Magazin #11 der Kulturstiftung des Bundes

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das magazin der kulturstiftung des bundes 11 texte von alexander cammann hans magnus enzensberger hans ulrich gumbrecht valzˇyna mort burkhard spinnen jáchym topol

frühjahr 2008

Jewgeni Chaldej, Moskau 1938


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1 Jewgeni Chaldej, Berlin 1945 2 Jewgeni Chaldej, Potsdam 1945

Man kann die Geschichte der Kulturstiftung des Bundes nach Jahren zählen: Dann sind es sechs und vergleichsweise wenig. Für uns gibt es noch eine andere Zählweise: nach den Magazinen, in denen wir halbjährlich einen aktuellen Einblick in unsere Ar beit geben. Dann kommt uns die Geschichte der Stiftung lang und ereignisreich vor. Da ging es uns mit dem Magazin nicht an ders als mit vielen unserer Projekte. Wir mussten uns über die Relevanz bestimmter Themen und Projekte einigen, uns über und mit Autoren und Künstlern verständigen, wir hofften, bangten und verwarfen und wurden auch oft überrascht und beglückt. Dafür sei an dieser Stelle allen Autorinnen und Autoren der bis herigen Ausgaben unseres Magazins herzlich gedankt! Jede Ausgabe ist ein Ausschnitt unseres Selbstbildes in den Far ben unserer vielfältigen aktuellen Aktivitäten. Uns liegt daran, Transparenz zu schaffen für die Entscheidungen, die unsere För derpraxis bestimmen. Das Magazin fungiert da wie ein Lackmustest: Wie kommt das in der Öffentlichkeit an, was wir tun und für wichtig halten? Welches Bild vermittelt die Stiftung jenen, die längst nicht alle Veranstaltungen im Rahmen unserer vielen Projekte besuchen können?

Die Nachfrage und die Reaktionen, die uns erreichen, sprechen dafür, dass wir mit dem Magazin ein Medium gefunden haben, das die Neugier auf unsere Arbeit stimuliert. Schon in seiner

künstlerischen Gestaltung will es sich von Geschäftsberichten oder Informationsbroschüren unterscheiden. Und viele Textbei träge sind Erstveröffentlichungen namhafter Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland, die sich alle in einem engeren oder weiteren Sinn auf unsere Stiftungsarbeit beziehen.

Das soll auch so bleiben, nachdem wir nach zehn Ausgaben die Zeit für gekommen hielten, das Magazin einer Revision zu un terziehen und es umzugestalten. Wir hoffen damit dem Wunsch nach einer besseren Lesbarkeit entgegenzukommen und so die Funktionalität als Informationsmedium zu steigern. In dieser Ausgabe erfahren Sie etwas über das Programm Netzwerk Neue Musik , für das wir in den nächsten Jahren 12 Millionen Euro zur Verfügung stellen; über den Fotografen Jewgeni Chal dej, dem eine große Retrospektive in Berlin gewidmet ist, die die Stiftung ebenso maßgeblich finanziert wie die Ausstellung über Die Tropen Ansichten von der Mitte der Weltkugel ab September im Martin-Gropius-Bau. Sehr persönliche Auskünfte gibt hingegen der berührende Text des tschechischen Schriftstellers Jáchym Topol, der über das Vater-Sohn-Verhältnis im Rückblick auf die einschneidende politische und gesellschaft liche Zeitenwende in Tschechien schreibt. Einer der Schwer punkte im Programm zipp deutsch-tschechische Kulturprojekte der Kulturstiftung des Bundes werden

die Umbrüche 68/89 sein, um die auch das Opernprojekt des jungen deutsch-tschechischen Autorenduos Martin Becker/Ja roslav Rudisˇ thematisch kreist. Während im Jahr 2008 noch über die gesellschaftlich und politisch folgenreichen Ereignisse um 1968 heftig debattiert wird, stecken wir schon in den Planungen unter anderem zu einem großen Geschichtsforum für das Gedenkjahr 2009, in dem die Jahre 1949 und 1989 zu neuen Aus einandersetzungen um die Bewertung der Nachkriegsgeschichte führen werden. Wir haben das Thema dieser Ausgabe dem Datum 2009 gewidmet und dabei eine ungewöhnliche Perspektive erprobt. Im Jahr 2009 werden einige herausragende Persön lichkeiten, die die dann 60 jährige Geschichte des geteilten und des wiedervereinigten Deutschland geprägt und mitgestaltet ha ben, ihren 80. Geburtstag feiern. Welche Rolle dieser Jahrgang gespielt hat, wird von unseren Autoren unterschiedlich beurteilt. Hans Magnus Enzensberger, selbst ein Angehöriger des Jahr gangs 1929 und einer der Jubilare im Jahr 2009, lässt im Gespräch mit einem Angehörigen der Enkelgeneration, 60 Jahre Deutsch land Revue passieren und sieht dabei recht gelassen auf turbu lente und bleierne Zeiten.

Völckers / Vorstand KulturAlexander Farenholtz stiftung des Bundes

thema: 2009 stephan schlak die 29er. der deutsche nachkriegsgeist wird 80 jahre 7 gespräch mit hans magnus enzensberger das wahre ausland ist die vergangenheit 8 hans ulrich gumbrecht nachhaltige generation. die deutschen von 1929 10 alexander cammann 1929 1989. eine revolution frisst einen jahrgang 12 tschechien jáchym topol die vaterpuppe 16 martin becker/jaroslav rudiš prag im frühling. berlin im herbst 18 musik netzwerk neue musik im akkord 22 barbara barthelmes glossar was ist eigentlich neue musik? 2 ausstellungen hortensia völckers schatten spenden. bb5 26 burkhard spinnen alles anders! eine zweite geschichte des 19. jahrhunderts 0 peter jahn flagge zeigen. der fotograf jewgeni chaldej  ottmar ette nach den tropen. plädoyer für eine transareale perspektive 6 lyrik valžyna mort die tränenfabrik 8 kolumne burkhard müller einwortphrasen 40 meldungen + ... 44 gremien 47

Die Fotos in diesem Magazin stammen von Jewgeni Chaldej (1917 1997) aus der Sammlung Ernst Volland / Heinz Krimmer, Berlin, denen wir für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Fotos danken. Chaldej gehörte zu der herausgehobenen Gruppe der Fotojournalisten, die auf Anforderung der Politabteilung der Roten Armee an die bedeutenden Kriegsschauplätze im Zweiten Welt krieg geschickt wurden und für russische Zeitungen und Nachrichtenagenturen arbeiteten. In diesem Magazin zeigen wir eine klei ne Auswahl von Fotografien, die auch im Rahmen der Retrospektive Jewgeni Chaldej Der bedeutende Augenblick vom 9. Mai bis 28. Juli 2008 im Martin Gropius-Bau in Berlin zu sehen sind. Wir danken dem Kurator Ernst Volland und seinem Team für fachliche Beratung und cyan für die Zusammenstellung und Gestaltung der Bildseiten. Mehr Informationen zum Foto grafen Chaldej und zur Ausstellung, die von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wird, finden Sie ab Seite 33


editorial kulturstiftung des bundes magazin 11
Hortensia

1 Tote Soldaten liegen auf der Straße, Wien 1945 2 Fischfang, Nordmeer 1949  Flugzeuge über dem Reichstag (Montage), Berlin 1945 4 Über Sewastopol, 1944

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1 Berlin, Mai 1945 2 Murmansk 1941 1 2

die 29er. der deutsche nachkriegsgeist wird 80 jahre

von stephan schlak

Der Bestseller der Saison trug die Uniform des Krieges. Im feld grauen Umschlag erschien im Januar 1929 im Berliner Propyläen -Verlag Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts Neues . Bis Ende des Jahres verkaufte der bis dahin vollkommen unbekannte Literat, der sich zuvor in den twenties als Sportreporter mit journalistischen Gelegenheits arbeiten durchgeboxt hatte, fast eine Million Exemplare. Im Westen nichts Neues die lakonische Formel, mit der der Heeresbericht den zermürbenden Stellungskampf kom mentiert hatte, hielt auch zehn Jahre nach dem Ende des großen Krieges die Köpfe besetzt.

Das Jahr 1929 liegt ziemlich genau zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die friedlichen parla mentarischen Illusionen, die in den mittleren goldenen Zwanzi ger Jahren gedeihen konnten, neigen sich langsam dem Ende zu. Der Börsencrash im Oktober läutet die Weltwirtschaftskrise ein. Noch wird Weimar zwar von einer Großen Koalition regiert; aber die Bürgerkriegsparteien proben auf der Straße schon ein mal den Aufstand. Mit Freude nehme ich wahr, notiert der Natio nalrevolutionär Ernst Jünger genüsslich in seinem Buch Das Abenteuerliche Herz , wie die Städte sich mit Bewaffneten zu füllen beginnen, und wie selbst das ödeste System, die langweiligste Haltung auf kriegerische Vertretung nicht mehr verzichten kann.

Der Schwellencharakter des Jahres 1929 wird deutlich, wenn wir uns seine großen Toten in Erinnerung rufen. Hugo von Hof mannsthal, der Götterliebling der alten Zeit, stirbt im Juli; Gus tav Stresemann, der große Weimarer Staatsmann, im Oktober. Im selben Monat stirbt auch der Kunsthistoriker Aby Warburg, der sich der Erforschung des Nachlebens der Antike als Lebens aufgabe verschrieben hatte. Aber das Jahr verweist nicht nur auf Abschied und die drohende nationalsozialistische Katastrophe. 1929 hat selbst ein wunderbar intellektuelles Nachleben. Es ist die Geburtsstunde des deutschen Nachkriegsgeistes. Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf, Ralf Dahren dorf und Jürgen Habermas, Walter Kempowski und Peter Szondi sie alle sind 29er. Wer in der Bundesrepublik prominent reimte, theoretisierte und kritisierte, ist in aller Regel ein 29er. Und beileibe trug dieser ausgezeichnete Jahrgang nicht nur im Wes ten literarische Früchte, auch Heiner Müller, Christa Wolf und Günter Kunert sind 1929 geboren. Am Vorabend ihres großen 80. Geburtstages schauen wir zurück auf diesen Jahrgang, der den deutschen Nachkriegsgeist nachhaltig geprägt hat die 29er.

Der Siegeszug der 29er in der Nachkriegsgesellschaft erklärt sich zu einem großen Teil sicher aus einem Startvorteil. Auch wenn sie ihre Jugend im Krieg verbrachten, oft eingezwängt in Bom

benkellern, hatten sie ungleich bessere Ausgangsbedingungen als ihre älteren Geschwister. In den Zwanziger Jahren ist jedes Jahr entscheidend, ganze Jahrgänge sind vor Stalingrad ausge blutet. Mein Jahrgang war zu jung, so Hans Magnus Enzensberger im Gespräch, um in die Vernichtungsmaschinerie hineinzugeraten. Zwar unterlagen auch die 29er dem Drill der HJ eine gesunde Skepsis, Eigensinn und eine besondere Pfiffigkeit zeichnete sie aber schon in jungen Jahren aus. In den letzten Kriegsmonaten lief alles auf die 29er zu; als Führers letzte Helden mussten sie zum Abwehrkampf an die Flak. Aber die Sinnlosigkeit dieses Unter nehmens war schon zu offensichtlich; noch vor der Kapitulation deponierten viele ihre Zivilkleider. Hatte der Krieg die Soldaten an der Front von den Zivilisten an der Heimat-Flak getrennt, so verkehrte sich nach dem Krieg die Front. Nun gaben die Flakhel fer den Ton an. Oft übernahmen sie die Ernährer-Rolle für die im Krieg gebliebenen oder erschöpft zurückgekommenen Väter. Kein anderer Jahrgang weist eine solche Dichte von bekennenden Schwarzmarkthändlern auf.

Der Publizist Günter Gaus, auch er ein 29 er, hat das unwahr scheinliche Glück seines Jahrganges auf eine prägnante Formel gebracht die Gnade der späten Geburt. Anders als die VorgängerJugend des Ersten Weltkrieges, jener durch Ernst Glaesers zeitge nössischen Bestseller berühmt gewordenen Jahrgang 1902 , der im Trubel der Zwischenkriegszeit verloren ging, hat der Jahr gang 1929 die Chance, die im Zusammenbruch lag, beherzt er griffen. Ende der Fünfziger betraten sie öffentlichkeitswirksam das Feld und haben es bis heute nicht geräumt. Meine Generation, die nach dem Krieg alle Chancen bekam und nutzte, schreibt Jür gen Habermas rückblickend, hat die intellektuelle Szene ungewöhn lich lange beherrscht. Die 29er verband der pragmatische Wille zum politischen und moralischen Wiederaufbau des Landes. Wie ta tendurstig und innerlich unverkrampft sie dabei zu Werke gin gen, fällt sofort auf, wenn man sie mit den jüngeren Jahrgängen, den späteren 68 ern vergleicht, die immer unter der schweren ge schichtspolitischen Last ächzten, stellvertretend die Schuld ihrer Eltern abarbeiten zu müssen. Der lange Schatten der 29er hat zu vielen kleineren ödipalen Revolten Anlass gegeben. Aber so ganz haben sich die 68 er von den 29ern nie emanzipieren können. Selbst in der Revolte lieferten die 29 er die entscheidenden Stich worte. Mit Enzensberger im Rucksack ging es auf die Demo.

Ralf Dahrendorfs autobiographische Prämisse Über Gren zen war das 29er-Lebensmotto. Früh öffnete sich für sie die ganze Welt, sofort nach dem Kriege begannen sie zu reisen und im Ausland zu studieren. Aus Pariser Hinterzimmern kam En zensberger in den Fünfzigern mit den neuesten angesagten mo

dernen Dichtern nach Deutschland zurück, Dahrendorf expor tierte aus Amerika zeitgleich die Konfliktsoziologen. Die 29er waren die Musterschüler der Verwestlichung. Der Philosoph Jür gen Habermas schreibt seinen Jahrgängen auf der geistespolitischen Habenseite zu: die vorbehaltlose Öffnung der Republik zur Kultur des Westens. Die 29er haben den Richtungssinn von Re marques Bestseller Im Westen nichts Neues aus ihrem Geburtsjahr gedreht. Für sie kam alles Neue nach dem Krieg aus dem Westen.

Auch wenn sich viele Animositäten und Fehden quer durch den Jahrgang ziehen, verband die 29er doch ein Vorverständnis. »Und überhaupt und unter sich ist der Jahrgang 29 immer irgendwie Kamerad« (Peter Rühmkorf). Naturgemäß lassen sich die ganz unterschiedlichen Temperamente jenes Jahrgangs nicht auf die eine intellektuelle Physiognomie reduzieren. Und schon gar nicht geht der Jahrgang 1929 auf in jenem Höhendiskurs der suhrkamp culture , den der Literaturwissenschaftler George Steiner, auch er Jahrgang 1929, zuerst auf den Begriff gebracht hat. Fraglos gibt es auch Köpfe wie das berühmte Zweigestirn Günter Grass und Martin Walser, die unser heroisches Jahr knapp verfehlten. Ganz bewusst greift hier unser Versuch, den deutschen Nachkriegs geist verdichtet im Spiegel eines Jahrgangs zu erfassen, zurück auf ein Stilprinzip, das 1929 mit dem Erscheinen von Döblins Alexanderplatz seinen ersten großen literarischen Auftritt hatte die Montage.

Vor fast zwanzig Jahren fand das westdeutsche Provisorium mit der Wiedervereinigung ihr glückliches Ende. Wir schauen heute zurück auf die alte Bundesrepublik mit ihren Obsessionen und Neurosen wie auf einen versunkenen Kontinent. Die Erinne rung an die 29er bewahrt das besondere Aroma der Nachkriegs zeit auf. Die Reihen dieses Jahrganges, der den Krieg in großer Zahl an der Heimatfront glücklich überlebte, haben sich mit den Jahren stark gelichtet. Zu den großen Toten des Jahrgangs 1929 zählen der Literaturwissenschaftler Peter Szondi und der Dra matiker Heiner Müller, aber auch der Entertainer Harald Juhnke und die Kirchentagsikone Dorothee Sölle zuletzt starb mit Walter Kempowski der Archivar dieser Generation. Die von heu te aus so seltsam ferne, eigentümliche Melange aus intellektuel ler Askese und historischem Pathos, protestantischer Bußpredigt und großer Samstagsabendunterhaltung das war die alte Re publik.

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Stephan Schlak , Jahrgang 1974, ist Historiker und Publizist und lebt in Berlin. 2008 ist bei C.H. Beck erschienen: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideen-geschichte der Bundesrepublik.
thema 2009
kulturstiftung des bundes magazin 11

das wahre ausland ist die vergangenheit

s: Das Jahr 1929 ist die Geburtsstunde des deutschen Nach kriegsgeistes. In diesem schillernden Jahr am Rand der Weimarer Zeit wurde am 11. November auch Hans Magnus Enzensber ger als Sohn eines Telephon-Experten geboren. Wie erklären Sie sich die Durchschlagskraft Ihres Jahrganges? e: Die einfache Erklärung dafür liefert die Demographie. Die älteren Jahrgänge wurden im Zweiten Weltkrieg verheizt. Viele begabte Leute sind dadurch nie zum Zuge gekommen. Sie haben an der russischen Front ihr Leben gelassen, oder sie waren im Konzentrationslager oder sind emigriert. Der Jahrgang 1929 ist im Großen und Ganzen mit heiler Haut davongekommen. Ich selbst kann mich nicht als Opfer fühlen. Zwar habe ich Bomben krieg und Hungerjahre erlebt, aber es wäre albern, sich zu bekla gen oder von einer unglücklichen Kindheit zu sprechen. Mein Jahrgang war zu jung, um in die Vernichtungsmaschine zu gera ten. Eine lächerliche Uniform aus einer Art Holzwolle, ein idio tischer Einsatz in letzter Minute, als halbe Kinder für den End sieg kämpfen sollten das war alles. Und nach dem Krieg waren viele der Älteren in Gefangenschaft, verschollen, politisch kom promittiert oder aus der Emigration nie zurückgekehrt. Die Jün geren hatten also ein offenes Feld vor sich; das Wort Arbeits markt hatte keinen Schrecken für sie. Ein Weitermachen gab es für uns nicht, nur lauter Anfänge. Natürlich kam es nach 1945 dann schnell zu Konflikten, nicht zuletzt in der Kulturpolitik. Sicher war es aus politisch-hygienischen Gründen notwendig, die ganze Nazi-Erblast loszuwerden. Daran gibt es auch im Nachhinein nichts zu rütteln. Aber das garantierte niemandem einen Platz auf dem moral high ground. Mein Jahrgang war den Prüfungen nicht ausgesetzt, die Ältere bestanden oder bei denen sie versagt haben. Das Schlimmste, was uns passieren konnte, war ein begeistertes Mitmachen bei der Hitler-Jugend.

Was mich betrifft, so wäre es lächerlich zu behaupten, ich hätte Widerstand geleistet. Von einem entwickelten politischen Be wusstsein konnte ja gar keine Rede sein. Mit sechzehn Jahren ist es damit gewöhnlich nicht weit her. Ich fand es einfach lästig, angeschrieen und herumkommandiert zu werden. Also wurde ich sozusagen aus Notwehr zum Drückeberger, und deshalb bin ich glücklicherweise aus der HJ herausgeschmissen worden. Viele Gleichaltrige haben sich später einer Art nachträglichem Antifaschismus verschrieben. Aber muss man sich die Überprüfung der Lebensläufe anderer zum Hauptberuf machen?

s: Im letzten Jahrhundert haben sich zweimal die intellektuellen und politischen Führungsschichten aus der Heimatfront rekrutiert. Nach dem Ersten Weltkrieg war es eine Generation des Unbedingten (Michael Wildt), die zur völkischen Parteinahme drängte und nach 1933 in großer Zahl das Reichssicherheitshaupt amt bevölkerte. Und auch die Stichwortgeber der Bundesrepublik kamen aus der Heimatfront — nur setzten sie scheinbar we niger auf das Unbedingte als auf das Bedingte — tolerante li berale Haltungsgebote.

e: Die Niederlage hat nach dem Ersten Weltkrieg ganz anders gewirkt als nach dem Zweiten. Der deutsche Militarismus ist nach 1945 spurlos verschwunden. Heute wirft die westliche Allianz den Deutschen andauernd vor, dass sie den Krieg scheuen wie der Teufel das Weihwasser. So kommt es, dass Sie in der Bundesrepublik schwerlich militärisch geformte Charaktere wie Ernst Jünger finden werden, oder wie die Generale von Schlei

cher oder Hammerstein aus meinem Buch. Der Kampf als inne res Erlebnis hat keine Konjunktur mehr, und das Unbedingte er lebte allenfalls in den späten, extremen Ausläufern der Studen tenbewegung eine groteske Wiederkehr, in den K-Gruppen und in der RAF. Dort werden Sie aber kaum Leute aus der Generation von 1929 finden. Deren Bedarf an Unbedingtheit war für alle Zeiten gedeckt.

s: Kehren wir noch einmal kurz in das Jahr 1929 zurück. In ih rem Buch über General Hammerstein sparen Sie nicht an scharfer Kritik an der wohlfeilen Nostalgie und dem retrospektiven gros sen Weimar-Kitsch. Aber unterschlagen Sie dabei nicht allzu sehr die kulturelle Blütephase jener Jahre? Denken Sie doch nur an Ihr Geburtsjahr die großen Bauhaus-Ausstellungen, das Er scheinen von Döblins Alexanderplatz oder Marlene Diet rich im Blauen Engel ?

e: An der ästhetischen Produktivkraft, die damals frei wurde, zweifelt niemand. Aber das war die Sache einer winzigen Mino rität. Für die Heutigen ist das politische und soziale Elend der Weimarer Republik unvorstellbar geworden. Ein heutiger Stu dent würde sich die Augen reiben, geriete er in eine Universität, die von ultrarechten nationalistischen Cliquen beherrscht wird, oder an eine Justiz, die wilhelminisch und autoritär geprägt wäre wie nach 1919

s: Aber man könnte sich den jungen Dichter und Exzentriker Enzensberger der Fünfziger Jahre sehr gut eine Generation frü her beim Tanz auf dem Vulkan vorstellen zwischen Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Haben Sie nie bedauert, dass Ihnen da eine große Zeit vorenthalten wurde?

e: Nein. Aber diese Dichtung gedieh wie eine Orchidee auf einem Misthaufen. Die Erinnerung an die Kultur der Zwanziger Jahre blendet uns. Benn konnte übrigens vom Ertrag seiner lite rarischen Arbeiten gerade seine Zündhölzer bezahlen. Gott sei Dank hatte er, ebenso wie Döblin, einen richtigen Brotberuf. Andere Autoren mussten sich mit Zeilenschinderei für Ullstein durchschlagen, oder sie schrieben Trivialromane. Heute ist viel vom Prekariat die Rede, aber damals war die prekäre Lage die Norm.

s: Benn und Brecht waren die ästhetischen Fixsterne der Nachkriegszeit. Haben Sie den beiden ihre frühen zornigen Gedichte geschickt?

e: Nein. Einen Schriftsteller, den man bewundert, sollte man genau lesen, studieren, meinetwegen ausbeuten, aber nicht auf suchen, um sich zu seinem Adlatus zu machen, sonst endet man als Schüler. Im Umkreis von Brecht gab es dafür abschreckende Beispiele. Der einzige, der seine Unabhängigkeit bewahrt hat, war Heiner Müller. Er hat sich rechtzeitig von seinem Meister verabschiedet.

s: Anders als für die älteren Jahrgänge, die in der Bundesrepublik die alten Weimar-Schlachten nachstellten, war für die Neunundzwanziger die entscheidende Zäsur das Ende des Krieges. 1945 erwachte das politische Bewusstsein. Gibt es also so etwas wie das einende Band Ihrer Generation, eine geheime Program matik? Was verbindet Enzensberger mit den anderen berühmten 29ern mit Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf, Peter Rühm korf oder auch Heiner Müller?

e: Eine allgemeine Physiognomie dieses Jahrganges zu zeich nen, halte ich für sehr problematisch. Es sind doch immer nur ganz wenige, die da als Testpersonen herbeizitiert werden. Von den andern ist nicht die Rede, und diese andern sind die Mehrheit. Überhaupt wird der Begriff der Generation überstrapaziert. Das Geburtsjahr allein sagt nicht viel über einen Lebenslauf aus. Das einzige, was eine demographische Kohorte verbindet, sind die historischen Erfahrungen, die sie gemacht hat. Aber wie der einzel ne damit umgegangen ist, das steht auf einem anderen Blatt und lässt sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Allenfalls kann man von einem gewissen Vorverständnis sprechen, von Dingen, über die sich die heute 75- oder 8ojährigen stillschweigend einig sind, zum Beispiel darüber, dass der gesellschaftliche Reich tum keine Selbstverständlichkeit ist.

s: Die 29er haben bis heute die intellektuelle Flak nicht ge räumt, schreiben unermüdlich die Bestseller der Saison und sind in allen großen Debatten des Landes präsent. Was ist das Betriebsgeheimnis dieses nachhaltig erfolgreichen Jahrganges? e: Ich würde eher von einer zufälligen Häufung sprechen. Die Entwicklung der Künste ist keine stetige Kurve. Da gibt es kein Kontinuum. Die deutsche Lyrik der 1880er und 1890er war zum Beispiel ziemlich armselig spontan fallen mir da eigentlich nur Dehmel und Liliencron ein. Aber dann sind plötzlich drei Figuren aufgetaucht, die die Szene radikal verändert haben: Hof mannsthal, George, Rilke und wenige Jahre später folgten schon die Expressionisten. Manche Zeiten sind einfach ergie biger als andere. Man könnte von einem stochastischen Prozess sprechen, wenn man das Wort Zufall vermeiden will.

s: Hugo von Hofmannsthal stirbt 1929 in genau dem Jahr, in dem mit Enzensberger ein neuer Dichter und Götterliebling des Feuilletons geboren wird. Entdramatisieren Sie nicht allzu sehr die intellektuelle Bedeutung dieses Jahres?

e: Naja, vielleicht könnte man dem Jahrgang 1929 eine gewisse Zähigkeit nachsagen. Wenn das zutrifft, liegt es womöglich an den Herausforderungen, Schwierigkeiten und Zwangslagen aller Art, mit denen diese Leute es in jungen Jahren zu tun hatten. Je der musste sich nach dem Krieg auf seine Weise durchschlagen, und das blieb vermutlich nicht folgenlos. Aber auf der anderen Seite waren das natürlich herrliche Zeiten. Die alten Autoritäten waren verschwunden. Man konnte nicht nur, man musste selbst die Initiative ergreifen. Das Geld spielte noch keine große Rolle, Butter und Kohlen waren wichtiger. Und selbst in den darauffol genden trüben fünfziger Jahren gab es noch gewisse Spielräume. Damals konnte ein Student selbst entscheiden, was und wie er studieren wollte. Studiengänge, Numerus clausus, Eignungstests, Zwischenprüfungen das alles gab es noch nicht. Zwar spürte man gelegentlich den berühmten Muff unter den Talaren, aber Monsterroutinen wie der Bolognaprozess waren undenkbar. Man wurde nicht andauernd gegängelt und auf ökonomische Verwert barkeit gedrillt.

