese beiden Grundprin zipien wirken, lässt sich an einem wirtschaftlich sehr bedeutenden und deshalb gestalterisch hoch ausdifferenzierten Bereich erkennen: dem Design von Autos. Besonders umstritten sind heute die Sport Utility Vehicles, abgekürzt SUVs, eine Gruppe von PKW mit limousinenhaftem Fahrkomfort, die in ihrem Erscheinungsbild so wie technisch Anleihen bei Geländewagen neh men. Diese sehr beliebten Fahrzeuge sind heftig umstritten, teilweise werden Geschwindigkeits beschränkungen oder gar ein Verbot gefordert. Neben dem erhöhten Unfallrisiko für andere Ver kehrsteilnehmer dreht sich die ethische Haupt diskussion um die ökologische Frage: Ist es ver tretbar, ein Auto zu fahren, das zwanzig oder mehr Liter Benzin auf 100 km verbraucht, ohne dass es dafür eine Notwendigkeit, etwa den Wohnort auf einer abgelegenen Berghütte gibt?

Beide Fragen, erhöhte Fremdgefährdung wie auch der Kraftstoffverbrauch und damit der CO 2 -Ausstoß stellen Auswirkungen des materi ellen Bereichs dar: Masse, Form, Stoffumsatz, Ressourcenverbrauch und dergleichen. Daneben gibt es aber auch die Frage nach der Aussage der Formgebung gegenüber der Gesell schaft vor allem in ihrem symbolischen Ge halt im Sinne Beat Schneiders. Diese steht weit gehend getrennt von den materiegebundenen Auswirkungen: Viele der modernen SUVs be nutzen die klare formensprachliche Aussage der Macht, des Reichtums und der Abgrenzung. Verbunden ist dies teilweise mit einem unter schwelligen Bedrohungspotential, das nicht un bedingt direkt aus der Größe erwächst, sondern sehr viel mehr mit martialischer Gestaltung, Farbgebung etc. verbunden ist. Aus ethischer Sicht schließt sich hier die Frage an, welche Aus wirkungen derartige Aussagen in einer relativen Konsensgesellschaft wie der deutschen haben.

Der Brennpunkt der derzeitigen gesellschaft lichen Diskussion liegt in der Problematik der »Ausgrenzung«, wie es sich im Schlagwort des »abgehängten Prekariats« widerspiegelt. Dessen Hauptproblem stellt nur zum Teil die Nichtbe friedigung materieller Bedürfnisse dar; wollte man es zugespitzt ausdrücken, könnte man sa gen, es mag hart sein, von Hartz IV zu leben, es muss aber niemand erfrieren oder verhungern. Daneben geht es aber vor allem um das Gefühl der Chancenlosigkeit und der Ausgegrenztheit aus der Gesellschaft. Dieses Gefühl wird jedoch durch die Konfrontation mit einem Design ver stärkt, das Macht und Luxus derjenigen, die zentral in der Gesellschaft stehen, nach außen hin betont. Speziell in einer Zeit der sozialen Unsicherheit kann mehr noch als die Zurschau stellung von Luxus gerade die Darstellung von Macht gesellschaftszersetzende Wirkungen ent falten und damit allein aus der symbolischen Kraft des Designs heraus ethisch höchst fragwür dig sein. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur SUVs, sondern ebenso andere Luxuslimousinen erkennen lassen: Auch in diesem Segment zei gen in ihrer aktuellen Gestaltung viele Wagen weniger Eleganz und Schnelligkeit, als vielmehr Kraft, Macht und Behauptungsanspruch. Es dreht sich hier auch nicht so sehr um die Frage: Was ist schön und was nicht?, sondern um die weiteren Funktionen und Aussagen des Designs.

Das Bauhaus hatte die Lösung in einer Schlicht heit gesucht, die zugleich gesellschaftliche Grä ben eher überwindet, als sie zu vertiefen. Die Unterscheidung zwischen den ästhetisch-sym bolischen und materiell anwendungsbezogenen Effekten steht auch nur scheinbar im Gegensatz zu den Zielen des Bauhauses, das ja die Tren nung zwischen Kunst und Handwerk gerade überwinden wollte. Walter Gropius als Gründer und damaliger Leiter schrieb dazu im Manifest von 1919 : Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine ›Kunst von Be ruf‹. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Die so propagierte Synthese von Kunst und Handwerk betrifft den schöpferischen Prozess, sie zielt auf eine Quali tätssteigerung und beeinflusst damit das Pro dukt und über das Produkt auch dessen Wir kung. Sie kann jedoch die grundsätzlichen, im Prinzip angelegten Wirkmöglichkeiten, die jede Gestaltung und jeder gestaltete Gegenstand ha ben, nicht verändern.

Das Bauhaus hat sich jedoch nicht zuletzt durch einen weiteren Aspekt der Wechselwirkung zwi schen Design und Ethik einen Namen gemacht: den sozialreformerischen Ansatz. 1925 schrieb Walter Gropius über die g rundsätze der Bauhausproduktion 4 und entwickelte darin die, wie er es nannte, »neue Werkgesinnung«:

von rainer erlinger

Entschlossene Bejahung der lebendigen Umwelt der Maschinen und Fahrzeuge.

Organische Gestaltung der Dinge aus ihrem eige nen gegenwartsgebundenen Gesetz heraus, ohne romantische Beschränkungen und Verspieltheiten. Beschränkung auf typische, jedem verständliche Grundformen und -farben.

Einfachheit im Vielfachen, knappe Ausnutzung von Raum, Stoff, Zeit und Geld:

Die Schaffung von Typen für die nützlichen Gegen stände des täglichen Gebrauchs ist eine soziale Not wendigkeit. Die Lebensbedürfnisse der Mehrzahl der Menschen sind in der Hauptsache gleichartig. Haus und Hausgerät ist Angelegenheit des Massenbedarfs, ihre Gestaltung mehr eine Sache der Vernunft, als ei ne Sache der Leidenschaft. Die schaffende Maschine von Typen ist ein wirksames Mittel, das Individuum durch mechanische Hilfskräfte Dampf und Elek trizität von eigener materieller Arbeit zur Befrie digung der Lebensbedürfnisse zu befreien und ihm vervielfältigte Erzeugnisse billiger und besser als von Hand gefertigt zu verschaffen.

Gropius reflektiert dabei die effizientere Aus nutzung der Ressourcen im Hinblick auf die Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung. Wenn Gegenstände so gestaltet werden, dass Materialeinsatz und Herstellung sie günstiger machen, kann dies sozial Schwächeren zugute kommen, die sich dann diese Gegenstände leis ten können. Geht dies mit einer »guten Gestal tung« einher, können die Lebensverhältnisse in doppelter Hinsicht, ästhetisch wie materiell ver bessert werden.

Einen parallelen Ansatz verfolgte die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky mit ih rer Frankfurter Küche . Dieser für das Frankfurter Hochbauamt entwickelte und über zehntausend Mal gebaute Küchentypus war ei ne der ersten funktionalen Einbauküchen. Aus dem Gesichtspunkt der Arbeitsersparnis heraus übertrug Schütte-Lihotzky amerikanische Zeiterfassungssysteme für die Industrie auf den Wohnungsbau und entwickelte eine Küche, die es der Hausfrau ermöglichte, weniger Zeit auf die Küchenarbeit zu verwenden. 1927 schrieb sie dazu: Das Problem, die Arbeit der Hausfrau ratio neller zu gestalten, ist fast für alle Schichten der Bevöl kerung von gleicher Wichtigkeit. Sowohl die Frauen des Mittelstandes, die vielfach ohne irgendwelche Hil fe im Haus wirtschaften, als auch Frauen des Arbei terstandes, die häufig noch anderer Berufsarbeit nach gehen müssen, sind so überlastet, daß ihre Überarbei tung auf die Dauer nicht ohne Folgen für die gesamte Volksgesundheit bleiben kann.5

Schütte-Lihotzkys Intention als Kommunistin und Frauenrechtlerin war eindeutig die Verbes serung der Lebenssituation der Frauen über das Design der Küche. Ein Detail der Küche war ei ne sogenannte »Kochkiste«, eine isolierte Kiste, in die ein Topf gestellt werden konnte, der nur kurz erhitzt werden musste und dann mit seiner

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Restwärme die Speisen, z.B. Kartoffeln, über Stunden fertig garte. Bei der Planung ging es der Architektin nicht ums Energiesparen, sondern darum, es Frauen zu ermöglichen, trotz Berufs tätigkeit ein warmes Mittagessen zuzubereiten, indem das Essen während des Vormittags vor sich hin garte.6 Tatsächlich spielten ökologische Fragen damals eine geringere Rolle als heute, während umgekehrt die Emanzipation der Frau seitdem unter der moralischen Zielvorgabe »Gleichberechtigung« immense Fortschritte ge macht hat. Steht nun in Zeiten des Klimawan dels das »Grüne Design« in der logischen und legitimen Nachfolge des sozialreformerischen? Womöglich kommt der Frage nach Energiever brauch und CO 2 -Ausstoß heute dieselbe mora lische Relevanz zu, wie damals den sozialen Anliegen. Andererseits sind die sozialen Pro bleme nicht verschwunden, deshalb kann es sehr leicht zu einem Konflikt in der Gestaltung kommen. Häufig führt das ökologische Design zu höheren Kosten, etwa durch Verwendung teurer, nachhaltig erwirtschafteter Rohstoffe: Welchem Aspekt gebührt Vorrang? In der wei teren Folge könnte es, falls ökologisch korrekte Produkte zu einem neuen Statussymbol werden, auf dieser Ebene zu einer neuerlichen Ausgren zung finanziell schwächerer Bevölkerungsan teile kommen zu einem Non-Öko-Prekariat? Entwicklungen, die nicht so fern liegen und sich derzeit ja bereits auf dem Gebiet der Lebensmit tel abzeichnen.

Ebenfalls zwischen der materiellen und imma teriellen Seite des Designs steht ein Problem, das aus der Idee der »Universalisierung« entsteht. Gropius hatte die Standardisierung über Typen in den Grundsätzen der Bauhausproduktion niedergelegt, sie sollte ästhetisch wie materiell den sozialen Problemen entgegenwirken. Die ser auch moralische Ansatz wurde später in so zialistischen Ländern weiter verfolgt und bei spielsweise in Form des Plattenbaus zum Prin zip sozialistischen Bauens erhoben. Dort jedoch führte neben bauphysikalischen Schwächen ge rade auch die Uniformität, die geringe Auswahl z.B. an Tapeten selbst wenn sie auf hohem Designniveau waren zu Unbehagen, zu einem Gefühl der Monotonie. Gropius hatte diese Ge fahr bereits gesehen, sie aber nicht hoch einge schätzt. Eine Vergewaltigung des Individuums durch die Typisierung ist ebenso zu befürchten wie eine völ lige Uniformierung der Kleidung durch ein Diktat der Mode. Trotz typischer Gleichartigkeit der einzel nen Teile behält das Individuum Spielraum zu per sönlicher Variation. Denn infolge der natürlichen Konkurrenz ist die Zahl der vorhandenen Typen für das einzelne Ding doch immer so reichlich, dass dem Individuum die persönliche Wahl des ihm am meis ten entsprechenden Modells überlassen bleibt.7

Hat nun das deindividualisierte Massendesign des Sozialismus gezeigt, dass dieser Ansatz des

Bauhauses gut gemeint, aber eben nicht gut ge macht war? Der Verdacht liegt nahe, anderer seits spricht der weltweite Erfolg von Modewel len und Marken eher dagegen. Auch die Wert schätzung des Bauhausdesigns scheint ungebro chen. Wenngleich man fragen muss, ob die Wa genfeldleuchte genauso hoch geschätzt wäre, wenn es sie als Original für wenige Euro im Su permarkt gäbe? Oder bei Ikea? Stellen nicht oh nehin Ikea und H&M mit ihren in hoher Aufla ge günstig produzierten Produkten die wahren Protagonisten der Standardisierung im Sinne des Bauhauses dar? Auch wenn sie den Forde rungen nach Materialgerechtigkeit und der Ver einigung von Kunst und Handwerk weniger nachkommen, diesen Grundsatz des Bauhauses erfüllen sie. Und sind damit zumindest in ihrem Umgang mit Design diese beiden Symbole des Kapitalismus zu wirkmächtigen Vertretern sozi alistischer Ideale aufgestiegen? Hier scheint sich die Besonderheit zu entfalten, dass ein erfolg reiches Produktmarketing, welches das Ziel der Konsum- und Gewinnsteigerung, aber keine moralischen Absichten verfolgt, die moralisch hochgesteckten Ziele des Bauhauses vielleicht nicht auf dessen ästhetischem Niveau, dafür aber um so erfolgreicher erreicht.

Angesichts dieser hohen moralischen Relevanz des Designs stellt sich die Frage: Wie viel ethische Verantwortung trägt ein Designer? Für einen Teilaspekt davon gab es im Bereich des Werbede signs 1964 und 2000 zwei viel beachtete Vorstö ße von Grafikern. Sie forderten, die Auswirkungen ihrer Arbeit zu bedenken und sie vom Kon sum weg auf andere, in ihren Augen wichtigere Ziele zu lenken: First Things First. Im Manifest 2000 heißt es dazu: Noch nie zuvor da gewesene ökologische, soziale und kulturelle Krisen fordern un sere Aufmerksamkeit. Kulturelle Vermittlungsarbeit, soziale Marketingkampagnen, Bücher, Zeitschriften, Ausstellungen, Lehrmittel, Fernsehsendungen, Filme, Projekte für wohltätige Zwecke und anderes Informa tionsdesign bedürfen dringend unserer Fachkenntnis und Hilfe. Wir schlagen eine Umkehrung der Priori täten vor, zugunsten nützlicherer, dauerhafter und demokratischer Kommunikationsformen eine geistige Wende weg vom Produktmarketing und hin zur Ausschöpfung und Produktion einer neuen Sinnge bung.8

In der daraufhin aufgekommenen Debatte war vor allem umstritten, inwieweit sich der Designer damit zum Erziehungsberechtigten der Gesell schaft aufschwingen darf. Exemplarisch für die Gegenposition äußerte sich der Grafiker Alex Cameron: Wirklich problematisch am ›ethischen De sign‹ ist die Art und Weise, wie hier für uns eine Vor auswahl getroffen werden soll. Es geht dabei nicht ein fach darum, wie und wofür Designer und Grafiker gerne arbeiten möchten. Wenn der Designer als Ver mittler durch den Designer als Priester des Guten ab gelöst wird, bedeutet das, das Publikum zu entmün

digen. Angesichts dieser Gefahr ist es alle Mal vorzuziehen, wenn die Menschen ihre Entscheidungen selbst treffen ungeachtet der Tatsache, dass der De signer diese Entscheidungen möglicherweise falsch findet.9

Die Debatte legt den Finger auf einen wunden Punkt. Die erzieherischen Ansätze, wie sie etwa der Werkbund oder auch das Bauhaus ver folgten, reiben sich mit demokratischen Grund sätzen. Wer legt fest, was als schön zu gelten hat? Führt eine Auswahl der Ziele nicht zu einer Ge staltungsherrschaft, zu einem Monopol der Be stimmung des Guten, Schönen und funktional Wahren? Gehört zu den Grundrechten nicht auch das auf schlechten Geschmack? Anderer seits ist Design nun einmal nicht ethisch neutral, und ein Designer kann sich ebenso wenig wie jeder andere auf den Standpunkt zurückziehen, er tue nur seine Pflicht, was aus seiner Arbeit ent steht, gehe ihn nichts an. Wie weit die Verant wortung reicht, wird zu diskutieren sein, aber eines steht fest: Wer Teile der Welt gestaltet und dies auch noch professionell tut, kann dabei nicht außer Acht lassen, welche Auswirkungen seine Gestaltung auf diese Welt hat in vieler lei Hinsicht.

Rainer Erlinger, Jahrgang 1965, ist Mediziner, Ju rist und Publizist, der vor allem durch seine wöchentliche Kolumne g ewissensfrage im Magazin der Süddeut schen Zeitung bekannt wurde. Erlinger ist außerdem Sach buchautor und häufig zu Gast in Hörfunk und Fernsehen, wo er zu ethischen Fragen Stellung nimmt. 2007 erschien im Kunstmann Verlag sein Buch Wenn s ie mich fragen . Im WS 2008 /2009 hat Rainer Erlinger die ErnstTroeltsch-Gastprofessur der Universität Augsburg inne.

die ausstellung

1 Otl Aicher, die welt als entwurf. Berlin 1991, S. 67.

2 Siegfried Maser, Von der Moral der Gegenstände zur Insze nierung der Moral? In: Hermann Sturm (Hrsg.) Geste & Gewissen im Design, Köln 1998.

3 Beat Schneider, Design eine Einführung, Basel 2005.

4 Vivos voco Zeitschrift für neues Denken, V. Band, 8./9 Heft, Aug./Sept. 1926 als Nachdruck aus dem Bauhausbuch Nr. 7.

5 Das neue Frankfurt, Heft 5 /1926 1927.

6 Margarethe Schütte-Lihotzky, persönliche Mitteilung

7 Vivos voco Zeitschrift für neues Denken, V. Band, 8./9 Heft, Aug./Sept. 1926 als Nachdruck aus dem Bauhausbuch Nr. 7.

8 form Zeitschrift für Gestaltung, Ausgabe 172 , März/ April 2000.

9 Novo Magazin Nr. 44, Jan./Feb. 2000.

modell bauhaus Zum 90. Geburtstag der Gründung des Staatlichen Bauhauses 1919 in Weimar und 20 Jahre nach der Wende werden 2009 erstmals die drei BauhausInstitutionen in Deutschland ihre Sammlungsbestände in einer gemeinsamen Ausstellung im Martin-GropiusBau Berlin zeigen. Unter dem Titel modell bauhaus prä sentieren das Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung Berlin, die Stiftung Bauhaus Dessau und die Klassik Stiftung Weimar vom 22. Juli bis 4. Oktober 2009 die Ge schichte des Bauhauses anhand von Arbeiten seiner Meister und Schüler. Darüber hinaus soll die Bedeutung des Bauhauses für die Entwicklung bis hin zur Globali sierung der Moderne dargestellt werden. In dieser Ab sicht wird die Ausstellung vor allem die Nachwirkungen des Bauhauses unter anderem in Japan, der Türkei, Isra el oder dem Irak aufzeigen. Kooperationspartner ist das Museum of Modern Art, New York, das die Berliner Aus stellung zu seinem eigenen 80. Geburtstag im Anschluss übernimmt. Projektleitung: Hellmut Seemann, Omar Ak bar, Annemarie Jaeggi. www.modell-bauhaus.de

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kulturstiftung des bundes magazin 12
11 Stoffdruck, Dessin m ontabaur , Entwurf:
1952 12 Stoffdruck, Dessin s cherzo , Entwurf: Willi
1952 1 Stoffdruck, Dessin m ontabaur (Detail), Entwurf: Willi
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Willi Baumeister,
Baumeister,
Baumeister,

Kaum einer kennt heute noch die Textilfabrik Pausa , der die Bildstrecke in diesem Heft gewidmet ist. Wer aber die still gelegte Fabrik im schwäbischen Mössingen besucht, ist überwältigt von den dort noch ungehobenen Schätzen. So erging es auch der Tübinger Kulturwissenschaftlerin und Museumsexpertin Anke te Heesen. Sie erläutert, warum die Samm lung mit ihren zahlreichen Musterbüchern, Tausenden von Stoffentwürfen, Stoffmustern und Filmrollen, mit ihrer Architektur und Innenausstattung ein herausragendes Zeugnis der Textilgeschichte des 20. Jahrhunderts ist. Die Kultur stiftung des Bundes fördert im KUR-Programm zur Restaurierung und Konservierung von mobilem Kulturgut eine Bestandsaufnahme und erste Sicherung der Objekte in der ehemaligen Textilfabrik Pausa .

die wiederkehr der muster von anke te heesen

Kommen nicht alle großen Eroberungen im Gebiete der Formen schließ lich so, als technische Entdeckungen zustande? Welche Formen, die für unser Zeitalter bestimmend werden, in den Maschinen verborgen liegen, beginnen wir eben erst zu ahnen.1 In dieser Notiz seines PassagenWerks betont Walter Benjamin die Bedeutung industrieller Ferti gungsprozesse und die in ihnen liegenden neuartigen Herstel lungs- und Gestaltungsweisen. Blickt man auf den Stoffdruck, auf die Geschichte der Textilherstellung und die Entwicklung ih rer Motive und Muster, so sind im 19. und vor allem im begin nenden 20. Jahrhundert große Umbrüche zu beobachten. Deren Auswirkungen lassen sich exemplarisch an der heute kaum mehr bekannten Textilfabrik Pausa ablesen. In der ursprünglich im kleinen Ort Pausa im Vogtland ansässigen Firma, die 1919 nach Mössingen in die Nähe von Tübingen verlegt wurde, wird mehr als ein Jahrhundert Stoffproduktion und Formentwicklung nach vollziehbar.

Die Firma expandierte sehr schnell. Schon unter den ursprüng lichen Besitzern, den Brüdern Löwenstein, wurde sie berühmt für ihre hochwertigen Drucke, die seit Anfang der 1920er Jahre im Handmodeldruckverfahren hergestellt wurden. Im Jahr 1932 führte die Firma dann den damals innovativen Filmhanddruck ein, der dem Betrieb zum endgültigen Durchbruch am Markt verhalf. 1936 musste die jüdische Familie Löwenstein auf Druck der Nazis den Betrieb verkaufen. Neuer Eigentümer wurde die Familie Greiner-Burckhardt. Nachdem in Pausa während des Krieges vorwiegend Verdunkelungsstoffe hergestellt wurden, produzierte die Firma schon bald nach Kriegsende wieder erste gemusterte Stoffe. Die internationale Karriere der in Mössingen hergestellten Stoffe begann schließlich mit der Durchsetzung des Siebdrucks in den 1950er Jahren. Der Firmenname Pausa wurde bald zu einem weltweit bekannten Begriff für innovative Produkte in der Textilbranche.2 Man fertigte Bühnenvorhänge mit großformatigen Motiven genauso wie kleingemusterte Stof fe und vor allem jene ersten abstrakt gestalteten Fabrikate im für uns heute so typisch scheinenden 50er Jahre-Design. Hinsicht lich materialer Qualität und moderner Muster gehörten die Stof fe zu den führenden Textildesigns der damaligen Bundesrepub lik Deutschland. Die Leitung der Pausa legte in dieser Zeit größ ten Wert auf konsequente und gute Gestaltung. Sie unterhielt ein personell bestens besetztes Büro hauseigener Textilgestalter, dar unter Walter Mathysiak, Elsbeth Kupferroth, Leo Wollner und

Adolf Felger. Gleichzeitig beauftragte man regelmäßig namhafte Maler und Grafiker mit dem Entwurf sogenannter Künstlerstof fe, die in gesonderten Kollektionen auch mit den renommierten Künstlernamen für die hohe Qualität der Pausa-Produktionen warben. Dazu gehörten u. a. HAP Grieshaber, Willi Baumeister, Verner Panton oder der bekannte Stuttgarter Graphiker, Photo graph und Maler Anton Stankowski. Letzterer hat außerdem das berühmte »Pausa-P«, das zum Signet der Firma wurde, gestaltet und die Corporate Identity der Firma damit maßgeblich gepräg t. abb. s.42+4 Neben den Stoffen selbst müssen auch das Firme nareal und die Organisation der Produktion hervorgehoben werden: Die Gebäude, von dem Stuttgarter Architekten Man fred Lehmbruck entworfen und im Sinne der firmeneigenen, am Bauhaus orientierten Philosophie gestaltet, die produktionsnahe Integration der Zeichenbüros, die hauseigenen Kunstausstellun gen und die im Verwaltungsgebäude gelegene ehemalige Woh nung des Geschäftsführers ließen ein räumlich wie konzeptio nell einzigartiges Ensemble entstehen.

Nachdem die Firma 2001 Insolvenz beantragte und 2004 die Pro duktion einstellen musste, wurde sie schließlich 2005 auf Antrag des damaligen Landesdenkmalamtes vom Regierungspräsidium Tübingen als »Sachgesamtheit Textilfabrik Pausa« unter Denk malschutz gestellt.3

Geht man heute über das weitläufige Gelände, in die Produktionshallen und Büroeinheiten, so vermittelt sich in vielen Räu men noch der Charme des eben Liegengelassenen: unfertige Zeichnungen an den Wänden, Reste eines möblierten Pausen raums, alte Flachdruckschablonen im Druckereigebäude. Die originale Einrichtung der Geschäftsführerwohnung, der eigens gestaltete Stoffvorführraum, das Ambiente zum Vertragsab schluss vor dem offenen Kamin oder die Fachbibliothek zu Mus ter und Ornament als Anregung für die Entwurfszeichner, alles dies ist immer noch vorhanden. Neben solchen, das Interieur be treffenden Anmutungen sind es vor allem das Archiv der Ent wurfszeichnungen und das Archiv der Stoffproben mit Tausen den von Mustern aus mehr als einem Jahrhundert Stoffdruck, die das Gesamtkunstwerk Pausa aufruft. Muster jeglicher Art und Herkunft, von abstrakt bis figürlich, in verschiedenster Um setzung und Qualität lagern heute in der ehemaligen Kantine und im Bürogebäude. Die Leitung der Pausa hat über Jahrzehnte

ein umfassendes Archiv aufgebaut, das seinesgleichen sucht. Es wird das Ziel zukünftiger finanzieller, politischer wie denkmal pflegerischer Planungen sein, dieses Sachensemble nicht nur zu erhalten was derzeit nur unter großen Mühen möglich ist , sondern in ihm auch ein Potenzial für kultur-, kunst- und mate rialitätsgeschichtliche Forschungen zu sehen.

Von welch hervorragender Bedeutung Archiv und Areal sind, wird deutlich, wenn man die Geschichte des Textildesigns seit 1945 betrachtet. Hier nehmen die Stoffe der Pausa eine einzigar tige Stellung ein. Es handelt sich bei Pausa nicht nur um ein Fir menarchiv, sondern um ein Archiv des gesamten deutschen Tex tildesigns der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.4 Sind wir heute gewohnt, die Diskussion um das Kunstgewerbe und die »gute Form« mit dem 1907 gegründeten Werkbund zu assoziieren, das Neue Bauen als die Etablierung funktionaler Ar chitektur und den Zusammenschluss aller Künste seit 1919 im Bauhaus anzusiedeln, so kann man Pausa nicht nur als weiteres Glied in dieser Kette der engen Verbindung zwischen freier und angewandter Kunst sehen. Das Besondere an Pausa ist, dass sich in dem Firmengelände, dem Archiv und den noch vorhandenen Fertigungshallen bis heute die einzelnen Schritte zur Entwick lung wie Benjamin schrieb der Formen, die für unser Zeitalter bestimmend werden, nachvollziehen lassen.

Betrachtet man Archiv und Areal aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, so eröffnet sich mit der Geschichte von Muster und Ornament ein bis heute vernachlässigtes Thema der Moderne.

1 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (Gesammelte Schriften, V,1, hrsg. v. Rolf Tiedemann). Frankfurt a.M. 1991

2 Eine umfangreichere Geschichte der PAUSA und das bisher einzige, die zahlreichen Facetten der Pausa betrachtende Buch, ist der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung von der Stadt Mössingen und dem Stadtmuse um Mössingen veröffentlichte Katalog: Das Bauhaus kam nach Mössingen. Geschichte, Architektur und Design der einstigen Textilfirma Pausa, hrsg. von Her mann Berner und Werner Fifka, Mössingen-Talheim 2006. Für weiterfüh rende Hinweise danke ich Dieter Büchner und Anette Michels.

3 Vgl. dazu Dieter Büchner und Michael Ruhland: Kompromisslose Beständig keit in gutem Geschmack. Die Textilfirma Pausa in Mössingen (Kreis Tübingen) In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt der Landes denkmalpflege 3 ( 2005 ), S. 142 150

4 Vgl. dazu das Forschungsprojekt zum Textildesign seit 1945 von Jutta Beder an der Universität Paderborn; Jutta Beder: Zwischen Blümchen und Picasso. Textildesign der fünfziger Jahre in Westdeutschland. Münster 2002

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Erst die Verbindung einer firmen- und fachspezifischen Aufar beitung der Pausa im weiteren Kontext einer Wahrnehmungsund Materialgeschichte lässt die Bedeutung des Musters deutlich werden. Bereits seit einigen Jahren wird innerhalb der kunsthis torischen und kulturwissenschaftlichen Forschung diskutiert, inwiefern so die eine These das Ornament die Grundlage zur Entwicklung der abstrakten Kunst geliefert hat, oder so die andere These die Behandlung des Ornaments in der Ar chitektur eine Verbindung zwischen Historismus des 19. Jahr hunderts und Moderne darstellt.5 Beide Thesen widersprechen der vielfach vorgebrachten Behauptung, dass die Moderne gleichzusetzen sei mit der Abkehr vom Ornament. Begreift man die Neuentwicklungen in der Textildrucktechnik als Mittel zur kostengünstigen Massenproduktion, könnte man beim Muster auch von einer »Demokratisierung des Ornaments« sprechen und dieses als ein konstitutives Element der Moderne verstehen. Interessanterweise korrespondiert diese Entwicklung zeitlich mit der zunehmenden Akzeptanz und Verbreitung abstrakter Motive auf den Stoffen in den 1950er Jahren.