s: Im Rückblick beschreiben Sie sich als teilnehmender Beobach ter der Studentenrevolte. Aber haben Sie 1968 für einen historischen Augenblick nicht auch dem Reiz des Unbedingten gefrönt? Dass das politische System der Bundesrepublik nicht mehr reparabel ist, war einer der von Ihnen geprägten, vielzitierten Gemein plätze der Bewegung. Sprach aus solchen apodiktischen Sätzen

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ein gespräch mit hans magnus enzensberger

nicht das alte Pathos der Entschlossenheit, das die 29er doch ei gentlich gerade scheinbar hinter sich gelassen hatten?

e: Das kann ich nicht beurteilen. Da müssen Sie die Leute fra gen, die dabei waren. Ich war, glaube ich, eher eine Hintergrunds figur, bin nie Mitglied einer Organisation, einer Gruppe oder ei ner Partei gewesen. Eine öffentliche Rolle habe ich höchstens als Herausgeber des Kursbuchs gespielt.

s: Das Kursbuch gaben Sie 1968 heraus mit dem Redakteur Karl Markus Michel auch ein 29er…

e: Diese Zeitschrift hatte damals eine gewisse Bedeutung, vor allem, weil wir unsere Unabhängigkeit gegen alle Fraktionsbil dungen verteidigen konnten. Das war im dogmatischen linken Milieu die Ausnahme.

s: Die 29er sympathisierten auf ganz unterschiedliche Weise mit der Studentenbewegung. Jürgen Habermas warnte vor dem voluntaristischen Moment und all zu viel Aktionismus. Ralf Dah rendorf diskutierte mit Rudi Dutschke auf dem Autodach hielt aber ansonsten auf liberale Distanz. Peter Rühmkorf ging ganz in der Szene auf.

e: Vermutlich konnte keiner von uns mit dieser Bewegung ganz identisch sein, selbst wenn er es gewollt hätte. Wir waren ja rund zwanzig Jahre älter und hatten ganz andere historische Er fahrungen auf dem Buckel als die Studenten. Was mich betrifft, so bin ich eigentlich ein 67er. Ein Jahr später fing die Sache ja schon an, aus dem Ruder zu laufen. Aber ich muss gestehen, dass mir diese ewigen 68 er-Jubiläen längst zum Hals heraushängen. Von der Seite der Beteiligten hat das etwas Veteranenhaftes. Mit nostalgischen Erinnerungen kann ich nicht aufwarten. Es mag ja sein, dass wir damals jünger und schöner waren. Aber Banalitäten dieser Art sollte man sich sparen. Auf der anderen Seite versu chen manche Leute, mit der Dämonisierung des Geschehens zu punkten. Das ist ebenfalls eine müde Sache, von der ich mir kei ne neuen Erkenntnisse verspreche.

s: In den siebziger Jahren überwintern Sie in der Dichterkolo nie in Berlin-Friedenau und schreiben an ihrem großen Versepos Der Untergang der Titanic , das 1978 ein Jahr nach dem Deutschen Herbst erscheint. Wie haben Sie den Ernstfall der Re publik erlebt?

e: Ich bitte Sie, von einem historischen Ernstfall kann doch gar keine Rede sein. Die RAF war eine Episode. Die Machtfrage stand nie auf der Tagesordnung. Es ging um Erpressung und um Lösegeld. Das hat Helmut Schmidt sehr gut erkannt. Der deutsche Ernstfall ist damit nicht vergleichbar. Er war in den zwanziger und dreißiger Jahren gegeben. Seit 195o lebt der Wes ten Deutschlands im unwahrscheinlichsten aller politischen Zu stände: in der Normalität.

s: In den achtziger Jahren üben Sie mit der Republik intellek tuelle Entspannungsübungen. Sie versuchen die deutsche Men talität die noch immer auf Extreme gepolt ist mit der Tu gend des Mittelmaßes zu versöhnen. Auch das scheint mir eine besondere skeptische Leistung Ihres Jahrganges zu sein der Ab schied vom intellektuellen Ausnahmezustand.

e: Da wäre ich etwas vorsichtiger. In den Künsten, in der Phi losophie und in der Wissenschaft ist das Mittelmaß kein guter Ratgeber. Das sehen Sie schon daran, dass in diesen Sphären

nicht die Mehrheit entscheidet. Man kann nicht darüber abstim men, ob die Lösung des Fermatschen Problems richtig oder falsch ist, oder wer die besseren Bilder malt. In der demokratischen Politik dagegen herrscht der Kompromiss. Dort geht es darum, das Mittelmaß gegen die extremen Lösungen zu vertei digen, auch wenn das oft eine gewisse Langeweile zur Folge hat. Die endlosen Debatten, zum Beispiel über die Gesundheitsre form, sind ja ziemlich öde. Die meisten von uns schalten das Fernsehen aus, wenn die Politiker uns die Reform der Reform der Reform anpreisen. Trotzdem hat diese Routine etwas Beruhigendes, wenn man an die Probleme anderer Gesellschaften auf die sem Planeten denkt.

s: Schon 1961 schreiben Sie am Ende Ihres Essays in dem von Martin Walser herausgegebenen rororo-Bändchen Die Alternative : Ich wünsche nicht gefährlich zu leben. Aber Sie haben sich selbst immer wieder Abenteuern aller Art verschrieben. Nach der Studentenbewegung 1968 sehen wir Hans Magnus Enzensberger in Kuba… e: Mit autobiographischen Reminiszenzen habe ich nicht viel im Sinn. Wen interessiert es schon, wie es mir in Habana ergan gen ist? Aber meinetwegen, wenn schon Abenteuer, dann sollte man sie sich wenigstens selber aussuchen. Die Ideologen liefern ja nur Abenteuer à la carte

s: Ihren provokatorischen Reiz entfalten Ihre Essays in den achtziger Jahren vor einer Apokalypse-Front, in der man gerade auf der Linken vom Atomtod bis zum Waldsterben scheinbar täglich den Weltuntergang vor der Tür wähnte. e: Ich weiß nicht, ob das eine deutsche Spezialität ist. Aber of fenbar gibt es hierzulande eine riesige Nachfrage nach Gründen, sich zu ängstigen, und dementsprechend groß ist das Angebot, das der Medienmarkt liefert: Übergewicht, Kinderspielzeug, Genmais, Feinstaub, vergiftetes Essen, Vogelgrippe, gefährliche Zahnkrem, ganz zu schweigen von dem schlimmsten aller Mensch heitsfeinde, dem Nikotin. Da ist es nur logisch, dass die deutsche Bevölkerung notorisch überversichert ist, und dass jeder Innenminister von Bedrohungen geradezu schwärmt. Diese Angst sucht kann sich an alles Beliebige heften und nimmt häufig hys terische Züge an. Das führt zu einer Art Darwinismus der Ge fahren, einem Verdrängungswettbewerb, bei dem gewöhnlich die Aktualität siegt. Dementsprechend gering ist die Halbwert zeit der Kampagnen. Die langfristigen Risiken kommen dabei zu kurz. Außerdem sind unsere prognostischen Fähigkeiten, wie die Futurologie der Vergangenheit zeigt, ziemlich schwach ent wickelt, gerade dort, wo es sich, wie beim Klimawandel, um ex trem komplexe Prozesse handelt, deren Modellierung auch den besten Experten schwerfällt.

s: Aber müssen wir uns nicht eingestehen, dass es mit der Rückkehr des Terrors nach 9 /11 eine höhere historische Evidenz für Ängste gibt. Oder denken Sie an die drohende Erderwär mung. Erweist sich da nicht so manch scheinbar hysterisch apo kalyptischer Zug der achtziger Jahre im Nachhinein als beson ders hellsichtig?

e: Wer auf jede der vielen angekündigten Szenarien herein fällt, ist selber schuld. Was ist aus dem nuklearen Winter geworden, der in den Achtzigern panische Angst auslöste, aus dem Waldsterben oder aus der für das Jahr 2ooo angedrohten Erschöpfung al-

ler Rohstoffe? Ein bisschen Wahrscheinlichkeitsrechnung kann da ganz hilfreich sein. Autofahren stellt, statistisch gesehen, ein weit höheres Risiko dar, als von einem Terroristen getötet zu wer den. Viele der Ängste aus dem Angebot basieren auf empirisch dünnen Grundlagen. Es geht nicht darum, abzuwiegeln oder zu verharmlosen, aber mit Nüchternheit kommt man weiter als mit Hysterie.

s: Mit Ihrem ausgeprägten Sensorium für unsere Jetztzeit schienen Sie bisher in Ihren geschichtsbesessenen Jahrgängen eine große Ausnahme zu sein.

e: Wirklich? Auch ich war ja nach dem Krieg fixiert auf die deutsche Katastrophe und auf die deutschen Verbrechen. Jeder Schriftsteller hat seine Obsessionen, sie sind sein Kapital. Den ken Sie an einen Autor wie Einar Schleef! Der konnte und wollte sich von den seinen um keinen Preis befreien. Heiner Müller hat einmal gesagt, er verdanke seine ganze Produktion Hitler und Stalin. Ich dagegen wollte mich nicht mein Leben lang von einer idée fixe beherrschen lassen. Es ist schließlich kein Beruf, Deut scher zu sein. Deshalb habe ich meine Koffer gepackt und bis zwölf Jahre lang anderswo gewesen, in Norwegen, in Italien, in Cuba, Rußland und den USA . Ich glaube, dass man sein eigenes Land erst dann richtig versteht, wenn man es eine Zeitlang von außen betrachtet hat. Ich jedenfalls brauche eine gewisse Distanz zu dem, worüber ich schreibe. Das ist ja fast ein erkenntnistheo retisches Prinzip.

s: Aber nun tauchen auch Sie kurz vor Ihrem achtzigsten Ge burtstag mit Ihrem Buch über den letzten Chef der Weimarer Reichswehr, den General Kurt von Hammerstein und seine Fa milie, tief hinab in das Reich der Vergangenheit.

e: Das ist eine alte Geschichte, die mich schon seit den fünfzi ger Jahren interessiert. Aber damals war es schon aus Gründen der Quellenlage nicht möglich, sie darzustellen. Eines jedenfalls zeigt das Beispiel dieses Generals: wie man ohne ideologische Leitplanken und ohne Rücksicht auf die Spielregeln des eigenen Milieus Hitlers Herrschaft überstehen konnte, ohne zu kapitu lieren. Dieser Mann sah sich nicht als Helden, aber er vertraute seinem eigenen Kompass. Darin war er unbeirrbar. Wenn man sich auf eine solche Person einlässt, dann gehört dazu ein Mini mum an affektiver Energie, und man muss soviel historische Phantasie mobilisieren wie nur möglich. Es genügt nicht, nur die Dokumente zu studieren und den Grossen Ploetz auswen dig zu lernen. Als Schriftsteller kann ich mir einen freieren Um gang mit dem Stoff erlauben; beispielsweise wäre die Form des Totengesprächs, derer ich mich bediene, für einen Fachhistoriker tabu. Andererseits verhalte ich mich auch nicht wie ein Roman cier. Der Leser muss sich darauf verlassen können, dass ich mich an die Tatsachen halte. Ich bin kein autobiographischer Schrift steller. Die Lebensläufe der anderen ziehe ich vor, schon weil auf die eigene Erinnerung nicht viel Verlass ist. Außerdem ist die Ge schichte wahrscheinlich der einzige exotische Ort, der uns geblieben ist. Sie können heute nach Thailand oder Indonesien fahren, aber Sie werden dort wenig entdecken, was Ihnen nicht bekannt vorkäme. Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit.

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Das Gespräch führte Stephan Schlak.
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nachhaltige generation. die deutschen von 1929 von hans ulrich gumbrecht

Wahrscheinlich fiele das Profil der Unterschiede eher flach aus, wenn man die Lebenswege, Leistungen und Schwächen wirklich aller Menschen je erfassen und vergleichen könnte, die in je ver schiedenen Jahren geboren sind. Überall gibt es Arme und Reiche, Gute und Böse, Kluge und Dumme, pflegte meine Frau Mutter mit zum Anspruch von Weisheit gehobener Stimme zu sagen. Den noch behält das intellektuelle Spiel mit den historischen Genera tionen seine Faszination. Es lebt vom Einklammern der Normali tät. Sobald man zum Beispiel weiß, dass so rechtschaffene Gali onsfiguren wie Dorothee Sölle und Liselotte Pulver, Christian Meier, Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf, Walter Kempow ski und auch Hans Magnus Enzensberger 1929 geboren sind, drängt sich die Frage auf, wie solche Protagonisten die Probleme verarbeitet und die Chancen genutzt haben, welche in einer bestimmten Folge von letztlich zufälligen Konvergenzen zwi schen bestimmten Ereignissen und ihrem jeweiligen Lebensalter lagen. Ausgeschlossen bleiben im Generationen-Spiel wohl immer schon jene Zeitgenossen, die an derselben Serie von Kon vergenzen gescheitert oder tatsächlich gestorben sind. 1929 ist das Geburtsjahr der Anne Frank, aber sie zur Generation von Lilo Pulver rechnen, wäre taktlos.

Wer 1929 zur Welt kam, dessen Leben stand, wo immer es begann, unter dem mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss der größten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts, obwohl sich ihre Konse quenzen nationenspezifisch so verschieden entwickelten, dass es kaum Anlass gibt, von einer internationalen Generation des Jah res 1929 zu reden. Eine Konstellation wie die von Martin Luther King Jr., dessen Leidenschaft in den Vereinigten Staaten zum Monument der Erinnerung geworden ist, Imre Kertész, dem ungarisch-jüdischen Chronisten des Holocaust, und dem formulierungsstarken französischen Medientheoretiker Jean Baudrillard bringt die Assoziationsdynamik des Generationenspiels nicht recht in Schwung. Hingegen suggeriert die Reihe der be kanntesten Deutschen aus dem Jahr 1929, unter denen eigentlich nur Habermas den Rahmen hin zu internationaler Berühmtheit gesprengt hat, schon auf den ersten Blick so etwas wie eine Gene rationen-Gemeinsamkeit, für die sich dann freilich nicht ebenso schnell ein totalisierender Begriff oder eine Formel anbieten. Vielleicht haben jene Impression von Einheit und diese Schwie rigkeit, sie zu beschreiben, damit zu tun, dass die 1929 in Deutsch land Geborenen alle historisch wichtigen Stichjahre ihrer Le benszeit unter den Vorzeichen eines Gerade schon und eines Gerade noch absolviert haben. Diese historische Signatur hat den Stil ihres Verhaltens geprägt, ohne sie mit dem gemeinsamen Nenner eines Identitäts-Inhalts zu beschweren.

1989 zum Beispiel, als sich die deutsche Wiedervereinigung aus einer normativen Idee in der Präambel der Verfassung plötzlich zu einem politischen Prozess konkretisierte, feierten sie ihre sechzigsten Geburtstage und gehörten so gerade noch zu denen, die aus aktiven beruflichen Positionen und damals gegenwärtigen ideologischen Perspektiven auf die Gestaltung der neuen alten Nation Einfluss nahmen. Zugleich waren sie aber gerade schon alt genug, um dies von einer Ebene der Erfahrungs-Autorität zu tun, welche sie zu Vertrauensfiguren machte. Wer heute etwa die Besetzung jener staatlichen Ausschüsse untersuchte, die für die Umformung und Integration der ehemaligen DDR -Universitäten in das westdeutsche Universitätssystem verantwortlich waren, der müsste auf 1929 geborene Professoren und Kultusbeamte in der Mitte der Entscheidungsträger treffen. Genau dort wurden

sie zu elder statesmen mit unheimlich gutem Gewissen. Die Her ausforderungen der Wiedervereinigung, mit denen sie wenige Jah re vor dem Pensionsalter keinesfalls mehr gerechnet hatten, ga ben den Deutschen von 1929 späten Rückenwind und erklären wohl, warum es ihnen bis heute so schwer fällt, Platz zu machen für die mittlerweile sechzig Gewordenen, welche das anschei nend auf ewig gestellte Auf-der-Stelle-Treten der Achtzigjährigen zu ewiger Jugend verdammt. Zur Gnade der für die Teilnahme am Prozess der Wiedervereinigung gerade noch hinreichend späten Geburt kommt die eher zufällige Rahmenbedingung, dass die heute fast Achtzigjährigen wohl die erste PensionärsGruppe sind, welche hinreichend von den lebensverlängernden Fortschritten der modernen Medizin profitiert, um dem Siech tum einer Existenz im Altersheim zu entgehen und stattdessen mit schmunzelnder Rüstigkeit Kuratorien, Gutachtergremien und Preisverleihungs-Komitees zu dominieren. Neunundsiebzig ist kein Alter heißt eine nur auf den ersten Blick bescheidene For mel der Einwilligung, oder ich glaubte, mich dieser Herausforderung nicht entziehen zu dürfen. Für die Ostdeutschen desselben Jahr gangs war die Wiedervereinigung natürlich gerade zu spät ge kommen, um ihr Leben noch umzuwidmen. Dies mag erklären, warum die Dramen und Texte von Heiner Müller, dem einzig wirklich großen deutschen Literaten von 1929, eine internationa le Leserschaft nie gewonnen haben. Nach dem Endsieg des Kapi talismus schlug seine linke Wut über den Staats-Sozialismus ins Leere.

Auf der anderen chronologischen Seite ihres Lebens waren die deutschen 1929er am Ende des Zweiten Weltkriegs gerade noch hinreichend jung, um absolut unbelangbar zu sein in den Debat ten um die Verantwortung für das Dritte Reich und seine Folgen. Dort formierte sich wohl ihr so massiv gutes Gewissen. Die Pimp fe in Uniform, deren Spalier ein zum Greis geschrumpfter Adolf Hitler wenige Tage vor seinem Selbstmord auf einem berühmt gewordenen Photo abschreitet, kann man bis heute bloß aus einem Blickwinkel von Erstaunen und Mitleid sehen, jedenfalls nicht mit irgendeinem Vorwurf. Zugleich waren die 1929 Gebo renen nach dem Krieg gerade schon alt genug, um bald etwa mit eilig abgeschlossener Schulbildung unter den ersten zu sein, wel che in Uniformjacken noch und mit abgewetzten Flanellhemden entweder Vorlesungen an den wiedereröffneten deutschen Uni versitäten belegten oder in das Berufsleben eintraten, noch bevor das Wirtschaftswunder zu einer begrifflich gefassten Erfahrung geworden war. Zwischen diesem doppelten Gerade noch / Ge rade schon haben sich die Deutschen von 1929 zur unschlagbar nachhaltigsten Generation der jüngeren Nationalgeschichte ent wickelt. Man übertreibt wohl nicht mit der Feststellung, dass sie sich innerhalb ihrer Geschichte zwischen Kriegsende und un serer Gegenwart wie ein raumfordernder Prozess breitgemacht und keiner anderen Generation Platz gelassen haben. Weil die Geschichte der Deutschen nach 1945 aber national und international als Erfolgsgeschichte gefeiert wird, gibt es für die Nachgeborenen nicht einmal das Anrecht, den Nachhaltigkeits-Rekord der 1929er ab und an in einen Vorwurf umzukehren. Dies wird die auf ödipale Klein-Revolten spezialisierte 68er-Generation wohl nie mehr verwinden.

1968 waren Sölle und Dahrendorf, Enzensberger und Habermas gerade noch jung genug, um mit dem Schwung einer Protestwel le assoziiert zu werden, die sie nicht in Gang gebracht hatten, ob wohl ihnen immer noch im Rückblick als berechtigt ausgesonder-

te Kritikpunkte zum Verdienst angerechnet werden. Als Joschka Fischer der Frankfurter Polizei Streiche spielte und meine SDS Freunde Steine des Vietnam-Protests auf das amerikanische Konsulat an der Münchener Prinzregentenstraße warfen, waren die 1929er gerade schon zu alt, um sich auf die Vehemenz und den Charme von Kommunen, Teach-ins und Aktionen einzulassen. Jürgen Habermas wirkt auf den bis heute immer wieder gedruck ten Photos von solchen Ereignissen aus den späten sechziger Jah ren stets wie ein älterer Bruder, der unbedingt Solidarität mit sei nen Geschwistern zeigen will, aber doch nicht alle Anzeichen von Peinlichkeit unterdrücken kann und letztlich wohl auch gar nicht will, die angesichts so laut-juveniler Streiche über ihn ge kommen war. Noch peinlicher scheint es allerdings dem kaum vierzigjährigen Habermas gewesen zu sein, öffentlich nahe bei Adorno und Horkheimer zu stehen, bei jenen ursprünglichen Gott-Vätern der Studenten-Revolte, die ihren himmlischen Sta tus in den Augen der Spiel-Revolutionäre so schnell verloren, weil sie deren oft in ihrem guten Philosophen-Namen vom Zaun gebrochenen Aktionen weder begrüßen noch belächeln konnten, sondern für das Ende ihrer Bildungs-Welt hielten.

Weil sie sich also geradezu staatsmännisch verhielten dem Zeitgeist nahe, aber doch auf Distanz , weil sie sich jedenfalls nie blamierten, stehen die Großväter aus dem Jahr 1929 heute hoch im Sympathie- und Bewunderungskurs bei den auf so erfolgreiche Weise vernünftigen Yuppies, die sich selbst gegen ihre eigenen, nie erwachsen gewordenen Väter leicht profilieren konnten, ebenso wie bei der bis zur geistigen Total-Starre gebil deten und ausgebufften Enkelgeneration. Der Fehlschlag der kurz nach 1945 geborenen Achtundsechziger gehört als historischer und nationaler Fehlschlag ganz entscheidend zur Rolle der 1929er, weil er ihnen fast unverhoffte Vater- und Großvaterschaften und damit enorme Positionsvorteile zwischen den Generati onen eingespielt hat. Sloterdijk kann nicht umhin, seine Raketen auf das sozialdemokratische Monument Habermas zu schießen, aber Habermas braucht nichts abzufangen und schon gar nicht zu replizieren, weil ihn die sehr vernünftigen Jungen sofort in Schutz nehmen werden. Wenn die 1929er nächstes Jahr zum Klassentreffen einladen und bei diesem Anlass, wie wir Ameri kaner es ja immer tun, Spenden zur Einrichtung einer Stiftung einwerben, dann werden sie gewiss keine Partei und wohl auch kein Museum gründen, sondern ein Kuratorium zur Er haltung der eigenen Nachhaltigkeit . Denn die Ge neration einer sich immer noch ausdehnenden Gegenwart sind sie und jedenfalls nicht die Generation eines programmatischen Inhalts.

Es ist wie im Hause Windsor. Die Königin harrt als Großmutter aus, bis die Zeit von William und Harry gekommen sein wird. Mehr noch als blumenbeschwerte Hüte und ihre Pferdeleiden schaft ist das unglückliche Gesicht ihres ältesten Sohns, des Prinzen von Wales, das Emblem für die Nachhaltigkeit von Eli sabeth II . Alles passt an diesem Vergleich, außer 1926, das Ge burtsjahr der Queen.

Hans Ulrich Gumbrecht wurde 1948, drei Tage vor der Wäh rungsreform, in Würzburg geboren. Obwohl er 1968 dem SDS beitrat und als Münchener Student auch Protest-Steine warf, ist er seit 1989 Professor für Lite raturwissenschaft an der Stanford University und seit 2000 US -Citizen. 2001 ist bei Suhrkamp erschienen: 1926 Ein Jahr am Rand der Zeit

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1 Budapest, Januar 1945 2 Wien, März 1945 1 2

eine generation frisst einen jahrgang

von alexander cammann

Ich habe Wodka getrunken und gewartet, ratlos. Der Dramatiker Hei ner Müller sollte zu den Massen sprechen, am 4. November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Dort fand die größte De monstration in der deutschen Geschichte statt; die Angaben über die Teilnehmerzahlen schwankten zwischen 500 000 und 1 Million. Die Euphorie aus entspannter Fröhlichkeit, neugewon nenem Selbstvertrauen und zuversichtlicher Ungewissheit, die an jenem Tag herrschte, ist unvergesslich: ein Höhepunkt der Re volution von 1989 und eine Sternstunde der DDR-Intellektuellen. Denn für einen illusionären Moment sah es so aus, als wären die Schriftsteller, Schauspieler und Bürgerrechtler, die zu den De monstranten redeten, tatsächlich Sprachrohre des Volkswillens. Doch der historische Augenblick auf dem Alexanderplatz be deutete noch etwas anderes: Er war der erste und zugleich letzte große symbolische Auftritt jenes Jahrgangs, der sich in den Jahr zehnten zuvor als der wirkmächtigste in der deutschen Geschich te erwiesen hatte. Geboren 1929 : diese magische Chiffre steht nicht nur für Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger oder Ralf Dahrendorf, sondern auch für deren gleichaltrigen prominenten Genossen im Osten. Am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz waren allein drei der Redner 1929 geboren: der Dramatiker Heiner Müller, die Schriftstellerin Christa Wolf, und das SED -Politbüromitglied Günter Schabowski. Noch einmal verdichtete sich in diesem Moment die Schicksalslage des Jahr gangs 1929

Heiner Müller also, der ansonsten bekanntlich Whisky vorzog, trank erst einmal Wodka. So schilderte er es rückblickend in sei nen Erinnerungen Krieg ohne Schlacht . Seinen anschlie ßenden Auftritt vor den Hunderttausenden empfanden viele als bizarr. Mit monotoner Stimme verlas er ein Flugblatt der Initiative für unabhängige Gewerkschaften , das ihm zuvor von drei jungen Leuten in die Hand gedrückt worden war. Eine neue Arbeiterinteressenvertretung wurde dort gefordert, gegen die SED -hörige Einheitsgewerkschaft FDGB und gegen herauf ziehende neue ökonomische Bedrohungen. Pfiffe ertönten bald. Es war kein Text für 500 000 Menschen, die glücklich sein wollten. Die Distanz zwischen Dramatiker und Publikum an diesem Tag hatte Ursachen. Denn Müller, der am Deutschen Theater gerade seine Hamletmaschine probte, überkam das ungute Gefühl, einer Inszenierung zuzusehen: dem Theater der Befreiung von einem Staat, der nicht mehr existierte. Vor der Menge kam es ihm plötzlich albern vor, dem kranken Löwen einen Tritt zu versetzen, der mir si cheren Applaus eingetragen hätte. Schließlich hatte der Löwe na mens SED -Staat, mit dem Müller so oft gerungen hatte, ihm zu gleich jahrzehntelang das Material geliefert. Intuitiv spürte nun der von der deutschen Geschichte besessene Müller, dass eine, seine Epoche sich neigte. Hier ging etwas zu Ende. Also gab der Dramatiker oben auf der Rednerbühne statt den Sieger lieber

den unzeitgemäßen Seher auf die künftigen sozialen Kämpfe der sich soeben befreienden Proletarier. Nur sein persönliches Schlusswort brachte Beifall, wirkt aber dennoch wie bloße Nos talgie: Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden. Jene Pariser Tänze vom Mai 1968, auf die Müller hier anspielte, waren den meisten De monstranten des Herbstes 1989 kaum ein Begriff. Ein Ordner hinterher zu Müller: Das war billig.

Den fünf Tage älteren Günter Schabowski hatte zuvor bei sei nem Auftritt ein Pfeifkonzert empfangen. Unter permanenten Aufhören! -Rufen konnte der Chef der SED -Bezirksleitung von Berlin seine Rede nur mit Mühe zu Ende bringen. Sein Versuch eines Schulterschlusses mit den Demonstranten scheiterte. Ein mächtiges Politbüromitglied, niedergepfiffen von Hunderttau senden: Hier geschah tatsächlich eine Revolution.

Auf Begeisterung traf hingegen Christa Wolf, deren leicht zit ternde Stimme via Mikrofon über den Platz hallte. Die Menge lauschte andächtig, um dann und wann in Jubel auszubrechen. Die Sprache der Schriftstellerin traf den Geist der Stunde, auch im eingemeindenden Wir : Wir schlafen nicht, oder wenig. Sie sah eine unglaubliche Wandlung, revolutionäre Erneuerung. Noch nie sei soviel geredet worden: Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben: durch uns selbst. Gefühlswörter würden auftauchen, eines davon sei Traum : Also träumen wir, mit hellwacher Vernunft. Nach der Rede, an der Christa Wolf bis in die Nacht gearbeitet hatte, um jede provokative Wirkung zu ver meiden, trat eine unbekannte Frau aus der Menge und umarmte die Schriftstellerin.

Doch auch Christa Wolfs Auftritt hat seine verdeckte Geschich te: Während der Rede erlitt sie einen kleinen, unbemerkten Herzanfall. Sanitäter fuhren sie anschließend ins Krankenhaus, wo eine Spritze ihren rasenden Puls wieder beruhigte. Wodka und Herzattacke: Die Stunde des Triumphes ist nicht gerade eine star ke Stunde für den mächtigen Jahrgang 1929. Das hat seine sym bolische Logik: Für ihn ging etwas zu Ende. Denn wie in der Bundesrepublik waren auch die ostdeutschen Angehörigen des Jahrgangs 1929 nicht Gründergeneration einer Gesellschaft, son dern deren kritische Innenausstatter. Ihre Träume, Wunsch- und Albträume, waren auf die DDR bezogen. Ihre seltsame Symbiose mit diesem Staat, in Ab- und Anlehnung, dauerte Jahrzehnte. Im Juli 1989 war Christa Wolf nach vierzig Jahren Mitgliedschaft aus der SED ausgetreten. Noch 1986 hatte Heiner Müller aus den Händen Erich Honeckers den Nationalpreis erhalten. Ich würde mich heute nicht anders verhalten. Es ist wichtig, dass meine Sachen zur Wirkung kommen, nicht dass ich den edlen Ritter spiele, so Müller 1992 über dieses Politikum. Und diese DDR , die ihnen das Feld für ih re Identitätskämpfe geboten hatte, verendete 1989 vor ihren Au gen; paradoxerweise auch durch ihr kräftiges Zutun.

Den großen Roman über die frühen Träume und Illusionen des Jahrgangs 1929 hat der etwas jüngere, früh am Alkohol zu Grun de gegangene Werner Bräunig in den sechziger Jahren verfasst. In der DDR durfte Rummelplatz nie erscheinen; 2007 wurde das Buch dann zu einem Überraschungserfolg. Peter Loose, einer der Haupthelden, formuliert hier die einigende Metapher jener Jahrgangsgemeinschaft: Wir sitzen alle im gleichen Zug und machen alle die gleiche Bewegung mit und fahren alle in die gleiche Rich tung. Und doch will jeder woanders hin und steigt woanders aus. Und jeder ist woanders hergekommen. Sie waren eine Überlebensgemein schaft: eine Kindheit im Nationalsozialismus erlebt, dann als Jugendliche mit Glück die Wirren des Kriegsendes überstanden, als um sie herum alles starb und sie in einem im Wortsinne frei geschossenen Land wiederaufwachten. Ihr antrainierter Daseins modus blieb auch in den folgenden Jahrzehnten der des Überle benskampfs: in der Diktatur, zwischen Ost und West, im Zeital ter von Kaltem Krieg und atomarer Bedrohung.

Manche Wege des ostdeutschen Jahrgangs 1929 führten in den Westen. Früh bei dem Rostocker Walter Kempowski, bereits 1956 nach acht Jahren Bautzen. 1979 ging der Dichter Günter Kunert in die Bundesrepublik und ließ sich in Schleswig-Holstein nieder; er hatte wie Müller und Wolf 1976 zu den Erstunterzeichnern der Protestpetition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns ge hört. Auch die umgekehrte Richtung gab es: 1954 kehrte Wolf gang Ullmann nach einem Studium in Göttingen als Pfarrer nach Sachsen zurück; später arbeitete er als Dozent für Kirchen geschichte in Naumburg und am Ost-Berliner Sprachenkonvikt, wurde zu einer der einflussreichsten intellektuellen Vaterfiguren der DDR -Opposition, im Herbst 1989 Mitbegründer der Gruppe Demokratie jetzt, später Volkskammerabgeordneter und grüner Europaparlamentarier.

Gesamtdeutsch agierte der Jahrgang 1929 ohnehin: So hatte Christa Wolf 1980 in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis erhal ten, die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur; 1985 bekam Heiner Müller den Preis. Zu dieser Zeit hatte bereits Müllers alter Klassenkamerad 1946 in Waren an der Müritz der glanzvollen Abenddämmerung der alten Bundesrepublik ihren klassischen Ausdruck verliehen: Klausjürgen Wussow, auch er Jahrgang 1929, verkörperte als Chefarzt Professor Brinkmann in der beliebten ZDF -Fernsehserie Schwarzwaldklinik Fol ge für Folge jene Praxis des kommunikativen Handelns, die Jür gen Habermas, Jahrgang 1929 wenige Jahre zuvor in zwei Bänden theoretisch formuliert hatte. Das Glottertal in der Fernsehserie war die ost-westliche Zielutopie jener Epoche, der der Jahrgang 1929 seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Die Vergangenheit blieb für sie alle stets die Himmelsmacht, un ter der sie antraten, die sie niemals loswurden, in West und Ost.

1929 —1989.
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Christa Wolf hatte bereits mit Anfang Vierzig ihren großen Ro man Kindheitsmuster (1976 ) verfasst, in dem sie stark auto biographisch gefärbt kindliche Prägungen im Nationalsozialis mus beschrieb. Heiner Müllers dramatische Obsessionen kreis ten um die deutsch-russischen, kapitalistisch-kommunistischen, revolutionär-reaktionären Konstellationen, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, so Germania Tod in Berlin (1956 /71), Leben Gundlings (1976 ), Wolokolamsker Chaussee i-v (1984 1988 ) oder zuletzt Germania 3. Gespenster am toten Mann (1995). Zur größten Manifestation für die fort wirkende Macht der Geschichte wurde jedoch ein Kunstwerk, in dem der Historientraum dieses Jahrgangs ebenso eindrucksvoll wie umstritten Gestalt annahm und für alle Nachkommenden noch lange sichtbar überdauern wird: Im thüringischen Bad Frankenhausen erhebt sich das Bauernkriegspanorama , das der Maler Werner Tübke, Jahrgang 1929, zwischen 1976 und 1987 schuf. Jenes frühe deutsche 16. Jahrhundert mit Luthers Re formation und religiösen Kriegen, das der Maler auf 1700 Qua dratmetern darstellte, wurde zur Metapher eines umkämpften 20. Jahrhunderts: zwischen Himmel und Hölle, Macht und Ohnmacht, Diesseits und Jenseits.

Insofern war es auch diese so schwer domestizierbare Gegenwart, die dem Jahrgang 1929 bemerkenswerte Leistungen abverlangte und zugleich in ihm hervorbrachte. Der Widerspruch der Zeit, so schrieb Christa Wolf 1995 in ihrem Nachruf auf Heiner Müller, war Grundlage und Stachel seines Lebens. Gleiches gilt für sie selbst und beider Jahrgangsgenossen.

Am 9. November 1989 endete das Zeitalter des Jahrgangs 1929, in Ost und West. Und es gehört zu Klios Launen, dass es ausgerech net ein Angehöriger dieses Jahrgangs war, der um 18 57 Uhr vor laufenden Fernsehkameras das Signal zum Epochenende gab: Das tritt...nach meiner Kenntnis ist das sofort ...unverzüglich. [... ] Al so ...doch doch ... alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. Berlin-West erfolgen. [ ] Ich habe nichts Gegenteiliges jehört, ja, ich habe nichts jejenteilijet jehört, ich drücke mich nur so vorsichtig aus, weil ich nun in dieser Frage nicht ständig auf dem laufenden bin, sondern kurz bevor ich rüberkam, diese Information in die Hand gedrückt be kam. Im welthistorischen Stottern des Günter Schabowski er füllte sich die Mission des Jahrgangs 1929. Dieser war sechzig Jah re alt geworden, als seine Zeit plötzlich vorbei war. Sein Nachle ben begann.

Alexander Cammann, geboren 1973 in Rostock, war von 2000 2006 verantwortlicher Redakteur der gesellschaftspolitischen Zeitschrift vorgänge und lebt heute als freier Kritiker und Publizist in Berlin. Am 4. November 1989 war er einer der 500 000 Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz, die sich über Heiner Müller wunderten, Christa Wolf lauschten und Günter Scha bowski ausbuhten.

am gedenkjahr 2009 beteiligt sich die kulturstiftung des bundes unter anderem mit folgenden projekten:

geschichtsforum berlin 2009 Aufbruch 89 Wege aus der deutschen und europäischen Teilung Eine Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung, der Kulturstiftung des Bundes und der Bun desstiftung zur Aufarbeitung der SED -Diktatur gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Verein Gegen Vergessen Für Demokratie.

Im Jahr 1999 fand zum ersten Mal ein Geschichtsforum Berlin statt, das sich der Frage 1949–1989–1999 Getrennte Vergangenheit Gemeinsame Geschichte? widmete. Zehn Jahre später folgt nun das zweite internationale Geschichts forum Berlin 2009 für interessierte Bürgerinnen und Bür ger, Wissenschaftler, Kulturschaffende, Politik und Medien. Das Jahr 1989 steht als Dreh- und Angelpunkt europäischer Geschich te im Zentrum von zeitgeschichtlichen Reflexionen, Diskussi onsforen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit der his torischen und kulturellen Zeitenwende 1989

Das Jahr 1989 steht für die Selbstbefreiung der Menschen in der DDR und in Ostmitteleuropa. Die Ereignisse des Jahres 1989 wa ren der Anfang vom Ende der deutschen und der europäischen Teilung, die aus dem fünfzig Jahre zuvor von Deutschland ent fachten Zweiten Weltkrieg resultierten.

Drei Themenschwerpunkte bilden den Rahmen des Programms, an dem sich Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie Bürgerinitiativen und Kreative aus allen Ländern Europas mit eigenen Veranstaltungen beteiligen können: die Geschichte der kommunistischen Diktaturen in Deutschland und Mittelund Osteuropa, die Parallel- und Beziehungsgeschichte des ge teilten Deutschland und schließlich die Entwicklung in Deutsch land und Europa seit 1989. Die Spannungslinien im Umgang mit Diktaturerfahrungen und die damit verbundenen Herausforde rungen für ein verbindendes europäisches Geschichtsbewusst sein rücken dabei ebenso ins Blickfeld wie die Hoffnungen und Befürchtungen, die die Bürgerinnen und Bürger Europas mit der Zukunft ihres Kontinentes verbinden.

2 8.– 31 5 09 Veranstaltungsorte: Humboldt-Universität, Deutsches Histo risches Museum und Maxim Gorki Theater Berlin

filmretrospektive vorahnung der wende? Filmische Zeugnisse aus Mittel- und Osteuropa und dem geteilten Deutsch land zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution Auf Initiative der Kulturstiftung des Bundes entsteht gemeinsam mit der Stiftung Deutsche Kinemathek, VISION KINO und der Fédération Internationale des Archives du Film ( FIAF ) eine Retrospektive von insgesamt 15 abendfüllenden Filmen zur Frage: Gab es eine Vorahnung der Wende?

Das Projekt Vorahnung der Wende? wird die oft verges senen Filme der Vorwendezeit sichten: Produktionen aus Osteu ropa, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Aus die sem Filmkorpus Spiel- und Dokumentarfilme, experimentel les und Untergrundkino werden filmische Zeugnisse ausge wählt, in denen sich die Ahnung artikuliert, dass es mit den alten Verhältnissen zu Ende, jedenfalls so nicht weiter gehen werde. Durch die Herstellung kinotauglicher Filmkopien und die Auf nahme der Filme in die Sammlung der Stiftung Deutsche Kine mathek soll dieses filmkulturelle Erbe der Öffentlichkeit dauer haft zur Verfügung stehen. Darüber hinaus wird die Leistung der Filmemacher gewürdigt, die es schon vor 1989 wagten, also noch unter den Bedingungen der Diktatur, einen unabhängigen Blick auf die gesellschaftliche Realität zu werfen und den Versuch zu unternehmen, authentische Eindrücke vom Zustand ihrer Län der wiederzugeben.

Das Programm soll 2009 mehrfach zum Einsatz kommen: auf Filmfestivals: Ein Start auf einem großen deutschen Festival ist angestrebt. Die Filmreihe wird zudem Partnern der FIAF ange boten, deren Länder von den Ereignissen des Jahres 1989 in besonderer Weise betroffen waren.

in Kommunalen Kinos und Programmkinos: Diese Kinos kön nen sich um das Programm bewerben. Ihnen steht auch die Mög lichkeit offen, ausgehend von dem Filmpool Filmreihen zu ent wickeln, die aus mindestens zehn Filmen der Retrospektive be stehen und um maximal fünf selbst gewählte Titel ergänzt sind. in Schulen: Von Frühjahr bis Herbst 2009 wird eine Auswahl von Filmen der Retrospektive auf Schulkinoveranstaltungen in allen Bundesländern in Zusammenarbeit mit lokalen und regionalen Partnern gezeigt. Das Programm wird speziell für den Einsatz im Unterricht ausgewählt und soll eine für ein jugendliches Publi kum interessante Mischung aus Spiel-, Dokumentar- und Expe rimentalfilmen umfassen.

Die Filmliste für die Retrospektive wird im Oktober 2008 vorliegen. Weitere Informationen und Auskünfte sind bei der Stiftung Deutsche Kinemathek er hältlich: www.deutsche-kinemathek.de

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Nürnberg 1946
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Nürnberger Prozesse, Hermann Göring mit Anwalt Otto Stahmer, 1946 Die erste Zeitung ( Tägliche Rundschau ) wird verteilt, Berlin 15.5.1945

Die Geschichte ist ein langer Fluss, der mal ruhig dahin strömt, sich mal in Stromschnellen beschleunigt. Wer die Geschichte verstehen will, sucht nach Markierungen nach Jahreszahlen und Ereignissen, die als Insignien einer Zeitenwende gelesen werden können. Im Europa der Nach kriegszeit ragen 1968 und 1989 als solche Marken hervor. Während die historisch-wissenschaftlichen Darstellungen den Lauf der Geschichte und seine Rupturen, den Prager Frühling und den Mauerfall, die Studentenproteste und den Fall des Kommunismus, im Flussbett ihrer Theorien und Hypothesen begradigen, schlingern die privaten Erzählungen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Mit dieser Ausgabe beginnt das Magazin der Kulturstiftung des Bundes eine Serie von Beiträgen, in denen die fami-

liäre Erinnerung die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa um- und unterspült. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, der Generationenwechsel und Generationenkonflikt, bilden den Angelpunkt von Ge schichten über die Jahre 1968 und 1989. Den Anfang macht der tschechische Schriftsteller Jáchym Topol, Sohn des Dra matikers Josef Topol. Auf sehr verschiedene Art engagieren sich die beiden für ein Land, von dem Entscheidendes für die Veränderung Europas ausgegangen ist.Vierzig Jahre nach den Ereignissen des Prager Frühlings und zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist damit eine litera risch originelle und einfühlsame Geschichte zweier Regimegegner entstanden, die um die Frage kreist, wozu dies alles gut gewesen ist.

die vaterpuppevon jáchym

topol

Ich hocke in einer Spelunke unter der Prager Burg, zu meinen Füßen ein Berg Einkaufsta schen. Meine Arme sind ganz ausgeleiert, die Einkäufe für meinen Vater musste ich von Smíchov bis hierher schleppen. In diesem Vier tel gibt es keine Supermärkte mehr, keinen ein zigen Lebensmittelladen. Nur Shops für Touris ten. Dieses Viertel ist längst nichts mehr für Alte. Heute hat man Vater ins Krankenhaus gebracht. Lange schon hat er sich die Zeit nur mit der Auf zählung seiner Krankheiten vertrieben. Er hat mit durchsichtigen Händen und zittrigen Ge danken gelebt. Bevor ich zu ihm gehe, setze ich mich kurz hin. Einen schlimmeren Ort hätte ich mir kaum aussuchen können. In der Kneipe haben sich grölende britische Fußballdeppen eingenistet. Ihr biernasser Nuttentrip zum Bil ligtarif führt ausgerechnet an der Burg vorbei. Irgendwo anders hinzugehen bringt’s auch nicht. Pizzeria, Taverne, Mexikaner oder dieses ekel hafte Lokal: alles gleich. Unter der Burg ist jedes Lokal eine Touristenfalle. Als meine Eltern noch mit mir und meinen Schwestern hier zu Mittag aßen, war jeder im Viertel entweder ein Onkel oder eine Tante.

Pass auf, dass du vor lauter Nostalgie nicht an fängst zu heulen, sage ich mir. Heute ist es hier auf jeden Fall besser als damals. Damals hat man dort, auf der anderen Straßenseite, in der Kaserne mit dem roten Stern auf der Fassade, die sowjetischen Besatzer verköstigt. Mit Rake ten und Panzern hielten die Sowjets die tsche chische Provinz und mit ihr ein Sechstel der Welt fest in Zaum. Das war der Horror. Dieses globalisierte Chaos jetzt, das ist die Freiheit. Die Verficktheit der Innenstädte zeugt von der Rei sefreiheit, rede ich mir beruhigend ein. Hier ist es doch genau wie in Florenz, Kyoto oder in Lis sabon. Alle Menschen wollen gleich sein, Un terschiede bringen nur Missverständnisse und

Gewalt. Und ein bisschen übertrieben gesagt wurden wir damals, 1989, in jenem in grauen Vorzeiten liegenden Jahr der osteuropäischen Revolutionen, direkt von Orwell zu Huxley katapul tiert. Nur was ist besser?

Aber vergiss nicht, mein lieber Nostalgiker, dass viele der hiesigen Onkels und Tanten Spitzel waren, und dass sie jeden Spruch, der hier zwi schen Papa und seinen Freunden fiel, gleich wei termeldeten. Er traf sich hier nämlich mit Dissidenten, den Gegnern des Regimes. Manchmal wanderte der eine oder andere in den Knast. Unser Vater nie. Das hat uns, die ganze Familie, damals ziemlich gequält, es machte sich nicht gut, wenn der Papa nicht von Zeit zu Zeit im Gefängnis saß. Später habe ich verstanden, warum mein eigener um den Knast herum gekommen ist. Im Gegensatz zu anderen Dissidenten schrieb er nicht über die Erbärmlichkeit des Regimes, sondern über seine eigene. Deswegen kann man sein Zeug bis heute noch lesen. Die paar Seiten, die geblieben sind. Den Rest hat er verbrannt. Über das Regime zog er zwar genau so her wie die anderen; einen würdigen Gegner lieferte ihm aber erst das unergründliche Uni versum, die bestürzende Tatsache der mensch lichen Sterblichkeit und auch seine Depression, diese Eisablagerung auf seinem Hirn. Damit werden Viele geboren.

So richtig passte Vater nie in das Dissidentenmilieu hinein, auch weil er vom Dorf kam. Nie hat er gelernt, wie man telefoniert oder die Stra ße bei Rot überquert, aber handwerklich war er geschickt. Ich selbst wurde natürlich Under ground-Aktivist. Nachdem man mich zum ers ten Mal eingelocht und wieder entlassen hatte, wurde ich endlich erwachsen. Für die meisten meiner Freunde war der erste Knast eine Initiati on. Mama und meine Schwestern gaben für die Nachbarn eine Party, so wie sich das gehörte. Sie

reichten Kekse aus der Wochenration herum und lobten mich pausenlos: Der steckt Ohrfei gen ein, ohne mit der Wimper zu zucken! Wei gert sich auszusagen! Ja, der Junge ist schon ge schickt, murmelten die Onkels anerkennend und schoben sich den nächsten Keks in den Mund... Bei den Mädchen im Viertel registrier te ich, wie mein Ansehen kometenhaft anstieg. Und Vater? Der hatte sich irgendwo verkrümelt. Wahrscheinlich vor Scham. Ihn hat man nicht eingesperrt. Das war er denen nicht wert! Genau damals fing er an, in der Wildnis unterzutauchen. Härtete sich ab und übte fürs Zuchthaus. Er war sicher, dass es eines Tages kommt. Er schlief im Wald. Meine Inhaftierung hat ihn angeblich zu einem Zyklus über die Erbärmlichkeit des Vaterdaseins inspiriert. Zu einer Lyrik, die aus der er schreckenden Erkenntnis hervorsprudelte, unfähig zu sein, das eigene Kind zu beschützen. Mit einem Holzstückchen soll er die Verse in den Schnee gekritzelt haben um sich dann in Selbstbeherrschung zu üben, indem er sie wie der verwischte. So ist wohl seine von nieman dem je gelesene Gedichtsammlung Erbärmliche Schneeflocken entstanden.

Ich sehe mich um. Ja, wir haben hier gerne ge gessen. Solange unsere Familie noch zusammen war. Zuerst waren meine kleinen Schwestern ab gefallen. Iveta und Klára konnten in der Haupt schule dem Werben der Staatssicherheit (StB) nicht widerstehen und fingen an, mit Auslän dern ins Bett zu gehen. Angeblich sollten sie die strategischen Pläne der NATO, das Waffenpo tential und den Stand der westlichen Wirtschaft auskundschaften. Ich glaube, in Wirklichkeit haben die kleinen Luder bloß die an Körperhygiene gewohnten westlichen oder arabischen Männer mit ihren Cremes und Shampoos ge nossen, die Schule geschwänzt... und Lebens mittelpäckchen für zuhause organisiert. Ich war

damals in der Wachstumsphase; was schmeckte, verschlang ich in rauen Mengen. Dafür bin ich meinen Schwestern bis heute dankbar. Und bete für ihre Seelen. Klára wurde Offizier der Staats sicherheit. Sie zog in die Kaserne. Iveta hat in ein fernes fremdes Land geheiratet. Ich glaube, sie wollten vor allem nicht mehr mit Vater zu sammen leben. Manchmal rüttelte er sie mitten in der Nacht wach, weinte und jammerte, dass ihm ein Vers fehlte... und wollte von ihnen wis sen, wo er als Vater versagt hatte, dass aus seinen Töchtern widerliche Flittchen und Spitzel geworden sind... sie motzten immer was zurück und Papa rannte zum Schreibtisch um sein Gedicht zu beenden. Die Lover, Militärberater und Waf fenmagnaten glaubten meinen Schwestern nie, dass sie die Augenringe und den vor lauter Schlafmangel taumelnden Gang ihrem Dichter-Vater zu verdanken hatten. Manchmal bekamen sie von den eifersüchtigen Herren sogar eine richtige Tracht Prügel verabreicht. Und wenn sie sich beschwert haben, wurden sie auch von ihren StB-Freiern verdroschen. Was war ich froh, kein Mädchen zu sein! Auch wenn meine Schwester chen ziemlich früh aus dem Haus gingen, ha ben sie dem Vater eine ganze Menge Material zum Thema Erbärmlichkeit hinterlassen. Unse re Klára wurde eines der ersten Opfer der Volksaufstände von 1989. Sie leitete den Polizeieinsatz gegen die Studenten auf der Národní Straße. Die studentische Horde wohl alles Hörer der mathematisch-physikalischen Fakultät hat sie aus dem Transporter gezerrt und an eine Straßenlaterne gehängt, unter der dann ein paar Streber noch ein kleines Feuerchen entfachten. Ivetas Schicksal nahm eigentlich keinen glücklicheren Lauf. Sie ist während der Bombardie rung Bagdads umgekommen. Damals war sie die elfte Frau des Kalifen Umar Barshagiza, in dessen Bett die Partei sie einst beordert hatte. Heute ist in Bagdad ein Platz nach ihr benannt.

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Direkt gegenüber dem königlichen Palast, ja, Iveta Square, das ist er.