Gegenwärtig ist wieder ein vergleichsweise starkes Interesse an Ornament und Muster in Architektur und Bildender Kunst zu verzeichnen. Gerade hat die Wellcome Collection in London die Ausstellung From a toms to Patterns gezeigt, in der die Zusammenarbeit von Designern und Naturwissen schaftlern anlässlich des Festival of Britain (1951) zur Ge nerierung neuartiger Muster für Tapeten, Teppiche und Stoffe dargestellt wird. Im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel widmet man sich derzeit der neuen, durch das Dekor be stimmten Architektur. In der aktuellen Faszination für das Mus ter geht es vor allem um das Verhältnis zwischen Reproduktion und Serialität des Hergestellten einerseits sowie Rezeption und Musterverständnis andererseits. Beide Aspekte tauchen bereits

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in den frühen lexikalischen Definitionen des Musters auf: Bei einem »Muster« handelt es sich um ein vervielfältigtes abstraktes oder gegenständliches Bildelement.6

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich eine differenzierte Auffassung vom Muster heraus: Zum einen wird es nun nicht als eigenständiges Bild verstanden, sondern erscheint in einem an wendungsbezogenen Zusammenhang. Zum anderen wird das Verhältnis zwischen dem Muster als einer Flächendekoration und dem Vervielfältigungsaspekt der Schablone erkannt. Im Be griffsfeld des Musters macht sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Bedeutungsverschiebung vom ursprünglichen »monstrare/ zeigen« hin zu »Herstellung« in der Rezeption bemerkbar: Ein Muster ist nichts Vorhandenes, sondern stellt sich über das Sehen her. Dies entspricht einer Neubestimmung des Sehens seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Neu war vor allem das Postulat eines »sub jektiven Sehens«, d.h. einer Wahrnehmung, die nicht eine ver meintlich objektive Wirklichkeit abbildet, sondern in Abhän gigkeit vom menschlichen Sehapparat und individuellen Wahr nehmungsbedingungen zu begreifen ist.

Während sich die Kritik am Ornament zu Beginn des 20. Jahr hunderts auf eine historistisch geprägte Überfrachtung des All tags, der Räume und der Gegenstände bezog und so vor allem einen anwendungsbezogenen Zusammenhang herstellte, plä dierten die Befürworter des Ornaments für eine Sicht auf seine geschichtliche Herkunft und seine Neueinbettung in das 20 Jahrhundert dann aber als reihendes Dekor, als Muster. Kunst historiker wie Alois Riegl oder Wilhelm Worringer erblickten im Ornament eine eigenständige und abstrahierende Ausdrucks leistung des frühen Menschen, die ebenso als Kunst verstanden werden sollte wie ein Gemälde der Renaissance. Vor allem Wor ringer plädierte darüber hinaus für das reihende Ornament, weil

es in den wechselnden und überbeanspruchten Aufmerksam keitspotentialen des Menschen um 1900 so etwas wie eine Orien tierung zu geben im Stande war. Nicht dem einzelnen Ornament und der Frage, ob seine Form dem Gegenstand, den es zierte, an gemessen sei, als vielmehr dem reihenden Muster wurde eine neue Bedeutung zuteil: Diese abstrakten gesetzmäßigen Formen sind also die einzigen und die höchsten, in denen der Mensch angesichts der ungeheuren Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann.7 Mit dem geometrischen Ornament bezieht er sich in diesem Satz auf die von ihm benannte »primitive Kunst« und deren Funktion in den Anfängen der Menschheitsgeschichte. Zugleich wird in der Sprachwahl Worringers deutlich, dass es sich bei dem Muster auch um ein Symptom einer rationalisierten Welt handelt, in der potentiell identische Objekte (Waren) in Serie produziert wer den. Wird die Serialität der materialen Welt um 1900 von vielen Zeitgenossen kritisiert, so weisen die Worte Worringers auch auf eine positive Bedeutung im Sinne der Wiederholung und Ge setzmäßigkeit hin. Er bewertet Gleichheit und Ebenmäßigkeit, also die Ästhetik der seriellen Flächendekoration, als ein Moment der Beruhigung. Wir stellen den Satz auf: die einfache Linie und ihre Weiterbildung in rein geometrischer Gesetzmäßigkeit musste für den durch die Unklarheit und Verworrenheit der Erscheinungen beunruhigten Menschen die größte Beglückungsmöglichkeit darbieten. 8 Worrin gers Position bildete den Gegenpart zu der im gleichen Jahr er schienenen und vielzitierten Schrift Adolf Loos’, der das »Orna

5 Markus Brüderlin: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog (Katalog der Fondation Beyeler), Köln 2001, und María Ocón Fernández: Ornament und Moderne.Theoriebildung und Orna mentdebatte im deutschen Architekturdiskurs ( 1850 1930 ) Berlin 2004

6 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch [Bd. 6 ], Leipzig 1885, Sp. 2762

7 Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsycholo gie [1908 ], Leipzig 1919, S. 25

8 Ebd., S. 26

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14 Stoffdruck, o. J. 15 Stoffdruck, Dessin n anda , Entwurf: Anton Stankowski, o. J. 16 Stoffdruck, Entwurf: Wolf Bauer 1967 17 Stoffdruck, Dessin Planonia , Entwurf: Anton Stankowski, o. J.

ment als Verbrechen« bezeichnete und es auf einer frühen und degenerierten Zivilisationsstufe des Menschen ansiedelte. Spä testens seit Worringers Neubestimmung des Musters im 20. Jahr hundert ist die Austreibung des Ornaments keine Voraussetzung mehr für die Wiederkehr der Muster!

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Geschichte der Pausa als zentral, um das Musterverständnis der Moderne deutlich werden zu lassen und darüber hinaus den Zusammenhang zwischen ei ner Produktions- und Wahrnehmungsweise des Menschen im 20. Jahrhundert herzustellen. Das Entwerfen von Mustern sowie deren qualitätvolle Ausführung standen nicht im Zeichen einer untergeordneten kunstgewerblichen Produktion, sondern waren gekennzeichnet von dem Suchen nach eigenständigen Lösungen und von dem Vertrauen in den Stoffdruck, der einen entschei denden Anteil an der Formung des modernen Menschen leisten sollte. Die das Haus auszeichnenden Themenreihen wie etwa die Kollektion Computer Design von 1971 abb. 55 s 8 machen die Eigenständigkeit des Stoffdrucks deutlich, indem sie Muster nicht nur als die übliche ornamentale Flächendekoration im Gebrauchsstoff definierten, sondern auch einzelne freistehende Motive mit einem die gesamte Stoffbahn ausfüllenden Rapport auf Stoff druckten. Dazu gehörten solche abstrakten Dessins, wie die Kollektion a fricana von 1965 abb. 42 s 28 oder die Ent würfe von Verner Panton. abb. 6 s 21

Die für Pausa eigentümliche Verbindung von Material und Mo tiv gründete nicht nur im Selbstverständnis einer Kunstfertig keit, sondern erhob Anspruch auf künstlerische Qualität, schuf eine innovative Verbindung zwischen gewerblichen Produktionsformen und individueller Gestaltung. Mit dem Selbstbe wusstsein eines marktführenden Unternehmens nahm Pausa die kulturellen Entwicklungen der Zeit auf: Dafür mag das in ein Muster übersetzte Motiv der Doppelhelix und seiner sich inein ander verschränkenden Bänder in den 1950er Jahren stehen oder aber die Dessins Willi Baumeisters, abb. 11 1 s 8 der mit Hilfe des Stoffdrucks eine Akzeptanz für die abstrakte Kunst nach 1945 zu schaffen suchte.

Unsere Wahrnehmung für Muster ist gegenwärtig geschärft, weil sich in der reihenden und in vielen Fällen gegenstandslosen Ge staltung ein gemeinsamer Ausgangspunkt von Geistes- und Na turwissenschaften abzeichnet, der von der Betrachtung atoma rer Strukturen als Muster bis zur Evolutionsästhetik reicht. Ana log zum Bildverständnis der neueren Bildwissenschaft, die den klassischen Kanon der ikonographischen Kunstgeschichte radi kal erweitert, weist das Muster kein Narrativ auf und muss viel mehr auf seine rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen wie wahrnehmungspsychologischen Gesetze hin befragt werden. Hier zeigt sich ein weiterführender Kreuzungspunkt der seit den 1990er Jahren vielbeschworenen gegenseitigen Durchdringung

von Kunst und Wissenschaft. Aus dem ursprünglichen Gegen satz von Kunst und angewandter Kunst ist heute eine Frage nach der Serialität und ihren Ausdrucksmöglichkeiten und Bedin gungen geworden.

Die interdisziplinäre Aufarbeitung der Pausa muss mit den kunst theoretischen Protagonisten wie Wilhelm Worringer und ihrer Verteidigung des Ornaments beginnen, eine Alltags- und Bear beitungskultur des Musters aus kulturwissenschaftlicher Sicht einbeziehen und den Aspekt der Serialität für das Bildverständ nis des 20. Jahrhunderts einbringen. Deshalb ist in dem noch er haltenen Archiv sowie in dem Sachensemble als Zeugnis einer blühenden Industriekultur vor allem ein Ort intellektueller Aus einandersetzung zu sehen, der Anstoß und Material zu einer neu en, noch nicht geschriebenen phänomenologischen wie theore tischen Geschichte des Musters im 20. Jahrhundert liefern wird.

Anke te Heesen, geboren 1965, promovierte nach ihrem Studium der Kulturpädagogik an der Universität Oldenburg. Neben etlichen Lehr- und For schungsaufenthalten im Ausland war sie von 1999 bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. Seit 2008 hat sie die Professur für Empirische Kulturwissenschaft/Museumswissen schaft sowie kulturgeschichtliche Sach- und Bildforschung an der Universität Tübingen inne. 2006 erschien ihr Buch Der z eitungsausschnitt Ein Papierobjekt der m oderne im Fischer Taschenbuch Verlag. Daneben kuratierte sie zahlreiche Ausstellungen, darunter zuletzt 2007 (mit A. Michels) auf /zu Der s chrank in den Wissenschaften (Museum der Univer sität Tübingen). 2008 erhielt sie den Preis der Aby-Warburg-Stiftung, Hamburg.

kur — programm zur konservierung und restaurierung von mobilem kulturgut

Die Kulturstiftung des Bundes finanziert mit 7 Millionen Euro ein auf mehrere Jahre angelegtes, bundesweites Programm zur Konservierung und Restaurierung (KUR ) von mobilen Kunst- und Kulturgegenständen, das sie gemeinsam mit der Kulturstiftung der Länder durchführt. Viele der gefährdeten Objekte und Bestände sind nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten würde, sehr alt, sondern stammen aus den letzten hundert Jahren. Der umfangreiche Einsatz »künstlicher« Werkstoffe im 20 Jahrhundert zieht für die Museen, Bibliotheken und Ar chive inzwischen zahlreiche Konservierungsprobleme nach sich. An deren Lösung arbeiten und forschen eini ge der geförderten Projekte, von denen wir Ihnen hier eine Auswahl vorstellen. Mehr Informationen zum KUR Programm und eine Übersicht über alle 26 geförderten Projekte finden Sie unter www.kulturstiftung-bund.de Es liegt auf der Hand, dass das KUR -Programm nicht die finanziellen und strukturellen Defizite der Museen, Archive und Bibliotheken kompensieren kann. Das Initi ativprogramm soll Akzente setzen und Impulse geben, die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, um den Reichtum und die Gefährdung des kul turellen Erbes stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. kunststoffe Das vielleicht anschaulichste Beispiel für die Brisanz des Themas ist das Projekt »Antiaging für Kulturgut mit Elastomeranteilen« unter der Leitung des Deutschen Bergbaumuseums Bochum. Das For schungsvorhaben will Konservierungskonzepte entwi ckeln, um Materialien mit Elastomeranteilen, beispiels weise Gummi oder andere Kunststoffe, konservieren zu können. Das Bergbaumuseum kooperiert in diesem Forschungsprojekt mit zahlreichen anderen Einrich tungen, darunter das Filmmuseum Potsdam, die Fach hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, das Mu seum der Arbeit im Hamburg oder das Restaurierungs zentrum der Landeshauptstadt Düsseldorf. Gemeinsam wollen diese Einrichtungen versuchen, Lösungen dafür zu finden, wie der Verfallsprozess dieser Materialien aufgehalten werden kann.

Ein Vorhaben des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin befasst sich mit den Fol

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gen der »Alterung von künstlichen Bindemitteln auf zen tralasiatischen Wandmalereien« aus dem 2. bis 6. Jahr hundert. Hier werden exemplarisch insbesondere die Restaurierungen aus den vergangenen Jahrzehnten unter die Lupe genommen. Der extensive Einsatz von Kunststoffen in den 1970er und 1980er Jahren wird in zwischen kritisch gesehen, weil das Bindemittel sich wesentlich schneller verändert als noch vor wenigen Jahren angenommen. Die Ergebnisse der Forschungen werden weltweit in den Museen Beachtung finden. Das Berliner Museum kooperiert hier mit dem Rathgen-Forschungslabor der Stiftung Preußischer Kultur besitz, der Universität Peking und der Antiques Ana lytics GmbH, Eppstein.

tonaufnahmen Andere Projekte befassen sich mit der Sicherung und Restaurierung von analogen und di gitalen Musik- und Bildspeichermedien. Das Deutsche Museum in München wird den musikalischen Nachlass des (Film-)Musikers Oskar Sala konservieren. Salas Werk ist vorwiegend durch Tonbandaufnahmen über liefert und soll über Kopien 1:1 digital gesichert werden.

Die alten Magnettonbänder mit einer Trägerschicht aus Kunststoff drohen sich aufzulösen. Damit wäre das Werk des berühmten Musikers, der unter anderem die Musik zu Hitchcocks Film »Die Vögel« geschrieben hat, unwiederbringlich verloren.

Das Musikarchiv des Ethnologischen Museums in Berlin wird bei einem Projekt unterstützt, in dem ebenfalls Ton material konserviert werden soll. Das Projekt »ILKAR

Integrierte Lösungen zur Konservierung, Archivie rung und Restaurierung gefährdeter Magnetbänder und Bandwalzen« soll die einzigartige Sammlung tradi tioneller Musik aus allen Regionen der Welt des Ethno logischen Museums vor dem Verfall retten. Zum Be stand gehören mehr als 30 000 Wachswalzenaufnah men sowie circa 9 000 originale Feldaufnahmen auf un terschiedlichen analogen und digitalen Bandmateri alien (Magnettonband, DAT, VHS u. a.). Die Wachswal zensammlung des Museums wurde wegen der heraus ragenden Bedeutung dieser historischen Tondokumen te 1999 in die UNESCO -Liste »Memory of the World« auf genommen.

medienkunst Im Projekt Mediaartbase.de haben sich drei bedeutende deutsche Einrichtungen zusam mengetan, um gemeinsam die Archivierung von Medi enkunst voranzutreiben. In den letzten drei Jahrzehnten ist eine hohe Zahl künstlerisch wertvoller Arbeiten ent standen, die bestehende Archive bislang kaum erfas sen. Ihre Sicherung und Restaurierung ist eine wesent liche Herausforderung für die Gegenwart und Zukunft: Videobänder, Filme, analoge Trägermaterialien, aber auch CD s und DVD s verfügen nur über eine begrenzte Lebensdauer. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer exemplarischen Datenbank-, Archiv- und Präsentations struktur, die auch kleineren Archiven und anderen Insti tutionen einen Zugang zu diesen umfänglichen Daten ermöglicht und sie dabei unterstützt, eigene Bestände aufzuarbeiten. Hier kooperieren das European Media Art Festival / Experimentalfilm Workshop e. V., das do cumenta Archiv Kassel mit dem Dokumentarfilm- und Videofest Kassel sowie das ZKM | Zentrum für Kunstund Medientechnologie Karlsruhe. papier, fotografische reproduktionen, film material Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden Zei tungen auf Holzschliffpapier hergestellt. Für die Mas senproduktion war dieses Papier sehr gut geeignet es ist jedoch sehr instabil. Die in den Papieren enthal tene Säure ruft den so genannten »Säurefraß« hervor. Das Papier vergilbt und verliert seine mechanische Fes tigkeit. Für die Restaurierung säuregeschädigter Bücher wurden bereits verschiedene Verfahren zur Entsäue rung entwickelt. Jedoch gibt es keine Technologie, um mit vertretbarem Aufwand die vielfach schwer geschä digten, großformatigen Zeitungsseiten zu stabilisieren. Eine Stabilisierung ist Voraussetzung für eine Mikrover filmung oder Digitalisierung, die wiederum den Bestand langfristig sichern helfen. Die Berliner Staatsbibliothek will mit diesem Projekt zur Stabilisierung zerfallsgefähr deter Zeitungsseiten einen innovativen Lösungsansatz zur Stabilisierung hochbrüchiger Papiere modellhaft entwickeln. Die Akademie der Künste Berlin ist im Besitz eines be deutenden Bestands: Sie verfügt mit circa 12 000 Plänen über eine große Sammlung an Architekturzeichnungen

auf Transparentpapier und fotografischen Reprodukti onen des renommierten Architekten Hans Scharoun u. a. Architekt der Berliner Philharmonie. Die Pläne sind derzeit für die Forschung nicht zugänglich, weil sie aus materialtechnischen Gründen und aufgrund der kon servatorisch problematischen Lagerung in Kartonrollen akut gefährdet sind. Im Rahmen des KUR -Projektes soll eine restauratorische und konservatorische Bearbei tungsstrategie entwickelt werden, die die Entrollung der Pläne sowie ihre Restaurierung und fachgerechte Lage rung nach arbeitsökonomischen Prinzipien ermöglicht. Dadurch soll der Bestand endlich wieder wissenschaft lich genutzt werden können.

Die Deutsche Fotothek in der Sächsischen Landesbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB ) gehört zu den bedeutendsten Bildarchiven der Kunst- und Kulturgeschichte. Sie strebt im Rahmen des KUR -Projektes Exemplarische Sicherung deutscher Bildgeschichte die Sicherung und vollständige Publika tion von 68 000 Filmnegativen an, die die historische Si tuation in Berlin, Dresden und Leipzig nach 1945 doku mentieren und die politische, kulturelle und städtebau liche Entwicklung in den folgenden Jahren des Wandels und der Neuformierung deutscher Lebenswirklichkeit bis circa 1960 begleiten. Die Bilder porträtieren die Ak teure in Politik, Kultur und Wissenschaft in den entschei denden Jahren der Konstituierung deutsch-deutscher Realität. Ein geeignetes Digitalisierungsverfahren des originalen Filmmaterials und die anschließende Ausbe lichtung auf langzeitstabilen Polyesterfilmen sollen die sen Bestand sichern. Die Negative sind durch bereits begonnenen materiellen Verfall akut bedroht und kön nen zum Teil nicht mehr im Original erhalten werden. Al le im Verlauf des Projektes gesicherten Nachlässe wer den der Öffentlichkeit über das freie Bilddatenangebot www.deutschefotothek.de zur Verfügung stehen.

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Entwurfszeichnung, Dessin t ampura von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin a rabesco von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Connobio , o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Falter , o. J.
Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin s elvina o. J.
Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Wido , o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin g rossblatt , Entwurf: Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Petunien , o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin o rtisei , o. J.
Entwurfszeichnung, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Rivarolo , o. J.

kunst im kalten krieg

Der Kalte Krieg endete 1989 mit dem Fall der Mauer. Zwanzig Jahre danach wird der ver gleichende Blick auf die materialreichen Kunstszenen in Ost- und Westdeutschland zwei fellos ein zentrales Ereignis des Gedenkjahres 2009 sein. Das lässt sich schon an den Daten der Ausstellungseröffnungen erkennen: Am 23. Mai 2009, zum 60. Jahrestag der Verkün dung des Grundgesetzes, wird die Ausstellung Deutsche Kunst im Kalten Krieg im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg eröffnet und danach am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, im Deutschen Historischen Museum Berlin. Ihre erste Station hat die Ausstellung aber gleich zu Beginn des Jahres 2009, am 25. Januar in Los Angeles. Los Angeles ist der Ort in den Vereinigten Staaten, wo das Interesse an deutscher Kunst be sonders ausgeprägt ist. Das liegt an den vielen Emigranten, die vor Hitler dorthin flohen, das liegt aber auch an den speziellen Vorlieben von Sammlern und Mäzenen wie Robert Gore Rifkind und nicht zuletzt an Stephanie Barron. Im Los Angeles County Museum of Art (LACMA ) hat sie in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder bedeutende Ausstel lungen zur deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts erarbeitet. Gemeinsam mit Eckhart Gil len aus Berlin bereitet sie derzeit das große Epochenpanorama über die Kunst im geteilten Deutschland vor. Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Schau. Stephanie Barron gibt Auskunft über ihre Pläne für die Ausstellung und ihre Motive, sich als US -Amerikanerin mit der Kunst aus Deutschland so intensiv zu beschäftigen.

p: Ms. Barron, Sie haben beharrlich wie nie mand sonst in den USA immer wieder Ausstel lungen über die deutsche Moderne organisiert. Was fasziniert Sie so an der deutschen Kunst?

b: Jede Ausstellung, die ich seit den frühen Acht zigern kuratiert habe, führte mich in irgendeiner Weise zur nächsten. Das war wie ein Sog, weil die deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts einen sehr zur Beschäftigung mit dem historischen und politischen Kontext zwingt. Dieses Verhält nis hat mich immer sehr stark interessiert, und die deutsche Kunst erzählt da eine enorm reich haltige Geschichte. Auch das Publikum in den USA ist dafür empfänglich. Die deutsche Kunst ist sehr kraftvoll, aber in den Vereinigten Staaten noch nicht so erforscht, bisher auch einer brei teren Öffentlichkeit nicht so zugänglich, wie sie es verdient. Das spornt mich als Kuratorin an.

p: Was weiß das amerikanische Publikum über die deutsche Kunst?

b: In Los Angeles erfreut sich die deutsche Kunst großer Wertschätzung, doch bekommt sie leider nicht im ganzen Land die Beachtung, die sie ver dient. Generell, denke ich, kennt man vor allem die großen Namen wie Beckmann oder Kirch ner. Nach 1945 geht das dann erst wieder mit den populären Künstlern in den Siebzigern und Achtzigern los, etwa Anselm Kiefer, Georg Baselitz oder Gerhard Richter, natürlich auch Beuys. Danach gibt es dann weiße Flecken, und erst wieder mit dem Boom der jungen Leipziger Schule erwachte ein neues Interesse an deut schen Künstlern. Die Kenntnisse über deutsche Kunst sind in Amerika jedenfalls ziemlich lü ckenhaft. Ein Problem waren bis vor kurzem die amerikanischen Universitäten, wo sich die Kunsthistoriker hauptsächlich an Frankreich orientierten. Als ich studierte, wurde nur an zwei Colleges die deutsche Kunst intensiv behandelt. Das Problem fing ja schon mit der Sprache an.

In den allermeisten Schulen lernten die Schüler Französisch, nicht Deutsch. Lange Zeit waren die wichtigen Texte nicht ins Englische übersetzt, und man musste gut Deutsch können, wenn man ernsthafte kunsthistorische Forschung be treiben wollte. Das war der Beschäftigung mit deutscher Kunst nicht gerade dienlich.

p: Aber irgendwann gab es doch einen Um schwung. Ernst Ludwig Kirchners Berliner s trassenszene erzielte im November 2006 bei Christie’s den Rekordpreis von 38 Millionen Dollar, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch in der zeitgenössischen Kunst sind die Deutschen so erfolgreich wie nie.

b: Der Markt für Gegenwartskunst ist außer Kontrolle geraten. Die Preise, die da gezahlt wer den, machen einfach keinen Sinn mehr. Es gibt einen schier unerschöpflichen Nachschub von Werken, und immer neue, ungeheuer reiche Leu te tauchen auf, die Kunst kaufen wollen. Denken Sie an die Russen oder den neuen Markt in Chi na, von dort kommen jetzt die ganz starken Käu fer. Ich denke, das ganze Kräfteverhältnis des Kunstmarkts ist nicht mehr das, was es vor zwan zig, ja selbst noch vor zehn Jahren war. Aber her ausragende Meisterwerke wie Kirchners Berli ner s trassenszene fordern immer ihre ex zeptionellen Preise.

p: Sie sind mit der deutschen Gegenwartskunst sehr vertraut. Warum ist sie derzeit so attraktiv für eine internationale Sammlerschaft? Viel leicht wegen einer romantischen Tradition, die in ihr weiterlebt?

b: Die Künstler sind doch heute international. Wenn ich hier in Berlin durch die Galerien und Ateliers gehe, treffe ich auf Künstler aus Taiwan oder London, aus Rom, Paris oder aus Los An geles. Die deutschen Künstler bewegen sich ge nauso erfolgreich auf dem internationalen Par

kett. Das Phänomen der Leipziger Malerei mag etwas Spezifisches sein, aber insgesamt sehe ich in den Arbeiten, die in Deutschland entstehen, einfach eine sehr hohe Qualität. Gewiss, es gibt eine Rückkehr zur Malerei und zum Figura tiven, aber das gibt es auch in London, Los An geles und New York.

p: Im Januar wird Ihre Ausstellung a rt of the t wo g ermanys/Cold War Cul tures (auf Deutsch: »Deutsche Kunst im Kal ten Krieg«) in Los Angeles eröffnet, bevor sie dann auch in Nürnberg und Berlin zu sehen ist. Die Kulturstiftung des Bundes fördert diese Ausstellung anlässlich des Gedenkjahres 2009, in dem an 20 Jahre Mauerfall und 60 Jahre Grün dung der beiden deutschen Staaten erinnert wird. Was hat Sie an diesem Thema gereizt? b: Eigentlich beschäftige ich mich schon seit vielen Jahren mit der Kunst aus beiden deut schen Staaten. Mitte der Achtziger bereitete ich eine Ausstellung über die zweite Generation des deutschen Expressionismus vor. Wir beka men viele Leihgaben aus der DDR , und ich reiste in diesem Zusammenhang einige Zeit in Ost deutschland herum. Für mich war das faszinierend, aber auch eigenartig und fremd. Natürlich forschte ich in erster Linie über das frühe 20. Jahrhundert, aber gleichzeitig schaute ich mir in den Museen auch die zeitgenössische Kunst der DDR an und diskutierte mit den Kol legen dort darüber. Was seit den Sechzigern in der Bundesrepublik entstanden war, kannte ich recht gut. Die Kunst der fünfziger Jahre hingegen war mir damals noch recht fern; sie kann te ich nur aus Büchern, in den USA wurde das nicht gesammelt. Nun aber schaute ich mir an, was die ostdeutschen Künstler seit den Sech zigern gemacht hatten. Ich war sehr neugierig auf die Gleichzeitigkeit von zwei ganz unter schiedlichen Entwicklungen.

p: Sebastian Preuss

Und in den neunziger Jahren hatte ich dann ehr lich gesagt das Gefühl, dass man das alles doch sehr voreilig verdrängte. Jetzt wollte man nach vorne und nicht zurück schauen. So landete die Kunst der DDR in den ostdeutschen Museen im Keller, während man sie im Westen nicht sam meln wollte. Mich hat das ziemlich überrascht. Sprach ich mit deutschen Kollegen, hörte ich harsche Urteile darüber, was von Wert sein soll te und was nicht. Darum dachte ich, dass viel leicht eine Annäherung von außen, ohne all diesen historischen Ballast, für einen unvorein genommeneren Blick sorgen könnte. Vielleicht ist es meine geographische und auch kulturelle Distanz, aber auch der Zeitabstand von fast zwanzig Jahren, dass ich es als Kunsthistorike rin und Museumsfrau sehr wichtig fand, mich dieser Epoche zu widmen. Sonst ist in fünfzig Jahren vielleicht gar nichts mehr davon bekannt. Jedenfalls nicht in der US -amerikanischen Öf fentlichkeit.

p: Die Ausstellung wird mit dem Kriegsende 1945 beginnen. Wie gehen Sie mit dem Mythos von der »Stunde Null« um?

b: Wir versuchen, jegliche Schwarzweißmale rei zu vermeiden. Die »Stunde Null«, die An sicht, alles Vorige sei ausgelöscht gewesen das ist zu undifferenziert, wie die jüngere Forschung belegt hat. Genauso wie die strikte Gegenüber stellung von Abstraktion und Figuration, die man der Nachkriegszeit immer unterstellt. Aber wichtig war mir, dass die Ausstellung mit der Zerstörung beginnt, mit den Ruinen von Berlin und Dresden. Denn das ist in den USA keines wegs der geläufige Blick auf Deutschland und den Zweiten Weltkrieg. Wir beginnen mit Film material über die Bombardierung von Dresden und Berlin. Von dort leiten wir über zu den er greifenden Ruinen-Zeichnungen Hermann Ru dolphs und den Fotos, auf denen Richard Peters

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b: Stephanie Barron

das leblose Dresden unmittelbar nach dem großen Bombenangriff im Februar 1945 festhielt. Die Menschen gierten nach Kunst in dieser Situ ation. Acht Monate nach Kriegsende fanden in Deutschland schon wieder rund vier Dutzend Kunstausstellungen statt! Das sagt doch viel darüber aus, wie wichtig Kunst und das Bedürfnis nach künstlerischer Auseinandersetzung ist.

p: Welche Rolle spielte aus Ihrer Sicht der Kalte Krieg in der Kunst?

b: In der DDR war die Kunst zweifellos ein wich tiger Aspekt in der Politik der sozialistischen Par tei. Wie allgemein bekannt, wurden die Künst ler vom Staat beschäftigt, sie machten Auftrags kunst und stellten ihre Arbeit in den Dienst des gesellschaftlichen Ganzen. Auf der anderen Sei te des Eisernen Vorhangs entstand die documen ta mit künstlerischen, aber zugleich auch poli tischen Absichten. Im 20. Jahrhundert war die Kunst in Deutschland immer sehr eng mit Poli tik und Geschichte verflochten, egal ob im Os ten oder im Westen, wenn auch mit unterschied lichen Ausrichtungen. Das war übrigens auch vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland so und setzte sich danach in beiden deutschen Staa ten fort.

p: Ist »das Politische« also ein Merkmal deut scher Kunst? Etwa ein Unterschied zur ameri kanischen Kunst?

b: Auch in den Vereinigten Staaten war die Kunst zu verschiedenen Zeiten sehr politisch, aber eben nicht so durchgängig wie in Deutsch land. Es gab die staatlichen Kunstaufträge in den Dreißigern und Vierzigern durch das Be schäftigungsprogramm der Works Progress Ad ministration oder später die Protestkunst gegen den Vietnamkrieg. Trotzdem ist das Politische in der amerikanischen Kunst nicht der entschei dende Strang.

p: Erlauben Sie mir die platte Frage: Was unter scheidet die ostdeutsche von der westdeutschen Kunst?

b: Das ist eine zu große Frage für eine einfache Antwort. Es ist wie die Suche nach »dem Deut schen« in der deutschen Kunst oder »dem Ame rikanischen« in der amerikanischen Kunst. Sol che Antworten geben wir in der Ausstellung nicht, auch wenn das viele vielleicht gern hätten, um ihre alten Denkmuster zu bestätigen: So oder so ist die ostdeutsche, so oder so die west deutsche Kunst. Es gibt sicher Unterschiede, aber auf eine einfache Formel lässt sich das nicht bringen.

p: Die Auseinandersetzung mit der unter dem Nazi-Regime abgerissenen Moderne ist eines der Leitthemen der Nachkriegskunst. Warum aber verlief deren Wiederaneignung so zöger lich, wurde etwa Dada erst in den Sechzigern wiederbelebt?

b: Ich glaube, dass sich da langsam ein Druck aufgebaut hat bei der Frage, wie die Deutschen mit ihrer jüngsten Vergangenheit mit den zwölf Jahren des Nationalsozialismus zurechtkom men sollten. Das hatte tiefgreifende Folgen für die Situation in den Sechzigern. Für mich ist das einer der spannendsten Aspekte in der Ausstel lung, und zwar in Ost wie West: dieser Bruch von den späten Fünfzigern bis zur Mitte der

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Sechziger. Zu sehen, wie intensiv sich die Künst ler auf einmal mit der Geschichte und der Erin nerung an die NS -Zeit beschäftigten. In Ameri ka wissen viele Menschen gar nicht so recht, was etwa die Auschwitz-Prozesse für Deutschland bedeuteten, wie die Deutschen versuchten, sich ihrer Vergangenheit und ihrer Schuld zu stellen. Dass und wie die Künstler dies thematisierten.

p: Genau in den Jahren, als der Krieg und die Nazizeit zunehmend zu Reibungsflächen der Kunst wurden, etwa bei Gerhard Richter, be gann ja auch die amerikanische Kunst PopArt, Konzeptkunst, Minimal einen übermäch tigen Einfluss auf die Szene der Bundesrepublik auszuüben.

b: Ja, genau in dieser Zeit, in den späten Sech zigern, waren überall in Westeuropa die ersten Ausstellungen mit Kunst aus den USA zu sehen.