Unsere Mama, die immer schon fest entschlos sen war, fast alles auf der Welt zu ertragen, wein te sich ordentlich aus und stellte Vogelhäus chen für ihre Seelen vors Fenster. Eine alte tschechische Sitte, die weder die Christen noch die Kommunisten ausrotten konnten. Man braucht Speck, Brot und vor allem frisches Wasser dazu. Die Seelen der Verstorbenen kommen als Schat ten kleiner Vögel zum Vogelhäuschen. Wenn du mit ihnen redest und die Vögel das Futter annehmen, merkst du, wie deine Trauer allmählich weniger wird. Die Seelen können noch neun Mo nate nach dem Tod erscheinen. Dann brauchen sie keine Hilfe mehr. Vater hat nie etwas in das Vogelhäuschen hinein gelegt, kein einziges Krü melchen. Und auch wenn die beiden kleinen Schattenvögel, manchmal auch im eisigen Frost, vor dem Häuschen geduldig von einem Bein auf das andere traten und ihre Köpfchen zu seinem Fenster hin drehten, hat er nie ein Wort zu ihnen gesagt. Er hatte keine Zeit, er schrieb. Damals ist das Drama Klebenbleiben entstanden, worin er zum Ausdruck brachte, wie sehr er darun ter litt, die väterliche Liebe zu seinen toten Töchtern nicht loswerden zu können, die ihm zu ih ren Lebzeiten scheißegal waren. Ihr Tod rüttelte ihn so auf, dass er sofort damit begann an Ver fall zu arbeiten. Den Schmerz seiner durch die Kälte des Universums verletzten Seele projizierte er diesmal auf seine unmittelbare Umge bung, wobei eine gewisse Widerspiegelung der Realität nicht zu vermeiden war. Das wurde als Regimekritik verstanden. Das Prag des Spätso zialismus fiel auseinander. Das Gedicht besang die Todessehnsucht aller Lebewesen und verglich den Zerfall des Staates mit dem gewöhnlichen Schicksal eines überalterten Organismus. Vaters Worte rochen scharf nach Kanalisation, nach morschem Mauerputz und stehender Luft, deren Pestgestank kaum durch die leichte Bewegung der bolschewistischen Banner über den Polizeistationen und Folterkammern abge schwächt wurde. Scharf riechendes Hirn hieß das Gedicht. Diesmal sah es nach einem echten Durchbruch aus. Das durch den Knast kleiner gewordene Häufchen seiner Dissiden tenfreunde ließ ihn endlich mal hochleben. Va ter wurde sogar zum Verhör abgeholt. Aber er wurde wieder nicht verhaftet. Die Ermittlungs beamten fanden seine Verse nicht gefährlich, nur blöd. Das Regime war nämlich gerade dabei, seine Tak-tik zu ändern. Es sollten keine Märty rer mehr entstehen, deren Verse die unterjochte Nation zum Widerstand aufrüttelten. Vater flog im hohen Bogen aus der Polizeistation, wurde öffentlich für verrückt erklärt und bekam dafür vom Regime eine (korrumpierende!) Rente zu erkannt. Mama und ich haben uns über die Mo neten gefreut. Vater aber lief wie ein Körper ohne Seele herum. Das Maß seines Unglücks nahm noch zu, als anders als bei vielen ande ren Dissidenten sein Werk im Westen weder übersetzt noch herausgegeben wurde. Es war zu depressiv. Die Kopfrente, Papas einziges Hono rar, erschien uns daher wie ein Geschenk des Himmels. Aber Mama hat sich darüber nicht lange freuen können.

Mit Vater hatte ich ständig Zoff, schon zu Ma mas Lebzeiten. Obwohl er nicht in der Lage war, außer sich noch jemanden wahrzunehmen, was für Menschen mit einer depressiven Eisablage rung auf dem Hirn ganz normal ist, fiel es ihm doch auf, dass ich als Underground-Aktivist Ar beit Arbeit sein ließ. Und die Rente verfutterte, die ihm für seinen Wahnsinn zugesprochen worden war. So hatte er sich das Leben mit dem letzten verbliebenen Kind nicht vorgestellt. Er ermahnte mich fleißig zu sein. Warf mir häufig

vor, dass ich mich nicht um eine eigene Rente kümmere. Er konnte nicht ab, wenn meine Al tersgenossen, auch sie Underground-Aktivisten, sich bei uns trafen. Bis tief in die Nacht disku tierten wir, wie das Regime zu stürzen sei und Vater beschwerte sich, er könne nicht schreiben. Damals war er schon älter, über vierzig, und ich glaube, er hat uns junge Menschen nicht richtig auseinander halten können. Ihr seid eine einzige Herde, mit euren langen Haaren und Flugblättern..., schimpfte der Individualist und Einsiedler über unsere Bewegung.

Für die Wintermonate verdrückte sich Vater seelenruhig in die Berge, meistens ins Riesengebirge in irgendeine Ruine von den Deutschen. Manchmal nahm er uns mit. Die einsamen Berghütten überließen ihm seine erfolgreicheren Dissiden tenkollegen, deren Bücher im Westen erschie nen, oder die heimlich Drehbücher für das sozialistische Fernsehen schrieben. Als Gegenleis tung versprach Vater ihnen das Haus zu reno vieren, und das tat er dann den ganzen Winter. Auch um nicht zu erfrieren. Nicht mal dort, wo wir waren, gab es einen Ofen. Und so konnte Vater nicht schreiben, er konnte seine Werke nur denken. Damals vertrat er die Meinung, es wäre am besten, wenn ihm Gedichte nur zustießen. Dass er geschickt war, habe ich schon gesagt. Er legte Holzfußböden, reparierte morsche Bal ken, reinigte Brunnen. Stellte Fallen auf, fing Hasen mit der Schlinge, ein paar Mal hat er so gar mit dem Traktor ein Reh erlegt. Er brachte mir bei, wie man Tiere häutet, und wenn ich mich geschickt anstellte, durfte ich mir aus dem Fell etwas Mondänes nähen. Eine Badehose zum Beispiel. Die waren im Sozialismus kaum zu kriegen. Manchmal war Vater die Ar beit leid, packte seine Axt und Streichhölzer zu sammen und zog in den Wald, um dort zu über wintern. Einmal hat er dabei mich und meine Mutter in einer dieser Bruchbuden zurück ge lassen. Schlecht ging es uns nicht, wir pickten uns aus den Balken Larven heraus und bevor der Bach zugefroren war, feierten wir wahre Fischorgien. Es war furchtbar kalt, aber an die von Vater neu gezimmerten Balken oder Holz dielen trauten wir uns nicht heran. Wir warteten auf den Frühling und wechselten uns ab beim Fallenchecken. Einmal machte Mutter einen falschen Schritt und das Fangeisen schnappte um ihr Fußgelenk. Sie war geübt darin, der Welt ih ren Mut zu beweisen, also schrie sie nicht, son dern versuchte die Falle mit einem Taschenmes ser zu öffnen. Wäre sie eine Wölfin gewesen, hätte sie sich den Fuß abgenagt. Zum Glück war ich ihr ziemlich bald nachgegangen, mit einem Fangeisenheber in der Hosentasche, ihr Bein war schon blau angelaufen. Eingewickelt in Decken lag Mutter fiebernd auf dem Holz fußboden. Zuerst habe ich die Balken verbrannt. Dann habe ich überall um sie herum die Holz dielen herausgerissen und auch diese verbrannt. Es war klar, dass Mutter ins Krankenhaus muss te. Aber wie sollte ich sie dorthin bringen? Mit Vaters Hilfe war nicht zu rechnen.

Wir hatten ein riesiges Glück. Der Dissident, von dem Vater das Haus geliehen bekommen hatte, war gerade aus dem Knast ausgebrochen. Und wollte sich schnurstracks in seiner Bruch bude verkrümeln. Die Ruine hatte er schwarz gekauft, die StB hatte keine Ahnung davon. Er kam mit einem Schlitten, der von einem Pferd chen gezogen wurde, und hatte absichtlich ei nen langen Umweg durch die Wälder genom men. Wir mussten aber schleunigst ins Kran kenhaus. Der Dissident, einer der besten Köpfe im heimischen Widerstand, entwarf einen bra vourösen Rettungsplan. Wir tarnten uns als Dorfburschen auf dem Dachboden lagen zerlumpte Trainingshosen, speckige Mützen,

von Mäusen angenagte Pelzmäntel wir tran ken Wodka direkt aus der Flasche, wankten und schrieen herum... Auf der Kreuzung winkte uns jede Polizeiwache nur durch... Als normale und unauffällige Dorfleute hatten wir Mama in ein paar Tagen ins Krankenhaus geschafft. Es war ein enormes Risiko, das dieser Onkel Dissident damals eingegangen ist, und ich bin ihm bis heute sehr dankbar. Als mein erstes Buch er schien, damals, nach dem Fall des Eisernen Vor hangs, habe ich ihm bei meinem Leben schwö ren müssen, nie über ihn zu schreiben. Mein Wort darf ich nicht brechen. Werde also den Namen von diesem mutigen Menschen, der später sogar Präsident wurde, nicht verraten. Im Kran kenhaus hat man Mutter gerettet. Später wurde sie dann während einer sommerlichen Dissidentendemonstration gegen eine gemeinsame Mili tärübung aller Brudervölker von einem Panzer überfahren. Er hat sie nur deswegen überfahren, weil sie ihr Bein nicht so schnell bewegen konn te, das Bein, das von der Falle ramponiert wor den war, während Vater es sich irgendwo in der Einsamkeit hatte gut gehen lassen. Noch lange nach Mutters Tod waren weder er noch ich scharf auf gemeinsamen Umgang.

Nach 1989, während jener aufregenden Momente, als in den ehemaligen Sowjetprovinzen das Orwellsche Gesetz zum Huxleyschen Impera tiv mutierte, hat Vater in einem Kleinseitner Palais unter der Burg einen Job als Hausmeister bekommen. Das Palais war eine ehemalige Fol terkammer und gehörte dem einzigen tschechischen Dissidentendichter, der für seine Lyrik den Nobelpreis eingefahren hat. Es war ein Ge schenk der StB, weil er von einer Anzeige abge sehen hatte. Für meinen Vater, den erfolglosen Autor par excellence, muss der Dienst für den weltberühmten Poeten eine einzige Orgie der Erbärmlichkeit bedeutet haben. Genuss pur. Er ging auf die Sechzig, er fing an, seine Werke zu verbrennen und mit den von Asche geschwärzten Fingern werkelte er im Palais am Fußboden, an den Balken, am Brunnen. Die Freiheit unseres Landes änderte keinen Deut an unserer ver bissenen Beziehung. Im Gegenteil. Ich nehme an, Vater wäre froh gewesen, hätte nach den Schwestern und nach unserer Mutter auch ich den Löffel abgegeben. Dann wäre er endlich ganz alleine auf der Welt gewesen und hätte es richtig auskosten können. In so einem Schmerz die ganze Familie überlebt zu haben! hät ten sich seine heulenden Verse bestimmt ver mehrt wie Maden in einer Wunde. Da hätte er den Ofen ordentlich anheizen können. Diese Freude habe ich ihm aber nicht gemacht. Um den Papa zu ärgern, bin ich sogar nach ein paar Jahren euphorischer Freiheitsbegrüßung Absti nenzler geworden. Keine Drogen, kein Alkohol. Ja, das hat ihn verletzt. Jedes Mal, wenn wir uns begegneten, war es förmlich zu hören, wie uns die Messer in der Tasche aufgingen.

Beinah zwei weitere Jahrzehnte sind vergangen und ich komme fast täglich bei meinem Vater vorbei. Manchmal tut er, als ob er mich nicht sieht. Jetzt helfe ich ihm. Es geht ihm nicht gut. Durchsichtige Hände mit Fingern, die von Asche zerfressen sind. Zittrige Gedanken. Löwenkopf mit langer grauer Mähne. Schon lange gehört er zu den letzten alten Menschen, die unter der Prager Burg wohnen. Auf der Kleinseite gibt es vielleicht noch ein paar Hundert von ihnen; dieses Viertel ist längst nichts mehr für Alte. Unter den Horden von Besuchern aus der ganzen Welt, die hier die Straßen verstopfen, schlur fen noch hier und da die letzten Ureinwohner. Übelriechende Dissidenten der Huxleyschen Welt, peinliche Anschauungsobjekte für Krank heiten und Alterungsprozesse, Erinnerungen an den Eisernen Vorhang. Sie werden von den

Touristen ebenso eifrig geknipst, wie der Sensenmann auf der astronomischen Uhr am Altstäd terring. Die Tucˇková, schon alt als ich zur Welt kam, füttert jeden Tag die Möwen an der Mol dau, mit einem roten Tuch um den Hals, als ob es ein Geschenk von Stalin persönlich wäre. Der fette Horyna, von den Kindern Kostej der Un sterbliche genannt, drückt jeden Tag im Parterre in der Mostecká sein furchtbares Gesicht gegen die Fensterscheibe, rot wie eine zerkochte Sauerkirsche, und jagt damit den Touristen Schrecken ein. Seine Nachbarin, die alte Mocková, schüttet manchmal ihren Nachttopf über die Touristenköpfe aus. Dass sie alt sind ist nicht schlimm, die Stadträtin Kosˇtálová verteidigt ihre Idee, diese und ähnliche Störenfriede in irgend welche Sanatorien wegzuräumen. Aber sie sind so... anders! , piepst sie, selbst über ihre Unkor rektheit entsetzt, in die Stille der Krisensitzung. Wie mein Vater haben alle diese Alten ihre Kindheit in einem Weltkrieg verbracht. Die meisten nur mein Vater nicht! haben hart gearbeitet. Viele von ihnen glauben bis heute, dass man Kleider flicken und Socken stopfen kann, dass alles, was auf den Teller kommt, auf gegessen werden soll, und dass Altpapier in die Sammelstelle gehört. Das macht sie nicht nur für Bestattungsunternehmen, sondern auch für Ethnographen interessant. Ja, der Kontakt zu unseren Ältesten erinnert stark an die Begeg nung einer Forschungsexpedition mit wilden Stämmen am Amazonas. Bald wird es die einen und die anderen nicht mehr geben. Deswegen arbeiten die Stadträtin Kosˇtálová und ich an einem Plan, ein paar ausgesuchte Exemplare der alten Generation in die Ewigkeit zu verschieben. Wir wollen die letzten von ihnen als mechanische Puppen nachbauen lassen. Keine gespens tischen, sondern möglichst realistische Robo ter: eine Erinnerung an das 20. Jahrhundert. Natürlich möchte ich, dass auch mein Vater durch eine solche Puppe ersetzt wird. Deine Erbärm lichkeit, lieber Papa, werde ich in die Ewigkeit retten, verzaubert in einen Roboter. Damit sich die Schulkinder im Vorbeigehen über das wie es damals war vor Angst schütteln. Sie werden, lie ber Papa, dermaßen erschüttert sein, dass sie, blind für die Kälte des eigenen Universums, nicht einmal auf die Idee kommen werden, über ihre eigene Erbärmlichkeit nachzudenken. Und diese Blindheit, die ist dann erst erbärmlich, oder? Ja, das müsste dir gefallen, Vater.

Das Krankenhaus unter der Burg. In der Alten station röcheln ein paar an Röhren angeschlos sene Ruinen. Vater ist in sich zusammengefal len, geschrumpft. Wo sind seine Hände? Aha, angegurtet. Er ist nur noch ein großer Kopf auf einem Kopfkissen. Ein Kopf mit einer Mähne dreckiger, grauer Haare. Er schlägt die Augen auf. Und zieht eine Grimasse. Aha. Falls er ge dacht hat, alles sei schon zu Ende, und auf ein mal sah er mich, muss ihn das sauer gemacht haben. Mit einem Zollstock aus Holz messe ich den Umfang seines Kopfs. Seine Schläfen. Und erzähle ihm flüsternd von der Puppe. All das Gespenstische, was von ihm übrig bleibt, wird durch sie in die Ewigkeit befördert. Erbärmlich keit forever. Er lächelt. Ja, das hab ich mir immer gewünscht, dass mich mein Papa auf dem Ster bebett anlächelt. Lieber messe ich seinen Kopf noch einmal. Der Zollstock rutscht nämlich an den Haaren ab. Ich will es genau haben.

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová Jáchym Topol 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war sechzehn Jahre alt, als er die Charta 77 unterzeichnete. Schon vor 1989 eine Kultfigur des literarischen und musikalischen Underground ist er heute der bekannteste tschechische Autor seiner Generati on. Auf Deutsch erschienen bei Suhrkamp zuletzt die Ro mane Nachtarbeit (2001) und Zirkuszone (2007).

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prag im frühling. berlin

Die Schriftsteller Martin Becker und Jaroslav Rudisˇ haben sich 2006 dort ken nengelernt, wo wunderbare Freundschaften in Tschechien fast immer begin nen: in der Kneipe. Noch während ihrer ersten Kneipentour, so will es die Legende, erreichte beide Autoren die Anfrage, ob sie gemeinsam für das Pra ger Theater Divadlo Archa ein Libretto für eine Kammeroper über das Jahr 1968 schreiben wollen, die im Rahmen des Themenschwerpunkts 68/89 im Programm ZIPP deutsch-tschechische Kulturprojekte * der Kulturstiftung des Bundes im Herbst 2008 ihre Uraufführung erlebt. Die bei den Autoren ließen sich spontan auf das Abenteuer einer deutsch-tschechischen Text-Koproduktion ein. Im folgenden Frühling, Sommer, Herbst und Winter haben sie zwischen Böhmen, Berlin und dem Sauerland am Libretto gearbeitet. Selbstverständlich grundsätzlich in der Kneipe. Dies ist ihr Arbeitsprotokoll.

erstens. prag im frühling. Das erste Bier wird gebracht. Das zweite Bier wird gebracht. Einige Stunden vergehen.

Also, wie wollen wir es machen?

Auf böhmische Art!

Und wie geht die?

Wir bestellen Bier, gucken in der Landschaft herum, reden über Gott und die Welt und morgen früh haben wir eine erste Fassung.

Was trinkt der Tscheche eigentlich so am Tag?

Vormittags ein alkoholfreies Bier. Mittags ein kleines Bier. Nachmittags ein alkoholfreies Bier. Abends ein großes Bier. Als Schlaftrunk den billigen, tschechischen Rum.

Wird schon dunkel! Ist das nicht gefährlich hier in Z ˇ izˇkov, mitten in der Nacht?

Ach was, Ihr Deutschen habt einfach zu viel Angst. Abends kann ich eh besser schreiben. Nimm noch ein Bier. Alter böh mischer Trick gegen die Angst.

Und dann fangen wir an?

Dann fangen wir an!

Einige Stunden vergehen.

ansichtskarte an den prager operndirektor. Lieber Operndirektor, wir sind hier in Praha und verbringen die ganze Zeit am Schreibtisch. Aber es lohnt sich. Die Form der Oper kommt uns sehr entgegen. In nur einer einzigen Nacht haben wir gestern schon zwei Fassungen geschafft. Wir würden nur gerne noch drüber schlafen, bevor wir sie Dir zeigen. Hoffentlich ver stehst Du das. Die liebsten Grüße senden Dir JR und MB

Ausgerechnet eine Oper. Unter uns, ich würde lieber ein Theaterstück schreiben. Ist leichter. Oder nur eine Kurzoper. Ihr Tschechen wollt es immer so leicht wie möglich haben. Und ihr Deutschen müsst aus allem eine mathematische Gleichung machen!

Aber denk doch an die Musik. Das ist der Reiz. Jeder Ton ein kleiner Sieg. Gegen den Tod. Was wir brauchen, ist eine Oper, wo sie niemand vermutet.

Das fünfte Bier wird gebracht. Das sechste Bier wird gebracht. Nacht. Am nächsten Morgen erwachen beide Autoren aus un ruhigen Träumen und entdecken auf dem Nachttisch einen Pilsener-Bierdeckel, auf welchem in sehr kleiner Schrift Fol gendes steht: notizen I ORT: SCHMUTZIG. UND HERUNTERGEKOMMEN. NICHT WENZELSPLATZ. NICHT BRANDENBURGER TOR. SONDERN EINE RASTSTÄTTE. IRGENDWO AN DER AUTO BAHN ZWISCHEN BRANDENBURG UND BRNO. /// EFFEKT: EINE OPER, WO SIE NIEMAND VERMUTET. /// ZEIT: MIT TEN IM JETZT. UND IN DER NACHT EIN WUNDER. ODER SOWAS IN DER ART. /// ELEMENTE : LIEDER. SONGS. AUCH ARIEN. UND MONOLOGE. UND GEREDE. /// FIGUREN : SIE MÜSSEN MELANCHOLISCH SEIN. SIE MÜSSEN GESCHEI TERT SEIN. SIE MÜSSEN 40 JAHRE ZU SPÄT KOMMEN, UM DIE WELT NOCH ZU RETTEN. SONGTEXT VERSUCH EINS : /// DIE ÄRA DER SAUFEREI / IST HIER SEIT VIERZIG JAHREN VORBEI / WIR LEBEN IM ZEITALTER DES KATERS / UND DAS ENDE DER ROTEN FAH NENSTANGE / IST LÄNGST ERREICHT ///

zweitens. sauerland im sommer. Das erste Bier wird gebracht. Das zweite Bier wird gebracht. Einige Stunden vergehen.

Ist wie in Lomnice hier. Schöne Berge. Schöne Stille. Schöne Leere. Land halt. Was denkt wohl der Sauerländer über den Tschechen?

Drüben kann man immer noch billig einkaufen. Auf der Karlsbrücke werden Träume wahr. Und Karel Gott sollte endlich heiraten.

Hat er! Zum ersten Mal in seinem Leben. In Las Vegas, da waren alle Tschechinnen neidisch.

Die deutschen Frauen auch.

Wo war Karel Gott eigentlich 1968 ?

Mit Biene Maja im böhmischen Paradies.

Und woher kommen unsere Leute?

Von der Autobahn.

Und wo waren sie vorher?

Auf der Autobahn.

Und wohin gehen sie nachher?

Dahin zurück. Für immer. Wie immer.

Sehr traurige Vorstellung... irgendwie.

Nimm noch ein Bier. Alter böhmischer Trick gegen die Schwermut.

Und dann fangen wir an?

Dann fangen wir an! Einige Stunden vergehen.

ansichtskarte an den prager operndirektor. Lieber Operndirektor, wir sind im Sauerland und haben die Wohnung seit Wochen nicht mehr verlassen. Wir feilen derzeit an der fünf ten Fassung und bitten um Geduld. Die liebsten Grüße senden Dir JR und MB

Wo warst Du denn eigentlich 1968

Im Ruhrpott. Im Bergwerk, bei den Kohlen. Und Du?

Ameisen fangen im böhmischen Paradies.

Klingt wie ein Märchen.

Wahrscheinlich geben die Märchen uns Tschechen das, was uns an Größe in der Geschichte fehlt. Aber sie sind nicht so grau sam wie die deutschen.

Die tschechischen Märchen können auch anders. Hab ich Dir mal von Frau Not erzählt? Ein Puppenspiel. Eine alte Frau fährt von Dorf zu Dorf und verwüstet ein Haus nach dem ande ren. Jahrelange Alpträume. Manchmal glaube ich, dass ich nur wegen Frau Not mit Schreiben angefangen hab.

Ein Märchen. Wir müssten eigentlich ein Märchen erzählen.

Das Märchen von 1968 ? Die deutsche oder die tschechische Version?

Unsere eigene.

Das fünfte Bier wird gebracht. Das sechste Bier wird gebracht. Nacht. Am nächsten Morgen erwachen beide Autoren aus un ruhigen Träumen und entdecken auf dem Nachttisch eine Wanderkarte des Sauerländischen Mittelgebirges, auf welcher in schwungvoller Handschrift Folgendes steht: notizen I I STORY: DER ORT IST EINE ART MOTEL REVOLU TION. ES GIBT EINE BAND, DIE JEDEN ABEND SPIELT, WEIL DIE JUKEBOX SEIT JAHRZEHNTEN AUSSER BETRIEB IST. EIN SCHILD AN DER TÜR: HERZLICHE EINLADUNG ZUR GROS

SEN GEBURTSTAGSFEIER. 40 JAHRE MOTEL REVOLUTION. /// DIE STAMMGÄSTE : RUDI, REVOLUTIONÄR AUS DEUTSCH LAND, VERKRACHTER KERL. ALEXANDER, REVOLUTIONÄR AUS DER TSCHECHOSLOWAKEI, VERSOFFENER HOCHSTAP LER. /// HANDLUNG : DER CRASH. HALBTOT STEHEN PLÖTZ LICH ALLE IN DER BAR. DAS JUNGE PAAR. IHR AUTO NUR NOCH SCHROTT. UND DIE BEIDEN ALTEN. DER LKW. ALEX ANDER. RUDI. ZU SPÄT, SAGT DAS ALTE MÜTTERCHEN HIN TER DER THEKE, IHR SEID VIEL ZU SPÄT. TOTENTANZ. DAS JUNGE PAAR REIBT SICH DIE DEUTSCH-TSCHECHISCHEN AUGEN. DIE WIRTIN WIRD MELANCHOLISCH. SINGT: /// DIE KUNST IST AUCH / SCHON TOT / WAS BLEIBT IST / NUR DIE EINSAMKEIT / UND DIE LIEBE.

drittens. berlin im herbst. Das erste Bier wird gebracht. Das zweite Bier wird gebracht. Einige Stunden vergehen.

Unaufhörliche Bewegung. Alles lebt. Das ist Berlin! Hab im mer davon geträumt, hier zu sein. Und bin in Prag gelandet. In einem Museum für Touristen aus Sachsen und aller Welt. Die Stille dort ist manchmal der Tod. Ich wollte immer nach Berlin.

Ich auch. Schon als Kind. Stattdessen hatte ich Wellensit tiche. Meine ganze Kindheit über.

Mein Gott, Sittiche! Unserer kam aus Bautzen. Und konnte sogar sprechen.

Deutsch oder Tschechisch?

Beides. So sollten wir übrigens unsere Oper erzählen! Mit Wellensittichen?

Nicht vom Großen klein erzählen, sondern übers Kleine das Große!

Versteh‘ ich nicht.

Nimm noch ein Bier. Alter, böhmischer Trick gegen die deut sche Begriffsstutzigkeit.

Und dann fangen wir an?

Dann fangen wir an! Einige Stunden vergehen.

ansichtskarte an den prager operndirektor. Lieber Operndirektor, Berlin ist sehr inspirierend. Wenn wir nicht im Museum sind, sitzen wir am Schreibtisch. Wir wissen, dass Du langsam ungeduldig wirst, aber wir wollen Dir erst Texte zeigen, wenn wir sie wirklich überzeugend finden. 1968 ist schließlich ein schwieriges Thema, und wir wollen mit unseren deutschtschechischen Beziehungen verantwortlich umgehen. Die liebs ten Grüße senden Dir JR und MB

Also: Der Sittich zum Beispiel war von einer befreundeten Familie aus der DDR . Der Mann war ein Lokführer bei der Deut schen Reichsbahn. Vor fünf Jahren wurde er selbst von einer Lok überfahren. Seine Frau ist jetzt mit einem Bruder von ihm zu sammen. Das ist so eine Geschichte, die ich meine! Nicht 68 89 Historiendramen oder so. Das Kleine erzählen, dann kommt das Große sowieso.

Lebt wenigstens der Wellensittich noch?

Nein. Unser Kater hat ihn zu den Ameisen ins böhmische Paradies geschickt.

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ein deutschtschechisches kneipenprotokoll

von martin becker + jaroslav rudis

Sollen wir uns hier in Berlin nicht lieber mal ein Motto für unsere Oper überlegen, anstatt nur über Wellensittiche zu reden.