Deutsche Sammler wie Peter Ludwig oder Karl Ströher kauften im großen Stil die Pop-Art. Auf einmal waren die Werke der aufblühenden in ternationalen Kunstszene vor allem aus Lon don und New York in Köln, Düsseldorf oder München zu sehen. Das machte natürlich großen Eindruck auf die Künstler dort. Da kamen internationale Impulse mit Themen der deut schen Vergangenheitsbewältigung zusammen. Sehr spannend. Besonders bei Gerhard Richter gelangten beide Einflüsse zur Synthese, die sein Werk auch international sehr reizvoll machten.

p: Der amerikanische Einfluss war ja in Deutsch land so intensiv spürbar wie in keinem anderen europäischen Land?

b: Da haben Sie wahrscheinlich recht. Eine gut entwickelte Galerienlandschaft spielte dabei kei ne geringe Rolle, ebenso die engagierten Samm ler, die besonders im Rheinland die amerika nische Kunst öffentlich sichtbar machten. Hin zu kam die documenta, wo immer wieder sehr viel Kunst aus den USA zu erleben war. Die PopArt verbreitete sich sicher rasch in ganz Europa, aber die Konzeptkünstler fanden ihr Publikum vor allem in den Niederlanden und in der Bun desrepublik. Viele dieser Künstler hatten hier in Deutschland ja mehr Erfolg als in Amerika. Dank enthusiastischer Kuratoren, die die sper rigen Werke zeigten und sich nicht darum scher ten, dass es keinen Markt dafür gab.

p: Ein heimlicher Held der Ausstellung scheint mir Hermann Glöckner zu sein, der konstrukti ve Einzelgänger aus Dresden. Sie zeigen dreißig Werke von ihm! b: Ja, es sind aber in der Mehrzahl kleinere Ob jekte. Für mich war Glöckner eine wirkliche Of fenbarung. Diese kleinen Modelle, diese ein fachen Papierarbeiten das ist ein verborgener Schatz und sicher eine Überraschung für viele Besucher in Los Angeles. Und wahrscheinlich auch für die Besucher in Deutschland. Ich bin sicher, auch die werden Entdeckungen machen.

p: Sie haben die Ausstellung gemeinsam mit Eckhart Gillen aus Berlin erarbeitet. Worin un terscheidet sich Ihr (amerikanischer) Blick auf die deutsche Nachkriegskunst von seinem? b: Es ist großartig, mit ihm zusammenzuarbei ten. Eckhart Gillen verfügt über ein enormes Wissen zu diesem Thema, ganz besonders über die ostdeutschen Künstler. Dabei blieb er stets

offen und neugierig, was von dem großen Mate rial, das er zur Verfügung stellte, für ein ameri kanisches Publikum interessant sein könnte. Wir ergänzten uns bestens. Dass wir etwa Glöck ner so deutlich hervorheben, geht eher auf mei ne Begeisterung zurück. Andererseits hat Eck hart die Rekonstruktion von Gerhard Richters 24-Stunden-Ausstellung v olker Bradke in der Galerie Schmela von 1966 vorgeschlagen, die sicherlich eine weitere Überraschung in der Ausstellung sein wird. Diese Zusammenarbeit wird Spuren in der Ausstellung hinterlassen: Sie würde anders aussehen, wenn ich oder er sie al lein gemacht hätte. In der Zusammenarbeit ha ben wir beide unsere Ansichten zur deutschen Kunst und deren Präsentation hinterfragt und manchmal auch revidiert.

p: Bislang gab es oft Ärger, wenn Künstler aus Ost und West direkt nebeneinander gehängt werden sollten. Baselitz und seine Entourage et wa wehrten sich stets vehement gegen den Ver gleich mit Heisig, obwohl gemeinsame stilis tische Wurzeln ja unübersehbar sind. b: Das US -amerikanische Publikum bringt das große Drama der Teilung und Wiedervereini gung ja nicht mit in die Ausstellung. Mehr noch als stilistische Ähnlichkeiten interessiert mich aber, auf welch unterschiedliche Weise sich die Künstler zur gleichen Zeit den gleichen Themen nähern, den Abgründen der deutschen Geschich te. Das trifft auch auf Heisig und Baselitz zu.

p: Für die westdeutsche Kunst ist man sich wohl weitgehend einig, dass Joseph Beuys und Ger hard Richter die überragenden Figuren sind. Aber wie sieht es in der DDR aus? Wer war hier epochal? Eher die zurückgezogenen Einzelgänger wie Hermann Glöckner, Gerhard Alten bourg oder Carlfriedrich Claus?Oder doch die staatlich geförderten Maler wie Bernhard Hei sig oder Werner Tübke? b: Tübke zeigen wir an mehreren Stellen in der Ausstellung, Heisig auch. Sitte taucht weniger auf; das haben wir durchaus mit Bedacht ent schieden. Zwar zeigen wir einige Hardliner des Sozialistischen Realismus, denn es wäre ein Feh ler, diesen Aspekt auszublenden. Aber der Aus stellungsraum im Museum ist begrenzt und wir mussten uns beschränken. So gibt es weniger Propagandakunst, dafür mehr Werke von Tübke, Heisig, Altenbourg, Claus oder Glöckner, aber keiner dieser Akteure ist als die eine überragende Figur einzuschätzen. Wichtiger als die sozialis tischen Staatskünstler waren uns auch die »Au toperforations«-Künstler aus Dresden, die sicher viele Besucher in Amerika überraschen werden. Dazu haben wir eine Fotodokumentation der Aktionen, Videoaufnahmen und Relikte der Per formances. Wir wollen also durchaus den Blick auf Einzelgänger und Außenseiter lenken, die nicht den offiziell genehmen Weg in der DDR gingen. Im Westen halte ich Vostell für derzeit unterschätzt. Deshalb räumen wir ihm ziem lich viel Platz ein. In Amerika ist er längst noch nicht so wahrgenommen und gewürdigt wor den, wie es ihm gebührt. Dafür zeigen wir nicht so viele Werke von Kiefer, der in den USA ja wirklich sehr bekannt ist.

p: Aber müssen Sie nicht auch gewisse Erwar tungen bedienen und populäre Künstler zeigen,

um das Publikum anzusprechen? Anselm Kie fer steht ja wie kaum ein Zweiter für das »Deut sche« in der deutschen Gegenwartskunst. b: Schon das Thema »Deutschland« an sich zieht die Menschen an. Vieles in der deutschen Kunst zwischen 1945 und 1989 ist ohnehin nicht spezifisch »deutsch« denken Sie an die kon zeptuellen Ansätze oder die Performances, die sind eher in einem internationalen Kontext eingebettet und werden in unserer Ausstellung auch gezeigt. Aber das in den Sechzigern wieder erwachte Interesse an der Geschichte und der Vergangenheitsbewältigung, das ist schon sehr spezifisch für Deutschland. Genau diese poli tische, geschichtsträchtige Kunst der Sechziger und Siebziger bildet denn auch das Herzstück der Ausstellung. Aus dieser Zeit stammen, wie ich finde, die besonders faszinierenden Werke. International gesehen, trug die deutsche Kunst seit dieser Zeit auch wesentlich zur Rückkehr der figürlichen Malerei bei. Und genau das war auch ein wesentlicher Grund, warum sich die Kunstwelt wieder für das interessierte, was in der Bundesrepublik geschah. Von der Kunst in der DDR war natürlich weniger bekannt, obwohl sie eigentlich daran einen großen Anteil hatte.

p: Im nächsten Jahr feiern wir das 20 -jährige Jubiläum des Mauerfalls. Was bedeutet 1989 für die Amerikaner?

b: Es ist nicht allzu präsent, auch das ein Grund, weshalb wir diese Ausstellung machen wollten. Jeder kennt natürlich die Fernsehbilder vom Fall der Mauer, aber Amerikaner wissen gar nicht, was die Teilung des Landes eigentlich bedeutete.

Für junge Menschen, die heute zwanzig sind, ist der Kalte Krieg sehr weit weg. Darum müssen wir ihren Blick darauf lenken, bevor alles in Ver gessenheit gerät oder unter den Tisch gekehrt wird.

ihnen wurden legendär, etwa t he Russian a vantgarde (1980 ) oder g erman Expres sionist s culpture ( 1982 ). Besonders der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts widmete sich Barron intensiv. Nach der Plastik des Expressionismus zeigte Stephanie Barron 1988 g erman Expressionism t he s econd g eneration 1915–1925 . Aufsehen erregte 1991 ihre Aus stellung über Hitlers Schandaktion Entartete Kunst ; 1997 folgte eine Schau über Künstler im Exil und auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. Daneben organisier te sie Retrospektiven zu David Hockney oder Georg Base litz, 2006 verfolgte sie Magrittes Einfluss auf die Gegen wartskunst. Alle Ausstellungen Barrons über die deutsche Moderne und ihren historischen Kontext waren auch in Deutschland zu sehen. Die Bundesrepublik verlieh ihr für den kunsthistorischen Brückenbau das Verdienstkreuz und das Große Verdienstkreuz, die Schweiz würdigte sie mit dem Kirchner-Preis. Ab Januar 2009 wird a rt of t wo g ermanys/Cold War Cultures in Los Angeles, danach in Nürnberg und Berlin zu sehen sein. Die Ausstel lung entstand in enger Zusammenarbeit mit Eckhart Gillen.

Das Gespräch führte Sebastian Preuss.
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Stephanie Barron Die amerikanische Kunsthisto rikerin studierte an der Columbia University und kam nach Stationen am Guggenheim Museum, dem Toledo Muse um und dem Jewish Museum in New York 1976 ans Los Angeles County Museum of Art. Hier leitet sie seit 1995 die Abteilung der Moderne. Sie verantwortete zahlreiche Aus stellungen, einige von
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Stoffdruck, Dessin o utlook , Entwurf: Walter Matysiak, um 1950 6 Stoffdruck, Dessin Kugeln , Entwurf: Verner Panton, Pausa-Druck für Mira X-Design, 1978
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die gläserne wand

Die rumänische Revolution von 1989 begrub ein totalitäres System unter sich. Bis heute trennt sie die Kinder von ihren Eltern. Auch wo es nicht zum offenen Bruch und zur großen Abrechnung kam, auch da wo der Vatermord ausblieb, leben die Generationen seitdem in getrennten Sphären. Während die Jungen heute den Blick nach vorn richten, pflegen viele Ältere nostalgische Erinne rungen oder bleiben in einer Art Erstarrung zurück. Der Schriftsteller Mircea C ˘ art ˘ arescu erfuhr dies in seiner eigenen Familie. Mit dem Beitrag des rumä nischen Schriftstellers setzen wir die im letzten Heft mit einer Erzählung von Jáchym Topol begonnene Reihe über »Väter & Söhne« in Mittel- und Osteuropa fort.

Meine Generation kann ihren Eltern nicht mehr selbstverständ lich gegenübertreten. Nicht mit kindlicher Liebe, auch nicht de zent oder respektvoll. Da ist eine falsche Stimmung zwischen uns, eine schmerzende gläserne Wand, auch wenn wir beschlos sen haben, den Schein zu wahren, uns sonntags und an Feierta gen zu besuchen, zu lächeln und einander zu umarmen. Gegen über denjenigen, die ihnen das Leben geschenkt haben, halten die meisten von uns ihre Verpflichtungen ein. Wir helfen ihnen und beschützen sie vor den schweren Zeiten, in denen wir leben, doch von Liebe kann keine Rede mehr sein. In meinem Land le ben die Eltern und ihre Kinder heute wie Paare, die nur noch wei termachen, weil sie sich wünschen, gesellschaftlich respektiert zu werden die schmerzhafteste aller möglichen Beziehungen. Und dabei geht es nicht um den ewigen Konflikt zwischen den Generationen und die Verständnisschwierigkeiten. Auch die gibt es zur Genüge.

Nicht einmal untereinander sprachen meine Eltern offen über sexuelle Probleme, und ich vermute, sie haben sich stets schuldig gefühlt, wenn sie miteinander schliefen, als wären die Freuden des Körpers etwas Schmutziges oder gar eine Todsünde. In der Wohnung unterhielten sie sich stets im Flüsterton, damit die Nachbarn sie durch die zugegebenermaßen papierdünnen Wän de nicht hören und bloß niemand schlecht über sie reden könnte. Als ich ein Halbstarker war, weder besonders exzentrisch noch rebellisch, schickten sie mich einmal in der Woche zum Haare schneiden. Als wären die Fäden, die länger als ihre Finger waren, mit denen sie durch meine Haare fuhren, die Zündschnüre zum Sprengstoff an den Grundfesten der Gesellschaft. All die Vor würfe, die Kafka in seinem Brief äußert, hätten auch wir unseren Vätern machen können. Doch nicht davon ist hier die Rede.

Es war nicht die peinliche, kleinbürgerliche Seite ihres Alltags, nicht der Geiz, der jeden noch so geringen Geldbetrag zum Dra ma werden ließ, und es waren auch nicht die idealistischen, wirk lichkeitsfernen Klischees in ihren Reden, die dazu führten, dass sich in Rumänien nach der Revolution von 1989 die Söhne von ihren Vätern trennten. Es war vielmehr das erdrückende Gefühl, sie seien, als man ihren eigenen Kindern zynisch die Jugend raubte, Komplizen gewesen. Wenn sie sich freiwillig und sogar mit einigem Enthusiasmus selbst hatten zerstören lassen, dann hatten sie auch die unschuldige Generation nach ihnen in diese Zerstörung geführt. Dass sie eine Gefängniswelt errichtet hatten, in der sie gleichzeitig Geiseln, Opfer und Henker waren. Dass sie, indoktriniert bis zur totalen ideologischen Blindheit, versucht haben, auch ihre Kinder im Geiste ihrer eigenen Verblendung zu erziehen. Dass sie ihnen den Freiheitsinstinkt geraubt hatten,

den Mut zur freien Rede, das kritische Denken und nicht zuletzt auch Gott. Ich weiß nicht, wie die Kinder der Nazis in Deutsch land und Österreich mit ihren Eltern weitergelebt haben, auch weiß ich nicht, wie die Kinder skrupelloser Geschäftemacher, die Kinder der Mafiosi und Schurken aller Art mit ihren Eltern zu sammenleben, aber im Fall meiner Generation, die mehr als die Hälfte ihres Lebens in einem Staat gelebt hat, der den Versuch unternahm, sie zu zerstören, und aus dem man nicht fliehen konnte, ist das Zusammenleben sehr schwer, es ist zu einer der schwersten Lasten geworden, die unsere Seelen zu tragen haben.

Unsere Eltern bilden heute die Masse der Rentner, denen es in Rumänien am schlechtesten geht. Ohne die Hilfe ihrer Kinder könnten sie nicht überleben. Gleichzeitig aber bilden sie die treue Wählerschaft der politisch reaktionären, der ganz und gar die Vergangenheit verklärenden Parteien, deren Vertreter zum größ ten Teil Mitglieder der ehemals kommunistischen Führung und der Geheimpolizei, der gefürchteten Securitate, waren. Hier könnte man von einer Art Stockholm-Syndrom sprechen: Die früheren Opfer, die ehemaligen Insassen der Konzentrationsla ger sind weiterhin fasziniert von ihren Bewachern. Als tausende Bergarbeiter Bukarest mehrfach überfielen, die staatlichen Insti tutionen in Brand steckten und unschuldige Menschen auf der Straße wild verprügelten, haben unsere Eltern ihnen applaudiert und sie angespornt, als wären sie Helden. Unsere Eltern, ansons ten sanftmütige und anständige Menschen, sind diejenigen, die heute einen beängstigenden Hassdiskurs pflegen und gegen je den richten, der anders ist als sie und ihre politischen Ansichten nicht teilt. Und damit gerät alles zu einer unerträglichen Schizo phrenie: Sie sind darauf angewiesen, von ihren Söhnen das Le bensnotwendige zu bekommen, obwohl sie deren Öffnung zur freien Welt und zum liberalen Gedankengut hassen, während die Söhne sie wöchentlich in ihren Wohnungen besuchen, in de nen sie allein und von der Welt abgewandt vor sich hin leben. Dabei stellen sie sich taub bei den ressentimentgeladenen Tira den über alles, was auf dem Fernsehbildschirm geschieht das Einzige, was sie noch am Leben erhält, und gleichzeitig das, was sie weiter von der Realität wegrückt. In beinahe allen Familien ist man zu grotesken Kompromissen gelangt, hat man ein regel rechtes Protokoll entwickelt, um zu retten, was noch zu retten ist. Über Politik wird nicht mehr gesprochen, man berücksichtigt sämtliche Empfindlichkeiten, die tatsächlichen ebenso wie die möglichen, und von den Erinnerungen werden nur diejenigen aufgerufen, die ideologisch unverfänglich sind… Gewisse Wör ter sind verboten, als enthielten sie letale Verdünnungsmittel, die auch die engsten Beziehungen zwischen den Menschen zerset zen könnten. Immer noch stößt du beim Schnapstrinken mit

deinem Vater an, aber ihr schaut euch nicht mehr in die Augen. Beim Abschied umarmst du immer noch deine Mutter, aber du empfindest keine Nähe mehr, als wäre zwischen dich und sie, die ihr einstmals ein Leib gewesen seid, eine zweite Geburt getreten, eine neue, schmerzliche und nicht hinnehmbare Trennung.

Du weißt, dass du es nicht tun solltest, dass es unnütz und destruktiv ist, aber manchmal lässt es sich nicht vermeiden, und du betrachtest in der Tiefe die Wurzeln des gegenseitigen Miss trauens, der Falschheiten zwischen dir und ihnen, vor allem zwi schen dir und Ihm, der dir den warmen Ort auf der Welt bereitet hat. Es lässt sich nicht vermeiden, du musst dich bei der Erinne rung daran, wie sie dir die Feiertage gestohlen haben, aufregen; Ostern und Weihnachten, wie sie selbst den Weihnachtsmann in eine abstoßend lächerliche Karikatur verwandelt haben. Wie man dir hunderte Male wiederholt hat, es gäbe keinen Gott, die Pfarrer seien Parasiten. Und wie man dir mit den Propagandabro schüren für Kinder die »Lustige Bibel« unter die Nase gehalten hat: Es war eine stumpfsinnige Blasphemie und die einzige Bibel, die ich in meiner Kindheit zu sehen bekam. Du kannst die mor bide Angst vor der Securitate nicht vergessen, die sie dir in deiner Jugend eingepflanzt haben: Sag’ bloß nie etwas, das sich nicht gehört, kommentiere niemals die Politik der Partei, halte den Mund, wenn jemand eine politische Diskussion beginnt… Auch heute noch be drückt es dich, dass sie, obwohl es ihnen schlecht ging, jahrelang die Raten für ihre Möbel abzahlten, Abend für Abend mit dem Kopierstift sämtliche Tagesausgaben notierten und zusammen rechneten, in ihrem ganzen Leben nirgends hingereist sind und nie Urlaub machten oder Feiertage hatten, weiterhin die kom munistische Welt lobten. Eine Welt, in der sie die Augen aufge schlagen hatten, sie, Bauernsöhne, Blätter weißen Papiers, auf das die Aktivisten nach Gutdünken alles schreiben konnten, was sie wollten. In den schrecklichen Jahren des rumänischen Kommu nismus verausgabten sie sich beim Schlangestehen, sie ertrugen die sibirische Kälte in ihren ungeheizten Apartments, aber sie schoben alles auf den Wahnsinn von Ceauses¸cu und ignorierten den ideologischen Bankrott, der das Land verwüstete. Nein, der Kommunismus blieb ihnen heilig, und er ist es für sie bis heute geblieben. Die goldene Zukunft der Menschheit. Was spielte es da für eine Rolle, wenn sie und uns, ihre Söhne, eine Zukunft im Dreck erwartete.

Nach der Revolution bin ich für meinen Vater zu einem Frem den, ja sogar zum Feind geworden. Dass ich im Alter von 34 Jah ren zum ersten Mal ins Ausland reisen konnte, hat ihn überzeugt: Ich musste ein Agent des korrupten Westens sein. Eine Pariser Metro-Fahrkarte, die er in meiner Tasche fand, hat ihn in seiner

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des bundes magazin
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Überzeugung bestärkt, ich sei ein Vaterlandsverräter. Vor allem, weil ich die Liberalen und nicht die Front zur Nationalen Ret tung wählte, wie sich die ehemalige kommunistische Partei nun nannte. Nach dieser Folge von Konflikten haben wir uns mona telang nicht mehr gesehen. Ich bin überzeugt, dass er ebenso dar unter gelitten hat wie ich selbst. Vater, der Mann mit den sanft mütigsten Augen, die ein Mensch haben kann, dem ich vielleicht mein introvertiertes Wesen verdanke, ein Mensch, der nieman dem je etwas Böses angetan hat (zum Glück war er bloß Journa list bei einer bescheidenen Landwirtschaftszeitung und ist damit vor der großen Schuldverstrickung verschont geblieben), wurde vom Leben, von der Welt, der Wirklichkeit und letztlich auch von der guten Seite in sich selbst durch die eisige Klinge einer kriminellen Ideologie getrennt. Die gleiche Klinge schnitt auch in lebendiges Fleisch und trennte ihn letztlich von seinem Sohn. Welch ein schreckliches Schicksal hat seine Generation über schattet, eine Generation, die eine Folge von Diktaturen, faschis tische und kommunistische, erlebt hat, und die dann, als sie end lich ins Offene gelangte, in die freie Welt, zernagt wird von nos talgischer Sehnsucht ausgerechnet nach dem, was sie für immer verstümmelt hat.

Mittlerweile sind wir zu einem Modus Vivendi gelangt, der mög licherweise noch schlimmer ist, als der offene Streit von früher. Wir tun so, als gäbe es die gläserne Wand nicht. Mehr noch, als habe es sie nie gegeben. Manchmal denke ich, es wäre besser, wir würden uns gar nicht mehr sehen, statt die Wangen an die glatte und kalte Fläche zu legen, wenn wir uns näherkommen wollen, und zuzuschauen, wie die Tränen daran hinabfließen. Nun spü re ich das ganze Drama des Georg Bendemann, der, bevor er sich ins schwarze Wasser des Flusses wirft, es immerhin noch schafft, leise zu rufen: Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt. Ich spüre auch die unmenschliche Kälte des Wassers, das ihn ver schluckt.

Mircea C˘art˘arescu, 1956 in Bukarest geboren, debütierte Ende der sieb ziger Jahre als Lyriker und wurde in seinem Land zur Leitfigur einer ganzen Dichtergeneration. Sein Prosaband n ostalgia ( 1993 ) machte den Autor auch international bekannt. Die Geschichten aus dem heruntergekommenen Bukarest der siebziger Jahre, voller morbider Phantastik und erlesener Manieris men, erscheinen diesen Herbst in einer Neuausgabe bei Suhrkamp. Für seine mehr als tausend Seiten umfassende Romantrilogie o rbitor , ein barockes Epos über das sozialistische Rumänien, erhielt C˘art˘arescu im Mai dieses Jahres den rumänischen Staatspreis für Literatur. Der erste Teil der Trilogie ist unter dem Titel Die Wissenden ( 2007) im Zsolnay Verlag erschienen. C˘art˘arescus Erzählungsband Warum wir die Frauen lieben (Suhrkamp 2008 ) wur de in Rumänien ein phänomenaler Bestseller.

im programm mittel- und ost-europa: zipp — deutsch-tschechische kulturprojekte

Im Anschluss an das deutsch-polnische Programm büro kopernikus (2004 bis 2006) und das deutschungarische Programm bipolar (2005 bis 2007) hat die Kulturstiftung des Bundes im Mai diesen Jahres ihr drittes bilaterales Programm mit Ländern des mittleren und östlichen Europa gestartet. zipp deutschtschechische kulturprojekte behandelt bis En de 2009 ausgewählte Themen und Fragestellungen, die in Deutschland und in Tschechien von öffentlichem Interesse sind etwa Fragen nach dem Erbe der Demo kratiebewegung, dem Umgang mit historischen Trau mata, den Erfahrungen ökonomischer Transformations prozesse nach 1989 oder der Zukunft unserer Städte. Von der Idee bis zur Durchführung gehen sämtliche im Rahmen von Zipp geförderten Projekte auf Kooperati onen von deutschen und tschechischen Partnern zu rück. Der inhaltliche Fokus von Zipp liegt auf den The menschwerpunkten »1968/1989«, »Utopie der Moderne: Zlín«, »Lebenswelten« und »Kafka«. Alle Projekte von Zipp verbinden verschiedene Sparten und Disziplinen aus Wissenschaft, Kunst und Kultur. Auf diese Weise entstehen deutsch-tschechische Theaterprojekte und Themenabende, wissenschaftliche Konferenzen, Aus stellungen und Dokumentarfilme u. a.

Eine Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice, Theateraufführungen in Prag, Hamburg und Berlin sowie zwei thematische Veranstaltungen zu 68/89 bilden die Höhe punkte des Zipp-Programms im Herbst 2008 kafka und die macht ist das Thema der internationalen Ta gung im Schloss Liblice bei Prag am 24./25. Oktober. 1963 fand am selben Ort eine Konferenz anlässlich Kaf kas achtzigstem Geburtstag statt, die eine entscheidende Wende in der öffentlichen Anerkennung Kafkas in Mittel- und Osteuropa bewirkte und als Vorbote für den Prager Frühling gilt. 45 Jahre später werden Jirˇí Grusˇa, Klaus Theweleit und andere die Bedeutung des Schrift stellers als »größten Experten der Macht« (Elias Canetti) diskutieren.

Eine Opern- und zwei Theaterinszenierungen werden auf tschechischen und deutschen Bühnen Premiere fei ern und anschließend als Gastspiele im jeweils anderen Land gezeigt. Eine Autobahnraststätte zwischen Berlin und Brno ist Schauplatz der oper exit 89 von Jaroslav Rudiˇs und Martin Becker (die beiden Autoren erzählten im Magazin # 11 von ihrer gemeinsamen Arbeit am Lib retto). An jenem Ort treffen sich sechs Personen, deren Biografien durch die Erfahrungen von 1968 geprägt sind (Premiere am 22. Oktober im Theater Archa, Prag). alles wird anders, prophezeit Thorsten Trimpop, der real existierende und durch 1968 definierte deutsche und tschechische Biografien (Premiere in Hamburg: Kampnagel, 30. Oktober) unter dem gleichnamigen Titel auf die Bühne bringt darunter die der Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann. Oliver Sturm inszeniert in nico sphinx aus eis den Todesmonolog der le gendären Sängerin von Velvet Underground (Premiere in Berlin: Sophiensaele, 20. November) mit der jungen österreichischen Musikerin soap & skin.

Den Themenabenden von Zipp deutsch-tschechische Kulturprojekte des Frühjahrs (Crossing 68/89 in Berlin, Misunderstanding 68/89 in Prag) folgen im Herbst zwei weitere Themen-Veranstaltungen: performing 68/89 auf Kampnagel in Hamburg zeigt am 1. November den Einfluss von Pop-Kultur auf gesellschaftliche Umbrüche. transforming 68/89 im Brünner Theaterzentrum widmet sich vom 9.–17. November eine Woche lang den vielschichtigen Bedeutungen beider Tagesdaten für die deutsche und tschechische Geschichte.

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Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
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Entwurfszeichnung, Dessin s teinfeld , o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Eckzell , o. J.
Entwurfszeichnung, o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin Reimar , o. J.
Entwurfszeichnung, Dessin s tasia , o. J.

Für die Literaturvermittlung scheinen Ausstellungen eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Auch bei der Kulturstiftung des Bundes gehen immer mehr Anträge auf Förderung von Literaturausstellungen ein. Mit der Popularität von Literatur ausstellungen wachsen aber auch die Herausforderungen an zeitgemäße Präsentationsformen, die über die klassische Vi trinenausstellung hinausgehen. Das Goethe-Museum/Freies Deutsches Hochstift, das selbst immer wieder Ausstellun gen zu den eigenen Sammlungen zeigt, und das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main laden vom 23. bis 25. Oktober 2008 zu einem internationalen Expertenworkshop ins Frankfurter Literaturhaus, auf dem Anspruch und Wirklichkeit, Theorie und Praxis von Literaturausstellungen diskutiert werden.* Verena Auffermann, eine ausgezeichnete Kennerin des Literaturbetriebs, hat sich Gedanken darüber gemacht, was (nicht nur) junge Leser/innen wünschen.

wilder ausstellen

Clara ist ein zwölfjähriges Mädchen. Sie packt ihren Koffer für ein verlängertes Wochenende in Amsterdam. T-Shirts, Jeans, Un terwäsche, Zahnspange, rosa Converse-Stiefel, Kuscheltier, Haar bürste und vier Bücher. Wann willst Du vier Bücher lesen, wir haben ein volles Programm: Grachtenrundfahrt, van Gogh-Mu seum, Rijksmuseum, Amsterdam genießen. Clara guckt streng und bestimmt. Egal, ich brauche vier Bücher. Das ist zu viel, zu schwer, der Koffer ist voll. Clara sagt, ohne meine Bücher kom me ich nicht mit. Ich sage, Du kannst sie niemals lesen, wir wer den keine Zeit haben. Sie antwortet, das weiß ich auch, ich lese anders. Ich frage sie, was meinst Du mit anders lesen? Clara sagt, wenn mich ein Buch anödet, lese ich im nächsten und dann wie der im nächsten. Auf meinen Einwand, dann liest Du aber nie ein Buch richtig, schaut Clara mich entgeistert an. Doch, sagt sie, doch, Du verstehst wirklich nichts. Ich kenne die vier Bücher längst, habe sie oft gelesen, jetzt mische ich sie. Passt nicht immer, egal. So mache ich aus meinen ausgelesenen Büchern un gelesene Bücher. Clara triumphiert. Na, da staunst Du, sagt sie. Ich lache und antworte, Clara, wie recht Du hast, ich staune, das stimmt!

Für Claras kreative Lesepraktiken gibt es ein prägnantes Zitat: Lesen heißt wildern. Das formulierte 1980 der französische Historiker und Jesuit Michel de Certeau. Freudig hätte dieser Herr Claras Bücherkoffer an Amsterdams Grachten entlanggezogen und mit listigem Vergnügen ihrem Viererpack seine »Kunst des Handelns« untergeschoben. Er hätte ihr gesagt, erstens, was für ein überaus intelligentes und modernes Mädchen sie ist und zwei tens, dass ihr »aktives Konsumieren«, ihre Marotte, aus vier Bü chern mindestens ein fünftes zusammenzubasteln, die praktische Erfüllung seiner theoretischen Gedanken ist. Clara würde leicht verlegen lächeln und beobachten, wie sich der ältere fremde Herr an ihrer Seite in Rage redet. Der Text bekommt seine Bedeutung nur durch die Leser; er verändert sich mit ihnen, verstehst Du das? Der ge wohnte Wahrnehmungsraum, zum Beispiel das Lesen von der ersten bis zur letzten Seite, soll, und sei es nur als Experiment, gesprengt werden, damit die Kunst… Clara hat eine Pizzeria entdeckt, sie hört nicht mehr, was de Certeau über die alte Welt sagt und wie man Ge wohnheiten eigenwillig und produktiv verändert, damit etwas Neues und Anderes dabei herauskommt. Clara steckt sich eine Pizzaecke mit Käse und Rucola in den Mund und sagt, ohne le sen kann ich nicht leben. Michel de Certeau nickt, streicht über ihr dunkles Haar und schenkt ihr zu Belohnung ein Eis.

Michel de Certeau war ein hellsichtiger Wissenschaftler. Seine Beobachtungen sind eingetreten. Wir laden unterschiedlichste Texte auf den Screen, sehen einen Fernsehfilm oder eine Sportübertragung und studieren gleichzeitig das Endlosband mit Bör senkursen und Nachrichten. »Multitasking« gehört zu den le bensnotwendigen Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts. Im Sinne des aktiven Konsumierens ist das immer wieder totgeredete Buch,

das sich nicht totreden lässt, als mediales Reservoir längst nicht ausgeschöpft.

Die Frage ist: Was sollen wir tun, um aktiven Menschen zu mehr Glück beim vielfältigen Lesen zu verhelfen? Wie findet ein gegen wartsbezogenes, durch Massenmedienkonsum gut trainiertes, aber zerstreuungsorientiertes Publikum, das zwar vieles gleich zeitig kann, oft jedoch keine Übung in Geduld und deshalb auch keine Übung im ausdauernden Lesen hat, zum Buch? Bücher kann man lesen, vorlesen, hören, diskutieren, verfilmen, Bücher kann man ausstellen. Wir sind, gegen alle Hiobsbotschaften, ei ne lesende Gesellschaft. Es wird mehr geschrieben als je in der Geschichte der Menschheit ( SMS ) und mehr gelesen ( SMS und Internet) als jemals zuvor. Das sind, zugegeben, keine besonders elaborierten Texte, aber lesen muss man sie doch! Aber wie schaf fen wir den Sprung von der »short message« zum big book, von der Information zur Literatur?

Was würde Clara »spannend« finden? Die Gedankenwelt eines Buchs, den historischen Kontext, die Lebenswelt des Autors oder die Materialität der Literatur? In den komplexen Geschichten, die Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in die HarryPotter-Manie getrieben haben, wird viel verlangt. Es wimmelt vor katastrophal schwierigen Eigennamen, Bruchstücken aus Mythen, Sagen und Märchen, die von Buch zu Buch transpor tiert werden. Clara würde alles interessieren, die Einzelheiten der Story, das von Joanne Rowling benutzte Material, jeder Gedan ke, den sich die Autorin zur Erschaffung von Harrys Welt ge macht hat. Wie Clara würden es vermutlich alle anderen in allen Altersgruppen empfinden und die Frage ignorieren, ob das »schweigende Buch«, das zum Lesen und nicht zum Sehen ge schrieben worden ist, seine Aura bei jeder Art des Ausstellens verliert. Clara könnte die Bedenken nicht nachvollziehen, dass große Ausstellungen die »Sitten« verderben, warum, würde sie sagen, und welche Sitten und warum Aura?

Literaturausstellungen, wie sie durch die Literaturhäuser wan dern, über Robert Walser, Arthur Schnitzler, Hannah Arendt, Martin Walser, Thomas Mann, Robert Gernhardt, sind oft gut und mit inszenatorischer Phantasie so angeboten, dass sich Werk und Lebenswelt angemessen präsentieren, ohne der Literatur das Fluidum, ohne Texten ihre Eigenheit zu nehmen. Ist doch schön, würde Clara sagen, aber zum Wildern gehört mehr. Zum Wil dern gehört das Aufziehen geheimer Schubladen, die Suche nach dem Verborgenen, eine Entdeckung oder sagen wir es so: das Un vermutete, eben das 5. Buch, das aus vier Büchern entsteht. Viel leicht können Literaturausstellungen das 5. Buch zeigen?

Irgendwann vielleicht könnte eine Ausstellung über einen Schrift steller, eine Epoche, einen literarischen Stil ein großes Publikum anziehen, weil nicht nur Personen, sondern auch Gedanken

Konjunktur haben. Gedanken lassen sich »ausstellen«. Das beste Beispiel war die 1985 im Centre Pompidou von Jean-François Ly otard kuratierte Ausstellung l es i mmatériaux . Lyotard wollte das Publikum für das digitale Zeitalter sensibilisieren und zeigen, was wir und was die Objekte sind, die uns in der Welt der neuen Kommunikationsformen umgeben. Könnte eine der art zeitgerechte »Gedanken-Ausstellung« Literatur erschließen? Schriftsteller, Dichter, Denker und der eventsüchtige Konsument passen gar nicht so schlecht zueinander. Die einen sind Zuliefe rer für die anderen, sie sind, auch wenn sie das abstreiten, Dienst leister für Geist und Seele. Die Schrift ist starr, die Gedanken, die von der Schrift transportiert werden, sind es nicht. Um einen Gedanken bildhaft zu machen, muss, ohne den Kern zu verfeh len oder einen Überdruss an Sinn zu riskieren, das Beispielhafte illustriert werden. Man kann Bettine von Arnim oder Kafka, Mu sil oder Gottfried Benn besser verstehen, wenn die Verfasstheit ihrer Zeit angeleuchtet ist. Man kann die Romantiker besser ver stehen, wenn wir uns ein Bild von der Epoche machen können, in der sie lebten.

Jahrzehnte wurden das schöne Buch, die schöne Schrift oder die schöne Illustration in Vitrinen verstaut und das Publikum in eine Beugehaltung, Kopf nach unten, Rücken rund, gezwungen. Da bei ist bekannt, dass nach einer halben Stunde die erste Müdig keit einsetzt, weil unser Gegenwartsgedächtnis lächerliche zehn Sekunden umfasst. Wir wissen auch, dass Leser beim Lesen ein nicken, und der Autor, der keine Bett-, sondern eine Wachlektü re verfasst hat, tröstet sich mit dem Gedanken, dass sein Stoff in die Träume mitgenommen wird und sich dort frei entfaltet. Wil dern ist erwünscht und erlaubt, jeder Leser, der im Kopf sein eigenes Buch schreibt, wildert. Er modifiziert den Text durch sei ne eigene Person, sein Vorwissen, seine Vorannahmen, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Vielleicht fischt er sich auch nur ein paar Signifikanten aus dem Textkörper und ergänzt damit sein Vorstellungsrepertoire. Literatur bildet die Wirklichkeit in den seltensten Fällen mimetisch ab. Literatur kann man nur umkrei sen, sie ist die Mitte, das unzerstörbare Kunstwerk, um das man sich keine Sorgen machen muss.

Oft geschieht auf dem Buchmarkt das Unerwartete. Niemand konnte ahnen, dass ein Roman über den knorzigen Mathemati ker Gauß, der Generationen von Gymnasiasten an den Rand der Verzweiflung trieb, und den fanatischen Weltentdecker Alexan der von Humboldt eine Millionenauflage erreichen würde. Der Erfolg von Daniel Kehlmanns Roman Die v ermessung der Welt zeigt, dass Wissensdrang und Wissensvergnügen weit grö ßer sind, als sich die traditionell negativen Bildungsexperten zu denken erlauben.

Lieber Leser, rief Italo Calvino vor mehr als vierzig Jahren seinem Publikum zu. Also, »liebe Leser«, wie geht das Spiel im multime

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kulturstiftung des bundes magazin 12
von verena auffermann
clara oder erwartungen an neue formen der literaturausstellung

dial hochgereizten und geduldarmen Jahrhundert weiter, wie könnte es gelingen, die flirrende Neugier zwischen Text und Per son, Leben und Werk, zwischen den Literatur gewordenen Ge schichten und den Empfindungen für Leser und Autor produk tiv zu machen?

Da steht, das ist die einfachste und älteste Variante, das Dichter haus als mehr oder weniger authentischer Ort. Ein heterogenes Publikum rutscht in Filzpantoffeln über die gleichen (oder ähn liche Fußböden) wie der Autor, der darin wohnte. Schlaf- und Arbeitszimmer, Küchen und Gärten werden bestaunt, Goethes Frankfurter Elternhaus oder sein Weimarer Sterbezimmer, Schil lers kleines Geburtshaus in Marbach, überall Reliquien. Ach so klein, so groß, so arm, so reich. Die Verknüpfung von Biographie, Literatur und Ort holt den toten Genius als Lebewesen mit Hunger und Durst, Bett und Stuhl zu uns heran. Jeder Besucher eines Dichterhauses, in Calw bei Hermann Hesse, in Lübeck bei Thomas Mann, in Rheinsberg bei Kurt Tucholsky, bei Gerhart Hauptmann auf Hiddensee, Bertolt Brecht in Augsburg, Berlin und Buckow, genießt bewusst oder unbewusst das Gefühl der Indiskretion. Der Tisch ist nicht für uns gedeckt, der »liebe Leser« hat sich ungebeten selbst eingeladen und dafür Eintritt bezahlt und ist in der musealen Privatheit gefangen, in der Spiegelung des Biographischen im Literarischen. Spuren, Sätze, Blicke aus der Lektüre werden wiedererkennbar, Federkiel, Schreibmaschi ne, Reisekoffer und Manuskriptseiten betrachtet und kommen tiert. Bertolt Brecht befahl, dass nach seinem Tod alles von ihm, einschließlich seines Autos im Berliner Schiffbauerdammkanal versenkt werden sollte. Das hat man natürlich nicht getan, aber doch seinen Wunsch in Maßen respektiert. Es entstand in der Chaußeestraße 125 kein Brecht-Museum, sondern ein BrechtArchiv.

Und wie steht es mit den Literaturausstellungen jenseits der Me morial-Stätten, warum ist es wichtig, neue Wege zu suchen und nicht alles an das Internet zur freien Verfügung weiterzuleiten? Sagen wir es einmal so: Ein enormes Kapital wird verschenkt, Themen, Inhalte, Zeitgeschichte lagern im Steinbruch des schrift stellerischen Universums. Kontinente des Erkennens und Wie dererkennens und des Angebots zur Selbstreflexion. Man kann heute das Buch eines Popautors in ein Werbevideo integrieren, den Roman eines Klassikers mit Fotos aus der heutigen Welt ver mischen, Kutsche gegen Smart, Kaiserwalzer im Schloss gegen Disco und DJ , die strategische Aufstellung einer Fußballmann schaft, Mann gegen Mann, gegen die strategischen Schlachten beschreibungen in Tolstois Krieg und Frieden . Oder Lessings Locke neben eine ungefärbte von Gerhard Schröders Haupthaar. Niemand wird mit aufdringlichen Lernanmutungen behelligt, Vergangenheit und Gegenwart verzahnen sich, und der Mensch, der so gerne sagt, was geht mich das an, merkt plötzlich, dass es ihn doch etwas angeht.

Der routinierte Zeitgenosse bahnt sich selbst den Pfad durch die Bilderfluten zwischen Neugier und Zerstreuung, Ernst und Wis sensvermittlung. Vieles soll möglichst vielen Schichten sichtbar und zugänglich gemacht werden. Clara an Epochensprünge durch ihre Leseerfahrung gewöhnt, findet es total o. k., dass Schriftsteller die Wirklichkeit verdrehen, verzaubern, verändern. Die aktive Leserin Clara würde das Harry-Potter-Syndrom gegen das Alice-im-Wunderland-Syndrom austauschen, durch das Ein trittsportal in die Literatur treten, neue Wahrnehmungsräume für sich entdecken und im Idealfall Glücksmomente größter In tensität erleben. Thomas Mann hat es einfach und apodiktisch streng zusammengefasst: Nur wer liest, der sieht. Der Satz lässt sich umdrehen: Nur wer sieht, der liest. Lesegewohnheiten richten sich nach den Lebensgewohnheiten, jede Generation liest und sieht anderes. Das »verschwiegene Buch« will nicht verschweigen, es will neu gelesen und gedacht, gesehen, ausgestellt und erkannt werden.

aktuelle projekte im

und such ein anderes immer von hölderlin sprechen. internationale hölderlin-tage in driburg In Driburg verbrachte Hölderlin zusammen mit Susette Gontard, der ›Diotima‹ seiner Dichtung, im Jahr 1796 die vielleicht glücklichsten Wochen seines Lebens, die in seiner Dichtung markante Spuren hinterlassen ha ben. An diesem Ort findet ein großes öffentliches Dich tertreffen von bedeutenden Hölderlin-Übersetzern aus mehreren europäischen Ländern und den USA statt, bei dem die Herausforderungen neuer Hölderlin-Überset zungen, der Einfluss von Hölderlins Dichtung auf andere Sprachen und auch auf andere Kunstgattungen, speziell die Musik, Gegenstand von Gesprächsrunden und An lass für musikalische Aufführungen sind. Künstlerische Leitung: Brigitte Labs-Ehlert; Mitwirkende: Aris Fioretos(SE), Christopher Middleton(GB), Philippe Jaccottet (FR) Luigi Reitani (IT), John Ashbery (US), David Constantine(GB), Fuad Rifka(LB), Rüdiger Safranski, Urs Widmer (CH), Walter Steffens, Dževad Karahasan(BA), Petr Borkovec(CZ), Frie derike Mayröcker (AT) / 13 11.–16 11 2008, verschiedene Orte in Bad Driburg und Umgebung / Literaturbüro Ost westfalen-Lippe in Detmold e.V. www.literaturbuero-detmold.de

nelly sachs die frau mit dem weißen koffer ausstellung Im Mai 1940 floh Nelly Sachs (Berlin 1891 1970 Stockholm) mit einem der letzten Flüge aus Berlin nach Stockholm. Vor ihr lagen dreißig Jahre Exil, die sie zeitweise in psychiatrischen Kliniken verbrachte, aber auch die späte Anerkennung als Schriftstellerin, unter anderem durch die Verleihung des Literaturnobel preises 1966. In Stockholm lebte Nelly Sachs, anfänglich zusammen mit ihrer Mutter, im Süden der Stadt. Sie aß, schlief, arbeitete in der Küche, von ihr auch »Kajüte« ge nannt. Die Ausstellung »Die Frau mit dem weißen Koffer« macht die »Kajüte« mit Blick auf die Gewässer Stock holms zum gestalterischen Mittelpunkt, von dem aus sich Leben und Werk der Nelly Sachs anhand von unveröffentlichtem Material (Fotos, Manuskripte, Ton- und Bildaufnahmen, Krankenakte) in immer weiteren Kreisen erschließen lassen. Die Radikalität ihres Werkes soll ebenso sichtbar werden wie der sozialhistorische Kontext, in dem es entstand. Kollegen wie Paul Celan, Gunnar Ekelöf, Hans Magnus Enzensberger oder Freun dinnen wie Gudrun Dähnert finden in der Ausstellung Platz neben allerlei mythischen Figuren, die für Nelly Sachs’ Denk-, Bilder- und Gefühlswelt wichtig waren. Die Ausstellung ist eine Kooperation von gewerk Berlin, dem Jüdischen Museum, der Schwedischen Botschaft und dem Suhrkamp Verlag, der 2010 eine Gesamtausgabe publiziert. Künstlerische Leitung / Kurator: Aris Fioretos; Projektleitung / Szenografie: Jens Imig; Ausstellungsorte: Sommer 2010 Jüdisches Museum Berlin und Jüdisches Museum Frankfurt; Herbst 2010 Literaturhaus/Strauhof, Zürich; Winter 2010 Königliche Bibliothek Stockholm, Schweden; Frühjahr 2011 Stadtmuseum Dortmund www.gewerk.de

sucht der Verein den Brückenschlag zwischen lokalen und globalen Literaturszenen, zwischen Hochkultur und Populärliteratur. Anerkennung hat das Dresdner Litera turbüro vor allem durch sein Festival »Bardinale« erwor ben sowie durch die Mitgründung von »Poets on the Road«, einem Netzwerk europäischer Poesiefestivals. 2000 entwickelte es das mobile, interaktive Erich Kästner Museum, das in der historischen Villa Augustin präsen tiert wird. Es trägt maßgeblich dazu bei, dass dort ein gut besuchter Kommunikationsort für Literaturinteressierte mit jährlich über 11 000 Besucher/innen entstanden ist. Im Projekt »Jugend trifft Literaturen« erarbeiten und or ganisieren Jugendliche in Eigenregie ein Literaturver mittlungsprogramm. www.kulturstiftung-bund.de/FNL

litrix.de online-magazin und übersetzungs programm Im Bereich Literatur ist Deutschland ein Importland. Die Rezeption deutscher Literatur im In- und Ausland steht in einem deutlichen Ungleichgewicht zur Rezeption und Übersetzung fremdsprachiger Buchtitel in Deutschland. Die Kulturstiftung des Bundes fördert die internationale Vermittlung deutscher Gegenwartsli teratur durch die Einrichtung des Online-Portals www. litrix.de. Dieses Online-Magazin dient zum einen der zeitnahen Vermittlung von erstklassigen Probeüberset zungen literarischer Neuerscheinungen, zum anderen liefert es aktuelle Informationen zum deutschen Buch markt. Zielgruppe des Online-Magazins sind auslän dische Verleger, Lektoren, Übersetzer, Kritiker, Germa nisten und andere Literaturinteressierte. Jährlich wählt eine internationale Fachjury ca. dreißig Titel aus, die in Form von Probeübersetzungen weltweit kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Das Online-Magazin er scheint in deutscher und englischer Sprache. Der zweite Teil des Projektes besteht aus einem Programm zur För derung von Übersetzungen in ausgewählten Regionen der Welt. In Abstimmung mit dem Goethe-Institut / Inter Nationes setzt das Programm jährlich neue geogra phische Schwerpunkte, um Übersetzungen gerade in jenen Regionen zu fördern, in denen Literatur einen wichtigen Beitrag zum interkulturellen Dialog zu leisten verspricht. Im Jahr 2004 waren die arabischen Länder Schwerpunktregion des Übersetzungsprogramms. Um den Zugang zur deutschen Literatur in China zu fördern, veranstaltete Litrix in den Jahren 2005/06 u.a. Leserei sen nach China, Workshops und ein Verlegerseminar und förderte Übersetzungen von Fachliteratur, Belletris tik und Kinderbüchern. 2007 und 2008 ist Brasilien Schwerpunktland.

Die Kulturstiftung des Bundes fördert außerdem den Deutschen Literaturfonds sowie den Deutschen Über setzerfonds. www.uebersetzerfonds.de www.deutscher-literarturfonds.de

Verena Auffermann studierte nach einer Buchhandelslehre Kunstge schichte. Als Journalistin und Literarturkritikerin schreibt sie unter anderem für Die z eit , die s üddeutsche z eitung und l iteraturen . Von 1991 bis 1996 war sie Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und lehrte von 1997 bis 2002 als Dozentin im Studiengang »Buch- und Medienpraxis« an der Universität Frankfurt am Main. 2000 bis 2003 gab sie die Anthologie Beste deutsche Erzähler in der Deutschen Verlags-Anstalt heraus. Neben Jury tätigkeit und Mitarbeit beim Deutschlandradio, Köln und Berlin, arbeitet sie heute als Autorin und Herausgeberin.

*Der Workshop wird nicht folgenlos bleiben: Ausstellungsgestalter, die am Workshop teilgenommen ha ben, werden von den Veranstalterinnen, Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken (Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts/Goethe-Museum) und Dr. Sonja Vandenrath (Literaturreferentin der Stadt Frankfurt am Main), eingeladen, ihre Ideen über das Ausstellen von Literatur anhand eines vorgege benen Themas umsetzen. Zur Auswahl stehen voraussichtlich ein Klassiker oder ein Bestseller der Ge genwartsliteratur. 2010 werden die verschiedenen Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit im GoetheHaus vorgestellt. Weitere Informationen unter www.goethehaus-frankfurt.de.

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jugend trifft literaturen Im »Fonds zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern« (FNL) fördert die Kulturstif tung des Bundes das Projekt jugend trifft literaturen des Dresdner Literaturbüros. Seit 1995 engagiert sich dieses Büro für die Literaturvermittlung. Zum einen organisiert es Veranstaltungen wie Lesungen und Vorträge, Diskus sionsrunden, Schreibwerkstätten und Filmabende. Zum anderen fungiert die Geschäftsstelle als Informations börse und berät Fachleute sowie interessierte Laien zu Autor/innen, Verlagen, Institutionen oder bei der Reali sierung von Projektideen. Durch die Verknüpfung von städtisch bzw. regional ausgerichteten Aktivitäten und internationalen Festivitäten (wie z. B. den Erich-KästnerTagen oder den Deutsch-Polnischen Literaturtagen)

bereich literatur:
42 Stoffdruck, Dessin a fricana , 1965 4 Stoffdruck, Dessin Rousseau , Entwurf: Elsbeth Kupferroth, o. J. 44 Stoffdruck, o. J. 45 Stoffdruck, Dessin Kastrona , Kolorit 3 aus der Kollektion s plendid , Entwurf: Leo Wollner, o. J. 46 Stoffdruck, Dessin Witold Entwurf: o. J. 47 Stoffdruck, Dessin Jastus Entwurf: o. J. 48 Stoffdruck, Dessin Eningen , Entwurf: HAP Grieshaber, o. J. 49 Stoffdruck, Dessin o lympia , Entwurf: Klaus Heider, 1972 42 4 44 46 47 45
48 49

Allein in München leben schätzungsweise 40.000 bis 50.000 »Illegale«, Men schen »ohne Papiere«. Die meisten von ihnen hat die Flucht vor den ökono mischen und politischen Missständen in ihren Herkunftsländern hierher ge führt. Häufig arbeiten sie als Billiglöhner in der Gastronomie oder als Pflegeund Haushaltshilfen. Im Rahmen des Heimspiel-Fonds für Theaterprojekte der Kulturstiftung des Bundes entstand nach umfangreichen Recherchen zur Si tuation der Illegalen in München das Stück i llegal Das unsicht bare l eben von Polle Wilbert, das in der Inszenierung von Peter Kastenmüller an den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Der in München lebende Rechtsanwalt und Schriftsteller Georg M. Oswald hat die Aufführung besucht und sich zu einer Erzählung inspirieren lassen. Anders als im Theater stück geht es in seinem Text weniger um die Schwierigkeiten, einen Alltag im Verborgenen zu organisieren. Der Schriftsteller lenkt das Augenmerk auf die prekäre »Normalität«, mit der die Gesellschaft mit dem diskreten Charme der Bourgeoisie die Dienste von Illegalen in Anspruch nimmt. von

Die Gemeinde Z. liegt in jenem Teil Oberbayerns, dessen Bewoh ner glauben, irgendjemand, vermutlich der liebe Gott, müsse es ganz besonders gut mit ihnen meinen. Ihr Land liegt im satten Grün hügeliger Wiesen an azurblauen Seen, die Berge leuchten sommers in bronzenem Licht, winters schneeweiß. Überbor dende Geranienkästen, rot und weiß, schmücken große, dunkel braun gebeizte Holzbalkone. Stattliche Höfe, Weiden, Feldwege erinnern daran, dass hier einmal Bauern lebten, die dieses Land bestellten. Der Ertrag tagtäglicher, unentwegter, harter Arbeit genügte, um eine Familie zu ernähren, wenn jeder mithalf. So war es nur verständlich, dass die Kinder, die es erbten, nach We gen suchten, ihr Auskommen weniger mühsam zu bestreiten. Sie hörten auf, ihre Äcker zu bestellen und arbeiteten stattdessen im Gemeinderat daran, sie in die Baulinie zu bringen, hatten sie doch bemerkt, dass es viele Interessenten dafür gab gut verdienende Einheimische und Zugezogene, die in den High-Tech-Unterneh men arbeiteten, die sich in den letzten vierzig Jahren hier ange siedelt hatten. Viel hatte sich seither verändert, auch die Zugezo genen waren inzwischen Einheimische geworden, sie waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden, denn alle trugen nun diese nicht übertriebene, gleichmäßige Bräune, die immer noch als Zeichen lässig zur Schau getragenen Wohlstands gilt, und alle trugen nun exklusive Trachtenmoden zu bestimmten festlichen Anlässen und zu anderen die übliche internationale Designerklei dung, und sie wohnten in teils gediegenen, teils prächtigen Ein familienhäusern rings um den See, um den herum das Dorf Z. einst entstanden war. Ihren Kindern, in diesen Wohlstand hin eingeboren, war eine gewisse kalifornische Lockerheit zueigen. In den Sommerferien fuhren sie in ihren SUVs von Barbecue zu Barbecue und von Strandparty zu Strandparty, während ihre El tern sich auf den Golfplätzen der Gegend die Zeit vertrieben. Wo früher Fischer und Bauern gehaust hatten, residierten nun Direk toren, Vorstände, Manager, Chefs jeder Art, die die Gewohnheit hatten, wo immer sie waren, den Ton anzugeben, und das taten sie auch in Z. Wenn sie sich und ihre Familien gegenseitig zu Gartenpartys einluden, besprachen die Männer und Frauen ihre Welt und bestätigten sich gegenseitig in ihren Urteilen. Die der Männer fielen streng aus. Hart gingen sie mit der Regierung ins Gericht. Wo waren denn all diese angeblichen Probleme? An

dernorts, sicher. Aber hier, in Z., wo sie lebten, hatten sie gezeigt, wie die Gesellschaft zu organisieren war. In Z. ging es allen gut. Sehr gut sogar. Es gab auch keine Arbeitslosigkeit, noch nicht einmal einen einzigen Arbeitslosen. Ganz im Gegenteil, wie schwer war es, zum Beispiel, jemanden für den Garten zu finden, für den Haushalt, zum Putzen? Dafür waren sich die meisten Leute heute doch zu gut. Und hier in Z. gab es überhaupt nie manden, der sich dafür hergegeben hätte. Die Männer gaben hier in aller Entschiedenheit wieder, was sie eigentlich mehr vom Hörensagen wussten, nämlich von ihren Frauen, die für die Or ganisation der Häuser, deren Gestaltung, Instandhaltung und Reinigung zuständig waren, während die Männer draußen in der Welt ihren Führungsaufgaben nachgingen. Natürlich setzten die Frauen alles daran, dies nicht selbst zu tun, sondern geeignetes Personal zu finden. Doch die Gartenbaufirmen, wenn sie gut wa ren, verlangten unverschämt viel Geld, die Zugehfrauen oder Haushaltshilfen erst recht, und Hand auf’s Herz wollte man ihnen wirklich trauen?