Das machen wir doch die ganze Zeit.

Komm, sag einen sehr tschechischen Satz. Dann sage ich ei nen sehr deutschen. Daraus machen wir das Motto.

Okay. Mein Satz ist: Was bleibt, sind die Einsamkeit und die Liebe. Jetzt Du.

Mein Satz ist: Was bleibt, sind die Einsamkeit und die Liebe. Das fünfte Bier wird gebracht. Das sechste Bier wird gebracht. Nacht. Am nächsten Morgen erwachen beide Autoren aus un ruhigen Träumen und entdecken auf dem Nachttisch ein Blatt Papier, auf welchem in gut leserlichen Buchstaben ein fertiges Opernlibretto gedruckt ist. Es beginnt so: exit revolution libretto erste fassung februar 2008.doc: ERSTE SEITE. MOTEL REVOLUTION. EINE DEUTSCHTSCHECHISCHE OPER. /// ORT: EINE HERUNTERGEWIRT SCHAFTETE AUTOBAHNRASTSTÄTTE AM TAG IHRES 40. GE BURTSTAGS. ZEIT: EINE EWIGE NACHT IM SPÄTSOMMER. /// PERSONEN : RUDI, EIN DEUTSCHER EX-REVOLUTIONÄR. ALEX, SEIN BESTER KUMPEL, EIN TSCHECHOSLOWAKE. SIE HÄNGEN NUR NOCH IN IHREN LKWS ODER AN DER BAR. EIN JUNGES, DEUTSCH-TSCHECHISCHES PAAR MIT UNFALL, EI NE BAND, DIE SEIT JAHRZEHNTEN SPIELT. EINIGE PROSTITUIERTE. MITTENDRIN DIE ALTERSLOSE WIRTIN. VIELLEICHT FÜNFZIG, VIELLEICHT ACHTZIG, VIELLEICHT GAR NICHTS. BILD EINS. DIE WIRTIN STEHT HINTER DER BAR. DIE BAND STIMMT IHRE INSTRUMENTE. KEINE MENSCHENSEELE ZU SEHEN. DIE WIRTIN POLIERT DIE GLÄSER. DANN GEHT SIE ZUR TÜR, ÖFFNET, SIEHT SICH UM. KEINER KOMMT. SIE SCHLIESST DIE TÜR, WENDET SICH DER BAND ZU UND RUFT: SPIELT EIN LIED. WAS UNS NOCH BLEIBT, SIND DIE EINSAMKEIT. UND DIE LIEBE! MUSIK.

Im Herbst 2008 erwachen die Autoren eines Morgens aus unru higen Träumen und entdecken auf dem Nachttisch ein ganzes Prager Theater. Sie stehen schnell auf, machen sich fein und be treten anschließend das kleine Theater, um der Aufführung ih rer Oper zuzusehen.

Martin Becker , geboren 1982 in Plettenberg, lebt als Journalist und Schriftsteller in Berlin und wird zu seinem eigenen Unverständnis zum ein zigen Avantgarde-Heimatschriftsteller seines kleinen Sauerlands gezählt. Stu dium am Leipziger Literaturinstitut. GWK -Förderpreis Literatur 2007. Litera turstipendiat der Märkischen Kulturkonferenz 2008. Zuletzt erschienen: Ein schönes Leben , Luchterhand Literaturverlag 2007. Derzeit Arbeit an Hör spielen, Theaterstücken und einem Roman.

Jaroslav Rudisˇ, geboren 1972 in Turnov, lebt als Schriftsteller in Prag und wird zu seinem eigenen Unverständnis laut der Tageszeitung Mladá fronta Dnes zu den 30 wichtigsten Persönlichkeiten seines kleinen Landes gezählt. Auf Deutsch ist 2004 im Rowohlt Verlag der Roman Der Himmel unter Berlin erschienen. Grandhotel erscheint im November 2008 im Luchterhand Literaturverlag. Sein letztes Buch Potichu (Die Stille) ist 2007 in Tschechien erschienen. Er arbeitet auch an Comics, Theaterstücken, Hörspielen und Drehbüchern.

Zip(p) ist der tschechische und international lautmalerisch verständliche Aus druck für Reissverschluss . Die Protokolle sind ein anschauliches und praktisches Beispiel dafür, wie sich Deutsche und Tschechen haltbar und doch leichtgängig verbinden können.

die kulturstiftung des bundes erweitert ihre bilateralen kulturprogramme

zipp — deutsch-tschechische kulturprojekte 2007 – 2009 Nach dem deutsch-polnischen Programm Büro Kopernikus (2004 06 ) und Bipolar , den deutsch-ungarischen Kulturprojekten (2005 07), widmet sich zipp Themen, die in Deutschland und Tschechien von beiderseitigem Interesse sind: etwa Fragen nach dem Erbe der Demokratiebewegung, dem Um gang mit historischen Traumata, den Erfahrungen ökonomischer Transformationsprozesse nach 1989 oder der Zukunft un serer Städte. Vier Themenreihen bestimmen die umfangreichen Projekte im Programm: 68/89 Kunst.Zeit.Geschichte, DeutschTschechische Lebenswelten, Utopie der Moderne: Zlín und Kafka. Die zahlreichen Veranstaltungen in den Bereichen Zeitgeschichte, Kunst, Ethnologie, Radio, Film, Theater und Architektur wer den in intensiver Kooperation zwischen deutschen und tsche chischen Partnern entwickelt und durchgeführt. Mehr Informa tionen unter www.projekt-zipp.de

Den Auftakt von ZIPP bildet ein Themenabend am 30 5 08 in der Akademie der Künste Berlin/Pariser Platz: crossing 68/89. Protest, Reform und kultureller Aufbruch zwischen Prag, Berlin und Paris Im Jahr 2008 jährt sich der Prager Frühling zum 40. Mal, ein Jahr darauf feiert Europa den 20. Jahrestag des Mauerfalls. Mit der Chiffre 1968 verbinden sich in Ost und West unterschied liche Ereignisse, Erfahrungen und lebensgeschichtliche Prägungen. In einer langen Nacht (19 1 Uhr) nähern sich internationale Zeitzeugen, Historiker, Kulturkritiker und Künstler in Perfor mances und Gesprächen, Konzerten und Lesungen dem Prager Frühling und den Studentenprotesten im Westen aus verschie denen Perspektiven an. Dabei geht es um die europäischen und transatlantischen Wechselbeziehungen, den Ideen- und Kultur transfer zwischen Ost und West. Die lange Nacht beginnt mit ei ner Podiumsdiskussion mit Protagonisten der 1968er-Bewegungen verschiedener Länder Europas u.a. mit Oskar Negt, Fried rich Schorlemmer, Jirˇí Dienstbier, Jirˇí Grusˇa, Adam Michnik. Der grenzüberschreitenden Kraft der Popkultur der späten 1960er Jahre, ihren Ikonen und Mythen, widmet sich eine Reihe von Performances und Diskussionen im Anschluss. Projektpartner: Akademie der Künste, Berlin; Sophiensaele, Berlin; Zentrum für Zeithisto rische Forschung, Potsdam; Deutsch-Tschechisches Gesprächsforum

Ein weiterer Veranstaltungshinweis im Rahmen des ZIPP -Pro gramms: kafka. 196 1968 2008 Im Juli 2008 jährt sich der Geburtstag von Franz Kafka zum 125. Mal. Die Konferenz Kafka und die Macht auf Schloss Liblice nahe Prag (24.–25 10 08) erinnert an die legendäre Kafka-Konferenz im Jahre 1963 am selben Ort. Sie gilt als eine der historischen Voraussetzungen jenes Aufbruchs, der fünf Jahre später in den Prager Frühling mündete. Das Spannungsfeld der beiden Daten 1963 und 1968 soll in dieser Tagung vermessen werden, die sich dem Verhältnis Kafkas zur Macht widmet: Hat Kafka, der größte Experte der Macht (Elias Canetti), tatsächlich als Kristallisationspunkt einer gegen die autoritären Regimes sich formierenden Bewegung ge dient? Inwiefern rebellieren Kafkas Texte gegen Repression und hat seine Analyse der Machtverhältnisse auch nach dem Zusam menbruch der totalitären Systeme noch Gültigkeit? Gibt es so etwas wie eine Grammatik der Macht, gegen die Kafkas Werk anschreibt? Zeitzeugen, Politiker, Diplomaten, Publizisten His toriker, Philosophen, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler be streiten die Tagung mit einer Reihe von Vorträgen und Diskussionen. Partner der Konferenz sind das Institut für Textkritik e.V. ( ITK ), Hei delberg; Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg und die Tsche chische Akademie der Wissenschaften, Prag.

im herbst. kulturstiftung des bundes magazin 11 tschechien *
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1 Russischer Vormarsch auf Wien, April 1945

4 5 6

2 Potsdamer Konferenz, Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin, Juli 1945  Kriegsgefangene in Berlin, Mai 1945 4 Wien 1945 5 Budapest 1945 6 Freude über den Sieg der Roten Armee, Budapest, März 1945

im akkord die kulturstiftung des bundes knüpft ein bundesweites netzwerk neue musik mit mehr als 250 partnern

Entgegen allen Usancen die schlechte nachricht zuerst: Die Neue Musik zieht kein Massenpublikum an. In der öffentlichen Wahrnehmung fehlt es ihr an jener Selbstverständlichkeit, mit der andere zeitgenössische Kunstformen Teilhabe am kultu rellen Leben beanspruchen. Neue Musik führt ein Nischenda sein in den Nachtprogrammen des öffentlich-rechtlichen Rund funks und kommt da auch nicht raus. Der Besuch von Ausstel lungen modernder Bildender Kunst gehört seit längerem zur Le bensart, wohingegen das Hören konzertanter Musik im Allgemeinen und das Hören Neuer Musik im Besonderen unter das Ver dikt voraussetzungsvoller Hochkultur und anstrengender Bildungsarbeit fallen. Im internationalen Vergleich steht die Neue Musik in Deutschland zwar gut da, ihre Szene ist einmalig in ih rer Vielfalt wie die traditionelle deutsche Musiktheater- und Or chesterlandschaft überhaupt. Doch in ihrer kleinteiligen Fülle und Unübersichtlichkeit entwickelt sie nicht die nötige Kraft, um eine größere Öffentlichkeit für sich zu gewinnen und neue Besucherschichten zu erreichen.

Die gute nachricht lautet in einem Satz: Stimmt alles und ist doch nur die halbe Wahrheit! Das Interesse an der Vermittlung Neuer Musik ist in vielen Städten überraschend groß! Es gibt ein beachtliches Bedürfnis und eine hohe Bereitschaft, sich für die Verbreitung Neuer Musik etwas einfallen zu lassen und dabei die Gegebenheiten vor Ort zu berücksichtigen. Beim Netzwerk Neue Musik der Kulturstiftung des Bundes gingen immerhin 81 Bewerbungen aus ganz Deutschland ein von Kiel bis Passau, von Essen bis Dresden. Schließlich wählte im November 2007 das Kuratorium Beat Furrer, Renate Liesmann-Baum, Chris tian Scheib und Matthias Henke 15 Projekte aus, die unter dem Dach des Netzwerk Neue Musik zu einer gemeinsamen Initiati ve aufbrechen, um der Neuen Musik durch neue Formen der Zu sammenarbeit und der Vermittlungsaktivitäten eine bislang un erhörte Präsenz im öffentlichen Kulturleben zu verschaffen. Die wichtigste Erfahrung aus der Vorbereitungsphase des Netzwerk Neue Musik war: Es lohnt sich, die Entwicklung jedes einzelnen Netzwerk-Projektes in vielen Gesprächen mit den Akteuren und Verantwortlichen vor Ort mit Sorgfalt und Ausdauer zu beglei ten. Die Kulturstiftung des Bundes und das Netzwerk Neue Mu sik-Projektbüro haben großen Wert darauf gelegt, dass die Pro jekte für die Stadt oder Region, für die sie entwickelt wurden, die richtige Größenordnung, eine solide Finanzierung haben und ein für sie passgenaues Thema aufgreifen. Solche Bedingungen sind einzigartig und spiegeln sich auch in der Differenziertheit und Komplexität der Projekte wieder.

Schon der Start des Netzwerk-Programms kann mit eindrucks vollen Zahlen aufwarten: Mit der Fördersumme von 8 Mio. Euro durch die Kulturstiftung des Bundes sind zusätzlich 10 Mio. Eu ro von weiteren, sage und schreibe: 46 Förderern bundesweit be wegt worden hauptsächlich von Ländern und Gemeinden, aber auch von privaten und öffentlichen Stiftungen und ande ren mehr. In den 15 Netzwerk-Projekten haben sich insgesamt 254 Partner zusammengeschlossen je nach Projekt unterschied lich zwischen 5 und 33. Die Netzwerk-Partner bilden einen nahe zu repräsentativen Querschnitt durch das Musikleben: Darunter finden sich unermüdliche Einzelpersonen wie zahlreiche freie Initiativen und Ensembles, Schulen und Musikschulen ebenso wie Musikhochschulen und Universitäten, Verbände und Ver lage ebenso wie Veranstalter, städtische Theater und Orchester wie Rundfunkanstalten und deren Klangkörper. In dieser Fülle hat es Kooperationen und Netzwerkbildung für die Neue Musik bisher nicht gegeben, und es mag sein oder es bleibt wenigstens zu hoffen, dass in dieser bundesweiten Bewegung der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung Neuer Musik eingeläutet oder zumindest im großen Maßstab und beispielhaft vorgeführt wer den wird.

Im Folgenden können die einzelnen Projekte nur kursorisch auf geführt, und es können auch nur einige wenige markante, aber

für die Netzwerk-Idee exemplarische Details benannt werden. (Eine ausführliche Darstellung finden Sie unter www.netzwerkneuemusik.de) In kiel wie in passau, bisher weitestgehend weiße Flecken auf der Neuen-Musik-Landkarte, steht das bewährte Festival-For mat im Zentrum der noch jungen Vermittlungsarbeit, deren Im puls jedoch in der festivallosen Zeit auf breitester Basis von loka len Kräften aufgenommen und weiter getragen wird. In Passau, das am Dreiflüsseeck Donau, Inn und Ilz liegt, wird auf die be sondere geographische Lage Bezug genommen und in einem jährlichen Festival mit einer Reihe von Konzerten, die thematische Leitlinie Alles im Fluss musikalisch interpretiert. So stehen Werke solcher Komponisten im Zentrum, die aus verschie denen Flussregionen (Donau, Isar, Seine, Po, Wolga, Mississippi und Mekong) stammen. Außerdem werden Projekte und musi kalische Stile präsentiert, die an den Grenzen der Genres operie ren. Ortsansässige Komponisten, dort lebende improvisierende Composer-Performer, Musiker, Dirigenten, Chorleiter und Pädagogen engagieren sich gemeinsam dafür, das in Passau und Umgebung vorhandene kreative Potential in Sachen zeitgenös sischer Musik zu bündeln, es ins kulturelle Selbstverständnis der Stadt zu integrieren und der nationalen wie internationalen Neu en Musik in Passau bleibend eine Anlegestelle zu bieten. Ähnlich in moers, wo das renommierte, der improvisierten Musik und dem experimentellen Jazz gewidmete moers fes tival zum ersten Mal seine Stadt mitnehmen wird. Neben spezi ellen Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche können Bür gerinnen und Bürgern Improvisierte Musik in ihrer alltäglichen Umgebung erleben: An Orten wie der Sparkasse, dem Finanz amt, dem Rathaus, dem Arbeitsamt, dem Autohaus und vielen anderen mehr werden hochkarätige Improvisationskünstler ge meinsam mit sachkundigen Moderatoren Gesprächkonzerte veranstalten.

In den Musikmetropolen Hamburg, Berlin, Dresden und Köln sind die Netzwerkpartner freilich von ganz anderen, sicher aber auch verbesserungswürdigen Voraussetzungen ausgegangen; in hamburg entsteht, angesichts der bisherigen Zersplitterung der Neue-Musik-Szene und in positiver Erwartung der 2010 zu eröffnenden Elbphilharmonie ein groß angelegtes Integrationsund Vermittlungsprogramm, das vom herumreisenden KlangContainer bis hin zu gemeinsamen Abonnement-Reihen reicht; in berlin reichert ohrenstrand das üppige institutionalisierte Musikleben durch die konsequente Aufnahme von Im pulsen und Formaten aus der Off-Szene an; in der alten Musik stadt dresden werden bekannte Akteure der Neuen Musik wie die Musikhochschule oder Hellerau gemeinsam mit den traditi onellen Institutionen wie den Philharmonikern oder dem Welt kulturerbe der Staatskapelle gemeinsam Programme machen und diese vermitteln; in der neuen Musikstadt köln, wo bisher eine schier unübersehbare Zahl von Akteuren, Initiativen und Veran staltern weitestgehend unabgestimmt Neue Musik machte, ha ben sich alle (!) 33 großen und kleinen Partner zu einer Initiative zusammengeschlossen, die ein einziges Produktions- und Ver mittlungsnetzwerk nachhaltig auf- und ausbauen wird. Langfris tig soll hier ein neues Zentrum für die Neue Musik entstehen. Ähnlich verhält es sich in freiburg im Breisgau, das für eine Stadt dieser Größe überreich bestückt ist mit Ensembles für Neue Musik. Erstmals in der Geschichte der Stadt und der Region kommt es im Rahmen des Netzwerk Neue Musik-Projekts zu ei ner koordinierten Zusammenarbeit, zu Austausch und Synergie effekten der bislang unverbunden tätigen Musiker und Ensemb les. Das Projekt verbindet konsequent die künstlerisch-program matische Arbeit der Ensembles mit einer kontinuierlichen Ver mittlungsarbeit sowie einem alljährlichen Festival als großer öf fentlicher Bühne.

Die noch junge und für ihre Arbeit mit Schulen sowie für ihre Programme schon mehrfach ausgezeichnete Philharmonie essen wird in ihre composer-in-residence- Projekte konsequent alle Musik machenden und interessierten Akteure der Stadt ein

binden. Unter dem Motto strukturwandel neues hören und sehen startet in saarbrücken ein Educationund Veranstaltungsprogramm, das dem Publikum nicht nur das genreübergreifende Repertoire der Neuen Musik, sondern auch seine Entstehung sowie die unterschiedlichen kreativen Prozesse vermitteln will. Auf diese Weise will das Saarländische Projekt des Netzwerk Neue Musik den Wandel der Region künstlerisch begleiten und dauerhaft an der Schaffung einer neuen kultu rellen Identität mitwirken. Das Education-Programm richtet sich an Jugendliche, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Auszubildende, insbesondere an solche, deren musikalische Vor lieben eher im Bereich der so genannten U-Musik liegen. augs burg will vom städtischen Musiktheater aus eine originäre und eigene Neue-Musik-Szene von Grund auf mit aufbauen. Das Konzept von Mehr Musik! knüpft an die bereits erprobte Kultur- und Jugendarbeit der Stadt an und nutzt die in der Stadt vorhandene theaterpädagogische Kompetenz und die musik pädagogischen Ressourcen. Leitfaden für die verschiedenen Ver mittlungsprojekte ist das offensichtliche Interesse der Jugend lichen an Experimenten der neuen elektronischen Musik und anderer populärer medialer Spielformen.

Die regionalen Projekte arbeiten erwartungsgemäß stärker in der Fläche: Musik 21 niedersachsen wird ein nahezu flächendeckendes Netz von Kooperationen in Veranstaltungen und Vermittlungsaktivitäten knüpfen, das dem ganzen Bundesland ein klares sowie jederzeit und überall erkennbares Neue-Musik-Pro fil geben soll. So werden zum Beispiel das schon bestehende Pro jekt Zeitgenössische Musik in der Schule oder die schon in einigen Orten angebotenen Kinderkompositions klassen auf ganz Niedersachsen ausgeweitet. Der klangpol oldenburg/bremen setzt innerhalb der Bandbreite der Neuen Musik einen ganz spezifischen Akzent: Im Fokus der Veran staltungen stehen die künstlerischen Ausdrucksformen, die an den Grenzen Neuer Musik zu Film, Bildender Kunst und popu lärer Musik operieren und die den Aspekt der Vermittlung teil weise selbst zum Gegenstand ihrer künstlerischen Praxis machen. Beim Spektrum Villa Musica in rheinland-pfalz versammeln sich zum ersten Mal in Edenkoben, Leiningen, Montabaur, Mainz, Neuwied und Kaiserslautern Nachwuchsmusiker und Dozenten, ausgezeichnete Musikgymnasien, die Akademie für Kammermusik der Landesstiftung sowie weitere kommunale wie Landeseinrichtungen zu einem Projekt-Netzwerk. In dessen Zentrum steht die hochwertige Produktion und nachhaltige Ver mittlung der neuesten Kammermusik sowie der klassischen Mo derne, unter anderem in Schulprojekten, in denen den Schüler/ innen viele verschiedene Facetten der Avantgardemusik vermit telt und auch die Auseinandersetzung mit der regionalen, länd lich geprägten Musikkultur oder der unkonventionelle Umgang mit konventionellen Instrumenten gefördert werden. Und aus stuttgart und um Stuttgart herum entsteht das Netzwerk Süd, bei dem bekannte und bewährte Akteure der Neuen Musik wie Musik der Jahrhunderte, das SWR Vokalensemble oder das en semble ascolta flächendeckend den Speckgürtel der Landeshaupt stadt von Aalen bis Winnenden mit ihren Projekten bespielen und in ihre Arbeit nachhaltig integrieren werden.

Die beste nachricht zum Schluss: Das Programm Netzwerk Neue Musik läuft bis Ende des Jahres 2011. Reichlich Zeit also für die 15 Projekte mit ihren vielen Partnern, überall im Land eine Bewegung für Neue Musik in Gang zu setzen und die Öffent lichkeit dafür zu begeistern. Soviel Anspruch muss sein.

Die Redaktion

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was ist eigentlich neue musik von barbara barthelmes

1Neue Musik wird heute als eine Art universale Kategorie der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts gebraucht. Neue Musik bezeichnet aber keine klar umrissene Epoche und schon gar kein allge meingültiges Stilmerkmal in dem Sinn, dass sich vergleichbar den Entwicklungsstufen und Schulen der musikalischen Klassik oder Romantik ein einheitlicher Kanon herausgebildet hätte, bei dem Hauptrichtungen und Seitenstränge, wegweisende Entwicklungen und Sackgassen endgültig zu unterscheiden wären. Benachbarte Begriffe wie moderne und zeitgenössische Musik oder gar musikalische Avantgarde bilden Schnittmengen innerhalb dieses Bedeutungsrahmens. In all diesen terminologischen Prägungen äußert sich die Anforderung der Aktualität und Zeitnähe, wird die Option auf das Experiment betont, artikuliert sich der Anspruch auf den innovativen, fortschrittlichen oder kritischsubversiven Charakter der Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.

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In der Musikgeschichte markiert das Auftauchen der Musik, die als Neue Musik deklariert wird, die historische Schwelle um 1910, an der ihre verschiedenen Protagonisten das als abgeschlos sene Epoche betrachtete 19. Jahrhundert endgültig hinter sich lassen wollten. Musikgeschichtlich verbindet sich der Bruch mit dem Vorangegangenen mit den Namen Arnold Schönberg, Al ban Berg und Anton Webern, also mit der sogenannten Zweiten Wiener Schule. Aber auch die Protagonisten eines musikalischen Futurismus wie Luigi Russolo und Francesco Balilla Pratella oder singuläre Pioniere wie Edgard Varèse oder Charles Ives zählen zu den bahnbrechenden Neuerern. Ihre Innovationen betrafen alle Dimensionen des musikalischen Kunstwerks: Harmonik, Rhythmus, Klangfarbe, Dynamik, Form und nicht zuletzt den Werkund Kunstcharakter der Neuen Musik selbst. Die Emphase, mit der einer Erneuerung das Wort geredet wurde, zielte eigentlich auf einen außermusikalischen, politisch-gesellschaftlichen To pos: die Revolution. Man sprach von Befreiung aus den Fesseln musikalischer Konventionen und akademischen Verkrustungen. Für den Hörer jedoch bedeutete das Neue zunächst die Aufkün digung einer Reihe von Konventionen und Hörgewohnheiten. Bisher war er daran gewöhnt, dass vorübergehend eingesetzte Dissonanzen stets zu ihrer Auflösung tendieren, dass aufgebaute Spannungen in einem Finale aufgehoben werden. Nun erlebt er das Fehlen eines harmonischen Bezugspunktes, der ihm Orien tierung für sein Hören bietet. Statt wohl gefügter Tonkonstellati onen brechen in Mikropartikel aufgesplitterte Töne, Klangtrau ben und Cluster oder die Geräusche der Straße in seine musika lische Wahrnehmung ein. Mit dem Ende des traditionellen har monischen Systems gingen auch die Form bildenden Kräfte ver loren, die zuvor die zielgerichtete Dramaturgie der Sinfonie oder Sonate bestimmt hatten. Statt dessen wurden neue Möglichkeiten der Formgestaltung erprobt: sich auflösende, kurze, aphoris tische Formen, Klangcollagen und -montagen, bewegte Klänge im Raum, unterstützt von der sich rasant entwickelnden Tech nik der Klangproduktion und -reproduktion, akustische Readymades und vieles andere mehr. Auch die passive Wahrnehmungshaltung wurde attackiert: Erik Satie fordert den Hörer auf, sich aus seinem Sessel zu erheben, herumzulaufen, in der Musik nicht mehr das Erhabene oder Erhebende zu suchen, sondern sie als Ornament, als Klangtapete wahrzunehmen.

Der Bruch mit den musikalischen Traditionen offenbarte ein Di lemma der Neuen Musik: Nach dem Ende allgemein verbindlicher Hörkonventionen, die das Verstehen der Musik ermöglich ten, produzierte der Komponist in jedem seiner Werke ein neues, eigenes Sinngefüge, das nun der besonderen Vermittlung bedurfte. Nicht wenige Komponisten sehen sich seither gezwungen, den Code, Erklärung und Analyse ihrer Musik gleich mit zu liefern.