Da begab es sich, dass eine pensionierte Chefärztin, Frau Dr. Gö bel, auf einer dieser Gartenpartys erzählte, sie habe nun die Lö sung gefunden. Mit keinem Kochrezept, keiner Charityeinla dung, erst recht nicht der Ankündigung eines Damen-Golf-Nach mittags hätte sie für mehr Aufsehen sorgen können. Die Köpfe aller geladenen Gäste reckten sich ihr entgegen. »Ich habe jetzt eine Ukrainerin«, sagte sie, als verriete sie ein Beau tygeheimnis. Ein brandheißes Geständnis war das, und es löste eine Fülle von Reaktionen aus. Professor Klatt, ein Bohrmaschi nenmagnat, der die Zeichen der Zeit noch nicht ganz verstanden hatte, grinste hämisch Herrn Dr. Göbel an, so als wolle er sagen, »sic transit gloria mundi«, doch die Frauen interessierten sich in diesem Fall weniger fürs Weltanschauliche als fürs Konkrete. »Putzt sie gut?« »Ist sie zuverlässig?« »Kann man ihr trauen?« »Hat sie noch Termine frei?«

Frau Dr. Göbel bejahte all diese Fragen mit vor Wonne geschlos senen Augen. »Ihre Nummer! Gib uns ihre Nummer!« Frau Dr. Göbel stellte es in Aussicht, als Herr Dr. Kurtz, ein Steuerberater, süffisant dazwischenfragte: »Geht das schwarz?« Frau Dr. Göbel rollte die Augen, »was glauben Sie denn?«, und alle Frauen lach

ten. Herr Dr. Miller, ein Rechtsanwalt, hakte nach, »ist sie legal?« Frau Dr. Göbel breitete die Hände aus, zuckte die Achseln und zitierte einen Spruch, den sie einmal irgendwo gelesen hatte, »kein Mensch ist illegal!«, und wieder lachten alle Frauen. Die wichtigste Frage aber musste Frau Dr. Göbel selbst stellen, weil kein anderer an sie gedacht hatte, und sie beantwortete sie auch gleich selbst: »Ihr wollt sicher noch wissen, wie sie heißt, und jetzt sage ich es euch. Ihr Name ist wunderschön. Sie heißt Oksana.« Die meisten von ihnen hatten diesen Namen noch nie gehört, aber nun dauerte es nur wenige Wochen, und Oksana war in kei nem Haushalt Z.s, der etwas auf sich hielt, unbekannt. Die Män ner übrigens mit Ausnahme von Professor Klatt hatten nichts mehr gegen sie einzuwenden, nachdem sie sie zum ersten Mal gesehen hatten, denn Oksana war eine hübsche, schlanke, etwa fünfundzwanzigjährige Brünette, deren Gegenwart sie ihre Bedenken allgemeiner Art zurückstellen ließ. Wenn Oksana ei ne Arbeitsstelle verließ, um zur nächsten zu gehen, telefonierten in der Zwischenzeit zwei Hausfrauen miteinander:

»Also, sie war jetzt zum dritten Mal bei mir und ich bin so zu frieden.«

»Schön, dass du das sagst.«

»So gründlich und ordentlich! Du, ich muss dir was gestehen.« »Ja? Was denn?«

»Ich habe sie auf die Probe gestellt. Hier und da ein Geldschein in den Kleidern, die sie bügeln sollte.«

»Und?«

»Sie hat sie alle gesammelt und mir, bevor sie gegangen ist, ge geben. Sie hat gesagt: ›Sie müssen keine Angst haben. Ich wür de sofort meinen Job verlieren, wenn ich sie bestehlen würde.‹ Ich stimmte ihr zu, aber ich war etwas irritiert, denn es klang so, als würde sie ihn nicht durch mich verlieren.«

Irgendwie fühlte sich jede Hausfrau, bei der Oksana anfing, be müßigt, sie durch herumliegenden Schmuck, offen ausgebreite te, vertrauliche Post, herumliegendes Geld »auf die Probe zu stel len«. Mit der immer gleichen gequälten Freundlichkeit wies Oksa na die jeweilige Hausherrin auf die Wertsachen hin, woraufhin diese schlecht die Überraschte mimte und sie dann wegräumte. Kurze Zeit später schon wurde es unter den Frauen von Z. Mode, Oksana während ihrer Arbeit zu Kaffee oder Tee einzuladen. Wo

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illegal
georg m. oswald

sie auch hinkam, wurde Oksana jetzt ein feines Tässchen serviert, dazu beste Leckereien vom hiesigen Konditor. Als den Frauen auffiel, dass Oksanas Auswahl an Jeans und T-Shirts ziemlich be grenzt war, öffneten sie die Türen ihrer Garderoben und Kleider schränke, und schenkten ihr mehr, als sie tragen konnte. Alles passte übrigens gut, denn die meisten Frauen von Z. waren vor bildlich im Einhalten ihrer Diäten. Immer schicker gekleidet kam Oksana von Woche zu Woche nach Z. Die Frauen bezahlten sie auch gut. Zwei unterhielten sich darüber am Telefon: »Wie viel gebt ihr ihr eigentlich?«

»Wir zahlen ihr zehn Euro die Stunde. Ist das zu wenig?« »Nein, das ist viel! Genauso viel wie wir. Stell dir vor, wenn sie sechs Tage die Woche zehn Stunden arbeitet, sind das zweitau sendvierhundert im Monat. Das verdient in der Firma meines Mannes mancher Akademiker nicht. Kommst du heute Nach mittag zum Nordic Walking mit?«

»Ich kann nicht, ich hab dienstagnachmittags meine Massa gen, du weißt schon, wegen meiner Golf-Verletzung. Sind die zweitausendvierhundert denn netto?«

»Nein, die sind schwarz!«

»Denkst du nicht, es könnte da mal Schwierigkeiten geben?«

»Was für Schwierigkeiten denn?«

»Mit den Behörden.«

»Ach, ich bitte dich, ›mit den Behörden‹. Die gibt es doch hier draußen gar nicht.«

Nun ja, gerade als sich alles so schön eingespielt hatte, schien es tatsächlich Schwierigkeiten zu geben. Allerdings andere als erwar tet. Die sonst so zuverlässige Oksana erschien ohne Vorankündi gung nicht zu den vereinbarten Zeiten. Sie erschien überhaupt nicht. Ratlosigkeit an den Telefonen.

»Sollten wir uns doch in ihr geirrt haben?«

»Wer weiß, was sie sonst noch alles für Probleme hat.«

»Was denn für Probleme?«

»Na, du siehst doch fern: Drogen, die Russen-Mafia, Prostitu tion…«

»Aber doch nicht Oksana.«

»Nein, eigentlich kann ich es mir auch nicht vorstellen…« Einige Tage später tauchte Oksana wieder in Z. auf, verspätet und offensichtlich nicht in der Absicht, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie lachte nicht, wie sonst, sondern wirkte ernst und verängstigt. Nur Frau Dr. Göbel erzählte sie, was geschehen war. Es klang nach einer komplizierten und verworrenen Geschichte. Am Te lefon erzählte Frau Dr. Göbel dann dies:

»Sie sprach davon, ihre ›Organisation‹ sei in Gefahr. Ihre ›Orga nisation‹, was immer das sein mag. Die Polizei ist hinter ihr her. Aber nicht hinter ihr persönlich, sondern hinter der Frau, die die Wohnung hält, in der Oksana und wer weiß wie viele andere übernachten. Sie zahlen dieser Frau horrende Mieten, soweit ich verstanden habe. Die besorgt ihnen dafür sichere Putzstellen. ›Sicher‹ bedeutet: sicher vor den Behörden. Na ja, diese Frau lebt mit einem immer betrunkenen Mann zusammen, dem wohl die Wohnung gehört. Er belästigt die Frauen, sagt Oksana. Es muss Szenen gegeben haben mit Geschrei und Hilferufen. Die Polizei kam und nahm eine Liste der Frau mit, auf der auch Oksanas Name stand. Sie reist morgen ab. Mit dem Bus nach Kiew.«

Die Oksana-lose Zeit begann, der Winter kam, die Frauen von Z. mussten sich anders behelfen. Im Frühjahr des neuen Jahres tauchte Oksana wiederum ganz plötzlich wieder in Z. auf, offen sichtlich guter Dinge. Sie hatte nochmals ein dreimonatiges Tou ristenvisum ergattert. Die Ermittlungen aus dem Jahr zuvor hat ten sich im Sand verlaufen, und dass sie während ihres vergan genen »Touristenaufenthalts« gearbeitet hatte, musste der Pass behörde entgangen sein. Oksana kam diesmal nicht allein, son dern brachte Juri mit, einen gutaussehenden, kräftigen, blonden Burschen in seinen Zwanzigern, der sich, wie er sagte, freute, ab solut jede Arbeit zu erledigen, die anderen zu schwer sei. Außer dem sei er ein geschickter Handwerker. Die Männer von Z. muss ten im Frühjahr ihre Häuser und Anwesen von Winterschäden befreien. Dachziegel und -rinnen mussten repariert, morsche Hölzer ausgewechselt, Zäune repariert, Bäume und Sträucher ausgeschnitten, Teiche neu angelegt, Rasen gemäht und unzäh lige weitere Arbeiten erledigt werden. Willkommen, Juri! Nur Professor Klatt war nach wie vor der Meinung, es sei illegal und deshalb ein Fehler, diese Leute zu beschäftigen. Alle ande ren verwarfen diese eher abstrakten Bedenken aber als unwesent lich, und als Juri die Pergola an Klatts Haus zu einem seien wir ehrlich Spottpreis auf sehr professionelle Weise erneuerte, verstummte auch seine Kritik.

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Oksana und Juri waren im ganzen Ort gut bekannt und als tüch tiges und seinerseits pflegeleichtes Personal beliebt. Die beiden verdienten auch nicht schlecht, wie die Einwohner von Z. fanden. Besonders Juri gegenüber mochte sich keiner der Männer von Z. kleinlich erweisen, denn sie alle predigten doch ständig Eigeninitiative und dass jeder anpacken müsse, und während sich ihre Kinder bei diesen Reden die Ohren zuhielten, war Juri ein dank barer Abnehmer dieser Theorien, denen geduldig zuzuhören, das fand er schnell heraus, seinen Verdienst erheblich steigerte.

Als Oksana Frau Dr. Göbel gestand, sie sei von Juri schwanger, freute die sich darüber, als habe ihr endlich die eigene Tochter er öffnet, sie bringe ihr ein erstes Enkelkind zur Welt. Oksana aller dings war alles andere als entzückt. Sie war nicht verheiratet. Juri allerdings schon. Er hatte Frau und Kind in Kiew. Oksanas Fami lie würde sie verstoßen, sie konnte sich dort niemals mit einem unehelichen Kind blicken lassen. Und in einem Monat lief ihr Visum ab.

»Und Juri?«, fragte empört Frau Dr. Göbel.

»Er liebt nur mich. Er will mit mir zusammen sein.«

Frau Dr. Göbel bestellte Juri bei sich ein und führte ein ernstes Gespräch mit ihm. Was war das für eine Geschichte mit seiner Familie in Kiew? Gar nicht wirklich verheiratet, schon lange ge trennt, er zahle Unterhalt für das Kind, mit der Frau habe er längst nichts mehr zu tun, antwortete er. Frau Dr. Göbel nahm ihn sich mit all ihrer Chefarztautorität zur Brust:

»Willst du mit Oksana zusammen sein und eine Familie grün den oder nicht?«

Juri bejahte aufrichtig und aus vollem Herzen, so kam es ihr je denfalls vor. Also traf Frau Dr. Göbel eine Entscheidung. Juri und Oksana würden zu ihr in den Keller ziehen. Dort gab es noch Räume, die leer standen. Juri konnte sie nach getaner Arbeit selbst ausbauen, und sie konnten hier ihr Kind zur Welt bringen. Herr Dr. Göbel war davon nicht begeistert, aber er wollte seiner Frau auch nicht widersprechen, weil er wusste, dass es ohnehin sinn los gewesen wäre.

»Ich traue den Russen nicht«, sagte Professor Klatt zu Dr. Gö bel, als sie sich im Clubhaus am Golfplatz trafen. »Das sind keine Russen«, antwortete ihm tapfer Dr. Göbel. »Dieses ganze Land, eben die frühere Sowjetunion, ist in Anar chie versunken. Dort kann man nur überleben, wenn man ein Krimineller ist.«

»Können wir die Politik nicht mal beiseite lassen? Das sind zwei sympathische junge Leute auf der Suche nach einer Chan ce.«

»Das ist keine Politik, das ist die Wahrheit! Der eine hat eine Familie in Kiew, um die er sich nicht kümmert. Und sie, sie wird noch ach, darüber will ich mich lieber gar nicht äu ßern.«

Mit Professor Klatt war nicht zu reden. Seine Ansichten stamm ten noch aus dem Kalten Krieg. Juri arbeitete wie ein Besessener, um möglichst viel zu verdienen. »Für die Zukunft«, sagte er. Im Keller verlegte er einen Parkettboden, von diesen und jenen Leu ten bekam er ausrangierte Möbel geschenkt. Die Visa von Juri und Oksana waren mittlerweile abgelaufen, aber wen kümmerte das angesichts dieses Glücks, das ja mit den Händen zu greifen war. Alles war in bester Ordnung, wie es sich für Z. gehörte. Bis die Anrufe kamen. Das Ausländeramt der Kreisstadt stellte Fragen. Ob Frau Dr. Göbel etwas bekannt sei über illegal Beschäftigte in der Gemeinde Z. Über Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht. Frau Dr. Göbel verneinte herablassend:

»Was glauben Sie eigentlich, wofür ich mich interessiere?« Sie telefonierte mit ihren Freundinnen.

»Scht! Nicht am Telefon. Wir müssen uns treffen, um die Lage zu besprechen.«

Auch andere Frauen hatten Anrufe bekommen. Alle hatten sie geleugnet. Sagten sie. Aber die Gefahr, dass alles auffliegen wür de, war nun gegeben. Gottseidank gab es Leute, auf die man zäh len konnte. Frau Dr. Bingert, eine Gynäkologin, die mit Frau Dr. Göbel studiert hatte, erklärte sich bereit, die Schwangerschafts untersuchungen bei Oksana durchzuführen ohne Papiere, oh ne Patientenkarte. Frau Dr. Göbel bezahlte sie in bar. Oksanas Bauch wuchs, die Ultraschallaufnahmen zeigten ein gesundes kleines Mädchen gedeihen. Frau Dr. Göbel bekam Post von der Ausländerbehörde. Es läge kein gerichtlicher Untersuchungsbe schluss vor. Dennoch würde man gerne angekündigt einen Besuch abstatten. Es gebe Hinweise auf Verstöße gegen das Aus ländergesetz. Frau Dr. Göbel rief bei der Behörde an und verein barte einen Besuchstermin schon für die kommende Woche.

»Wenn Sie meinen, darauf bestehen zu müssen, will ich es wenigs tens schnell hinter mich bringen. Man kommt sich vor na, als wär man selbst kriminell.« Mit dem nächsten Anruf beauftragte sie ein Umzugsunternehmen, das die gesamte Kellerwohnung räumte und alles, was sich darin befand, einlagerte. Oksana und Juri wurden in einer konzertierten Aktion für zwei Wochen in der Skihütte des Steuerberaters Dr. Kurtz in Berchtesgaden ver steckt, wo sie »Höhenluft genießen« durften. Als der Beamte des Ausländeramtes kam, war er sehr enttäuscht, aber auch skeptisch. »Einen schönen Parkettboden haben Sie hier im Keller. Und gar keine Möbel?«

»Wozu Möbel? Hier wohnt doch keiner! Und die Kinder sind längst aus dem Haus.«

Der Beamte ging. Natürlich war hier etwas nicht in Ordnung, aber er hätte nicht sagen können, was. Vielleicht hatte er Angst, sich in etwas zu verrennen, was viel Arbeit machte und am Ende doch nichts fruchtete.

Frau Dr. Göbel jedenfalls hörte nie wieder etwas von ihm. Die Möbel wurden zurückgeschafft, und Juri und Oksana zogen wieder ein. Um die Weihnachtszeit kam ihr Kind zur Welt, in der Praxis der befreundeten Gynäkologin. Bald kursierten Fotos von einer erschöpften, aber glücklichen Oksana mit ihrer Toch ter und einem glücklichen Juri, der sie umarmte. Im Hintergrund glänzte ein Weihnachtsbaum. Die ganze Gemeinde Z. war ergrif fen vom Zusammentreffen des Weihnachtsfestes mit der Geburt, denn auf unerklärliche Weise hatten nun alle das Gefühl, sie seien gute Menschen, und Frau Dr. Göbel stand auf der Höhe ihres Ruhmes, denn sie galt nun als eine Art Freiheitskämpferin, was ihr nicht schlecht gefiel. So hätte es gerne weitergehen kön nen. Für alles hätten sich Lösungen gefunden, denn die Gemein de von Z. stand vereint hinter ihrer kleinen ukrainischen Familie, die sie hegen und pflegen wollte, so lange es eben ging. Das Ende der Geschichte jedoch kam ganz unallegorisch und in einer Kür ze, die noch nicht einmal die Zeit ließ, wirklich darüber nachzu denken. Gegen den ausdrücklichen Rat von Frau Dr. Göbel, die der Meinung war, er solle nur Aufträge in Z. annehmen, hatte Ju ri im Januar wieder zu arbeiten begonnen und war mit einer Ko lonne von Illegalen in einem VW-Bus zu einer Baustelle in der Stadt unterwegs, wo sie aufräumen sollten. Eigentlich ein leichter Job, der nur zwei Tage dauern sollte und den Juri nur angenom men hatte, weil in Z. gerade nicht viel los war wäre da nicht ei ne Razzia dazwischen gekommen. Zwanzig Beamte der Auslän derpolizei hatten unbemerkt und in Blitzgeschwindigkeit das Gebäude umstellt und gefilzt und sie alle, ohne Ausnahme, er wischt. Um der Haft zu entgehen, sollte Juri seine Papiere mit dem längst abgelaufenen Visum vorweisen und seine Geschichte erzählen, was er auch tat. Trotzdem wurde er mitgenommen und bekam, als er entlassen wurde, einen Ausweisungsbescheid, dem binnen vierundzwanzig Stunden zu folgen war. Freigelassen wur de er erst, nachdem er auch seine Adresse in Z. und damit Oksa na, das Kind und natürlich auch Frau Dr. Göbel verraten hatte. Eine Polizeistreife überprüfte die Angaben vor Ort. Frau Dr. Gö bel fragte Dr. Miller, den Rechtsanwalt, was man tun könne, aber auch der war ratlos. Frau Dr. Göbel wollte wenigstens, dass die Familie nicht mit dem Bus zurück nach Kiew fahren musste, und brachte sie am nächsten Morgen zum Flughafen, wo sich Oksa na und sie tränenreich voneinander verabschiedeten. Juri war düster und einsilbig gestimmt. Die Kleine schlief.

Oksana und Frau Dr. Göbel schrieben sich noch eine Weile. Oksa na berichtete, sie sei immer noch mit Juri zusammen, der zuhau se eine gute Arbeit gefunden habe, und es gehe ihnen gut. Frau Dr. Göbel fürchtete, dass dies nicht die Wahrheit war. Oksanas letzter Brief trug einen Poststempel aus Hamburg. Das Strafver fahren gegen Frau Dr. Göbel wurde einige Monate später gegen Zahlung einer geringen Geldbuße eingestellt.

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet als Rechtsanwalt und Autor in München. Für seine Werke, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind, erhielt Oswald mehrere Auszeichnungen, darunter den Förderpreis des Frei staates Bayern für Literatur ( 1995 ) und das Arno-Schmidt-Stipendium ( 2000 ). 2007 ist sein Roman v om g eist der g esetze im Rowohlt Verlag erschie nen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt er die wöchentliche Ko lumne Wie war dein t ag , s chatz ?.

Die Heimspielproduktion i llegal hatte am 20.6.2008 an den Münchner Kammerspielen Premiere. Im Oktober erscheint das gleichnamige Hörspiel als CD bei intermedium records. Polle Wilbert: i llegal Musik: Kamerakino / Realisation: Peter Kastenmüller, Michael Graessner, Björn Bicker / Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst in Zusammenarbeit mit den Münchner Kam merspielen 2008 / Länge: 62’40 / Ursendung am 27.6.2008 in Bayern 2 / ISBN 978-3-939444-60-2 www.intermedium-rec.com

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spielzeuge für er wachsene

Zeitgenössische Künstler arbeiten vielfach mit technisch aufwendigen Neuen Medien, mit Digitalkameras und Computern. An den Charme alter optischer Geräte zur Bilderzeugung können die neuen Technologien aber kaum heranreichen. Und die Magie ihrer Bilder fas ziniert auch heute noch. Die Jahrhunderte alte Erforschung menschlicher Sehgewohn heiten, physiologischer Wahrnehmungsbedingungen und Mechanismen der Bilderzeu gung hat in der Entwicklung von optischen Geräten eindrucksvolle Zeugnisse hinterlassen, die als Jahrmarktattraktionen, im Kunsthandwerk, aber auch in Technik und Wissenschaft Verwendung fanden. Der Experimentalfilmer Werner Nekes hat im Laufe vieler Jahre his torische »Blickmaschinen« gesammelt und einen einmaligen Fundus für eine Kulturge schichte der optischen Medien geschaffen. Die Ausstellung Blickmaschinen , die im Museum für Gegenwartskunst vom 23. November 2008 bis 10. Mai 2009 in Siegen gezeigt wird, versammelt Objekte aus der Sammlung Werner Nekes’ und stellt sie zeitgenössischen Arbeiten von Künstlern gegenüber, die sich ebenfalls mit optischen Experimenten beschäf tigen: In raumgreifenden Installationen und Projektionen, in begehbaren Kaleidoskopen und kontemplativen Wunderkammern, in Schattenbildern, mittels bebrillter Helme und anderer »Sehgeräte«, in Guckkastenbühnen und Daumenkinogeschichten entstehen be wegte, delirierende und diskrete Bilder über Bilder. Das Gespräch zwischen der Kunsthis torikerin Nike Bätzner, eine der Kuratorinnen der Ausstellung, und Werner Nekes gibt Einblicke in ein Universum voller Illusionen.

n: Werner Nekes b: Nike Bätzner

b: Herr Nekes, Sie sammeln Objekte, die so wun derbare Namen tragen wie Lebensrad, Wunder scheibe, Täuschungsseher wie entstand beim Filmemacher Nekes diese Leidenschaft für alte optische Geräte?

n: Ich habe in den 70er Jahren in Hamburg unterrichtet und wurde gebeten, einen Aufsatz für die Hamburger Filmgespräche zu schreiben. Das war das erste Mal, dass ich mich intensiv mit der Herkunft meines Mediums beschäftigte. Bei den Überlegungen zu den Entwicklungs möglichkeiten der filmischen Sprache wurde mir klar, dass sich in der Geschichte des Films die Differenzen zwischen den Bildern ständig vergrößerten. Außerdem fiel mir auf, dass die Zuschauer eine schnellere Sehfähigkeit entwi ckelt hatten, mit der sie auch größere Sprünge zwischen den Bildern verstanden. Bei meinen Recherchen für den Aufsatz stieß ich auf das Thaumatrop (die Wunderscheibe), ein optisches Spielzeug, das von dem englischen Arzt John Ayrton Paris 1825 erfunden wurde. Auf der Vor derseite einer kleinen Pappscheibe sitzt ein Vogel, auf der Rückseite ist ein Käfig abgebildet, und bei schneller Rotation der Scheibe sitzt der Vo gel im Käfig. Diese Gestaltverschmelzung ent spricht der größtmöglichen Informationsüber tragung beim Film. So begann ich mich inspirie ren zu lassen von all diesen seltsamen optischen Spielzeugen, die auch »philosophical toys« ge nannt wurden, um zu sehen, inwieweit sich Prinzipien aus vorfilmischer Zeit für den Film verwenden lassen oder ob sie sogar schon ver wendet werden.

b: Waren diese »philosophischen Spielzeuge« nur für Erwachsene gedacht, zwar pädagogisch wertvoll, aber eher etwas für Spezialistenclubs als für Kinder?

n: Auch Erwachsene erforschen die Welt spiele risch. Diese Spielzeuge nutzen die Trägheit der Wahrnehmung aus und führen zu einer Bewusst werdung und Popularisierung von visuellen Ef fekten.

b: Stand für Sie immer die Entwicklungslinie zum Film im Vordergrund?

n: Das war zu diesem Zeitpunkt so. Ich habe da mals Experimentalfilme gedreht und versucht, die immanenten Montagemöglichkeiten des Films zu nutzen und den Film als ein Medium zu begreifen, das zwar wie ein Gedicht Inhalte transportiert, also nicht in einer linear erzähle rischen Form. Ich wollte die strukturellen Bedin gungen, die ebenfalls Inhalte übertragen, erfor schen und den Film als ein Instrument nutzen, um bisher Unsichtbares dem Auge sichtbar zu machen.

b: Ich finde es bemerkenswert, dass diese alter tümlichen optischen Geräte uns heute immer noch faszinieren können, wo wir doch längst ganz andere Technologien und Geschwindig keiten gewohnt sind. Woran liegt es, dass diese Apparate immer noch so spannend sind?

n: Die Geräte sind von Hand zu bedienen, me chanisch zu manipulieren und dadurch sofort einsichtig da ist nichts auf Platinen verlötet, so dass man den Überblick verliert. Jeder könnte das Gerät für sich nachbauen.

b: Dass keine komplizierte Technologie zwi schen uns und dem Gerät und seiner Funktions weise steht, ist sicherlich ein Punkt. Auf der an deren Seite kann man dem Prozess der Bildent stehung unmittelbar beiwohnen: Man sieht, wie die Bilder sich entwickeln und bekommt den Mechanismus der Illusion unmittelbar vorge

führt. Obwohl wir die Illusion also durchschau en, erfreuen wir uns an der Verführung unserer Wahrnehmung und glauben weiter an die ma gische Kraft der Bilder. Sie verlieren nicht an poetischer Kraft. n: Dennoch sind viele der Verwandlungs-, Ani mations- und Montageprinzipien heute verges sen. Ein Beispiel wären Bienenkorbbilder, bei denen eine wabenförmige Struktur in ein Papier geschnitten wird. Dieses perforierte Papier wird dann über ein anderes Bild geklebt. Durch ei nen kleinen Faden, den man anzieht, erhebt sich der Bienenkorb und das darunter liegende Bild kommt zum Vorschein.

b: Einige Objekte bestehen aus verschiedenen Lagen: Etwas Offensichtliches verbirgt ein Ge heimnis, das im oberen Bild als Frage aufgewor fen wird. Plötzlich wird einem etwas klar. Das erinnert an die intime Begegnung mit Objekten in den alten Wunderkammern, in denen Ge heimnisse und Wundersames verwahrt wurden. n: Die Wunderkammern sind die Vereinigung von allen kuriosen Objekten, die in der Welt ge funden wurden, wobei »curiosité« damals eine andere Bedeutung hatte. Die »cabinets de curio sités« waren die Kabinette der Neugierde, des Wissensdurstes der Wissenschaftler. All das was fremdartig war, wurde in einer solchen »Kam mer« zusammengefasst und klassifiziert. Inso fern gleicht meine Sammlung diesen Wunder kammern, in denen Gerätschaften, Abbildungen, mediale Literaturen vereinigt sind und ein ander durchmischen. Erst später, durch Grün dung der Museen, die aus den Wunderkammern hervorgegangen sind, wurden all diese Welten voneinander separiert, wobei Bibliotheken, tech nische Museen oder Bildergalerien entstanden. b: Es gibt in Ihrer Sammlung Objekte, die Ma

terialien aus der Natur nutzen. Und es gibt Ar beiten, die Naturphänomene artifiziell umdeu ten wie die Vexierbilder. Hier werden Landschaften anthropomorph interpretiert, d.h. die Natur dient als Anlass für ein Bild, das die mensch liche Wahrnehmung täuscht: Erst allmählich erkennt man in der dargestellten Landschaft bei spielsweise die Konturen eines Gesichtes. So be kommt man vorgeführt, dass man auf verschie dene Weise sehen kann.

n: Die menschliche Erkenntnis richtet sich da nach, was und wie sie entdecken kann, und ist fasziniert und irritiert von der Entdeckung von Mehrdeutigkeiten. So handelt es sich beispiels weise bei den Anamorphosen, den verzerrt ge malten Bildern, durchaus um philosophische Objekte, bei denen man sich der Relativität der Wahrnehmung bewusst wird. Das versteckt Ab gebildete zeigt sich nur dem Eingeweihten: ent weder durch einen verzerrten Blickwinkel oder in einem Spiegel.

b: Anamorphosen finden in ganz unterschied lichen thematischen oder ideologischen Rah men Anwendung. Man denke an das berühmte Gemälde Die g esandten (1533 ) von Hans Holbein, wo im Vordergrund des Gemäldes ein Totenschädel anamorphotisch verzerrt darge stellt ist, uns daran erinnernd, dass wir alle sterb lich sind. Man kann diesen Schädel nur von einem speziellen Standort aus erkennen.

n: Die Memento Mori haben eine große Traditi on. Die Verzerrung soll uns nahe bringen, dass man den richtigen Blickwinkel nutzen muss, um den Gevatter Tod erkennen zu können. Ana morphosen kommen auf mit der Entwicklung der Camera obscura. Dabei befindet sich in der Wand einer abgedunkelten Kammer ein kleines Loch, durch welches das Tageslicht gebündelt

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einfällt und auf die gegenüberliegende Wand ein seitenverkehrtes und auf den Kopf gestelltes Bild der Außenwelt wirft. Hält man einen Mal grund in diesen Lichteinfall, kann man ihn unterschiedlich drehen und so mit der Schräg bewegung verzerrte Bilder, also Längenanamor phosen erscheinen lassen. Leonardo da Vinci, der über die Camera obscura geforscht und mit ihr gearbeitet hat, war einer der ersten, der ein wolkenähnliches, hingestrecktes Gebilde festgehalten hat, das sich als Babykopf entpuppt.

b: In der Renaissance gibt es meines Erachtens eine Parallelbewegung: Auf der einen Seite steht die Bestrebung, die äußere Welt immer realisti scher auf die zweidimensionale Fläche zu ban nen und mit der zentralperspektivischen Kons truktion die Illusion zu schaffen, als würde die reale Welt vor dem Bild sich im Bild fortsetzen und man könne in das Bild hineingehen. Auf der anderen Seite aber ist von vornherein bewusst, dass es sich dabei um eine Illusion handelt und daher entstehen diese anderen, verzerrten Bil der, wie die Anamorphosen. Vielleicht um zu zeigen, dass es sich bei der Zentralperspektive nicht um etwas »Natürliches« handelt, sondern um eine Konstruktion, und dass unsere Wahr nehmung lebendig und vielfältiger ist. n: Mir geht gerade durch den Kopf, dass Leo nardo derjenige war, der die Camera obscura mit den biologischen Bedingungen des Auges verg lichen hat. Man begann zu dieser Zeit darüber zu reflektieren, wie sehe ich überhaupt, was ist das für ein geheimnisvoller Körper, der oberhalb unserer Nase die Welt mit zwei Augen erfasst? Es ist ja überraschend, dass Chérubin d’Orléans im 17. Jahrhundert in Antwerpen als einer der ersten sich Gedanken darüber machte, warum wir überhaupt zwei Augen haben, und vor allem, wie diese beiden Augen die Bilder der Welt zu einem kongruenten Bild verarbeiten. René Des cartes beschäftigte sich ebenfalls intensiv mit den Problemen der Sinneswahrnehmung, und überall ging man in den Klöstern der Frage nach: Was kann ich als Mensch überhaupt erkennen und was ist die Realität? Platons Höhlengleich nis hat da kulturgeschichtlich den Anfang ge macht.

b: Platons Höhlengleichnis stellt in Zweifel, ob das, was wir wahrnehmen, wirklich die Realität ist, oder ob die Dinge gleichsam nur Schatten der Ideen, des wahren Seienden sind. An diese große Skepsis gegenüber den sinnlichen Erschei nungen schließt sich die Frage nach den darauf gründenden möglichen Erkenntnissen an. In der Ausstellung »Blickmaschinen« aber wollen wir gerade den Mechanismen der Illusion auf den Grund gehen und dabei die Bedingungen für die Wahrnehmung der Dinge und das Spiel der Bildenden Kunst mit der Wahrnehmung verfolgen.

n: Entscheidend ist, dass man jedes beliebige Material als Inspirationsquelle nehmen kann, das Erbrochene oder das Gekleckste. Diesen Ge danken hat beispielsweise Friedrich Kaulbach in seinen Kaffeeklecksbildern aufgegriffen oder

Victor Hugo in seinen Faltungen von Tuschespritzern.

b: Dass man aus Flecken auf einer beliebigen Mauer ein Bild entwickeln kann, benennt Leo nardo als ein notwendiges Spiel, um der künst lerischen Routine zu entrinnen.

n: Erforscht wird in den künstlerischen Arbei ten, die zufällige Formen der Natur nutzen, auch die Sozialisierung der Wahrnehmung, denn man versucht immer, etwas Gegenständliches oder Vertrautes in ihnen zu finden. Das ist ein unend liches Spiel, das sich durch alle Jahrhunderte zieht, wobei zum Teil die Bildinformation ge spreizt wird. Man soll erkennen, dass unter schiedliche Betrachter Unterschiedliches sehen, wie es z.B. in den Riefelbildern oder Lamellen bildern der Fall ist, die schon im 16. Jahrhundert entwickelt wurden. Deren Prinzip findet heute noch Anwendung in Werbetafeln mit Prismen wendern.

b: Bei den Lamellenbildern hat man zwei bis drei feststehende Bilder, die abhängig vom Blick winkel sichtbar werden. Bei den Vexierbildern hingegen ist eine Gleichzeitigkeit von verschie denen Bildinterpretationsmöglichkeiten auf der Ebene eines Bildes gegeben.

n: Die großen Beispiele hierfür sind Arcimbol do und Dalí, die sich sehr intensiv mit der Mehr deutigkeit von Bildern beschäftigt haben. So wird nicht nur die zeitliche Dimension bei der Betrachtung ausgenutzt, um in das Bild einzu dringen, sondern auch die Tiefendimension, das im Raum mehrfach gespeicherte Bild, das sich je nach der psychologischen Disposition des Be trachters unterschiedlich zu erkennen gibt.

b: Die unterschiedliche Disposition der Be trachter führt zur Frage der kulturellen Prägung. Wir haben bisher über Traditionsstränge gespro chen, die europäisch verwurzelt sind. In Ihrer Sammlung sind aber auch Objekte aus Asien, z.B. Schattentheater. Wie verhält es sich insge samt mit den optischen Geräten gibt es eine spezifisch europäische Tradition oder gab es schon immer einen vielfältigen Austausch quer über den Globus?

n: Ich vermute aufgrund meiner Quellen, dass z.B. die katoptrischen Anamorphosen, die sich erst in der Reflexion in Zylinder-, Pyramidenoder Kegelspiegeln zu erkennen geben, nicht in Italien entwickelt wurden, sondern dass diese aus dem asiatischen Raum kommen. Die erste gra fische Darstellung einer Zylinderanamorphose in Rom zeigt Faune, die einen Tisch umlagern und in einen Zylinderspiegel schauen, in dem der verzerrt gemalte, flach liegende Elefant dann entzerrt, aufrecht stehend erkennbar wird. Der Elefant ist ein motivischer Hinweis darauf, dass wahrscheinlich die Jesuiten das Prinzip der Ana morphose aus Asien mitgebracht haben. Man kann von einem Hin und Her der Beeinflussung ausgehen. Das Schattenspiel kam ursprünglich wohl aus dem chinesischen Raum. Die Legende sagt, dass es als eine Art Surrogat für einen Kai ser entstand, der seine Geliebte verloren hatte. Ein Magier soll ihm die Geliebte als farbige

transparente Figur im Schattenspiel zurückge geben haben. Das historische, farbige Schatten spiel breitete sich dann aus über Indien bis zur Türkei und gelangte schließlich nach Griechen land. Unser westeuropäisches Schattenspiel ist demgegenüber sehr dürftig, da es nur die schwar zen Silhouetten benutzt.

b: Gibt es bestimmte Kristallisationspunkte für bestimmte Phänomene? Sind bestimmte Ideen oder Formen in manchen Gegenden stärker aus geprägt als anderswo? n: Meine Sammlung ist nach Jahrhunderten und nach Regionen gegliedert. Für die Entwick lung der Zentralperspektive lassen sich Objekte und Bücher ab dem 15. Jahrhundert in Italien fin den. Im 16. Jahrhundert sind vor allem die deut schen Jesuiten sehr aktiv in Rom, allen voran Athanasius Kircher. Der flämisch-holländische Bereich ist sehr reich im 17. Jahrhundert, beson ders in Hinblick auf wissenschaftliche Erzeug nisse, wie Bücher zur Anatomie oder Astrono mie. Ab dem 17. Jahrhundert kommt langsam Bewegung in das französische Geistesleben. Um 1800 werden in Frankreich und England viele optische Geräte entwickelt. Ab 1830 stoßen die deutschen Physiologen dazu, die durch ihre Be wegungsanalysen entscheidende Vorarbeiten zur Entwicklung des Films lieferten. So nutzten die Gebrüder Weber wohl erstmalig mathematische Differentialgleichungen für die Analyse der Me chanik des menschlichen Gangs, ein Verfahren, das dem ähnelt, wenn Algorithmen heute Bilder auf dem Computer erzeugen. Das von dem Bel gier Joseph Antoine Ferdinand Plateau entwickel te Phenakistiskop (Täuschungsseher) und dem Österreicher Simon Stampfer gleichzeitig erfun dene Stroboskop (Kurzzeitseher) führen in den USA mit der Serienphotographie von Eadweard Muybridge und in Frankreich mit der Chrono photographie von Etienne-Jules Marey direkt zum Film.

b: Nach diesem Abriss über die westliche Kul tur stellt sich die Frage, wie im islamischen Kul turkreis über optische Phänomene nachgedacht wurde und wie diese Überlegungen sich auf die Bildende Kunst auswirkten. Gibt es in Hinblick auf die optischen Untersuchungen Unterschiede zwischen der islamischen und der christlichen Tradition?

n: Ich denke, die Kulturen haben sich zum Teil unabhängig voneinander entwickelt. Aus meinem Blickwinkel ist interessant, dass sich auch in der islamischen Tradition kalligraphische Schriften als Bilder zu erkennen geben ver wandt der europäischen Groteske im Barock, in der in den Schnörkeleien vielfältige Gestalten sichtbar werden. Der Einfluss der Lehren der Optik aus dem arabischen Raum ist nicht zu un terschätzen, sie hat den europäischen Mönchen wesentliche Denkanstöße geliefert. Man denke nur daran, wie grandios Ibn Al-Haitham (lat. Alhazen, ca. 965 1039 ) in seinem Hauptwerk, der g roßen o ptik die Prinzipien der Camera obscura erklärt hat. Seine Schriften, auch wenn sie nur als Handschriften kursierten, wirkten stark

auf Roger Bacon (1214 1294). Mitte des 13. Jahr hunderts übersetzte Vitello, ein polnischer Ma thematiker in Erfurt, Alhazens Schriften ins La teinische. Westeuropäische Mönche griffen die Ideen auf und fertigten als Lesehilfen erste Plan konvexlinsen. Der Buchdruck ermöglichte dann, dass eine breitere wissenschaftliche Elite von den Untersuchungen Kenntnis nehmen konnte.

b: Ich möchte noch einmal auf die Aktualität Ihrer Sammlung zurück kommen. Die compu tergenerierten visuellen Medien liefern heute viele technisch avancierte Möglichkeiten der Bildund Filmgestaltung. Auf der anderen Seite gibt es, und das soll unsere Ausstellung zeigen, eine ganze Reihe von Künstlern, die sich bewusst mit den »alten« optischen Traditionen beschäf tigen und verschiedene optische Apparate und Phänomene in ihre Arbeiten einbinden, so wie Eulalia Valldosera das Schattentheater, Sebastian Diaz Morales das Kaleidoskop oder Pipilot ti Rist die Guckkastenbühne. Sie machen damit erneut den Prozess der Bildentstehung, des Se hens und des daran gebundenen Erkenntnis prozesses deutlich. In dieser experimentellen Aktivität liegt mein Interesse der Zusammen führung Ihrer Sammlung mit zeitgenössischer Kunst. Gibt es für Sie da spannende Momente der Begegnung mit den neuen Formulierungen tradierter Techniken?

n: Wie begegnet das Pferd dem Auto? Den Be griff der Pferdestärke benutzen wir ja immer noch. Die alten Medien leben in den neuen Me dien verwandelt weiter. Die visuellen Denk- und Ausdrucksstrukturen bleiben teilweise erhalten. Sie können verwandelt zu ganz neuen sinnstif tenden Einheiten werden. Ich denke, dass es ein universelles, visuelles Verstehen gibt, das sich über die Jahrhunderte entwickelt hat und das dann modifiziert in dem jeweils scheinbar Neu en weiterlebt, so wie das Theater im Film oder der Film in der Computeranimation. All die op tischen Raritäten meiner Sammlung sind Mög lichkeiten, die auf der Menüleiste der visuellen Bearbeitung eingetragen sind und in die Algo rithmen der Computersprache übersetzt wer den könnten. Die Verbindung von den schein bar »nur« unterhaltenden und den »rein« wissen schaftlichen Prinzipien der Erkenntnis macht deutlich, dass wir uns in einer universellen, en zyklopädischen Grammatik befinden. Es gibt Künstler, welche die alten Techniken modifizieren und zu neuen Erkenntnissen führen, wie William Kentridge mit seinen anamorpho tischen Filmprojektionen, Ludwig Wilding mit seinen Rasterbildern oder Alfons Schilling mit seinen Umkehrbrillen, die positive Räumlich keiten in negative verwandeln. Das sind spannende Weiterführungen alter optischer Lösungen und wissenschaftlich-künstlerischer Forschung. Werner Nekes, 1944 in Erfurt geboren und im Ruhr gebiet aufgewachsen, besitzt eine der größten Sammlungen zur »Geschichte der Bilderzeugung« in ganz Europa, mit der er in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Mülheim an der Ruhr lebt. Als Filmemacher wurde Nekes zu einer Kult figur des Experimentalfilms. Sein epochaler, vielfach aus gezeichneter Film Uliisses ( 1980 / 82 ) hat als eine home rische Reise durch die Geschichte des Kinos buchstäblich Filmgeschichte geschrieben.

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einwor tphrasen (II) von burkhard müller

Kann ein einzelnes Wort eine Phrase sein, wo es sich doch bloß als Eintrag im Duden, als unschuldiger Baustein beliebiger Sätze darbietet, dummer ebenso wie kluger, richtiger wie lügenhafter? Kann ein einzelner Ziegel schon Architektur sein? Manchmal schon; manchmal wandert ein ganzes Denken in ein einziges Wort ein; und es kommt darauf an, es aus kompakter Verpup pung wieder zum Vorschein zu bringen. Hier kommt die zweite Lieferung unserer »Einwortphrasen«.

gesamtgesellschaftlich

Gegen dieses Adjektiv wäre von einem rein logischen Standpunkt aus eigentlich nicht mehr einzuwenden als gegen den sprichwört lichen weißen Schimmel. Ein Schimmel, der nicht weiß ist, ist keiner, und aus diesem Grund macht sich das Attribut entbehr lich; die unnötige Verdoppelung, der überflüssige Aufwand wirkt komisch. Und ebenso besagt das Wort »gesamtgesellschaftlich« nicht mehr als »gesellschaftlich«. Das Gesellschaftliche meint im Gegensatz zum Partikularen des Individuums, einer Zunft, einer Region usw. das, was den historisch geformten Zusammenhang der Menschen überhaupt betrifft. Ein Begriff des Teilgesellschaft lichen ließe sich nur mit erheblichen Verrenkungen konstruieren. Jedoch verdient es immer Interesse, wenn in der Sprache gegen das tief wurzelnde Gebot der Ökonomie verstoßen wird. Was ist hier passiert, dass aus einem solchen sechssilbigen Monstrum ein solcher Publikumsliebling werden konnte?

Man muss wohl eine Zeitreise in die Sechziger- und Siebzigerjah re antreten, um den Gründen auf die Spur zu kommen. Damals wurde jede Neuerscheinung der Reihe Suhrkamp Taschenbuch der Wissenschaft (stw) sogleich, auf bloßen Verdacht hin, in mitt lerer fünfstelliger Auflage gedruckt statt wie heute bloß in hoher dreistelliger. Sobald ein Titel losging mit »Kritik des/der…«, schien er ein Anrecht auf universale Aufmerksamkeit zu besit zen, und ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, unverzeihlich. Kri tik hieß dabei stets, dass welches Phänomen auch immer auf sei ne gesellschaftliche Bedingtheit zurückgeführt wurde. Es war ein Trick, der immer ging, es aber denen, die es zu bezeugen hat ten, darum keineswegs leichter machte. So musste sich ein großer uneingestandener Groll anhäufen. Dieser brach erst in den Acht zigern durch, als die »Theoriemüdigkeit« um sich griff. Mit Fug und Recht darf man sie auch als eine Theoriefaulheit bezeichnen, denn nicht jeder, der über solche Müdigkeit klagte, war in diesen Zustand auch durch ein Übermaß an redlicher Bemühung ge langt.

Das Wort »gesellschaftlich« wirkt seither in einem Diskurs so wie das Ansinnen, sie solle ihr Zimmer aufräumen, auf die Laune ei ner Vierzehnjährigen. Da muss man sich schon was einfallen las sen, um die Stimmung zu heben. Die Erweiterung von »gesell schaftlich« auf »gesamtgesellschaftlich« klingt bombastisch, hat aber in Wahrheit begütigenden Sinn. Sie will besagen: Wir wissen beide, dass es sich um eine überaus lästige Angelegenheit handelt. Und wir wollen es auch nicht übertreiben. Aber manche Essenti als müssen von Zeit zu Zeit eben einfach sein. Wenn wir zwei, du und ich, ihnen nicht beizeiten ins Auge blicken und für das Al lernötigste sorgen, haben wir demnächst einen Saustall beiein ander, wo keiner mehr durchfindet. Keiner liebt die Anstrengung, die die Ordnung kostet. Aber sie verhindert Schlimmeres. Die Gesellschaft gibt es, das weißt du so gut wie ich. Oder willst du sein wie Maggie Thatcher, die behauptet, eine Gesellschaft exis

tiere nicht, sondern bloß der Einzelne und höchstens noch seine Familie? Du erinnerst dich noch an Maggie Thatcher mit ihrer Frisur und ihren Kostümen? Na siehst du! »Gesamtgesellschaftlich«: Es ist ein allzu munterer Biss in einen sehr sauer gewordenen Apfel.

spartenübergreifend

Mit der Sparte hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Das Wort macht den Eindruck des Traulich-Heimischen, aber wo stecken seine Verwandten, die es doch geben müsste, wenn es wirklich von hier stammt? Da es also nirgends hingehört, neigt es sich aufgrund bloß seiner lautlichen Anklänge mal hierhin und mal dorthin, ohne dass den Sprechern dies bewusst würde. Es scheint der Spalte nahezustehen, aber auch dem Spaten, ja selbst der Spar gel drängt sich ins Bild. Die letzten zwei Assoziationen werden dadurch begünstigt, dass es in Ostdeutschland überall die Gar tensparte gibt, das heißt die Kleingartenkolonie. In jedem Fall scheint sich mit ihm die Vorstellung eines eher Länglichen und dabei womöglich allzu Schmalen zu verbinden.

Die Klassik schlägt gelegentlich durch die Hintertür zu. Wer hät te gedacht, dass sich in der Kleingartensparte der »Telephos« des Euripides versteckt? In diesem Drama nämlich begegnen sich die Brüder Agamemnon und Menelaos, Könige alle beide, und Agamemnon spricht: »Hên élaches Spártên kósmei«, »Du hast Sparta erlangt, das ordne«; er selbst nämlich ist Herrscher von Mykene, wo er dasselbe zu tun verheißt. Es handelt sich also um einen Fall gütlicher Teilung eines Ganzen. Im Griechischen wird der Satz sprichwörtlich im Sinn von »Ein jeder erfülle die Aufga be, die ihm zugefallen ist«.

Daran knüpft der Historiker Treitschke an, der 1895 in seiner Re de »Zum Gedächtnis des großen Krieges« dem deutschen Jüng ling zuruft, der Einfachheit halber in lateinischer Übersetzung: »Spartam nactus es, hanc exorna!« Dass dem deutschen Jüngling ausgerechnet Sparta zufallen soll, wo doch Schliemann gerade die Goldmaske des Agamemnon in Mykene ausgräbt, erstaunt zunächst; aber gewiss denkt Treitschke dabei an die Erfordernisse kriegerisch-strenger Sittlichkeit, die er speziell dem deutschen Jüngling zudenkt. Dafür eben steht ihm der Name Sparta ein. Möglicherweise will er dabei auch Spree-Athen eins auswischen, als das sich Berlin begriff, insoweit es dem Schönheits- und Bil dungsideal Wilhelm von Humboldts nahestand. Denn Athen und Sparta, das waren die klassischen Feinde. Diese anspruchsvolle Konnotation hat sich offenbar rasch ver flüchtigt; der Sparte ist von der besonderen Verpflichtung allein die Besonderheit geblieben, die sie vorrangig im Gegensatz zur Nachbarsparte bestimmt, wozu die besagte Anmutung des Läng lich-Schmalen ihren Teil beigesteuert haben mag. Die Länge war o.k., aber es schien sich eine gewisse Verbreiterung zu empfehlen. Diesen schwer fassbaren Implikationen verdankt es das Sparten übergreifende, dass es sich mit der Qualität des Drängenden dar zustellen vermag. Die Sparte scheint nach dem Übergriff förm lich zu winseln. Von der Disziplin etwa gilt das nicht, sie ist auf eine gewisse schnöselige Weise durchaus mit sich selbst zufrie den und bedarf schon gesteigerter Aufmunterungen, um sich zum Interdisziplinären bereitzufinden. Dennoch sollte man sich es sehr sorgsam überlegen, welches von beiden Postulaten man erhebt, um an Fördergelder heranzukommen. Denn es mag historisch und etymologisch noch so unverdient sein, der Sparte

haftet die Ackerkrume des Kleinbetriebs an, die den Antragstel ler, so sehr er auch ins Weite strebt, wie ein Dreck an der Schuh sohle unentrinnbar begleitet.

format

Es gab eine Zeit, da hätte man unter einem künstlerischen For mat die Angabe verstanden: Öl auf Leinwand, 128 × 78 cm. Schon längst ist der Begriff des Formats aus dieser viereckigen Beschrän kung ausgewandert. Schuld daran ist, wie an so vielem, das Fern sehen.

Was im Fernsehen als »Format« gilt, hat alle anderen, älteren Be deutungen des Worts an die Wand gedrückt. Wie lang hat man z.B. schon nichts mehr von einem Mann von Format gehört! Format beim Fernsehen heißt: Programmgattung plus Sendezeit plus Sendedauer mal Zuschauerquote. Der Zuschauer selbst, der da mit hineingerechnet wird, dürfte dieses Wort eher selten ver wenden, es sei denn, er will den Auskenner spielen; es ist ein Be griff der Produktions-, nicht der Rezeptionsästhetik. Das Fernse hen wird dabei als eine vorgegebene energetische Größe ange schaut, als eine Art Hochofen, der, wenn er einmal angeschürt ist, niemals ausgehen darf und für den man darum durch ausge pichte Planerei die Lieferaufträge regeln muss. Für den, der ihn hat und bewirtschaftet, kommt es auf den Ofen an und nicht auf den Stahl, der gerade deshalb nicht aufhören soll, hervorzuströ men. The show must go on!

Wer immer heute den Begriff des Formats auf andere Bereiche überträgt, hat als seine Leitmetapher jedenfalls das Fernsehen er wählt, und zwar das Fernsehen vom Standpunkt des Betriebs aus. Der Kunde ist König aber nur weil man ihn braucht, um den Betrieb am Laufen zu halten. Seismografengleich zwar hängt er an der Reaktion der Kundschaft, um ihr nach dem Mund zu reden und genau das zu zeigen, was sie sehen möchte. Aber das muss er nur tun, weil die Kundschaft für ihn eine autonome oder doch eine unberechenbare Größe darstellt. Umso rückhaltloser muss er über die Inhalte verfügen können. Flexibel sollen sie sein, aber doch in ihren erkennbaren Mustern das längerfristige Pla nen erlauben. Mittel sind sie zum Mittel, dem Zuschauer näm lich, Zweck aber ist der Betrieb für sich. Da man nicht weiß, wie die Fische beißen werden, muss man besonders große Sorgfalt auf die Herrichtung des Köders verwenden, den man ins Wasser hängt.

In der Kunst von Formaten zu sprechen, heißt also, den Kunst betrieb zu ihrem Sinn und Zweck zu erklären. Einem Galeristen könnte man das noch verzeihen, vielleicht sogar einem Muse umskurator, denn die beiden haben schließlich ihre legitimen betrieblichen Interessen. Aber für den Künstler bedeutet es einen Bankrott. Werft mich zum Fraße vor! scheint er zu flehen. Hier rächt es sich, dass die Künste sich so überaus gründlich von ihren alten Formen getrennt haben: So haben sie den Formaten nichts Eigenes entgegenzusetzen. Konzeptkunst und Performance sind frei und offen, aber da sie auf Abschaffung des Skeletts optiert haben, neigen sie sehr zur Schlappheit. Da bleibt ihnen fast nichts anderes übrig, als jenen sekundären Halt zu suchen, wie ihn der Wurm von der Angel bekommt.

Burkhard Müller, geboren 1959 , arbeitet als Dozent für Latein an der TU Chemnitz und als Journalist für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung Zuletzt erschien von ihm Die t ränen des Xerxes. v on den l eben digen und den t oten im Klampen Verlag, Springe 2006

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52 Entwurfszeichnung von Leo Wollner, o. J. 5 Stoffdruck, Dessin Bawo , Entwurf von Wolf Bauer, Pausa-Druck für Intair Internationales Stoffdesign, o. J.
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Kollektion Computer Design 1971 56 Stoffdruck,
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meldungen

filmretrospektive winter ade fil mische vorboten der wende Als im Herbst 1989 in Mitteleuropa der Kalte Krieg zu Ende ging, zeigte sich die Weltöffentlichkeit weitgehend überrascht. Mehr als 40 Jahre lang war die Konfrontation der globalen Machtblö cke politische Realität und gelebter Alltag. Dann fiel in Berlin, scheinbar über Nacht, die Mauer. Ein genauerer Blick auf Literatur, Bildende Kunst und Musik zeigt jedoch, dass es sehr wohl Vorzeichen der bevorstehenden Umbrüche gab. Aber nirgendwo sonst nahmen die Vorboten der Wende konkretere Gestalt an als im Kino. Die insgesamt 15 Filme umfassende Filmretrospekti ve zeigt Filme aus Ost- und Westdeutschland so wie aus Ländern des einstigen Ostblocks, in de nen sich Hoffnungen auf tiefgreifende Verände rungen formulieren. Das Projekt wird von Claus Löser kuratiert. Im Jubiläumsjahr 2009 wird die Retrospektive zuerst im Rahmen der Berliner Filmfestspiele gezeigt. Danach tourt das Pro gramm bis zum Jahresende durch Kommunale Kinos und andere Spielstätten. Interessierte Kinos können sich ab November 2008 bewerben bei: Anke Hahn / Stiftung Deutsche Kinemathek/ Verleih (ahahn@deutsche-kinemathek.de). Die Vision Kino nimmt vier Filme des Programms in ihre SchulKinoWochen 2009 auf. Weitere In formation unter: www.visionkino.de

schrumpfende städte ff. Sechs Jahre lang hat sich das Initiativprojekt s chrumpfende s tädte der Kulturstiftung des Bundes mit der Frage befasst, was passiert und was zu tun ist, wenn Städte Einwohner und Wirtschaftskraft verlieren. Das Projekt geht nun nach einer inter nationalen Ausstellungstournee zu Ende, doch das Thema wird uns in Zukunft mehr denn je beschäftigen. Zum Projektende geben daher Ausstellung und Symposion einen Ausblick, wie sich die Thematik schrumpfender Städte im 21 Jahrhundert global weiterentwickeln wird und wie mittels interdisziplinärer Projekte zwischen Kunst und Wissenschaft gesellschaftliche Ent wicklungen beeinflusst werden können. Aus stellung 16 10.–23 11 08, Symposion 16./17 10 08 in der Akademie der Künste, Pariser Platz, Ber lin. Eine Kooperation der Kulturstiftung des Bundes, des Projekts Shrinking Cities, der Aka demie der Künste und der Bertelsmann Stif tung. Informationen und Termine unter www.shrinkingcities.com

mach doch, was du willst kurzfilm rolle jetzt als dvd Die Kurzfilmrolle mach doch , was du willst aus dem Programm a rbeit in z ukunft der Kulturstiftung des Bundes ist ab jetzt regulär als DVD im Handel erhältlich. Weiterhin erhältlich ist eine Bil dungs- DVD der Kurzfilmrolle mit Begleitmate rial für den Einsatz im Unterricht, in Bildungs einrichtungen oder Landesmedienzentralen. Et liche der insgesamt 11 Filme der Rolle sind zum Teil sogar mehrfach ausgezeichnet worden, un ter anderem mit dem Friedrich-Wilhelm-Mur nau-Kurzfilmpreis 2007 und dem Preis der Deut schen Filmkritik 2007. Seit ihrer Premiere wur den die Filme bereits in über 200 Kinos aufge führt. Die Kurzfilmrolle mach doch , was du willst ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den die Kulturstiftung des Bundes gemeinsam mit der KurzFilmAgentur Hamburg e.V. und ZDF /ARTE ausgeschrieben hatte. Die DVD kos

kulturstiftung des bundes magazin 1240

tet 11,95 Euro und ist über die KurzFilmAgentur Hamburg e.V. zu beziehen: www.shortfilm. com. Die DVD mit Begleitmaterial für die Bil dungsarbeit kostet für Lehrer und Schulen 35 Euro und für Medienzentren 220 Euro und ist zu beziehen bei: www.matthias-film.de

jedem kind ein instrument begeistert grundschüler Rund 89 Prozent der im ver gangenen Schuljahr gestarteten »JeKi«-Kinder bleiben dem Projekt treu und meldeten sich für das zweite Schuljahr an ein großer Erfolg für das Projekt zum Kulturhauptstadtjahr im Ruhr gebiet! Die 6 300 Zweitklässler erhalten ab Herbst 2008 Instrumentalunterricht in Kleingruppen und lernen ihr zuvor selbst gewähltes Musikinstrument genauer kennen. Zugleich wächst Je dem Kind ein i nstrument kräftig weiter. Seit Schuljahresbeginn entdecken nun weitere 20 000 Erstklässler die Welt der Musikinstru mente. 40 von 53 Ruhrgebietskommunen bieten mittlerweile das Programm an, und die Zahl der teilnehmenden Grundschulen stieg auf 350 Die Musikschulen benötigen weiterhin Unter stützung bei der Anschaffung von Musikins trumenten! Weitere Informationen zum Projekt und zu den Fördermöglichkeiten unter: www.jedemkind.de

bildungsforschung zu jedem kind ein instrument Ab November dieses Jahres beglei ten Wissenschaftler unterschiedlicher Diszipli nen die Ruhrgebietsinitiative. Über einen Zeit raum von vier Jahren untersuchen die Forscher, wie die Ziele des Programms Jedem Kind ein i nstrument erreicht werden. Das Bundesmi nisterium für Bildung und Forschung stellt da für jährlich bis zu einer Million Euro bereit. Un tersucht wird, wie Beteiligung und soziale Her kunft der Kinder korrelieren und wie sich der Instrumentalunterricht auf die soziale Kompe tenz von Grundschülern auswirkt.