Lässt sich die Musikgeschichte der Neuen Musik zwischen 1910 und dem 2.Weltkrieg noch in der Art der klassischen Musikhistorie durch die Konstruktion einer Komponisten-Genealogie darstellen, als in sich schlüssige Aufeinanderfolge von Stilen

oder als permanente Erweiterung und Fortentwicklung musik sprachlicher Mittel, so verweigert sich die Entwicklung in heutiger Zeit einer Repräsentation in linearen, übersichtlichen Ord nungen. Wollte man einen derartigen Versuch unternehmen, würde die Darstellung wohl eher einem vielfach verzweigten Netz, einem Rhizom oder einem Verkehrsplan gleichen. Die stetige Akkumulation an neuen musikalischen Erfindungen und das Anwachsen archäologischer Funde erforderten eine ständige Ausdehnung und Vernetzung des Territoriums bis hin zu den Peripherien. So führte eine Linie von Russolos bruitisti scher Musik, seinen Geräuschtönern, über die Musik der elektroakustischen Musik zu all den Modellen und Experimenten mit neuen elektronischen Instrumenten. Eine andere gegensätzliche Bewegung beinhaltet die Basteleien, ja sogar den Missbrauch der Consumer electronics, die vom Schallplattenschaschlick Nam June Paiks, dem Umfunktionieren alter Radios zu Musikinstru menten bis zum Hardware Hacking führt. Die Strecke des Mini malismus kreuzte sich sowohl mit der New Complexity als auch mit populären Formen der Ambient Music und des Jazz. Man könnte auf diese Weise allseitige Verbindungen herstellen, die, obwohl im Prinzip antihierarchisch, einige Knotenpunkte auf weisen, von denen mehrere Wege ausgehen. Die Funktion eines solchen Knotenpunktes käme zum Beispiel John Cage zu, der wie kein anderer Künstler in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bahnbrechende Entwicklungen, nicht nur in der Mu sik, in Gang gesetzt hat.

Für das Publikum kommt angesichts dieses babylonischen Stim mengewirrs zur Verunsicherung der ästhetischen Konventionen noch der grundsätzliche Verlust der Gewissheit, was überhaupt Musik sei, hinzu. Diese neue Unübersichtlichkeit (Habermas), die am Ende des vorigen Jahrhunderts gern als postmodern charakte risiert wurde, hat den Begriff des Neuen in Bedrängnis gebracht. Denn in einem Feld, das alle möglichen neuen Musiken gleicher maßen anerkennt, sind keine Abgrenzungen neu gegen alt mehr möglich. Die Vielzahl der möglichen neuen Musiken scheint auf das wertfreie bloße Anders-Sein hinaus zu laufen.

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Das Bild eines ästhetischen anything goes in der Neuen Musik, zu der der normale Hörer zudem nur schwer Zugang findet, korrespondiert dem Topos von ihrem Enklaven-Dasein, mit dem Zerrbild vom Elfenbeinturm, in dem die Neue Musik pro duziert und rezipiert wird. Es schränkt sie, trotz ihrer Vielfalt und Lebendigkeit auf ein unübersichtliches, befremdliches und vom allgemeinen Musikleben eigentümlich abgesondertes Terri torium ein, das nur wenigen Spezialisten vorbehalten ist und das zu verstehen besondere Kenntnisse erfordert. Aber stellt nicht genau diese Situation die Aufsplitterung in einen Stilpluralismus und in Folge dessen auch in multiple Hör haltungen / Rezeptionsweisen eine Entlastung des Hörers dar? Trotz ihres teils äußerst artifiziellen Backgrounds, der Viel falt ihrer ästhetischen Prämissen und oftmals ausufernden Selbstreflexivität ist die Neue Musik wie jede andere Musik in erster Linie ein klangsinnliches Phänomen. Die Ebene der pri mären ästhetischen Erfahrung das Hören stellt nicht nur einen legitimen Zugang zur Neuen Musik dar, sie könnte auch einen dem musikalisch Neuen adäquaten Weg zum Verstehen jenseits der Konventionen eröffnen. Zumal die Neue Musik, vor allem in ihrer jüngsten Geschichte, immer wieder selbstkritisch versucht hat, die Grenzen zu überwinden, in die sie durch eine puristisch enge Auffassung vom musikalischen Kunstwerk ein geschlossen war. Sie hat sich sowohl der Alltagswirklichkeit der Menschen, den profanen klingenden Dingen zugewandt und die Art und Weise des Hörens, die Bedingungen wie Potentiale akustischer und visueller Wahrnehmung in ihren Schöpfungen mit berücksichtigt. So ist die Grenzziehung zwischen U und E, zwischen unterhaltendem und ernstem Genre aufgeweicht wor den und es sind musikalische Genres entstanden, die es wenig kümmert, ob sie als Pop oder Kunstmusik rezipiert werden. Auch die Übergänge zu den Nachbarkünsten, der Bildenden Kunst

und der Architektur sind geöffnet worden und haben neue Zu gangsweisen zur Musik möglich gemacht. Organisierter Klang wird in reale Räume projiziert; Klangenvironments entstehen, die mit einem aktiven, den Klangraum erforschenden Hörer rechnen. Musik und Bild haben sich auf eine noch nie da gewesene Weise verknüpft: Kompositionen, die explizit in Auseinander setzung mit Werken der bildenden Kunst entstehen; Geräusch musiken, die es auf eine Art Kino im Kopf anlegen; Synthesen von Klang und Bild, in denen die Musik die Bilder generiert und umgekehrt und die ohne die Erfahrung des Films, des Videoclips und der Video- bzw. Computerkunst nicht denkbar wären. Im Umgang mit neuester Musiktechnologie hat auch die Musik neue Formen erfunden, die vom Ausloten der Möglichkeiten der Klangsynthese, des Sampling bis hin zum Hardware Hacking und Media Bending reichen.

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Neu im Kontext der neueren Musikgeschichte kann nicht mehr als jeweils neuer Endpunkt einer Entwicklung, als Fort schritt aufgefasst werden. Gleichzeitig soll sich das Neue nicht al lein im Anders-Sein erschöpfen. Neue Musik lässt sich am ehes ten als eine nicht-normative, offene musikalische Praxis beschreiben: Eine künstlerische Praxis, die bislang Nebensächliches, Unbeachtetes, Wertloses und Profanes zum Gegenstand künstleri scher Formung werden lässt und ihm so den Status von etwas Wertvollem verleiht, ihm Kunstcharakter gibt. Betrachtet man die verschiedenen Interpretationen des musikalischen Materials, der Instrumente, der musikalischen Form, die die Musik der letz ten hundert Jahre hervorgebracht hat, so spricht einiges dafür, Neue Musik endlich als ein Angebot für ein großes Publikum anzuerkennen.

Barbara Barthelmes ist Musikwissenschaftlerin und seit 2007 im Netzwerk Neue Musik der Kulturstiftung des Bundes als wissenschaftliche Mit arbeiterin tätig.

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glossar neue musik
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1 Brennendes Haus eines Nazis, vor Wien 1945 2 General Shukow auf Siegerparade, Moskau 24.6.1945  Sewastopol 1944 4 Russische Panzer, Berlin, Yorckstraße/ Mehringdamm 2.5.1945 5 Wien 1945 6 Soldaten laden Bomben, Tschukota Halbinsel 1941

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schatten spenden von hortensia völckers

Mit der berlin biennale hat sich die Kulturstiftung des Bundes in beson ders inniger Weise verbunden. Nicht nur weil die Stiftung sie seit 2004 und auch weiter bis ins Jahr 2012 finanziert diesen Vorzug teilt sie ja mit anderen kulturellen Großereignissen in Deutschland. Die erst 1998 gegründete berlin biennale konnte sich unter dem Schirm der Kulturstiftung des Bundes aber in kürzester Zeit zu einem international beachteten Forum der zeitgenössischen Kunst mit eigenem Glanz entwickeln. Hortensia Völckers’ Rede zur Eröffnung der bb5, die wir nachfolgend abdrucken, basiert auf Einsichten aus zahlreichen Gesprächen mit den Kurator/innen der 5. berlin biennale , Adam Szymczyk und Elena Filipovic.

Ich begrüße Euch

Söhne und Töchter des Meeres, Euch, die ihr jenseits des Meeres lebt… Ich kenne Eure Sprache nicht, so wie ihr meine nicht kennt.

Dieser Gruß stammt aus einer Videoarbeit von Susan Hiller, die Sie im Rahmen dieser 5. berlin biennale in der Neuen National galerie sehen werden. Ein bemerkenswertes Video, bei dem der Bildschirm während des ganzen Filmes schwarz bleibt. Aber wir hören diesen Gruß er wird mit rauer Stimme gesprochen von einem Mann namens Mukalap, einem der letzten Vertreter der südafrikanischen Sprachgemeinschaft der K’ora. Und auf den Untertiteln lesen wir die deutsche Übersetzung.

The Last Silent Movie , so hat Susan Hiller ihre Arbeit genannt. Der Titel sagt uns: Das ist ein Stummfilm. Um genau zu sein, müssten wir aber sagen: Es ist ein Film des Verstummens. Denn die Sprache, in der Mukalap spricht, ist heute ausgestor ben. Wie andere ausgestorbene oder bedrohte Sprachen, die Susan Hillers Stummfilm erklingen lässt: das Xokleng, das Manx, das Lenape oder die Sprache des Kukhassi.

Was wir hören, das sind die letzten Atemzüge dieser Sprachen, vollzogen durch ihre letzten noch lebenden Sprecher. Von den 6000 Sprachen, die heute noch weltweit gesprochen werden, wird die Hälfte davon voraussichtlich noch im Laufe dieses Jahr hunderts verschwinden. Mit atemberaubendem Tempo verwan deln sich weite Felder der Linguistik in eine Unterabteilung der Archäologie.

Wenn eine Sprache verloren ist, geht mit ihr Jahrhunderte altes Wissen über Tiere, Pflanzen, über Mathematik, Medizin, über die Dinge und Zeitvorstellungen verloren. Mit den Sprachen verschwinden ganze Weltsichten, wie Wilhelm von Humboldt Sprachen nannte und Hillers Film bürdet uns die Zeugen schaft an dieser Zerstörung auf. Denn sehen können wir die sen Verlust nicht. Aber nach dem Film von Susan Hiller können wir auch nicht mehr sagen, wir hätten von all dem nichts gehört.

Susan Hiller hat einmal gesagt: In allen meinen Arbeiten ringe ich mit den Geistern. Ich glaube, dass wir etwas von diesem Ringen auch in dieser berlin biennale finden. Es beginnt mit ihrem Titel: When things cast no shadow. Das klingt etwas dunkel nach Geisteroder Schattenbeschwörung. Was ist damit gemeint?

Das Feld, das sich mit der Schattenmetapher öffnet, ist weit, viel fach beackert, voller Tücken. Kein Wunder, denn es ist so alt wie unsere Zivilisation. In vielen Mythologien ist das Reich der Schatten das Reich der Toten oder der Untoten. Bei Platon, im

berühmtesten Schattengleichnis, mit dem die europäische Me taphysik begann, sind die Wesen, die wir für wirklich halten, nur ein Schattenspiel in einer Höhle. Etwas Sekundäres. Was wir für die Welt halten, sind blasse Schatten göttlicher Ideen und ewiger Ideale.

Lassen Sie mich die Frage nach den Schatten einmal ohne philo sophische Umwege angehen, ganz profan und diesseitig, ganz unmetaphysisch und irdisch geo-physikalisch sozusagen. Denn wenn wir im Freien stehen, wovon hängt der Schatten ab? Von der Jahreszeit also vom Stand der Sonne zur Erde. Von der Ta geszeit also von der Drehung unseres Planeten. Von unserer Position nach Länge und Breite also von unserem Ort. Von der individuellen Gestalt und der Bewegung der Menschen und der Dinge im Raum. Und schließlich von der Beschaffenheit des Grundes, auf den er fällt. Und deshalb gleicht kein Schatten dem anderen. Das unterscheidet ihn von den Dingen-an-sich und von den Ideen, den vermeintlichen Blaupausen der Welt.

Der Schatten ist der flüchtige Zeuge unserer flüchtigen Gegen wart. Er huscht vorüber. Zugleich gibt er genaueste Auskunft über die Position der Dinge und Menschen in ihrem irdischen, ja universellen Zusammenhang, er ist der präziseste wahrnehm bare Indikator für die Existenz von Dingen und Menschen in Zeit und Raum.

Und was ist umgekehrt, wenn Dinge und Menschen keinen Schatten werfen? Dann sind sie aus der Welt gefallen, gespenster artig und unvollständig.

Ich liebe den Schatten sagt Friedrich Nietzsches Wanderer zu seinem Schatten so wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nötig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwin det, schlüpft ihm der Schatten nach. Und der Schatten entgegnet: Und ich liebe die Menschen […] und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken. […] Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, jener Schatten bin ich.

Soweit das Zitat aus Friedrich Nietzsches Buch Menschliches-Allzumenschliches

Erlauben Sie mir, dieser Verbindung von Schatten und Erkennt nis einen Schritt weiter nachzugehen. Und zwar in den Bereich

der Literatur hinein, die für die Kuratoren dieser bb5 sehr wichtig ist. Das 600 Seiten starke Buch zur biennale und für mich ist das nicht einfach ein Buch, sondern das kollektive Kunstwerk dieser bb5 in Papierform dieses Buch enthält zahlreiche Ver weise auf die Literatur. Bezeichnenderweise ist ausgerechnet das Schlussbild des Katalogs ein Schattenbild, nämlich die Illustration zur Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte , die Adelbert von Chamisso im Jahr 1813 ge schrieben hat.

Dieses Buch ist ein Klassiker der Schattenliteratur. Peter Schle mihl verkauft dem Teufel seinen Schatten für einen magischen Sack, aus dem er endlos viel Gold ziehen kann. Die Illustration zeigt nun genau jenen Moment, in dem dieser faustische Pakt wirklich wird: Der Teufel kniet hinter Peter Schlemihl, um des sen Schatten vom Körper zu trennen, aufzurollen und mitzu nehmen wie ein Stück Teppich.

Die Folgen dieses Verkaufs sind fatal. Seine Braut, seine Mit menschen wenden sich mit Schrecken von ihm ab. Das Gold wiegt den existenziellen Daseins-Verlust nicht auf, den Peter Schlemihl mit dem Verlust des Schattens erleidet. Er ist, wie Cha misso schreibt, von allem Leben abgeschnitten. Er hat seine begrenz te Körperlichkeit seine Erdung, das reale Hier und Jetzt ge gen die Utopie einer unbegrenzten Kaufkraft eingetauscht.

Du aber, mein Freund, willst Du unter Menschen leben, so lerne vereh ren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld so lautet Chamissos Moral von der Geschichte. Peter Schlemihl aber durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen widmet sich stattdessen den Wissenschaften und wird zum Na turforscher, der den reichen Garten der Erde von Tibet bis nach In dien, vom Kap Horn bis nach Grönland einsam durchquert.

Das Erstaunliche ist nun, dass dem Autor Adelbert von Chamis so ein ganz ähnliches Schicksal widerfährt. Auch der heimatlose, zwischen zwei Vaterländern zerrissene Chamisso begibt sich im Jahr, nachdem er das Märchen geschrieben hat, auf eine Weltrei se, betreibt Naturstudien und zeichnet Sprachen auf. Insbeson dere jene Sprachen, die nur in mündlicher Überlieferung existie ren und deren Fortbestehen durch den zivilisatorischen Fort schritt gefährdet ist. In seinem 1837 verfassten Bericht Über die hawaiische Sprache für die Berliner Akademie der Wissenschaften zieht Chamisso ein trauriges Resümee dieser Forschungen: Bräuche, Geschichte, Sagen, Kultus […] alle Schlüssel zu

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den wichtigsten Rätseln […] des Menschengeschlechtes […] werden von uns selbst in der Stunde, wo sie in unsre Hände gegeben sind, in das Meer der Vergessenheit versenkt.

Damit formuliert Chamisso die traurige Wahrheit der Ethnogra phie, der sich auch Susan Hiller verschrieben hat in ihrer Arbeit, die wenigstens den akustischen Schatten vergangener Weltsichten über das Meer der Vergessenheit hinüber tragen will. Und damit ver bindet sich die fragile Hoffnung, dass diese schwachen Schatten der Vergangenheit, die wir durch die Kunst der Erkenntnis und die Erkenntnisse der Kunst immer wieder wahrnehmen können, uns Wege in die Zukunft erleuchten.

People are dealing with the past because they are looking for something that leads them into the future, sagte Adam Szymczyk vor kurzem. Das ist nicht als ästhetische Nostalgie zu verstehen oder als die vielzitierte Pflege des kulturellen Erbes es ist das aktive, künstleri sche Absuchen der Vergangenheit nach dem unsichtbar gewor denen nach Menschen und Dingen und Werken, die heute keine Schatten mehr werfen, weil niemand sie mehr beleuchtet, und die uns dennoch für die Zukunft wichtig zu sein scheinen.

Das klingt nach einfachen Botschaften. Die Sprachen aber, in denen Künstler diese Botschaften formulieren, sind voller Zwi schentöne und changieren zwischen der Welt der Symbole und der Welt der Dinge, zwischen Innen- und Außenräumen und sogar zwischen Tag und Nacht. Denn weil vier Orte und mehr als siebzig Tage Ausstellungsdauer nicht genug sind, um die Fülle der bb5 unterzubringen, haben sich die Kuratoren ent schlossen, auch die Nächte zu bespielen Nächte, die viel schö ner sind als Eure Tage, wie der Titel dieser Veranstaltungsreihe lau tet. Nächte, die voller Licht und voller Schatten sein werden, die sich liebevoll die Hände halten, um es noch einmal mit Nietzsche zu sagen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach.

Aber das Licht verschwindet nicht. Es geht erst an für diese fünf te berlin biennale. Und es wirft starke Schatten.

Die 5. berlin biennale findet bis zum 15. Juni 2008 in Berlin statt und wird vom KW Institute for Contemporary Art organisiert. Weitere Informationen und Veranstaltungshinweise zur bb5 unter www.berlinbiennale.de

veranstaltungshinweis

kunst werte gesellschaft Zur aktuellen Bedeutung von non-profit Kunstinstitutionen Eine Tagung der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine und der Akademie der Künste Aus Anlass der 5. berlin biennale sucht die Tagung Kunst Werte Gesellschaft nach einer zeitgemäßen Positions bestimmung von öffentlich und privat geförderter Kunst. Sie beschäftigt sich mit der aktuellen Bedeutung von non-profit-Institutionen als Scharnier zwischen Öffentlichkeit und Kunst markt und vor allem mit ihrer Funktion für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über den Wert von Kunst.

Der marktorientierte Kunstbetrieb und privatwirtschaftliche Initiativen beeinflussen immer stärker den gesellschaftlichen Be griff von zeitgenössischer Kunst. Sie können mit international beachteten blockbuster -Ausstellungen und spektakulären Verkaufserlösen auf Kunstmessen und Auktionen aufwarten. Wird durch diese Entwicklung die Funktion von öffentlich finanzierten und gemeinnützigen Kunstinstitutionen als Vermittler zwischen Akademien und Hochschulen auf der einen und Museen und Kunst hallen auf der anderen Seite in Frage gestellt? Wie frei sind öf fentliche Kunstinstitutionen heute noch in ihrer Programmge staltung? Die Konkurrenz zum privaten Sektor setzt vor allem kleinere und mittelgroße Kunsteinrichtungen unter kulturpoli tischen Legitimationsdruck im Wettbewerb um öffentliche För dermittel. Bei den größeren zeichnet sich eine Flucht nach vorn ab, sie richten ihre Programme immer mehr an publikumsorien tierten Kunsthallen aus. Die Tagung diskutiert die derzeitige Si tuation des Kunstbetriebs aus Sicht von Künstler/innen, Vertre ter/innen von Kunsteinrichtungen, des Kunsthandels, der Kul turwirtschaft, der Kulturpolitik und der Medien.

Mit Beiträgen von Marion Ackermann, Uli Aigner, Marius Babias, Stephan Berg, Daniel Birnbaum, Beatrice von Bismarck, Anne-Marie Bonnet, Armin Chodzinski, Stephan Dillemuth, Harald Falckenberg, Bernd Fesel, Catrin Lorch, Dirk Luckow, Stephan Opitz, Cay Sophie Rabinowitz, Andreas Siek mann, Hortensia Völckers, Stephan Schmidt-Wulffen, Adam Szymczyk, u.v.a. 16 5 0 8– 1 8. 5 0 8 in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10 10557 Berlin Informationen zum Tagungsprogramm und zur Anmeldung finden Sie unter: www.kwg.kunstvereine.de

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1 Berlin, Landwehrkanal Hallesches Ufer, Mai 1945

2 Straßenblockade, Wien 1945

 Brennendes Polizeipräsidium in Berlin, Alexanderplatz 1945

4 Russische Soldaten vor Wien, 1945

6 Bevölkerung steht nach Wasser an, Berlin, Mai 1945

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alles anders!

eine zweite geschichte des 19. jahrhunderts von burkhard spinnen

Jérôme Bonaparte, der jüngste Bruder Napoleons, ist von der Geschichtsschreibung nie anders als eine Randfigur behandelt worden. Als König von Westphalen ist er weniger be kannt als unter seinem Schmähnamen König Lustik. Mit der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Hessischen Landesausstellung König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen vom 19. März bis 29. Juni 2008 im Museum Fridericianum Kassel soll ein weitgehend verges senes Kapitel deutscher Geschichte noch einmal aufgeschlagen werden. Dabei geht es auch um die politischen Reformen und das Kulturleben im Königreich Westphalen. Der Schriftsteller Burkhard Spinnen erzählt im Folgenden die Geschichte Jérômes ganz an ders. Aus der Randfigur, aus dem kleinen Bruder Napoleons, wird in einer historischen Parallelfiktion einer, der versehentlich dem Lauf der europäischen Geschichte eine andere Richtung gibt.

Obwohl Jérôme Bonaparte die Aufgabe, als Kö nig von Westphalen einen modernen Staat nach französischem Vorbild zu gründen und dessen Bewohner glücklich zu machen, mit großem En gagement anging, wurde seine Regentschaft in den ehemals hessischen, braunschweigischen und weiteren Gebieten* weniger als Chance und vielmehr als bedrückende Fremdherrschaft empfunden. Zwar profitierten diverse Bevölkerungs gruppen von seinen Reformen, insbesondere von der Einführung des Code Civil als einer ver bindlichen Rechtsgrundlage. Seine Kunstsinnigkeit verwandelte insbesondere das zuvor eher schlichte Kassel zu seinem Vorteil. Doch auf Dauer fand Jérôme nicht den breiten Zuspruch seiner Untertanen. Im Gegenteil musste er schon froh sein, dass bestehende Umsturzpläne verei telt werden konnten.

Doch auch wenn die Bewohner des neuen Kö nigsreichs es begrüßt hätten, Bürger eines mo dernen Rechtsstaats zu sein, so wäre ihnen doch durch die ökonomischen Restriktionen infolge der Kontinentalsperre und insbesondere durch die ständigen Truppenaushebungen alle Freude an der Franzosenzeit ausgetrieben worden. Der eigenen Jugend beraubt zu werden, damit diese auf den Schlachtfeldern Europas für die Größe Frankreichs geopfert werde, verbitterte die West phalen aufs Tiefste.

Jérôme versuchte den Widerstand seiner Unter tanen so gut es ging zu ignorieren. Er sah sich in der Schuld seines älteren Bruders, der ihm seine nordamerikanischen Eskapaden man könnte auch sagen: seine Fahnenflucht verziehen und ihm eine so wichtige Rolle im neuen Staa tengefüge Europas zugewiesen hatte. Dennoch litt er zunehmend unter der Ablehnung seiner Herrschaft und seiner Person. Anfangs hatte er versucht, Kassel zu einer Residenz nach franzö sischem Vorbild zu formen, um so den Bewoh nern ein neues Image zu schenken und wenigs tens die Spitzen der Gesellschaft auf seine Seite

zu ziehen. Durch die Kunst, die er allenthalben förderte, hoffte er eine Brücke zu den deut schen Untertanen schlagen zu können. Tatsäch lich wurde Kassel rasch ein Zentrum der Künste. Doch die vom Hof glanzvoll inszenierten Dar bietungen blieben, auch wenn sie stets gern be sucht wurden, ohne positiven Nachhall. Statt dessen wurden sie als Ausdruck französischer Selbstherrlichkeit und Vergnügungssucht, ja als Verschwendung diskreditiert. Allmählich muss te Jérôme einsehen, dass wohl keine Hoffnung für ihn bestand, jemals etwas anderes zu werden als der ungeliebte Statthalter einer Besatzungs macht.

Dabei wusste der König von Westphalen viel besser als seine Zeitgenossen ahnten, was um ihn herum vorging. Obwohl an seinem Hof aus schließlich Französisch gesprochen wurde, ließ er sich von seiner Frau, einer Tochter des Königs von Württemberg, im Deutschen unterrichten. Bald verstand er, was eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt war. Um diese Fähigkeit, die ihm freilich nur immer weiteren Grund zur Sor ge lieferte, geheim zu halten, brillierte er in der Öffentlichkeit lautstark mit deutschen Radebre chereien, deren eine ihm sogar seinen Spitzna men einbrachte: König Lustik

Alles wendete sich, als Napoleon mit den Vorbe reitungen seines Feldzuges gegen Russland be gann. Mehr als je zuvor sollte auch das König reich Westphalen Männer und Material für die sen Feldzug stellen. Jérôme machte zu diesem Zeitpunkt gerade eine schwere psychische Krise durch, die möglicherweise in der unerfüllten Beziehung zu einer jungen Baronesse aus dem Mindener Land ihren Anlass hatte. Die Ursa chen lagen freilich tiefer. Erst vor zwei Jahren hatte ihn Napoleon gezwungen, sich von seiner amerikanischen Frau zu trennen, die er mit neunzehn geheiratet und mit der er einen ge meinsamen Sohn hatte. Kurz nach Antritt sei ner Regentschaft war er dann aus Gründen der

Staatsraison mit der württembergischen Königstochter verheiratet worden, die ihm zwar voll ständig ergeben, aber fast vier Jahre älter als er und eine nur mäßig attraktive Erscheinung war. Nicht von ungefähr war die Ehe bislang kinder los geblieben; dabei würde Katharina bald 30 werden.

Im Frühjahr 1812 wurde Jérôme in Paris von sei nem Bruder persönlich über dessen Pläne infor miert. Wieder in Kassel, schrieb er ohne jede Rücksprache einen Brief an Napoleon, in dem er sich und sein Königreich Westphalen mit so fortiger Wirkung als neutral erklärte. Er wolle und könne das Streben des Bruders nach Welt herrschaft nicht länger unterstützen, schrieb er; außerdem brauche er sein Geld selbst, unlängst noch habe er ein anspruchsvolles Programm zur architektonischen Aufwertung der westphä lischen Städte initiiert. Das bedeute aber, so schloss er, keine Feindschaft. Er biete dem Bru der vielmehr aus familiärer Verbundenheit ei nen Friedenspakt an. Beinahe wäre dieser Brief vorzeitig bekannt geworden, als Jérômes Kurier auf dem Weg nach Paris irrtümlich von einer französischen Patrouille angegriffen wurde; doch dann gelangte das Schreiben auf abenteu erlichen Umwegen in Napoleons Hände, als dieser bereits auf Moskau marschierte.