schirmherr bundespräsident köhler überreichte musikinstrumente in gelsenkirchen Am 26. August erhielten 47 Zweit klässler ihre Musikinstrumente aus der Hand von Bundespräsident Horst Köhler. Als Schirm herr von Jedem Kind ein i nstrument gab er an einer Gelsenkirchener Grundschule den Startschuss für den Instrumentalunterricht, den die Kinder schon neugierig erwarteten. Zusam men mit NRW-Ministerpräsident Jürgen Rütt gers und Kulturstaatsminister Bernd Neumann dankte der Bundespräsident anschließend den engagierten Bürgern und Unternehmen des Ruhrgebiets für ihren Spendeneinsatz, der den Kauf von insgesamt 6 300 Instrumenten möglich machte. Auch in den anderen teilnehmenden Ruhrgebietsstädten überreichten Stadtvertreter und Spender den Grundschülerinnen und -schü lern die ersten Geigen, Gitarren, Trompeten und andere Instrumente. Sie stehen den Kindern als kostenlose Leihgaben von der zweiten bis zur vierten Klasse zur Verfügung. Weitere Spenden sind dringend notwendig. Weitere Informati onen unter: www.jedemkind.de

jedem kind ein instrument mit eigenem kinderorchesterruhr Seit Juni ist das KinderOrchesterRuhr fester Bestandteil von Jedem Kind ein i nstrument 70 Kinder und Jugendliche zwischen neun und vierzehn

Jahre engagieren sich in diesem Orchester weit über den Instrumentalunterricht hinaus. Das Orchester präsentierte sein aktuelles Programm Bilder einer a usstellung von Mussorgski unter der Leitung von Barbara Rucha bereits am 23. August zum Tag der offenen Tür im Bun deskanzleramt und am 31. August zum NRW Tag in Wuppertal. Das KinderOrchesterRuhr wurde 2007 auf Initiative von NRW-Minister präsident Jürgen Rüttgers als junges Nachwuchs orchester gegründet. Unter dem Dach der s tif tung Jedem Kind ein i nstrument wird es in den nächsten Jahren neben der sinfo nischen Arbeit weitere Schwerpunkte erarbeiten: In das musikalische Angebot sollen zukünftig die Vielfalt der Instrumente von Jedem Kind ein i nstrument und die migrantische Kul tur der Region einfließen. Weitere Informati onen unter: www.jedemkind.de

netzwerk neue musik ausgezeichnet mit dem red dot award für herausragendes design Für seine herausragende Gestaltung erhielt das n etzwerk n eue m u sik von Novamondo Design jetzt einen der be gehrtesten Designpreise weltweit: den »red dot«. Das Qualitätssiegel wird alljährlich beim inter nationalen Wettbewerb »red dot design award« für anspruchsvolles und innovatives Design vergeben. Die Jury aus 14 internationalen Design experten hatte in diesem Jahr im Rahmen des red dot award: communication design über die Designqualität von knapp 6 000 Arbeiten aus 39 Nationen zu befinden. Ausgezeichnet wurden insgesamt 381 Arbeiten. Die Preisverleihung fin det am 3. Dezember 2008 in der Galahalle des Casino Zollverein in Essen statt. In einer Aus stellung im Essener red dot design museum wer den alle ausgezeichneten Arbeiten vom 4. De zember 2008 bis zum 11. Januar 2009 der Öffentlichkeit präsentiert. www.netzwerkneuemusik.de

internationales interesse an der aus stellung topf & söhne Die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Ausstellung t echniker der »Endlösung« : t opf & s öhne Die o fenbauer von a usch witz wurde nach ihrer Eröffnung am 19. Juni 2005 im Jüdischen Museum Berlin inzwischen an sieben weiteren Orten in Europa gezeigt: in Erfurt, Essen, Lage, Nürnberg, Mechelen (Bel gien), Mauthausen (Österreich) und zuletzt in Kopenhagen (Eröffnung im dänischen Arbej dermuseet am 22 8 2008 ). Die Firma Topf & Söhne war ein ganz normaler deutscher Indus triebetrieb bis sie begann, die Krematorienöfen von Auschwitz zu perfektionieren. Wie geschah es, dass ein ziviles Unternehmen die SS bei der industriellen Vernichtung menschlichen Lebens unterstützte? Mit dem Ausstellungsprojekt erforschte die Gedenkstätte Buchen wald die Motivationsstruktur und die Unter nehmenskultur, die die Mittäterschaft der Fir ma Topf & Söhne befördert hat. Für die Zeit ab Sommer 2009 wird derzeit eine Tournee durch Nordamerika vorbereitet, wo die Ausstellung in Toronto, Chicago, Houston und New Jersey ge zeigt werden soll. Weitere Anfragen liegen aus Wiesbaden und Santiago de Chile vor. Das große Medienecho und die internationale Re sonanz zeigen, dass es der Ausstellung gelungen ist, diesen Teil der deutschen Geschichte so zu

präsentieren, dass die damit verbundenen Fra gen und ihre Relevanz auch außerhalb des Kon textes deutschen Gedenkens wahrgenommen werden. Die Ausstellung soll schließlich dauer haft im neuen Lern- und Dokumentationszentrum t opf & s öhne in Erfurt präsentiert werden, dessen Verwirklichung nicht zuletzt durch den internationalen Erfolg der Ausstel lung möglich wurde.

zipp startet deutsch-tschechische theaterprojekte zu 68 /89 Im Rahmen von z ipp deutsch tschechische Kul turprojekte , einer Initiative der Kulturstif tung des Bundes, haben bis Ende November 2008 verschiedene deutsch-tschechische Thea terprojekte Premiere: Die deutsch-tschechische Oper Exit 89 von Jaroslav Rudiˇs, Martin Be cker (Libretto) und Michal Nejtek (Musik) the matisiert die Nachwende-Erfahrungen der 68erGeneration in Deutschland und Tschechien. Ur aufführung ist am 22 10. im Theater Archa in Prag, Gastspiele in Hamburg und Brno schlie ßen sich an. Das dokumentarische Theaterstück a lles wird anders (Regie: Thorsten Trim pop) setzt tschechische wie deutsche Biografien zueinander in Beziehung und fragt nach der Be deutung der historischen Ereignisse von 1968 und 1989 für die Gegenwart (Premiere am 30 10. auf Kampnagel in Hamburg, Gastspiele in Prag und Brno). Das Projekt n ico s phinx aus Eis (Regie und Produktionsleitung: Oliver Sturm) befasst sich mit Christa Päffgen alias Nico, die als Modell, Sängerin und Schauspielerin zur Ikone der Popkultur der späten 60er Jahre wurde (Premiere am 20 11. in den Sophiensaelen Berlin, Gastspiele in Hamburg, Frankfurt und Prag). Parallel zu den Theaterproduktionen erscheint das dritte Journal zum Themenschwerpunkt 1968 1989, zugleich findet mit Performing 68/89 der dritte Themenabend statt (1 11., Kamp nagel Hamburg). Weitere Informationen unter: www.projekt-zipp.de

kranichsteiner literaturpreis des deut schen literaturfonds für gerhard falk ner und paul-celan-preis für ragni ma ria gschwend Der seit 2004 von der Kultur stiftung des Bundes geförderte Deutsche Litera turfonds verleiht den diesjährigen Kranichstei ner Literaturpreis an den Schriftsteller Gerhard Falkner. Der 1951 geborene Falkner veröffentli chte zunächst in Zeitschriften, bevor er 1981 sei nen ersten Gedichtband so beginnen am körper die tage publizierte. Zuletzt er schien die Novelle Bruno im Berlin Verlag. Die mit 20 000 Euro dotierte Auszeichnung wird am 15. November in Darmstadt verliehen. Zugleich bewerben sich die Schriftsteller Mar tin Becker, einer der Autoren in unserem Maga zin # 11, Finn-Ole Heinrich und Matthias Karow mit Lesungen unveröffentlichter Texte um den mit 5 000 Euro dotierten Kranichsteiner Litera turförderpreis. Zehnwöchige Stipendien erhal ten der Schriftsteller Sherko Fatah für einen Aufenthalt im Deutschen Haus der New York Uni versity sowie Jan Böttcher für das Queen Mary College der University of London. Den eben falls vom Deutschen Literaturfonds vergebenen Paul-Celan-Preis, mit dem herausragende Über setzungen ins Deutsche ausgezeichnet werden, erhält in diesem Jahr Ragni Maria Gschwend. Die 1935 in Immenstadt geborene Übersetzerin

erhält den Preis für ihr Gesamtwerk, das zahl reiche Übersetzungen aus dem Italienischen um fasst. Der mit 15 000 Euro dotierte Preis wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben. www.deutscher-literaturfonds.de

arbeit, sinn und sorge website Seit 2006 wurden im Rahmen des Programms a r beit in z ukunft zahlreiche Projekte aller Sparten gefördert und mehrere große Initiativ projekte zu den kulturellen Folgen des Wandels der Arbeitswelt realisiert. Zum Abschluss des Programms wird im Juni 2009 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden die Ausstellung a rbeit , s inn und s orge eröffnen. Sie fokus siert die sozioökonomischen Zusammenhänge der Arbeitsgesellschaft anhand von Alternativszenarien und stellt dabei nicht das Experten wissen, sondern individuelle Perspektiven auf sinnvolles Tätigsein in den Mittelpunkt. Das Leitmedium der Ausstellung werden Filmbilder sein. Lange vor der Eröffnung der Ausstellung gibt nun eine Website Einblicke in den kurato rischen Entstehungsprozess. Sie zeigt, wie die Kernfragen des Projekts diskutiert werden, wie sie Gestalt annehmen und schließlich in Aus stellungsbeiträge münden. www.arbeitsausstellung.de

kunst werte gesellschaft website

Im Mai 2008 hatte die Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine in der Berliner Akade mie der Künste die Tagung Kunst Werte g e sellschaft veranstaltet. Zentrales Thema war die Frage, welche Auswirkungen auf öffentlich finanzierte und gemeinnützige Kunstinstitutionen entstehen, wenn der privatwirtschaftliche Kunstbetrieb zunehmend das öffentliche Verständnis davon prägt, was als zeitgenössische Kunst gilt. Verändert sich durch den Boom des Kunstmarkts die Funktion von Non-Profit-Ins titutionen als Orte gesellschaftlicher Aushand lungsprozesse über den Wert von Kunst? Die gut besuchte Tagung umfasste Beiträge von Künstler/innen, Vertreter/innen von Kunstein richtungen, des Kunsthandels, der Kulturwirt schaft, der Kulturpolitik und der Medien. Alle Beiträge können nun auf der Website nachgele sen werden. www.kwg.kunstvereine.de

fachtagung jedem kind (s)ein instrument die musikschule in der grund schule 14.—16. november 2008 Chancen und Herausforderungen der neuen Kooperati onen von Schulen und Kultureinrichtungen stehen im Zentrum der Tagung Jedem Kind (s)ein i nstrument die m usikschule in der g rundschule , die die Stiftung Je dem Kind ein Instrument zusammen mit der Gesellschaft für Musikpädagogik vom 14.–16 November 2008 in Schwerte durchführt. In Vorträgen, Workshops und offenen Foren geht es um die kulturpolitische Dimension solcher Kooperationen. Erfahrungen werden ausge tauscht und Anregungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit diskutiert. Interessenten aus dem gesamten Bundesgebiet sind eingeladen, sich an der Debatte zu beteiligen. Das Tagungs programm finden Sie unter: www.kulturstiftung-bund.de/jedemkind

neue projekte Im April 2008 erhielten auf Empfehlung der Jury 23 Projekte aller Sparten eine Förderzusage im Rahmen der antragsgebundenen Projektförderung.

Zusammenarbeit mit Jonas Mekas kuratiert und orientiert sich an den Präsentationsformen, die Mekas selbst für sein Filmmaterial entwickelt hat. Projektleitung: Barbara Engelbach, Jonas Mekas LT / Ausstel lung: Museum Ludwig Köln: 8 11 2008 1 3 2009 / Museum Ludwig Köln www.museenkoeln.de

Bad Essen, Belm, Ostercappeln-Venne und Osnabrück: 24 04. 31 12.2009 / Landschaftsverband Osnabrücker Land e.V. www.lvosl.de

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bild und raum / ausstellungen

das große spiel archäologie und politik zur zeit des kolonialismus (1860 –1940) Welche Impulse standen hinter der in tensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit antiken Kulturen im 19. Jahrhundert? Wer waren die Pioniere, die archäologische Stätten ausgruben, und welche Interessen leiteten ihre Auftrag- und Geldgeber? Diese Fragen sollen ge meinsam mit internationalen Partnern in einem umfassenden historischen Kontext untersucht werden. Die Ausstellung zeigt, wie sehr die eu ropäischen Expeditionen in den Nahen Osten, nach Zentralasien oder Afrika politisch moti viert waren und archäologische Ausgrabungen für die Kolonialpolitik instrumentalisiert wur den. Sie präsentiert bedeutende archäologische Funde und zeichnet die Lebensgeschichten von Personen wie Lawrence of Arabia, Gertrude Beil oder Max von Oppenheim nach. Die verglei chende und globale Fragestellung der Ausstel lung bildet ein Novum in der archäologischen Forschung. Angesichts von Rückgabeforderungen ist die Fundgeschichte archäologischer Samm lungen ein höchst aktuelles Thema, das in der Ausstellung ebenfalls seinen Platz findet. Den Besuchern soll die Ausstellung einen anderen Blick auf die Kolonialgeschichte ermöglichen. Projektleitung: Charlotte Trümpler / Wissenschaftliche Mitar beit: Tom Stern / Ausstellung: Zeche Zollverein, Essen: 11 02 13 06 2010 / Ruhr Museum Essen www.ruhrmuseum.de

jonas mekas erste einzelausstellung in deutschland Der Filmemacher Jonas Me kas entwickelte durch seine assoziative Verknüp fung von Filmbildern einen ganz eigenen doku mentarischen bzw. essayistischen Stil, der Künst ler und Filmemacher unterschiedlicher Genera tionen bis heute beeinflusst. Die Ausstellung im Kölner Museum Ludwig fokussiert sein Engage ment als Künstler, aber auch als Initiator und Vermittler (Filmkurator und Filmkritiker), der z. B. Filmvorstellungen an immer neuen Orten möglich machte. Seine Filmprogramme und -kritiken widmeten sich gleichermaßen dem eu ropäischen Avantgarde- und dem Nachkriegs film, wie dem sogenannten New American Cine ma (John Cassavetes) oder dem UndergroundFilm (Andy Warhol). Das Filmprogramm wird gleichberechtigter Teil der Ausstellung sein und neben einer repräsentativen Auswahl seiner Filme auch solche Filme berücksichtigen, die durch Mekas’ Engagement erst bekannt wurden. Diese erste Einzelausstellung in Deutschland wird in

das konzentrationslager sachsenhau sen 196 1945 konzeption und realisierung einer interaktiv-multimedialen präsentation für das computergestützte learning-center Im April 2008 er öffnete die Gedenkstätte Sachsenhausen ihre neue Dauerausstellung Das K z s achsenhausen 1936 1945 Ereignisse und Entwick lungen . Die Ausstellung in der ehemaligen Häftlingsküche gibt einen Überblick über die historische Entwicklung des KZ s. Sie ist die Kern ausstellung der Gedenkstätte, die den Besucher auf die weiteren thematischen Ausstellungsorte auf dem Gelände vorbereitet. Es sollen nun fil mische Interviews mit Zeitzeugen im Rahmen eines multimedialen Learning-Centers in die Ausstellung integriert werden. Im Zentrum des Learning-Centers steht bewusst die persönlichsubjektive Sicht überlebender Häftlinge. Die Zeitzeugen antworten in den Interviews auf grundlegende Fragen, die sich den Ausstellungs besuchern aufdrängen: Wie haben die Häftlinge die Zwangsarbeit in den verschiedenen Arbeits kommandos erlebt? Gab es beim Todesmarsch die Möglichkeit zu fliehen? Die ehemaligen Häftlinge schildern die Lebensrealität im Lager und einzelne Geschehnisse aus ihrer eigenen Er innerung. Die aus diesen Erzählungen resultie rende Multiperspektivität wird bei der Konzep tion des Learning-Centers berücksichtigt: Für den Besucher soll das Spannungsfeld zwischen objektiven und subjektiven »Fakten« erfahrbar werden.

Projektleitung: Astrid Ley, Markus Ohlhauser / Ausstellung: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Oranienburg: 15 06 2008 31 03 2009 / Stiftung Brandenburgische Kultur stätten www.stiftung-bg.de

colossal kunst fakt fiktion Wo genau die Varusschlacht im Teutoburger Wald stattgefunden hat, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen. Im Laufe der Zeit wurden mehrere Hundert verschiedene Orte als mögliche Schlachtfelder benannt. Zur 2000 Jahrfeier des historischen Ereignisses 2009 sol len in der Region Bramsche-Kalkriese künstleri sche Installationen entstehen, die sich mit der Region und den Mythen, die sich um die Varus schlacht ranken, auseinandersetzen. Unter der künstlerischen Leitung von Jan Hoet (Leiter der documenta 9 ) geht es um eine ganz eigene Art der künstlerischen Aneignung und Befragung von Geschichte, Geschichtsmythen und -bil dern: Die beteiligten, international renommier ten Künstler/innen versuchen in ihren Arbei ten, vermeintlich gesicherte Fakten und die sich darum rankenden Erzählungen neu aufeinan der zu beziehen.

Künstlerische Leitung: Jan Hoet / Kurator: Lorenzo Bendetti / Mit Arbeiten von: Massimo Bartolini ( , Katinka Bock ( D/F ) , Monica Bonvicini , Heinrich Brummack, Rui Chafes P ) , Wim Delvoye ( B ) , Fabrice Gygi ( CH , Gabriel Kuri MEX/B ) , Da vid Malijkovic ( NL , Slava Nakovska BUL , Eva Rothschild CH ) , Fernando Sanchés Castillo ( E , Susanne Tunn, Yue Min Jun ( CN /Ausstellung: Bramsche-Kalkriese (Archäologischer Park) und dezentrale Standorte in Bramsche, Bohmte,

alexander archipenko werkretrospektive Mit dem Nachlass des Bildhauers Alexan der Archipenko besitzt das Saarlandmuseum ei nen europaweit einzigartigen Bestand an Origi nalgipsen, Bronzegüssen und Arbeiten auf Pa pier von einem der wichtigsten Wegbereiter der Skulptur des 20. Jahrhunderts. Ergänzt um in ternationale Leihgaben bietet die Ausstellung einen Überblick über mehr als fünf Jahrzehnte seiner künstlerischen Entwicklung. Archipen kos frühe Arbeiten sind beeinflusst von den Formexperimenten der Kubisten, in seinen spä teren Arbeiten steht der menschliche Körper im Zentrum. Die Schau stellt die umfassendste Werkretrospektive der letzten Jahrzehnte dar und wird darüber hinaus den Anstoß zu einer langfristig angelegten konservatorischen Unter suchung und Bearbeitung des Nachlasses geben. Künstlerische Leitung: Kathrin Elvers-Svamberk / Ausstellung: Saarlandmuseum, Saarbrücken: 18 10 2008 18 01 2009 / Saarlandmuseum www.saarlandmuseum.de

raumsichten öffentliche raumplanung als künstlerisches arbeitsfeld Unsere Umwelt ändert sich permanent. Wie sich Land schaften entwickeln und wie sie langfristig ge staltet werden, entscheiden meist öffentliche Einrichtungen und Behörden. RAUM sichten möchte die heutigen Verfahren und Ziele der Landschaftsplanung, die häufig wirtschaftlich und technologisch motiviert sind, um künstle rische Sichtweisen erweitern. Das Vechtetal bie tet dafür den idealen Landschaftsraum: Die Re gion beidseitig des Flusses Vechte mit der Graf schaft Bentheim und der niederländischen Pro vinz Overijssel ist bereits seit dreißig Jahren Ver anstaltungsort der »kunstwegen«, einem offenen Museum, das zeitgenössische Skulpturen in den öffentlichen Raum einbettet. RAUM sichten setzt dieses erfolgreiche Konzept fort. Auf Einladung eines internationalen Beratergremiums entwi ckeln Künstler/innen Konzepte für Interventi onen in den Landschaftsraum. Eine Jury wählt schließlich acht der Kunstkonzepte aus, die im Vechtetal bis zum Jahre 2010 realisiert werden sollen. Umgekehrt diskutieren Beteiligte und Verantwortliche aus der öffentlichen Verwaltung größere Landschaftsgestaltungsmaßnahmen in der Region mit den eingeladenen Künstler/in nen. Ziel des Projektes ist es, die häufig pragma tische Landschafts- und Freiraumplanung um künstlerisch-ästhetische Ideen zu bereichern. Künstlerische Leitung: Roland Nachtigäller / Berater: Till Krause, Arnoud Hollemann ( NL ) , Stephan Berg, Udo Kittel mann, Charles Esche ( GB , Mark Dion ( US , Jörg Heiser, Stefa nie Rosenthal, Barbara Steiner A , Brigitte Franzen / Ausstel lung : Städtische Galerie Nordhorn: 12 06.–26 7 2009 und Künstlerprojekte Grafschaft Bentheim zwischen Nord horn und Ohne: 16 3 2009 15 9 2010 / Grafschaft Bentheim www.grafschaft-bentheim.de

neues sehen ausstellung Israel hat eine äußerst vielfältige und interessante junge Kunst szene, die in Deutschland bislang wenig be kannt ist. Die Ausstellung n eues s ehen stellt rund dreißig junge israelische Künstler vor und gibt Einblick in eine Szene, die unter so speziellen Bedingungen entstanden ist, dass sie mit den Szenen in Westeuropa nur bedingt ver

57 58 59 60 61 62 6 64 65

57 Taschentuch mit passend gestalteter Hülle, Gestaltung: Elsbeth Kupferroth, Weihnachtsgeschenk für Kunden, 1951

58 Tableau zur Farbberatung, o. J.

59 Tableau zur Farbberatung, o. J.

60 Faltblatt zur Herbstkollektion, Gestaltung: Anton Stankowski, 1957

61 4 verschiedene Streichholzbriefchen, Gestaltung: Anton Stankowski, o. J.

62 Werbemarken im Briefmarkendesign, Gestaltung: Anton Stankowski, 1986

6 Teil einer Werbebroschüre, Frühjahr 1956

64 Teil einer Werbebroschüre, o. J.

65 Teil einer Werbebroschüre, o. J.

66 Teil einer Werbebroschüre, o. J.

67 Tragetasche aus Papier, Gestaltung: Anton Stankowski, o. J.

68 Werbebroschüre, Entwurf: Anton Stankowski, o. J.

69 Teil einer Werbebroschüre, o. J.

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70 Umschlag einer Werbebroschüre, Gestaltung: Anton Stankowski, o. J. 68 70

gleichbar ist. Bewusst haben sich die Ausstel lungsmacher gegen eine thematische Vorgabe in der Ausstellungskonzeption entschieden: Sie wollen der Vielfalt an Themen und Medien, mit denen sich die eingeladenen Künstler/innen beschäftigen, gerecht werden und diese nicht durch einen Fokus auf die künstlerische Bear beitung gesellschaftlicher und politischer Kon flikte in Nahost einschränken: Was bewegt die Künstler aus Israel, welches sind ihre Themen, ihre Ausdrucksformen? Welchen Anteil haben politische und gesellschaftliche Inhalte, auch wenn diese nicht explizit vorgegeben werden? Die Ausstellung versammelt ein breites künstle risches Spektrum: von Malerei und Fotografie über Skulptur / Objektkunst bis hin zu Installa tionen im Außenraum. Ziel ist es, den jungen Künstler/innen internationale Beachtung zu verschaffen und sie bereits in ihrer frühen künst lerischen Entwicklungsphase einem größeren Publikum vorzustellen.

Künstlerische Leitung: Susanne Hinrichs, Nobert Bauer, Li av Mizrahi / Mit Arbeiten von: Liat Kuch, Vered Levi, Ravit Mishli, Ruth Orr, Naama Tsabar, Tali Keinan, Oly Sever, Maya Attoun, Eint Amir, Avital Cnaani, Dana Darvish, Assaf Evron, Guy Goldstein, Assi Mesholam, Inbal Nissim, Ariela Plotkin Bark Ravitz Talya Raz Hillel Roman Nu rit Sharett, Lior Shvil, Anna Yam, Tal Yerushalmi, Shai Kocieru, Rona Yafman, Gali Grinspan, Zvi Gaston Ickowicz, Shunit Kushnir ( alle IL ) / Ausstellung: Städtische Galerie Bre men: 22 11 2008 11 1 2009 und Syker Vorwerk-Zentrum für zeitgenössische Kunst, Syke: 23 11 08 15 2 2009 / Städtische Galerie Bremen www.staedtischegalerie-bremen.de

liam gillick: three perspectives and a short scenario ausstellung Das Werk

Liam Gillicks, geboren 1964 in Großbritannien, kann weder bestimmten künstlerischen Genres noch Medien eindeutig zugeordnet werden. Gillick arbeitet mit Architekturen und Räumen, greift in seinen Skulpturen minimalistische Konzepte auf und zeichnet sich überdies durch eine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit aus, die u.a. Essays, Kritiken, fiktionale Texte und theaterähnliche Szenarien umfasst. Die Ausstellung t hree Perspectives and a s hort s cenario präsentiert weltweit erstma lig das facetten- und umfangreiche Werk Liam Gillicks in einer Retrospektive. Sie ist an vier Orten in eigenständig kuratierten Ausstellungs teilen zu sehen: Das Rotterdamer Museum Witte de With, die Kunsthalle Zürich und das Muse um of Contemporary Art Chicago zeigen Gillicks Arbeiten der letzten zwanzig Jahre unter eher retrospektiven Gesichtspunkten. Die Kul turstiftung des Bundes fördert den Ausstellungs teil im Kunstverein München, Gillick schrieb eigens hierfür das Theaterstück m irrored i mage : a v olvo Bar , das im Kunstverein produziert, aufgeführt, gefilmt und später auch in Chicago zu sehen sein wird. Inhalt des Stücks sind die Beziehungen und künstlerischen Kooperationen, die Gillicks Arbeit geprägt haben. Künstlerische Leitung: Liam Gillick und Stefan Kalmár / Ausstellung: Kunstverein München: 26 9.–2 11 2008 / Kunst verein München www.kunstverein-muenchen.de

geschlossene gesellschaft ausstellung Gefangensein ist eine psychische und physische Extremsituation, die in vielen künst lerischen Werken der letzten Jahre thematisiert wird. Unter dem Titel g eschlossene g esell schaft präsentieren die KW Institute for Con

temporary Art in Berlin sowohl bereits beste hende als auch eigens für die Ausstellung ge schaffene Arbeiten von rund zwanzig internationalen Künstler/innen aus zwölf Ländern. Der staatlich organisierte Zugriff auf die Bürger ist auch in demokratischen Systemen ein brisantes Thema. Wie gehen wir mit steigenden Inhaf tiertenzahlen um, mit teilprivatisierten Gefäng nissen und Debatten um die Rechtmäßigkeit von Folter? Wie verändern Strafen Individuen? Was bedeuten Freiheitsentzug, Isolation und Folter für die Gefangenen und was folgt daraus für die Gesellschaft? Die künstlerischen Arbei ten gehen diesen und anderen Fragen nach und setzen sich mit Inhaftierung, Ausgrenzung und Freiheitsverlust auseinander. Ein umfangreiches Vermittlungsprogramm ergänzt und diskutiert die Inhalte der Ausstellung.

Künstlerische Leitung: Susanne Pfeffer / Mit Arbeiten von: Adel Abdessemed ( DZ , Pawel Althamer PL ) , Yoan Capote U ) , Hans-Peter Feldmann, Ashley Hunt ( US ) , Emily Jacir PS ) , Chloe Piene ( US , Mark Raidpere EE ) , Patrick Rieve, Jeroen de Rijke / Willem de Rooij NL , Gregor Schneider, Fiona Tan ( ID ) , Temporary Service ( US ) , Clemens von Wedemeyer / Ausstel lung: Berlin, KW Institute for Contemporary Art: 21 9.–30 11 2008 / Kunst-Werke Berlin e.V. www.kw-berlin.de

wort und wissen

nelly sachs die frau mit dem wei ßen koffer ausstellung Im Mai 1940 floh Nelly Sachs (Berlin 1891 1970 Stockholm) mit einem der letzten Flüge aus Berlin nach Stock holm. Vor ihr lagen dreißig Jahre Exil, die sie zeitweise in psychiatrischen Kliniken verbrach te, aber auch die späte Anerkennung als Schrift stellerin, unter anderem durch die Verleihung des Literaturnobelpreises 1966. In Stockholm lebte Nelly Sachs anfänglich zusammen mit ih rer Mutter. Sie aß, schlief, arbeitete in der Küche, von ihr auch »Kajüte« genannt. Die Ausstellung Die Frau mit dem weißen Koffer macht die »Kajüte« mit Blick auf die Gewässer Stock holms zum gestalterischen Mittelpunkt, von dem aus sich Leben und Werk der Nelly Sachs anhand von unveröffentlichtem Material (Fotos, Manuskripte, Ton- und Bildaufnahmen, Kran kenakte) in immer weiteren Kreisen erschließen lassen. Die Radikalität ihres Werkes soll ebenso sichtbar werden wie der sozialhistorische Kon text, in dem es entstand. Neben Kollegen wie Paul Celan, Gunnar Ekelöf, Hans Magnus En zensberger oder Freundinnen wie Gudrun Däh nert finden in der Ausstellung auch allerlei mythische Figuren Platz, die für Nelly Sachs’ Denk-, Bilder- und Gefühlswelt wichtig waren. Die Ausstellung ist eine Kooperation von ge werk Berlin, dem Jüdischen Museum, der Schwe dischen Botschaft und dem Suhrkamp Verlag, der 2010 eine Gesamtausgabe publiziert, und wandert 2010 /11 durch den deutschsprachigen Raum und Schweden.