Über die unmittelbare Reaktion Napoleons ist nichts bekannt. Fest steht wohl, dass er die Af faire totzuschweigen suchte, um nicht ausge rechnet jetzt durch einen Bruderzwist gestört oder gar bloßgestellt zu werden. Doch während er selbst Stillschweigen wahrte, drang der Abfall Jérômes aus dessen Umgebung nach außen. His toriker vermuten, dass Katharina vor Landsleu ten mit der Loyalität ihres Mannes zu seinen Untertanen hatte Eindruck machen wollen. Wie dem auch sei, von diesem Moment an arbeitete die europäische Geheimdiplomatie auf allen Ebenen. Und schien Jérômes Eskapade den Feinden Napoleons zunächst auch nur wie ein

unnützes Geschenk, so suchten sie doch nach Kräften zumindest propagandistischen Nutzen daraus zu ziehen. Flugblätter, die den Bruder streit im Hause Bonaparte satirisch überhöht darstellten, wurden überall in Mitteleuropa ver breitet.

Der Erfolg dieser Destabilisierungsoffensive sollte dann erheblich größer sein, als deren Be treiber, allen voran die Engländer, es jemals er wartet hätten. Eine Welle des Hohns folgte Na poleon bereits auf seinem Weg nach Russland; und Historiker zweifeln nicht daran, dass es sei ne dergestalt geschwächten Nerven waren, die den Korsen jene folgenschweren Fehlentschei dungen treffen ließen, die den Russlandfeldzug zu einem Desaster machten. So führte er die ers te Schlacht mit den Russen am 17. August 1812 nur halbherzig, obwohl er gegen die schlecht aufgestellten Verteidiger eine gewaltige Übermacht ins Feld schicken konnte. Vermutlich fürchtete er, die Begegnung könnte zu verlustreich sein und in einen Pyrrhussieg münden, da doch noch die weite Strecke bis Moskau zu bewältigen war. Es mögen wohl Zehn-, vielleicht gar Hunderttausende französischer, deutscher, ita lienischer und anderer Soldaten dieser Entschei dung verdanken, dass sie nicht auf russischer Erde starben; letzten Endes aber besiegelte Na poleon durch diesen Akt des Zauderns sein Schicksal und das der Grande Nation. In Russ land nämlich wertete man die eigentlich mit einem Unentschieden geendete Schlacht als ge waltigen Sieg, worauf die Führung der Napole on noch unterstehenden preußischen Armee innerlich auf Distanz zu ihrem Kriegsherrn ging und sogar konkrete Umsturzpläne entwarf. Derweil hatten insbesondere englische Emissio näre fast permanent mit Jérôme verhandelt und ihn schließlich gänzlich umgedreht. Damit war

Sein Herrschaftsgebiet berührte sieben der heutigen Bundesländer: neben Hessen auch Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bremen, Hamburg, Thüringen und Sach sen-Anhalt.

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er zu einer wichtigen Figur in dem Bild gewor den, das man sich auf der Insel von einem Europa nach der Ära Napoleon machte. Ginge es nach England, so sollte es darin nämlich mög lichst viele ungefähr gleich starke Staaten geben, die sich in ihren Ansprüchen gegenseitig behin dern und so dafür sorgen würden, dass nicht noch einmal der ganze Kontinent sich gegen das British Empire wenden könnte. Man ver sprach Jérôme, ihn im Falle einer Neuordnung Europas zum ersten Mann des Rheinbundes zu machen, der, von seiner militärischen Bindung an Frankreich befreit, ein selbständiger Staat werden und aus Sicht der Engländer als dauerhafter Puffer zwischen Frankreich und Preußen fungieren sollte.

Jérôme soll, so die Forschung, lange gezögert haben. Man vermutet heute, dass er sich der ganzen Tragweite seines Briefes nie wirklich klar ge wesen ist; vielleicht hat er selbst ihn anfangs so gar als eine Art Hilferuf an den Bruder verstan den. Doch nun war der Stein ins Rollen gekom men, Napoleon hatte eine Schwäche gezeigt, und ein Zurück hätte es nur unter völligem Ge sichtsverlust geben können. Außerdem war Jé rôme, so die meisten seiner Biographen, letzten Endes wehrlos gegen die Versuchung, endlich aus dem Schatten des Bruders hinaus und in ein eigenes Leben zu treten. Er willigte in die englischen Vorschläge ein, obwohl die allesamt mehr als vage waren. Gleichzeitig, so ist es in den Tagebüchern seiner Frau zu lesen, lebte er in panischer Angst vor der Rache seines Bruders. Seine Residenz verließ er gar nicht mehr. Alle kon kreten Maßnahmen überließ er anderen, insbe sondere der englischen Geheimdiplomatie. Und die buchte große Erfolge. Während Napo leon noch unentschlossen in Russland stand, bewogen die Engländer tatsächlich weitere Mitglieder des Rheinbundes dazu, sich einer anti-napoleonischen Front anzuschließen oder zumindest ebenfalls ihre Neutralität zu verkünden. Zwar verfügte der Rheinbund nicht über nennenswerte eigene militärische Kräfte, doch die psycho logische Wirkung dieses Abfalls der Vasallenstaaten war überwältigend. Im November 1812 verlegte Napoleon seine Streitmacht daraufhin wieder nach Westen, da er mit Recht fürchtete, der ab gefallene Rheinbund könnte den Engländern eine Landung an der norddeutschen Küste er möglichen, was die seit der Niederlage von Tra falgar 1805 weitgehend eingeschlossene franzö sische Flotte niemals hätte verhindern können. Ob er dabei tatsächlich als Ausdruck des brü derlichen Zornes durch das Königreich West phalen marschieren wollte, ist bis heute unklar. Fest steht nur, dass sein Rückzug Russen und Preußen darin bestärkte, es sei der Moment des großen Gegenschlags gekommen. Der preußische König kündigte Napoleon die Gefolgschaft auf; und nach einer Reihe von Scharmützeln kam es im Dezember 1812 zur berühmten Völ kerschlacht bei Eschwege.

Ein Großteil der Historiker vermutet bis heute, dass die vollkommen übereilten Angriffe der Russen und Preußen gegen die kaum geschwäch te Grande Armée wohl nicht zu einem entschei denden Sieg hätten führen können wäre Na poleon selbst nur besser vorbereitet auf das Tref

fen gewesen. Tatsächlich aber kam er bekann termaßen zu spät zum Ausbruch der Schlacht, da er die Gelegenheit hatte nutzen wollen, seinen Bruder im nahen Kassel aufzusuchen, was freilich gescheitert war, weil Jérôme sich in einem abgelegenen Bauernhof versteckt hielt. Endlich wieder bei seinen Truppen, gelang es Napoleon zwar noch, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Gegenschlag zu schaffen, doch da hatte ein preußisches Artillerieregiment seine Ge schütze unbemerkt auf das französische Haupt quartier in Stellung bringen können. Es folgte, was als das Bombardement von Döringsdorf und als ein beispielhafter so genannter Enthauptungsschlag in die Militärgeschichte eingehen sollte. Durch wenige Salven der Preußen, denen das Glück zur Seite stand, wurde Napoleons Stab getötet, er selbst wurde schwer verletzt. Als man den Sterbenden nach seinen Wünschen fragte, soll er gesagt haben: Den Kopf meines Bru ders; aber das ist nur eine von den unzähligen Napoleon-Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt mehr als umstritten ist.

Die Schlacht selbst endete wiederum mit einem Unentschieden, da sich Russen und Preußen zurückzogen, als sie ihre Unterlegenheit einsahen. Doch durch den Tod Napoleons waren die Ver hältnisse vollkommen verändert. Bis geklärt war, wer sein Erbe antreten sollte, gelang es den Eng ländern, die Dinge in ihrem Sinne weiter zu be einflussen. Sie boten Frankreich an, gemeinsam eine Art Status quo festzuschreiben, was nichts anderes hieß, als dass sie es gegen die territorialen Ansprüche von Russland, Preußen und Ös terreich verteidigen würden vorausgesetzt natürlich, es erfüllte gewisse Bedingungen. Eine davon war die, den Rheinbund als ein selbstän diges Staatengebilde zu akzeptieren.

Die englischen Pläne gingen auf und die fol gende, eilends entworfene und von überforder ten französischen Führern akzeptierte Neuord nung sah als größten Verlierer Preußen, das nur notdürftig für seine Gebietsverluste westlich der Elbe entschädigt wurde und sich nun einem deutschen Bruderstaat gegenübersah, der wie ein schmaler Balken von der Nordsee bis an den Al penrand reichte und im Königreich Westphalen seine Mitte wenngleich nicht seinen Mittel punkt besaß. Nur Bayern hielt sich aus dieser Angelegenheit heraus, die ihm alles in allem zu protestantisch schien, und liebäugelte weiter mit dem schmollenden Österreich.

Die weitere Entwicklung Europas im 19. Jahrhundert wurde dann mehr von ökonomischer als von politischer Seite angeschoben. Eben deshalb geriet Preußen, das sich 1866 nach endlosen Zankereien mit Österreich noch Sachsen einverlei ben konnte, als hauptsächlich agrarisches Land mehr und mehr ins Hintertreffen. Der Rhein bund hingegen profitierte jetzt endlich, und umso deutlicher, von den napoleonischen Re formen, leisteten diese doch dem technischen Fortschritt und dem Aufstieg einer Schicht bür gerlicher Unternehmer einen entscheidenden Vorschub. Dazu kam, dass die Beziehungen des Rheinbundes sowohl zu Frankreich wie auch zu England als dem Motor der Industrialisierung ausgesprochen gut waren und nie ernstlich ge

stört wurden. So entstanden insbesondere in den Hafenstädten und in bestimmten Regionen an der Ruhr, am Main, in Baden, in Württem berg und an der Saar moderne Industriezentren, die in stetigem Handel und Austausch mitein ander standen. Mehr als milde gestimmt durch den wachsen den Reichtum ihrer Länder und bedrängt von einem immer einflussreicheren Bürgertum, ga ben die Fürsten der einzelnen Rheinbundstaa ten bald die Regierungsmethoden des Absolu tismus auf und erlaubten das Entstehen erster Parlamente. Die Entwicklung vollzog sich so rasch, dass bereits 1848 unter Duldung aller Fürs ten in Kassel ein erstes Bundesparlament ins Le ben gerufen wurde, das sich als Motor für den Zusammenschluss der Länder des Rheinbundes zu einem gemeinsamen Staat erwies, der dann 1856 als Deutsches Bundesreich gegründet wurde. Zwar wurde noch lange jeweils einer der alten Duodezfürsten nominell zum König gewählt, tatsächlich aber entwickelte sich das Gefüge un spektakulär und stetig zur ersten Demokratie auf deutschem Boden, getragen vom Erfolg sei ner Wirtschaft und gesichert durch eine feste Einbindung in die westliche Allianz.

Einzig die Rivalität zum benachbarten Preußen bildete im Laufe des 19. Jahrhunderts einen dau ernd leise schwelenden Herd unfreundlicher Entwicklungen. Zwar gelang es Preußen gegen Ende des Jahrhunderts, in ökonomischer Bezie hung etwas aufzuholen, doch es blieb beim Ge gensatz zwischen diesen so verschiedenen Staa ten auf deutschem Boden. Hier die rheinische Beinahe-Republik eng an den Westen ange lehnt überwiegend katholisch, strebsam, flei ßig und heiter; dort das autoritär-protestantische Preußen, das aus seiner Zwangsbindung an Russland weder herausfinden wollte noch konn te. Selbst als gegen Ende des Jahrhunderts die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden wich tigsten deutschen Staaten immer enger wurden, blieb der Gegensatz ihrer Charaktere doch un eingeschränkt bestehen. Und leider verschärf ten sich nach den großen Wirtschaftskrisen um 1900 die Auseinandersetzungen so sehr, dass es zu den bekannten Katastrophen des 20. Jahr hunderts kam, von denen wir Mitteleuropa erst heute wieder einigermaßen erholt sehen. An Jérôme Bonaparte ging die weitere Geschich te, die er doch durch einen bösen Brief so we sentlich beeinflusst hatte, allerdings weitestge hend vorbei. Vor die Alternative gestellt, weiter hin König von Westphalen zu bleiben oder ein hohes Amt in Paris zu bekleiden, hatte er sich für die Heimat entschieden, wurde dort aber nicht so recht glücklich. Er diente im Wesent lichen als Projektionsfigur der verschiedensten Ansichten und Absichten. Für viele war er der große Verräter, für andere hingegen derjenige, der das Erbe der Revolution vor der Autokratie des Kaisers gerettet hatte. Wieder andere, und nicht wenige, sahen ihn durch die Geschichte hindurch bloß als den Bruder des großen Kai sers. Wenn er sich öffentlich zeigte, was immer seltener geschah, musste er immer mit alten Ve teranen rechnen, die vor ihm stramm standen und salutierten, oder mit Frauen, die ihn berüh ren wollten.

Nur unwesentlich besser erging es ihm und der Erinnerung an ihn im Rheinbund. Dort wurde er zwar allmählich zu einer Art Hausgott stili siert, und bald gab es keine Stadt mehr zwischen Ostsee und Alpenrand, die nicht einen JérômeBonaparte-Platz oder eine Statue des früheren Königs von Westphalen besaß. Doch die Vereh rung galt nicht ihm als Person, man feierte in ihm bloß sich selbst und den mehr oder weniger freiwillig vollzogenen Übertritt aus der altdeut schen Biederkeit in die neue Zeit.

Jérôme selbst bekleidete eine Zeitlang höhere Posten in den französischen Regierungen, meist als eine Art Minister ohne Geschäftsbereich, dann zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Seine Ehe mit Katharina blieb, weil sie immer noch oder schon wieder staatspolitische Bedeutung hatte, bestehen und allmählich verwandelte sich die doppelte Zwangsehe in ei ne sehr innige Beziehung. Es geschah sogar, was kaum einer aus Jérômes Umgebung für möglich gehalten hätte: Spät bekam das Paar Kinder, als jüngstes Napoleon Joseph Charles Paul gen. Plon-Plon, der sogar einmal das Oberhaupt der Familie Bonaparte werden sollte.

Das letzte seiner seltsamen Verdienste erwarb sich Jérôme, als er 1829 das bis dahin verschlafene Fischerdorf Cannes an der Côte d’Azur aus wählte, um dort eine Sommerresidenz zu errichten. In den folgenden Jahren taten es ihm fran zösische und englische Adelige nach, es folgten Unternehmer aus dem Rheinbund sowie Künst ler aus London und Paris. Jérôme persönlich in vestierte in den Ausbau der Stadt zu einem vor nehmen Erholungsort; und es war nicht nur Neckerei, wenn man ihn bald den König von Cannes nannte. Den Rest seines Lebens sah er das in den westeuropäischen Kontext eingebun dene Frankreich nach einer neuen Façon ringen; er sah schließlich sogar seinen Neffen Louis als Präsidenten der Republik ein paar Jahre lang in den viel zu großen Fußstapfen seines Bruders umherirren.

Das Leben in Europa, sagte Jérôme im Alter ger ne, wenn man ihn zu seinen Erfahrungen aus der von seinem Bruder geprägten Zeit befragte, sei ruhig und kalkulierbar geworden. Die Zeit, in der man lebe, sei eine goldene Zeit. Doch lei der nicht so recht lustig.

Burkhard Spinnen , geboren genau 100 Jahre nach der Gründung des Deutschen Bundesreichs, lebt in Münster, Hauptstadt der Region westliches Westphalen. Bislang 15 Bücher: Romane, Erzählungen, Kinderliteratur, Essays und Aufsätze. Erhielt zahlreiche Literaturpreise; Träger des Jérôme-Ringes.

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flagge zeigen. der fotograf jewgeni chaldej

Die einen verehren ihn als russischen Robert Capa, die anderen kennen ihn nicht: den russischen Fotografen Jewgeni Chaldej (1917 1997). Seine berühmten Fotos der inszenierten Hissung der Roten Fahne auf dem Deutschen Reichstag hat jedoch fast jeder schon einmal gesehen. Die Retrospektive Jewgeni Chal dej Der bedeutende Augenblick im Berliner Martin-Gropius-Bau vom 9.5. bis 28.7.08 zeigt neben den bekannten historischen Aufnahmen bisher noch nicht veröffentlichte Fotos aus dem Gesamtwerk Jewgeni Chaldejs, von denen wir auch eine Auswahl in diesem Magazin zeigen. Die Kulturstiftung des Bundes fördert diese Ausstellung, die anschließend nach Kiew geht. Peter Jahn, bis vor kurzem Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, gibt einen Einblick in das unbekannte und wechselvolle Leben des Fotografen.

von peter jahn

Der Sieg musste eindrücklich sichtbar gemacht werden: Auf dem eroberten Reichstag, den die sowjetische Führung zum Symbol der Naziherrschaft erklärt hatte, sollte die Rote Fahne aufge pflanzt werden. So wurden mit dem Ende der Kämpfe zahlreiche Fotokorrespondenten auf den Weg geschickt, um diesen Akt zu inszenieren. Die meisten dieser Fotos wurden auch veröffentlicht. Erinnert und immer wieder neu gedruckt werden allerdings die Fotos Jewgeni Chaldejs, die eine Gruppe von Rotarmisten beim Aufrichten der Fahne am 2. Mai 1945 zeigen. Nicht auf der Kuppel des Reichstags weht seine Fahne (er hatte sie aus Moskau mitgebracht), sondern an einer Seite des Daches, und nicht gegen den Himmel, sondern von oben schaute der Fotograf auf die Fahne und zugleich auf das zerstörte Berlin. Mit diesem dynamischen Ausschnitt hatte Chaldej den Sieg in einem Moment fixiert. Sein Foto steht weltweit für das Kriegsende in Berlin.

Chaldejs Rote Fahne auf dem Reichstag ist heute eine Fotoikone des Zweiten Weltkriegs. Und vom Zweiten Weltkrieg, dem Krieg, der vor allem anderen in Schwarz-Weiß-Fotos erinnert wird, fin den sich auch etliche andere Fotos Jewgeni Chaldejs im Tableau der fotografischen Erinnerung: die Bewohner Moskaus, die am 22 . Juni 1941 mit Bangen die Nachricht vom deutschen Überfall aus dem Straßenlautsprecher hören; die alte Frau mit dem schweren Holzkoffer auf dem Rücken, die vor dem Wald von Schorn steinen im niedergebrannten Murmansk umherirrt ; Marschall Shukow, der am 24. Juni 1945 auf einem Schimmel an den Truppen der Siegesparade auf dem Roten Platz vorbeigalop piert ; Hermann Göring im Nürnberger Gefängnis . Und auch das Bild Josef Stalins am Tisch der Potsda

mer Konferenz im August 1945 , eine Apotheose des Siegers in strahlend weißer Uniform, ist eines dieser geschichtsmächtigen Fotos.

Jewgeni Chaldej gehörte im Zweiten Weltkrieg zu der herausge hobenen Gruppe der Fotojournalisten, die für die zentralen Moskauer Publikationen (wie Prawda oder Iswestija) oder Agenturen (TASS , Sowinformbüro) arbeiteten und auf Anforderung der Po litabteilung der Roten Armee zu ihrer Arbeit an die bedeutsamen Kriegsschauplätze geschickt wurden. Sein Auftraggeber war die Fotochronika TASS , für die er bereits vor dem Krieg und auch nach Kriegsende arbeitete. Als er im Juni 1941 mit dem ersten Auftrag an die Nordfront nach Murmansk geschickt wurde, for derte er 100 Meter Filmmaterial. 30 Meter wurden ihm gegeben, denn der Krieg würde ja nicht so lange dauern. In den folgenden vier Jahren fotografierte Chaldej im Norden, vor Moskau, bei Rostow, Kursk und Odessa, in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich und schließlich in Berlin.

Alle diese Kriegsreporter waren erfahrene Fotojournalisten, die ihr Handwerk, ihre Kunst, in den 1920er und 1930er Jahren entwi ckelt und erprobt hatten. Die neue Fotoästhetik der 1920er Jahre, die in Analogie zur Auflösung des Objekts in der Malerei den Charakter ihres Objekts nicht mehr in der frontalen Konfronta tion, sondern in Ausschnitten und neuen Perspektiven erfassen wollte, hatte in der Sowjetunion wesentlich die fotografische Praxis geprägt, wurde doch gerade die Fotografie als wesentliches Element des radikalen gesellschaftlichen Umbruchs begriffen. Die Fotografie sollte sich als Kunst des Industriezeitalters mit re

volutionärer Ästhetik in der revolutionierten Gesellschaft enga gieren. Der experimentierende Künstler und der Bildjournalist waren meist identisch wie die Arbeiten von Boris Ignatowitschs und Arkadij Schajchet zeigen. Aus diesem Aufbruch der 1920er Jahre wuchs in den 1930er Jahren kontinuierlich eine neue Gene ration von journalistisch arbeitenden Fotografen heran, die sich trotz der Restriktionen der Partei gegen Formalismus auf der ei nen und Naturalismus (wie etwa das Loch im Pullover des Bestar beiters) auf der anderen Seite wesentliche Elemente der neu ent wickelten Bildsprache bewahren konnte. Dazu zählten etwa in der ersten Hälfte der 1930er Jahre Iwan Schagin, Georgi Selma und Georgi Petrusow, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre Michail Sawin, Dmitri Baltermanz und Jewgeni Chaldej. Ihnen al len gelang nach intensiver Lehrzeit der Sprung aus der Provinz zu einer Zentralpublikation in Moskau.

Jewgeni Chaldej gelang dieser Schritt im Jahr 1936. Geboren 1917 in einer gläubigen jüdischen Familie im ukrainischen Jusowka am Donez (1924 1961: Stalino, seitdem Donezk) hatte er sich den Umgang mit dem Fotoapparat ohne formale Ausbildung selbst beigebracht (die erste Kamera war ein Eigenbau). In der Fabrik, in der er seit 1930 arbeitete, porträtierte er die Bestarbeiter, 1932 fuhr er als Fotograf mit einer Agitationsbrigade durch das Gebiet von Stalino und wurde mit dem massenhaften Hungertod in Folge der Zwangskollektivierung konfrontiert. Nach Anstellun gen bei Regionalzeitungen wurde er 1936 nach Moskau zu einem Kurs der Sojusfoto-Agentur delegiert, wo ihm die Qualität seiner Arbeiten eine Anstellung bei der Nachrichtenagentur

schaffte.

1 Sowjetische Flagge (Montage), Berlin, Reichstag 2.5.1945

2 4 Sowjetische Flagge, Berlin, Reichstag 2.5.1945


TASS ver
ausstellungen
gegenüber
gende Doppelseite kulturstiftung des bundes magazin 11 1 2  4
und fol-

Die Arbeit bei TASS nahm er auch wieder nach dem Ende des Krieges auf, wurde aber 1948 entlassen, ohne eine neue Anstel lung zu finden. Die spätstalinistische Verfolgungswelle gegen den Kosmopolitismus fokussierte sich in diesen Jahren immer stärker auf die jüdischen Bürger. Der Tod Stalins im Jahr 1953 verhinder te zwar den Übergang von der Diskriminierung zum offenen Terror, und Chaldej fand nach einiger Zeit auch wieder angemes sene Anstellungen bei der Parteizeitung Prawda und der Zeit schrift Sowjetskaja Kultura, aber diese Erfahrung war ein scharfer Einschnitt in seinem Leben vielleicht schärfer als die Jahre des Krieges. Stand doch am Anfang seiner Lebensgeschichte der Tod der Mutter, die 1918 in einem Pogrom antibolschewistischer wei ßer Truppen ermordet worden war. Für ihn wie für viele jüdische Bürger gab es angesichts derartiger Erfahrungen kaum eine Al ternative zur Sowjetmacht, zumal sie Bildungs- und Aufstiegs möglichkeiten bot, die das zaristische Russland den Juden ver weigert hatte. Und im Krieg waren Jewgeni Chaldejs Vater und seine Schwestern unter den zwei Millionen sowjetischen Juden, die von den deutschen Einsatzgruppen ermordet wurden. Seine

Fotos aus Berlin zeigen nicht nur in der Ikone der Roten Fah ne auf dem Reichstag , dass der sowjetische Sieg auch Chaldejs ganz persönlicher Sieg war. Umso tiefer musste ihn, den Fotografen im Zentrum der politischen Macht, die eindeutig antisemi tisch motivierte Diskriminierung der Nachkriegsjahre getroffen haben.

Jewgeni Chaldej hat nach dem Krieg noch etliche Jahrzehnte fo tografiert, bis seine Augen die Arbeit mit der Kamera nicht mehr zuließen. Diese umfangreichen Arbeiten der Nachkriegszeit ste hen im Schatten der Kriegsfotos und sind noch zu entdecken, denn sie waren gewiss mehr als sozialistische Aufbau- und Fort schrittspropaganda. Aber auch dann wird der Schwerpunkt sei nes Werkes bei den Fotos der vier Jahre 1941 1945 zu finden sein, das liegt einfach am Gegenstand.

Eine große Zahl dieser Kriegsfotos sind Bilder von Helden und Heldentaten, von Paraden und Triumphen, großartige Bilder, die trotz der propagandistischen Eindeutigkeit der Aussage noch Personen erkennen und nicht in Klischees abrutschen. Aber ein

drücklicher sind die Fotos, die die andere, die Schreckensseite des Krieges zeigen, und vor allem die Fotos der Mehrdeutigkeit, in denen die Kontraste aufeinander treffen: die Moskauer, die nicht heroisch, sondern ängstlich auf die Lautsprechermeldung vom deutschen Überfall reagieren das Idyll der Sonnenbadenden mit Schirmchen vor der Kulisse des zerstörten Sewastopol die ratlosen alten Frauen, die im Mai 1945 an der Berliner Yorckstraße den sowjetischen Panzern begegnen . Zu den berührendsten Fotos zählt wohl die Aufnahme eines Paares am Rande der Siegesparade auf dem Roten Platz im Juni 1945 : eine schmale Frau im einfachen Mantel an der Seite eines hochdeko rierten Stabsoffiziers in Paradeuniform eines einbeinigen In validen auf Krücken . Nie ist der Preis des Sieges so beiläufig wie sinnfällig vermittelt worden. Chaldej hat das Bild erst nach vier Jahrzehnten zur Veröffentlichung herausgegeben. Jewgeni Chaldej starb 1997 in Moskau.

Peter Jahn , geb. 1941, Osteuropahistoriker, war bis 2006 Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst. Ein Schwerpunkt der Muse umsarbeit war die Kriegsfotografie. Peter Jahn lebt in Berlin.