Künstlerische Leitung / Kurator: Aris Fioretos / Projektleitung / Szenografie: Jens Imig / Mitwirkende: Birgit Schlegel, Klaus Fermor, Natascha Roshani /Ausstellung: Jüdisches Museum Berlin und Jüdisches Museum Frankfurt: Sommer 2010 ; Literaturhaus/Strauhof, Zürich: Herbst 2010 ; Königliche Bibliothek, Stockholm: Winter 2010 ; Stadtmuseum, Dort mund: Frühjahr 2011 / gewerk www.gewerk.de

internationale literaturausstellungen in theorie und praxis expertentagung und ausstellung Literaturausstellungen kommt eine wachsende Bedeutung in der Ver mittlung von Literatur zu. Doch wie sieht eine gute Literaturausstellung aus, die ganz unter schiedliche Zielgruppen anspricht? Wie gelingt der Sprung von der Schriftform in eine anre gende visuelle Präsentation? Zu dieser Fragestel lung veranstaltet das Goethe-Museum in Frank furt am Main eine Tagung und einen Workshop. Eingeladen sind Kuratoren und Gestalter aus ver schiedenen europäischen Ländern, die in den letzten Jahren vielbeachtete Literaturausstellun gen realisiert haben. Als Ergebnis der Tagung soll eine Ausstellung über das Ausstellen von Li teratur entstehen. Vier der eingeladenen Teams werden jeweils ein gemeinsames literarisches Thema fokussieren. Die Präsentationen werden im Goethe-Museum Frankfurt und im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR 2010 zu sehen sein. Wissenschaftliche Leitung: Anne Bohnenkamp-Renken und Sonja Vandenrath / Kuratoren / Gestalter / Experten: Luca Crispi IE , Onla Hanly ( IE ) , Heike Gfrereis, Andreas Hukeler, Susanne Fischer, Roman Hess CH ) , Natalie Léger ( FR , Natha lie Crinière FR Nicola Lepp, Evelyne Polt-Heinzl ( AT ) Peter Karlhuber ( AT ) Simone Schmaus, Bernhard Echte ( CH und Heinz Kriesi I ) / Expertentagung und Ausstellung: Literatur haus Frankfurt und Freies Deutsches Hochstift/Goethe Museum, Frankfurt am Main: 23 10 2008 31 5 2010. Eine weitere Station ist geplant im Rahmen von Kulturhaupt stadt RUHR.2010 / Goethehaus Frankfurt www.goethehaus-frankfurt.de

musik und klang

anaesthesia ein pasticcio zum 250. todestag von georg friedrich händel Die Musik Georg Friedrich Händels steht im Mittelpunkt des Musiktheaters Anaesthesia, wel ches das Berliner Theaterensemble Nico and the Navigators zusammen mit dem Musikensemb le Franui aufführt. Anlass ist der 250. Todestag des Komponisten, der in Deutschland, Italien und England lebte und als einer der ersten »Eu ropäer« gilt. Sein Gesamtwerk dient als Grund lage für ein Pasticcio, eine zu Händels Zeit be liebte musikalische Form, bei der besonders be liebte/bekannte Stücke aneinandergereiht wer den. Vor allem Teile der Opern Händels, aber auch seiner Oratorien und Instrumentalwerke werden in einen neuen musikalischen Ablauf gestellt, die Originallibretti adaptiert oder eine neue Handlung erfunden. Die Kunst des Ba rock ist gleichermaßen affektgeladen und reich verziert wie schlicht und puristisch. In Anaes thesia werden Formfreude und Formstrenge mu sikalisch, darstellerisch und bildnerisch sicht bar. Die Schauspieler/innen von Nico and the Navigators arbeiten dabei erstmals mit Sänge rinnen und Sängern zusammen. Ziel ist, die häufig anzutreffende Vernachlässigung schau spielerischen Könnens im Musiktheater aufzu heben. Eine entscheidende Rolle für die Ent wicklung des Stücks spielt dabei die Improvisa tion. Die »Musicbanda« Franui aus dem kleinen gleichnamigen Osttiroler Ort interpretiert die Kompositionen Händels mit ihrem charakteris tischen Klang, der an die Volksmusik ihrer ös terreichischen Heimat erinnert.

Künstler/innen: Nicola Hümpel, Oliver Proske, Andreas Schett AT ) , Markus Kraler AT ) / Aufführungen: Händelfest spiele / Neues Theater Halle, Halle an der Saale: 4.– 6 6 2009 ; Bregenzer Festspiele (Österreich): 12 ./13 8 2009 ; Grand Théâtre du Luxembourg (Luxemburg): 27./28 11 2009 / Ni co and the Navigators www.navigators.de

olivier messiaen workshops und kon zerte für junge musiker aus polen, tschechien und deutschland Stalag VIII a war ein deutsches Kriegsgefangenenlager, dessen Gelände sich im heutigen polnischen Zgorzelec befindet, einer Stadt in direkter Nach barschaft zur deutschen Stadt Görlitz. Olivier Messiaen (1908 1992 ), einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, geriet als französischer Sanitäter in Gefangenschaft, war im Stalag VIII a interniert und komponierte dort eines seiner wichtigsten Werke: das Quartett für das Ende der z eit ( Quatuor pour la fin du temps), das im Lager am 15. Januar 1941 von Mitgefangenen uraufgeführt wurde. Anlässlich seines 100. Geburtstag nahmen im Juni 2008 unter dem Motto m eetingpoint m usic m essiaen Jugendliche aus Polen und Deutsch land unter Anleitung von Musikern und Kom ponisten an Workshops teil und führten gemein sam Konzerte auf deutscher und polnischer Seite auf. Ein Doppelkonzert der Warschauer Philharmoniker unter Leitung von Antoni Wit bildete den Höhepunkt der Festveranstaltun gen. Auf dem Programm standen neben Werken Messiaens auch ein Stück des zeitgenössischen polnischen Komponisten Wojciech Kilar und eine Uraufführung des sächsischen Komponis ten Andreas Kersting. Die Veranstaltungsreihe machte die grenzüberschreitende historische Bedeutung des Stalag VIIIa deutlich und bildete die Auftaktveranstaltung für den geplanten Bau eines Gedenk- und Begegnungszentrums an diesem Ort.

Künstlerische Leitung: Albrecht Goetze / Beteiligte Künstler / innen: Antoni Wit ( PL , Isabel Mundry, Andreas Kersting, Walter Zimmermann, Karsten Hennig, Martin Smolka ( CZ ) , Jaromír Vogel CZ ) Tomáš Pálka ( CZ Eva Faltusova CZ Jan Dušek ( CZ ) , Jan Srba CZ ) , Jörn Peter Hiekel, Graßyna Pstro koßska-Nawratil ( PL , Regina Frank, Tadeusz Grudzinsk PL ) , Michal Muller CZ , Rolf Lislevand NO ) , Lars Friedrich, Mar ta Klimasara ( PL , Juergen Spitschka, Jolanta Szybalska Matczak PL ) , Catherine Simonpietri FR , Silvie Palka CZ / Work shop und Konzerte: Zgorzelec und Görlitz 14.–29 6 2008 / Meetingpoint Music Messiaen www.messiaen.themusicpoint.net

bühne und bewegung

brasil move berlim festival des zeitgenössischen brasilianischen tanzes Seit dem Ende der Militärdiktatur und der einset zenden Demokratisierung hat sich in Brasilien eine vitale Tanzszene entwickelt, die wichtige Beiträge zur kulturellen Identitätsfindung leis tet. Tanz gilt in Brasilien als das Genre, das den gesellschaftlichen Wandel am radikalsten wi derspiegelt. Sein Themenspektrum reicht von überlieferten Formen der Volkskultur bis zum Leben in den Millionenstädten des Südens. Er setzt sich mit eigenen Traditionen und vorge fundenen Tanzformen ebenso auseinander wie mit der sozialen und politischen Realität. Bra

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sil move Berlim 2009 lädt Gruppen aus ver schiedenen Landesteilen Brasiliens ein. Darun ter auch aus Piauí, wo sich eine neue starke Tanz bewegung formiert, die sich mit lokalen Ritualen und den als reaktionär empfundenen gesell schaftlichen Bedingungen beschäftigt. Parallel zum Tanzfestival findet eine Ausstellung zeitge nössischer Kunst aus Brasilien statt. So werden auch Arbeiten an der Schnittstelle von Bilden der Kunst und Tanz während des Festivals zur Aufführung gebracht. Diskussionen zwischen Choreographen, Kulturpolitikern und Journa listen sowie Tanzworkshops sollen eine neue Sichtweise auf Brasilien und seine kulturelle Vielfalt eröffnen.

Künstlerische Leitung: Wagner Pereira de Carvalho BR ) / CoLeitung: Björn Dirk Schlüter / Mit: Compañía (Cia.) Mar celo Evelin, Cia. Fauller, Cia. Letícia Nabuco, Cia. Denise Stutz, Cia. Jorge Alencar, Cia. Margô Assis, Cia. Dança In clusiva, Cia. De Dança da Cidade, Sandra Meyer, Arnaldo Siqueira, Christiane Galdino, Inês Bogéa, Susi Martinelli, Patrícia Avellar, Marta Isacson, Roberto Pereira ( alle BR / Theater Hebbel am Ufer, Berlin: 16.–26 4 2009 / Kultur projekte Berlin www.kulturprojekte-berlin.de

impulse off-theaterfestival Das Festival i mpulse hat sich seit 1990 zu einem der wich tigsten Treffen freier Theater aus Deutschland, Österreich und der Schweiz entwickelt. Es gilt als Pendant des ebenfalls von der Kulturstiftung geförderten Berliner Theatertreffens in der Off-Szene. Unter der Leitung von Tom Strom berg und Matthias von Hartz wird eine Werk schau ausgewählter Inszenierungen, Installatio nen und Performances in Theaterhäusern in Bochum, Düsseldorf, Köln und Mülheim ge zeigt. Impulse zeigt Produktionen, die für die Eigenart und impulsgebende Kraft der freien Szene stehen. Neue Ansätze, das Aufgreifen ak tueller Themen und Kreativität im Umgang mit theatralen Formen sind entscheidend für die Auswahl der Stücke. Die interessanteste Auf führung wird von der Impulse-Jury ausgezeich net und tourt anschließend zum Berliner Thea tertreffen, den Wiener Festwochen und nach Zürich.

Künstlerische Leitung: Tom Stromberg und Matthias von Hartz / Forum Freies Theater, Düsseldorf; Prinz-RegentTheater, Bochum; Ringlokschuppen, Mülheim; Studio bühne, Köln u.a. 25.11.–6.12.09 / NRW KULTUR sekretariat www.festival-impulse.de

dogland theaterprojekt Im Herbst 2008 eröffnet mit dem Ballhaus Naunynstraße eine neue Spiel- und Produktionsstätte im Berliner Stadtteil Kreuzberg, die sich auf Migrationsthemen spezialisieren wird. Zur Eröffnung der Spielstätte lädt das Festival dogland Künst ler/innen der zweiten und dritten Migrantenge neration ein, für das Haus und für umliegende öffentliche Orte zu inszenieren: Neco Çelik und Idil Üner entwickeln eine MusiktheaterSoap, die den Vereinsamten und Prekarisierten der deutschen Großstädte gewidmet ist. Filme macher und Autoren werden mit Inszenie rungen und Installationen anatolische Kaffee häuser in Berlin erkunden und bespielen. Und Nuran David Calis, einer der erfolgreichsten deutschen Nachwuchsdramatiker, schrieb mit Café Europa ein Stück über Identitätssuche, das im Ballhaus seine Premiere feiern wird.

Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff / Künster/innen: Neco Celik

Nuran David Calis ( AM Nurkan Erpulat ( TR )

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Mehdi Moinzadeh IR u.a. / Ballhaus Naunynstraße, tür kische Kaffeehäuser, Berlin: 7.11.08 21 1 09 / Ballhaus Nau nynstraße www.ballhausnaunyn.de

mein erster sony theaterprojekt Sté phane Bittoun arbeitet als Regisseur, Autor und Schauspieler für Theater und Film. In seinen Theaterstücken verbindet er Text, Performance und Experimente mit unterschiedlichen Medi en. Die Grundlage der aktuellen Inszenierung bildet der Roman m ein erster s ony des is raelischen Autors Benny Barbasch. Der Roman entwirft ein Bild Israels anhand einer scheinbar alltäglichen Familiengeschichte. Der 10 -jährige Jotam bekommt einen Kassettenrekorder ge schenkt und beginnt nun, alles um ihn herum aufzuzeichnen: Streit, Sex, Feiern, sein gesamtes Familienleben. Stéphane Bittoun nimmt dieses akustische Kassettenarchiv zum Ausgangspunkt und erweitert es um zusätzliches Material aus Speichermedien wie Schallplatten, Dias oder alten Super- 8 -Filmen. Daraus entwickelt er ein Mosaik aus Hörspiel, Theater, Choreographie und Film, das dem Zuschauer anlässlich des 60 Geburtstages Israels den Blick auf dessen Alltag und Geschichte öffnet.

Autor: Benny Barbasch IL ) Regie und Co-Autor: Stéphane Bittoun / Singer & Songwriter: Odelia BenAvi IL ) / Drama turgie: Miriam Würtz / Kamera: Mark Liedke / Cutter: Jörn Lemmer / Fotografin: Katharina Ivaniševiç HR / Komponist: Stefan Lupp / Bühne: Stéphane Bittoun, Brita Kloss, Nina Zoller / Mit: Selda Kaya, Rebecca Rudolph, Dennis Cubic, Peter Dischkow und Ralph Gander / Premiere: Mouson turm, Frankfurt am Main, 25 9 2008 sowie weitere Auffüh rungen im Zeitraum 26 9.–1 10 2008 in Düsseldorf, Münster, Bonn, Leipzig, Stuttgart und in Tel Aviv, Israel / Stépha ne Bittoun www.bittounbittoun.com

der dezentralisierte muezzin ein dokumentarisches konzert Bis vor kurzem noch vermischten sich über Kairo die Rufe der Muezzine aus den Moscheen zu einem vielfäl tigen Klangteppich. In der »Stadt der tausend Moscheen« wird mittlerweile aber zentral zum Gebet gerufen. Ein einziger Ausrufer wird über einen Radiosender aus allen staatlichen Mo scheen gleichzeitig übertragen. Unter dem Titel Der dezentralisierte m uezzin entwi ckelt Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) ein »do kumentarisches Konzert« über Stadtgeräusche aus Kairo und Berlin. Dabei geht es auch um die »Zwischentöne« im Verhältnis der beiden Kul turen sowie um »Misstöne« zwischen islamisch geprägten Ländern und dem Westen. Kaegi re cherchiert die Lebensgeschichten der arbeitslos gewordenen Muezzine und setzt die Musikali tät ihrer Stimme in einen anderen Kontext. Er bringt sie auf die Bühne als Experten und Aus kunftgeber über ihre Kultur. In Berlin treffen Muezzine auf Stadtakustiker, Musiker und Pro duktdesigner, die wissen, wie eine Autotür oder eine Straßenkreuzung klingen muss.

Künstlerische Leitung: Stefan Kaegi / Mitwirkende: Muezzine und Künstler aus Ägypten und Deutschland / Theater Heb bel am Ufer, Berlin: Februar/März 2009 ; Goethe Institut Kairo: 1 9 2009 ; El Sawy Culture Wheel; Kairo (Stadtteil Zamalek): 1 8 2009 / Hebbel am Ufer www.hebbel-am-ufer.de

sie doch direkt den organischen Sitz unseres Be wusstseins und unserer Identität. Der Zugriff auf das Gehirn ist daher ähnlich umstritten wie der auf das Genom. Der alte Wunsch nach mensch licher Verbesserung stellt durch die stetig wach senden Möglichkeiten und Erkenntnisse der Neurologie und Neurotechnologie unsere Ge sellschaft vor neue ethische Herausforderungen und Fragen. Denn auch wenn neurotechnolo gische Verfahren vorwiegend therapeutisch an gewendet werden, eröffnen sie doch Möglich keiten, menschliche Leistungen zu optimieren. Das wirft Fragen auf: Wo sind die Grenzen der Verbesserung und was heißt eigentlich Verbes serung? Von welchem Menschenbild lassen wir uns leiten und welche zentrale Rolle spielt das Gehirn für unser Menschsein? Das Projekt Die o ptimierung des menschlichen g e hirns bereitet diese Fragen für ein junges Pu blikum auf. Das Theater Freiburg hat dafür ein einmaliges Kooperationsprojekt mit dem Inter disziplinären Ethik-Zentrum der Albert-Lud wigs-Universität Freiburg entwickelt, das Thea ter mit gesellschaftlich relevanten Themen aus Medizin und Ethik verknüpft. Über den Zeit raum eines dreiviertel Jahres beschäftigen sich sechzig Jugendliche unter Anleitung von inter nationalen Wissenschaftlern und Künstlern mit den ethischen Dimensionen der o ptimierung des menschlichen g ehirns . In einer Re cherchephase erarbeiten sie wissenschaftliche Grundkenntnisse zu den Themen »Brain-Ma chine-Interfaces«, »Deep-Brain-Stimulation«, »Gehirndoping«, »Visionen und Utopien vom Denken« und »Cyborg Fantasien«. Die Ergeb nisse werden auf einem Kongress vorgestellt, zu dem auch internationale Wissenschaftler zu Vorträgen eingeladen sind. Als Abschluss ist ei ne Theaterinszenierung zum Thema Cyborg für das Freiburger Theater geplant. Künstlerische Leitung: Barbara Mundel / Beteiligte Künstler/ innen und Wissenschaftler/innen: Viola Hasselberg, Giovan ni Maio, Anna Geering, Ad Aertsen, Guido Nikkhah, Klaus Theweleit u.a. / Theater Freiburg: 1 10 2008 30 6 2009 / Theater Freiburg www.theater.freiburg.de

Zustände abzielen wie zum Beispiel Gospel, HipHop oder Improvisation im Jazz. In einer Kon zertreihe geht es um musikalisch erzeugte Eks tasen. Das Performance- und Tanzprogramm ist naturgemäß den Bewegungsekstasen gewidmet. Künstlerische Leitung: Meg Stuart, Jeremy Wade, Eike Chris tian Wittrock / Hebbel am Ufer, Berlin: 23 1.–1 2 2009 / Hebbel am Ufer www.hebbel-am-ufer.de

transaction transdisziplinäre akade mie für zeitgenössische tanz- und medienproduktion Das Projekt beginnt mit einem Wettbewerb für Choreografen, Video künstler und Filmemacher, in dem Tanz mit neuen medialen Formaten verbunden werden soll. Das Videoclipformat, das in Kino, Fernse hen, Internet oder auf dem Handy allgegenwär tig ist, soll in innovativer Weise für den Tanz ge nutzt werden. Die entstehenden kurzen Tanz filme, sogenannte choreographic captures, wer den dann in den Werbeblöcken der Kinos und in anderen Zusammenhängen platziert, in de nen sie durch ihre künstlerische Ästhetik auffal len und die üblichen Sehgewohnheiten irritie ren. Einige Performer und Choreografen arbei ten bereits sehr erfolgreich an der Schnittstelle von Tanz und Videokunst. Das Projekt will die se Impulse verstärken und ein größeres Publi kum ansprechen.

Künstlerische Leitung: Walter Heun / Beteiligte Künstler: Orthographe ( I , Ulf Langheinrich ( A ) , Richard Siegal USA ) , Chris Ziegler, Cristian Chironi ( I , Alexandra Bachzetsis ( CH/GR ) , Hans Peter Kuhn / Junko Wada JP ) , Michael Rodach sowie regionale Medienkünstler und Choreographen / Muffathalle, München und Screenings in Großbritannien, Frank reich, Niederlande in Kinos und zu Tanzfestivals. Förder zeitraum: 24.– 31 5 2008 / Joint Adventures www.jointadventures.net

film und neue medien

optimierung

des menschlichen gehirns theater- und wissenschaftsprojekt Medizinische und neurotechnologische Eingriffe in das Gehirn berühren fundamental das menschliche Selbstverständnis, betreffen

politics of ecstasy festival für zeitge nössischen tanz, performance und musik Ekstase die körperliche Erfahrung des Außer-Sich-Seins, der Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit steht im Mittelpunkt des zweiwöchigen Festivals im Hebbel am Ufer. Politics of Ecstasy versammelt Positionen zum Thema Ekstase aus Tanz, Performance, Bil dender Kunst und Musik. Die künstlerischen Darstellungen werden mit Diskussionen, Work shops und einer Improvisationsreihe verknüpft. Das Konzept der Ekstase war bis ins 19. Jahrhun dert hinein der religiösen Sphäre zugeordnet. Im Zuge von Säkularisierung und psychoanaly tischer Forschung wurde es immer mehr mit dem Bereich der Sexualität verknüpft. Doch auch in der politischen Arena wurde und wird mit affektiven Momenten gearbeitet, die sich ins Ekstatische steigern lassen. Politics of Ecstasy möchte mit neuen Formen der Ge meinschaftsstiftung experimentieren und sie auf ihre ekstatischen Qualitäten überprüfen. Ku ratiert wird das Festival von den beiden US -ame rikanischen Choreographen Jeremy Wade und Meg Stuart zusammen mit dem Berliner Dra maturgen Eike Christian Wittrock. Aus Ameri ka stammen viele Formen, die auf ekstatische

johannes lepsius schutzengel der armenier filmprojekt und audiovisu elle installation Der deutsche Theologe Jo hannes Lepsius gründete das Armenische Hilfs werk und gilt als der »Schutzherr der Armenier«. Als im Jahre 1915 die Verfolgungen und Massa ker der Türken an der armenischen Bevölkerung der Türkei in einen Völkermord umschlugen, reiste Lepsius in die Türkei, sammelte Zeugen aussagen und Dokumente und veröffentlichte schließlich in Deutschland die Dokumentation Der todesgang des armenischen volkes , die wenig später verboten wurde. Anläss lich seines 150. Geburtstages im Jahr 2008 entste hen ein Dokumentarfilm und eine Videoinstal lation über Lepsius’ Leben. Der Film begibt sich auf die Spuren der Vergangenheit, indem er u. a. der Route der Todesmärsche der Armenier durch die Türkei und die Syrische Wüste folgt. Er be leuchtet aber auch die aktuelle Lage der Armeni er in der heutigen Türkei. Der Dokumentarfilm und die Videoinstallation sollen künftig in Ki nos und internationalen Kulturinstitutionen ge zeigt werden.

Künstlerische Leitung: Merlyn Solakhan / Wissenschaftliche Beratung: Herrmann Goltz / Produktion: Blankfilm Man fred Blank Filmproduktion / Filmvorführungen: Lepsius-

TR
meldungen +

Haus, Potsdam, April 2009 ; Orientwissenschaftliches Zen trum der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Mai 2009 ; Deutsch-Armenische Gesellschaft Frankfurt/ Main, Juni 2009 ; Aktionskunstzentrum Jerewan, Kulturund Kunstzentrum der Sabanci-Universität Istanbul, Kunstzentrum des Katholikosats von Kilikien, Antelias/ Libanon, Juli 2009 ; weitere Filmvorführungen in Deutsch land, Italien, Frankreich und Armenien

moving the arts filmprojekt zwischen kino und kunst Mit dem Film m oving the a rts kommt die zeitgenössische Bildende Kunst ins Kino und der zeitgenössische Film ins Museum: Sechs Kunstwerke aus der Sammlung K 21 in Düsseldorf von Jeff Wall, Richard Serra, Andreas Gursky, Thomas Schüt te, Juan Muñoz und Steve McQueen werden von sechs internationalen Regisseuren »ver filmt«. Kunst wird zum Ausgangspunkt für un terhaltsame, filmisch-sinnliche Geschichten. Das Projekt will die der zeitgenössischen Kunst vielfach nachgesagte Hermetik aufbrechen, in dem ihre Fragestellungen in einem populären

Filmgenre wie Thriller oder Liebesgeschichte verhandelt werden. Die beteiligten Regisseure sind Autorenfilmer von internationalem Rang. Sie nähern sich den von ihnen ausgewählten Kunstwerken mit ihrer jeweils eigenen Bildspra che und Erzählweise. m oving the a rts ist weniger ein Kunstfilm, als vielmehr der Versuch, einem breiten, internationalen Kinopublikum den Zugang zu zeitgenössischer Kunst zu eröff nen.

Künstlerische Leitung: Doris Krystof / Produzent: Jörg Schul ze, Holm Keller / Filmemacher: Atom Egoyan CA ) , Hal Hartley ( US ) , Laetitia Masson ( FR ) , Jia Zhang-ke CN , Julio Medem ( US) , Christian Petzold / Zu Werken von: Richard Serra, Jeff Wall, Andreas Gursky, Steve McQueen, Juan Muñoz, Thomas Schütte / Festival-Premiere: Berlinale Internationale Film festspiele, Frühjahr 2010 / Premieren-Ausstellung: Hambur ger Bahnhof, Berlin, Frühjahr 2010 ; Kinoauswertung und internationale Tour ab März 2010 / Cine plus Filmproduk tion GmbH www.cine-plus.de

wenn sie dieses magazin regelmässig beziehen möchten, schicken Sie eine E-Mail mit Ihrer Postadresse und Telefonnum mer an: info@kulturstiftung-bund.de oder ru fen Sie uns unter der Telefonnummer +49 (0) 345 2997 124 an. Wir nehmen Sie gern in unseren Verteiler auf.

die website Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Pro gramme der Stiftung, die Förderanträge und ge förderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter: www.kulturstiftung-bund.de

kultur fördern! unsere handliche broschüre gibt Ihnen einen schnellen Überblick über Profil und Selbstverständnis der Kultur stiftung. Sie können die Broschüre bei uns per E-Mail unter info@kulturstiftung-bund.de oder telefonisch unter +49 (0) 345 2997 124 anfordern.

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71 Stoffdruck, o. J.

Vorsitzender des Stiftungsrates für das Auswärtige Amt für das Bundesministerium der Finanzen für den Deutschen Bundestag

als Vertreter der Länder

als Vertreter der Kommunen

als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur

stiftungsrat Der Stiftungsrat trifft die Leitentschei dungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kultur stiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amts zeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre.

Bernd Neumann

Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien Dr. Peter Ammon Staatssekretär

Werner Gatzer Staatssekretär Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident

Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident Hans-Joachim Otto Vorsitzender des Kulturausschusses Dr. Valentin Gramlich Staatssekretär, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Joachim Hofmann-Göttig Staatssekretär, Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund Stanislaw Tillich Ministerpräsident des Landes Sachsen Senta Berger Schauspielerin, Präsidentin der Deutschen Filmakademie Durs Grünbein Autor

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfeh lungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungs tätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Dr. Christian Bode Generalsekretär des DAAD Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI e.V. Jens Cording Präsident der Gesellschaft für Neue Musik e.V. Dr . Michael Eissenhauer Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Prof. Dr. Max Fuchs Vorsitzender des Deutschen Kulturrats e.V. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und Kulturdezernent der Stadt Essen Johano Strasser Präsident des P E N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.

jurys und kuratorien Rund 50 Experten aus Wis senschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstif tung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezi fischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer website unter www. kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

vorstand team

Hortensia Völckers

Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor

Referentin des Vorstands

Lavinia Francke Justitiariat Dr. Ferdinand von Saint André Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel [Leitung] / Tinatin Eppmann / Diana Keppler / Christoph Sauerbrey / Arite Studier Allgemeine Projektförderung Torsten Maß [Leitung] / Bärbel Hejkal / Katrin Keym Wissenschaftliche Mitarbeit Dorit von Derschau / Eva Maria Gauß / Dr. Leonhard Herrmann / Anita Kerzmann / Dr. Holger Kube Ventura / Antonia Lahmé / Dr. Lutz Nitsche / Uta Schnell / Annett Meineke Verwaltung Steffen Schille / Maik Jacob / Steffen Rothe / Kristin Salomon / Kristin Schulz Zuwendungen und Controlling Anja Petzold / Ines Deák / Susanne Dressler / Marcel Gärtner / Andreas Heimann / Doris Heise / Berit Koch / Fabian Märtin / Marko Stielicke / Claudia Wollmann

Sekretariat

Beatrix Kluge / Beate Ollesch [Büro Berlin] / Christine Werner

Stoffdruck, Dessin g östa , Entwurf: Walter Matysiak, um 1950 rücktitel

Herausgeber Kulturstiftung des Bundes / Franckeplatz 1 /06110 Halle an der Saale / Tel 0345 2997 0 / Fax 0345 2997 333 /info@kulturstiftung-bund.de / www.kulturstiftung-bund.de

Vorstand Hortensia Völckers /Alexander Farenholtz [verantwortlich für den Inhalt] Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Mitarbeit Tinatin Eppmann / Christoph Sauerbrey Gestaltung cyan Berlin Bildredaktion cyan / Tinatin Eppmann Herstellung hausstætter herstellung Bildnachweis Pausa Archiv Auflage 24.000 Redaktionsschluss 10.8.2008

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbe dingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.

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gremien

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