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Sowjetische Flagge auf dem Brandenburger Tor, Berlin 2.5.1945

Sowjetische Flagge, Budapest, Februar 1945

Sowjetische Flagge, Berlin, Reichstag 2.5.1945

Sowjetische Flagge, Berlin, Fughafen Tempelhof 2.5.1945

Positionierung der Flagge, Berlin 2.5.1945


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nach den tropen. plädoyer für eine transareale perspektive

Der Begriff Tropen weckt beim Betrachter aus westlichen Kulturkreisen Bilder von üppiger Exotik, die uns nicht zu letzt durch traditionelle Kunst aus den Zonen entlang des Äquators überliefert sind. Seit ihrer Entdeckung stehen die Tropen aber auch für das Scheitern des Zusammenlebens und der Verständigung verschiedener Kulturen. In jüngster Zeit ist eine Hinwendung der zeitgenössischen Kunst zu den Tropen zu entdecken, die das mythisch aufgeladene Sujet als Reflexionsraum von Hoffnungen und Verstörun gen im Horizont der sich globalisierenden Welt neu erfin det. Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Ausstellung Die Tropen Ansichten von der Mitte der Welt kugel , die Positionen zeitgenössischer Künstler/innen mit ausgewählten Werken aus den Sammlungen des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem so kombiniert, dass eine transareale Perspektive aufscheint. Ottmar Ette beschreibt ihre lange, zumeist traurige Vorgeschichte und plädiert für ein neues Verständnis der Tropen.

Zu Beginn seiner im Jahre 1524 verfassten und seinem Landsmann Francesco Maria Sforza, dem Herzog von Mailand, gewidmeten Sieb ten Dekade zog Pietro Martire d’Anghiera eine kurze historische Bilanz der zurückliegenden Jahrzehnte europäischer Expansion. Vor allem betonte er dabei die außergewöhnliche Frucht barkeit und den Reichtum der dem Ozean ent stiegenen Weltgegenden; denn Jahr für Jahr ent decke man neue Länder, neue Völker und einen Berg an unermesslichen Reichtümern.

Was hier der in der spanischsprachigen Welt un ter dem Namen Pedro Mártir de Anglería be rühmt gewordene erste Geschichtsschreiber der Neuen Welt zusammenfasst, ist die europäische Vision eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf dem Schoße des Meeres aus der Perspek tive der Alten Welt immer neue Inseln und Fest länder mit ihren fremdartigen Bewohnern zu entsteigen schienen. Jeder Tag, so schrieb er vol ler Freude an anderer Stelle, bringt uns neue Wun der aus jener Neuen Welt, von jenen Antipoden des Westens, die ein gewisser Genuese (Christophorus quidam, vir Ligur) aufgefunden hat. Das Gefühl einer ungeheuren Beschleunigung in einer neu en Zeit ist jeder Zeile des italienischen Chronis ten, der all seine Informationen direkt an den jeweiligen Papst nach Rom übermittelte, anzu merken.

Nicht nur für Pietro Martire d’Anghiera, der nahezu alle entscheidenden Protagonisten der

europäischen Entdeckungsfahrten persönlich kannte und als getreuer Geschichtsschreiber von Beginn an alles festhielt, was ihm seit 1493 , also der Rückkehr des Kolumbus, am spanischen Hof oder im Consejo de Indias zu Ohren kam, standen die neu entdeckten Länder der Tro pen im Zeichen einer wunderbaren Fruchtbar keit und eines unermesslichen Reichtums. All dies blieb im kollektiven Langzeitgedächtnis Europas haften: Bis ins 19. Jahrhundert glaubte man, Gold und Edelsteine nur in tropisch hei ßen Ländern finden zu können; und noch im 20. Jahrhundert gab es selbst unter den Forschern viele, die von der unerschöpflichen Fruchtbar keit tropischer Landwirtschaft überzeugt waren. Die Tropen also die bildhaft-rhetorischen Fi guren der Tropen verbreiteten sich von Euro pa aus weltweit mit Langzeitwirkung. Nicht erst bei der Nachricht von Magellans bzw. Elcanos Umsegelung der Welt, sondern schon zu Beginn dessen, was wir heute als die erste Phase beschleunigter Globalisierung bezeich nen dürfen, wurde Martire d’Anghiera klar, dass die Kunde von der Existenz zuvor im Abend land unbekannter Völker zwischen den Wende kreisen den Horizont des nicht nur geografischen Wissens der Antike ein für allemal ge sprengt hatte. Die Vorstellung von der Unbe wohnbarkeit der heißen Erdregionen tauchte zwar noch eine Zeit lang immer wieder auf, wich im neuen kartografischen Bild der Erde aber

von ottmar ette

rasch den erwähnten Tropen, denen sich seit Christoph Kolumbus’ Bordbuch (1492 /3 ) Bilder des Irdischen Paradieses und seit Thomas Morus’ Utopia (1516 ) Projektionen anderer Ordnungen gesellschaftlichen Lebens beigesell ten. Längst wirkten die Tropen auf die Außer tropen zurück.

das eigene im anderen

Bei Martire d’Anghiera lässt sich dabei genau beobachten, wie das Bild der Tropen schon früh auch negative, ja bedrohliche Züge entfaltet. Verantwortlich für die Tropenkrankheiten, unter denen die Europäer litten, seien gewiss die zum Teil so ungewohnten Lebensbedingungen und Lebensmittel; ausschlaggebend aber sei vor allem das Klima, da Hispaniola und Jamaica weit südlich des Trópico de Cáncer , des Wende kreises des Krebses und damit in Gegenden lägen, welche die Philosophen auf Grund der Sonnenglut für unbewohnbar hielten. Doch noch etwas ande res befalle all jene, die um des Reichtums willen nach den Tropen strebten: Weit von allen Auto ritäten und Geboten entfernt, bewirke ihre blin de Gier nach Gold, dass jene, die zahmer als Lämmer von Europa aufbrächen, sich gleich nach ihrer Ankunft in wilde Wölfe verwandelten. Die Tropen treiben das Andere im Eigenen hervor. Diese wun dersamen Metamorphosen belegen, wie früh die Tropen im europäischen Bildarchiv zu einer Kippfigur wurden: Der Fülle des Reichtums

und der Fruchtbarkeit entspricht die Fülle an Krankheiten und Gefahren, welche die Körper wie die Seelen derer befallen, die sich nach den Tropen begeben. Die Tropen sind Hölle und Pa radies zugleich.

Innerhalb weniger Jahre waren die frühneuzeit lichen Tropen an die Stelle der gewiss in vielen Mythen fortwirkenden antiken Vorstellungen tropischer anoekumene getreten. Die neuen Tro pen sind Bewegungsfiguren, die aufs Engste mit der kartografischen Erfassung des Erdballs verbunden klimatologische wie geologische, ökonomische wie landwirtschaftliche, epidemologische wie epistemologische, soziologische wie mythologische, philosophische wie literarische Aspekte auf dynamische Weise miteinan der verquicken. Die Tropen werden zum Para digma.

Wie sehr sich auch in der zweiten Phase be schleunigter Globalisierung die historischen Kontexte gewandelt haben mögen und an die Stelle der iberischen Mächte längst Frankreich und England getreten sind: Jene Tropen, die aus europäischer Sicht die Tropen bestimmen, fin den sich auch in den Schriften der europäischen Aufklärung. Vergeblich wehrten sich amerika nische Aufklärer wie Clavijero dagegen, in der Nachfolge Buffons von der europäischen Wis senschaft zum inferioren Anderen Europas ab gestempelt zu werden. In der seit ihrer Erstaus gabe von 1770 berühmt gewordenen Enzyklo

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pädie der kolonialen Expansion Europas, Guil laume-Thomas Raynals Histoire des deux Indes , erscheinen Fülle und Fruchtbarkeit der Tropen ebenso wie ihre Bedrohlichkeit und In feriorität. Dies sind Bilder, die wenige Jahre zu vor, in den ab 1768 in Berlin erschienenen Re cherches philosophiques sur les Amé ricains des Cornelius de Pauw, im Zeichen der Degenerationsthese eine geradezu apokalyptische Dimension angenommen hatten: Von den Tropen aus breiten sich Krankheiten wie die Syphilis über den gesamten Planeten aus. Gleichzeitig strebte die ökonomische Ausplün derung der Tropen einem neuen Höhepunkt zu, wobei sich Raynal noch immer jener Bilder be diente, die uns seit Beginn des 16. Jahrhunderts vertraut sind. Zweieinhalb Jahrhunderte nach Martire d’Anghiera heißt es in der Histoire des deux Indes , alle Europäer gleichviel ob Spanier oder Portugiesen, Holländer, Eng länder oder Franzosen verwandelten sich in den Tropen nicht nur in Menschen, die aller Missetaten fähig seien, sondern in domestizierte Ti ger, die in den Urwald zurückkehrten und von einem Durst nach Blut ergriffen würden, sobald sie ihrem Durst nach Gold nachgäben. Traurige Tropen, fürwahr.

Erneut werden die Tropen nicht nur zum Ande ren Europas, sondern auch zum Ort, an dem das Andere im Eigenen des Europäers sich Bahn bricht und jener Domestizierung entflieht, die man als den Prozess der Zivilisation bezeichnen könnte. Die weiten Regionen auf beiden Seiten des Äquators, dessen Überschreiten seit der Frühzeit der Entdeckungsreisen und bis in unsere Tage auf europäischen Schiffen in ritualisierter und oft karnevalisierter, also just das Andere im Ei genen hervortreibender Form gefeiert wird, wer den so zur Spielfläche eines Zerstörungsprozesses, der in der zweiten Beschleunigungsphase der Globalisierung keineswegs sein Ende fand. Die militärischen und ökonomischen Vorstöße der USA in die tropischen Archipele der Karibik und der Philippinen weisen am Ausgang des 19 Jahrhunderts auf einen neuen Protagonisten, der sich, wie der kubanische Dichter José Martí wohl als erster erkannte, in der dritten Phase nun aus der Perspektive seines Manifest des tiny alter kolonialer Tropen bediente.

im zeichen der apokalypse

In seinem 1955 erschienenen Band Tristes Tropiques , der auf Brasilienaufenthalte zwi schen 1934 und 1939 zurückgeht, ging der fran zösische Mythenforscher Claude Lévi-Strauss daher nicht umsonst den rhetorischen Figuren der Tropen nach. Traurig werden diese Tropen in einem ästhetisch durchdachten Spiel von Spiegelungen entworfen, in dem die (rhetorische) Figur des europäischen Entdeckers in einem rousseauistisch eingefärbten Ethnologen

und Tropenforscher reflektiert wird, der sich als letztes Glied einer langen Kette der Zerstörung zu begreifen beginnt. Die reiche Fülle der Tro pen blitzt in ihrer Diversität an Völkern und Kulturen just in jenem Augenblick auf, in dem die von den Europäern ausgehende Destrukti on ihr Werk zu vollenden scheint: Alles ist dem Untergang geweiht. Im Verschwinden der TupiKawahib zeigt sich das Desaster eines europäischen Dursts nach Wissen, der nicht auf ein Wissen vom Zusammenleben mit dem Anderen gerichtet ist und dessen globales Triumphieren mit allen zu Gebote stehenden literarischen Mitteln als globales Scheitern vorgeführt wird. Denn längst sind auch die polynesischen Inseln zube toniert und in Flugzeugträger verwandelt worden, während Asien und Afrika einer immer schnel ler um sich greifenden dégradation ausgesetzt werden: Nicht mehr die Karavellen, wohl aber die Flugzeuge skizzieren Kartographien, aus de nen die Regenwälder und Urwälder dieses Pla neten Stück für Stück verschwinden. Es liege in der Logik dieser großen abendländischen Zivilisa tion, dass nicht nur ihre Schöpfungen und Konstruktionen, sondern auch ihr Unrat und ihre Destruktionen das Gesicht der Welt entstellen.

Die Tropen des Diskurses signalisieren planeta rische Räume, die weniger im Zeichen der Uto pie als der Apokalypse stehen.

Die Erzählerfigur in Lévi-Strauss’ Tristes Tro piques zeigt auf, wie vor dem Hintergrund der Zerstörung der Tropen Amerikas, Asiens und Afrikas die Entwicklungen in den Amazonasge bieten nur aus der weltumspannenden Dimen sion der Tropen heraus verstanden werden kön nen. Keineswegs ein neues Phänomen: Bereits im 16. Jahrhundert bauten die iberischen Mäch te jene weltweiten Infrastrukturen auf, die Me xiko über den Hafen von Veracruz und die Karibik nicht nur transatlantisch mit Europa ver banden, sondern über den Hafen von Acapulco und die Philippinen transpazifisch mit dem Handel in Asien verknüpften. Es wird folglich Zeit, nicht nur im Bereich der Klimatologie die Tropen transtropisch zu sehen.

Bislang tauchten um die Metaphorik Pietro Martire d’Anghieras zu verwenden in sukzessiven Globalisierungsschüben aus dem Schoße des Meeres Inseln, Archipele und Kontinente auf, die eine Welt der Tropen konfigurierten, welche Europa nach seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen umzugestalten suchte und als koloniale Ergänzungsräume konzipierte. Die aus schließliche Beleuchtung dieser einseitigen Orientierung an Europa aber verdeckt die Tatsache, dass sich zwischen diesen Inseln, Archipelen und Kontinenten längst vielfältige Beziehungen hergestellt haben, die auf der ökonomischen wie der sozialen, der kulturellen wie der politischen Ebene zukunftsweisende Phänomene hervorge bracht haben. Jenseits einer gewiss auch fortbe

stehenden Dialektik von Fülle und Zerstörung wurden die Tropen zu einem Raum, der sich nicht so sehr durch seine territorialen oder klimatischen Grenzen definiert, als vielmehr durch immer neue Bewegungsmuster, die dank ihrer ständigen Querungen und Kreuzungen diesen Bewegungs-Raum erst erzeugen.

transareale tropen

Das Beispiel der Karibik zeigt diese dynamische Generierung von Raum deutlich auf. Denn es genügt nicht, den Archipel der Karibik allein aus seiner Beziehung zu Europa zu begreifen. Es gilt vielmehr, neben der internen Relationalität des vielkulturellen Archipels und den he misphärischen Verknüpfungen mit dem gesam ten amerikanischen Kontinent die transatlan tischen wie die transpazifischen Bezugssysteme mit einzubeziehen. Dabei spielen die AfricAme ricas mit ihren Wegen über den Black Atlantic ebenso eine wichtige Rolle wie die ArabAmeri cas (die Migrationen und Beziehungen zur ara bischen Welt) oder die AsiAmericas: Migrationen von Menschen wie von Anbauprodukten, von Wissen wie von Erzeugnissen unterspülen eine Sichtweise, die eine bestimmte Region der Tropen aus ihrer jeweils privilegierten Bezie hung zu und mit Europa zu verstehen sucht. Es geht um eine Vervielfachung der Perspektiven, strukturiert von einem Forschen mit anstelle eines Forschens über. Die herkömmliche Form der Area Studies ist nicht länger in der Lage, jene dynamischen Netzwerke zu untersuchen, die es nicht gestatten, eine Region allein aus ihren statisch-territorialen Grenzen und Gegebenheiten zu erfassen. Ziel sollte es vielmehr sein, be stimmte Areas wie etwa Lateinamerika, Südostasien oder Nordafrika mit Hilfe von Trans Area Studies neu zu konfigurieren und aus ihren welt weiten Vernetzungen heraus zu begreifen. Wie das Beispiel der Karibik in der sich die unterschiedlichsten Wege des Wissens aus Afri ka und Europa, aus Süd-, Mittel- und Nordame rika, aus Indien und China überkreuzten als Teil der Welt der Tropen bereits zeigt, dürfte es keinen anderen Großraum des Planeten geben, der stärker als die Tropen in den unterschied lichsten Richtungen extern vernetzt ist und zu gleich eine so hochgradig diskontinuierliche und vielfältige interne Relationalität aufweist wie die Tropen. Es wäre geradezu absurd, sie in ihrer Pluralität allein anhand von Ekliptik und Sonnenhöhen, Klima und Vegetation, Windund Meeresströmungen, der Land-Wasser-Ver teilung oder bestimmter ökonomischer, sozialer oder politischer Indikatoren zu bestimmen. Denn jede Migration hat im Verbund mit den unterschiedlichen Phasen beschleunigter Glo balisierung eigene Logiken auf die Tropen proji ziert und in die Tropen exportiert. So wie Victor Klemperer in einem auf den 12. August 1935 da

tierten Fragment unter dem Titel Café Eu rope jüdischen Auswanderern, die sich auf den Weg ins peruanische Exil gemacht hatten, hin terherrief: Habt ihr Sehnsucht nach Europen? / Vor euch liegt es in den Tropen; / denn Europa ist Begriff! Nicht nur für Europa waren die Tropen stets ein Reflexionsraum eigener Hoffnungen und Ängs te, eigener Schöpfungen, Störungen und Zerstörungen. In gewisser Weise lassen sich Anfang und Ende jener Kurztexte, die der Kubaner Guillermo Cabrera Infante 1974 in seinem Band Vista del amanecer en el Trópico ver einigte, wie die Geschichte jener europäischen Tropen der Tropen, jener Expansion und Apo kalypse lesen, die uns bei unseren Überlegungen von Martire d’Anghiera zu Lévi-Strauss führten. Denn wenn im ersten Text dieser Vista die In seln aus dem Ozean auftauchen und sich Insel um Insel zu einem (kubanischen) Archipel formie ren, so zeigt sich am Ende eine traurige, unglück liche und lange Insel, die sich aber erst, nach dem sie der letzte Indianer, der letzte Spanier, der letzte Afrikaner, der letzte Amerikaner und schließlich auch der letzte Kubaner verlassen haben endlich ihrer Lage im tropischen Golf strom erfreuen darf: schön und grün, unvergäng lich, ewig. Aber gibt es Tropen ohne Menschen? Sind die Tropen seit ihrer Erfindung in der ers ten Phase beschleunigter Globalisierung immer wieder vom scheiternden Experiment des Zu sammenlebens verschiedener Kulturen und Herkünfte geprägt, so ist es heute an der Zeit, sie transareal zu verstehen und gleichsam neu zu erfinden. Jenseits der aus der europäischen Per spektive stets privilegierten Abhängigkeitsbeziehungen von Europa eröffnet sich das bislang sträflich vernachlässigte Feld eines vielgestalti gen und diskontinuierlichen Raumes, der durch komplexe globale Bewegungen, die diesen welt umspannenden zentralen Gürtel des Planeten queren, immer wieder neu geschaffen wird. Bli cken wir heute nach den Tropen, so gilt es ge wiss, die über Jahrhunderte tradierten Tropen dieses Bewegungsraumes nicht zu vergessen. Ein adäquates Verständnis der Tropen aber wird man aus den unterschiedlichsten Perspektiven nur entwickeln, wenn mit einer transarealen Logik die Tropen nach den Tropen ins Blickfeld rücken. Die Tropen sind die TransArea par ex cellence.

Ottmar Ette ist Professor für französisch- und spanischsprachige Literatur an der Universität Potsdam. 2004/05 war Ottmar Ette Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm ZwischenWelten Schreibe. Literaturen ohne festen Wohnsitz im Kulturverlag Kadmos, 2005

Wir danken dem Goethe-Institut für die freundliche Genehmigung zum Vor abdruck des Artikels von Ottmar Ette, der in der Sonderausgabe Die Tropen in uns des Humboldt-Magazins Anfang Juli 2008 erscheint. Humboldt wird seit 50 Jahren für Leser in Lateinamerika auf Spanisch und Portugiesisch herausgegeben. Das Goethe-Institut, das Haus der Kulturen der Welt und das Centro Cultural Banco do Brasil sind Kooperationspartner der Kulturstif tung des Bundes für die Ausstellung Die Tropen Ansichten von der Mitte der Weltkugel. Sie ist vom 11 9 2008 bis 5 1 2009 im Mar tin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen und wird von einem umfangreichen Rah menprogramm begleitet.

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ausstellungen kulturstiftung des bundes magazin 11

Im Rahmen des Projekts Wechselstrom , das von der Kulturstiftung des Bundes gefördert wurde, präsentierten im Herbst 2007 Schriftstellerinnen aus sechs Ländern Mit tel- und Osteuropas ihre aktuelle Literatur in Freiburg, Basel, Wien, Leipzig, Göttingen und Berlin. Zu ihnen gehörte auch die hierzulande weitgehend unbekannte, aus dem weißrus sischen Minsk stammende Dichterin Valzˇyna Mort. Weißrussland, seit 1991 ein unabhängiger Staat, hat zweihun dert Jahre massiver Russifizierung hinter sich. Die weißrus sische Sprache war zunächst durch Zarenerlass und später durch Stalins Sprachreform aus allen Bereichen des öffent lichen Lebens zugunsten der russischen Sprache verdrängt worden und wird es unter dem jetzigen Präsidenten auch wieder! Nur noch ein Viertel der Bevölkerung in Weißruss land versteht es, die eigene Sprache zu sprechen. Die Ent scheidung, auf weißrussisch zu schreiben, ist deshalb nichts weniger als ein Bekenntnis: es mit den Gefährdungen einer in vielfacher Hinsicht bedrohten Sprache aufzunehmen und ihren verschütteten Reichtum wiederzugewinnen. Die Ge neration der 1970 bis 1980 Geborenen wuchs in der Peres-

trojka-Zeit und unter dem ersten weißrussischen Präsi denten Schuschkewitsch auf, der das Land auf einen demo kratischen Weg brachte zu einem Zeitpunkt also, da es selbstverständlich wurde, die eigene Sprache zu sprechen, und geradezu eine Euphorie für alles Weißrussische im Lan de herrschte. Diese Selbstverständlichkeit, dieser Stolz und dieses Selbstbewusstsein hat die Generation, zu der Valzˇyna Mort gehört, entscheidend geprägt. Valzˇyna Morts Gedichte, von denen wir hier einige wenige in deutscher Erstveröffentlichung in Übersetzung durch Katharina Narbutovicˇ vorstellen, zeugen von einer Klang kunst, die man ungleich lieber hören als lesen sollte. Doch hoffen wir, dass wir mit dieser Auswahl einen Eindruck von der Musikalität ihrer Sprache, der Fülle ihres sprachlichen Bilderreichtums, ihrer Sinnlichkeit und ihrer Genauigkeit, vermitteln können. Fast unmöglich ist es hingegen, anhand dieser kleinen Auswahl ihr breites Themenspektrum zu er ahnen, das von der Minsker Kindheit und der weißrussischen Sprache bis hin zu den New Yorker Straßenschluchten und den Stränden Floridas reicht.

настаўнік калі ты хочаш

meister willst du mein meister sein musst du ein tiger werden um mir den kopf abzureißen dann folge ich dir auf schritt und tritt weil ich den kopf zurückwill

großmama

meine großmama weiß nicht, was schmerz ist sie meint hunger sei eine speise armut sei reichtum und durst wasser ihr körper ist wie eine rebe um einen stab gerankt ihr haar dünn wie bienenflügel sie schluckt sonnenflecken als tabletten nennt das internet telefon nach amerika ihr herz ist eine zarte rose geworden zu spüren nur fest an sie geschmiegt, und dann auch kaum zu mehr taugt es nicht nur noch zur blume großmamas arme zwei storchenbeine zwei rote stöckchen und ich hocke mich hin und heule wie ein wolf den weißen halbmond deines hauptes an großmama ich sage dir: das ist nicht schmerz das ist gott, der dich so fest umarmt dich küsst, dich pikt mit seiner unrasierten wange

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tränenfabrik
ˇ
бабуля мая бабуля ня ведае болю яна думае што голад – гэта ежа галота – гэта багацьце смага – гэта вада яе цела як вінаград абвілася вакол палкі яе валасы як пчаліныя крылцы яна глытае сонечныя зайчыкі таблетак называе інтэрнэт тэлефонам ў амерыку яе сэрца стала ружаю – яго толькі і можна што нюхаць прыціскаючыся да яе грудзей больш ад яго ніякага толку толькі кветка яе рукі як ногі бусла чырвоныя палачкі і я сяджу на кукішках і выю ваўком на белаю поўню тваёй галавы, бабуля, я кажу табе: гэта не боль гэта так моцна цябе абдымае бог цалуе і коле сваёй няголенай шчакою
die
von valz
yna mort
быць маім настаўнікам табе трэба стаць тыграм каб ты мог адкусіць маю галаву каб потым я хадзіла паўсюль за
увесь
намагаючыся адабраць
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табою
час
сваю галаву назад

берлін – мiнск

праязджаем варшаву. лета. вечар. ператварылася ў вецер сэрца. і дзьме.

дзесяць хвілін на вакзале. вечар. лета. круціцца як планета сэрца ў мяне ўнутры. і гэта не ком у горле, што не сказаць і слова. гэта так адмыслова, гэта так напралом, сэрца лезе праз рот і напружвае зрок.

berlin minsk wir fahren in warschau ein. sommer. abend. das herz ganz wind geworden weht.

zehn minuten aufenthalt. abend. sommer. es kreist wie ein planet das herz in meinem innern.

kein kloß ist es im hals dass ich kein wort rausbringe. es ist so eigentümlich, geschieht so überrumpelnd. mein herz dringt durch den mund drückt mir aufs augenlicht.

фабрыка слёз і зноў па выніках году самых высокіх паказальнікаў дасягнула фабрыка сьлёз.

пакуль міністэрства транспарту таптала абцасы, пакуль міністэрства сардэчных справаў білася ў істэрыцы, фабрыка сьлёз працавала па начах, нават па сьвятах ставіла рэкорды вытворчасьці. у час калі станцыя па апрацоўцы ежы перажоўвала чарговую катастрофу, фабрыка сьлёз перайшла на эканамічна рэнтабэльную пераапрацоўку адыходаў мінулага –галоўным чынам, асабістых успамінаў. фотаздымкі работнікаў году ўрачыста разьмясьцілі на сьцяне плачу. я – інвалід працы фабрыкі-героя слёз, у мяне на вачах мазалі, у мяне пералом шчок. мне плацяць заробак прадукцыяй, якую я вырабляю. і я шчасьлівая тым, што маю.

die tränenfabrik und wieder liegt in der jahresbilanz die tränenfabrik vornean.

während mein verkehrsamt sich noch die hacken ablief und das amt für herzensangelegenheiten noch hysterische attacken ritt, fuhr die tränenfabrik nacht für nacht schicht, brachte selbst an sonntagen neue rekorde der produktion.

während die verdauungsstation jeweils an der aktuellen katastrophe kaute, stellte die tränenfabrik auf rentables recycling um, entsorgte die reste des vergangenen, die eigene erinnerung vor allem.

die fotos der jahresbestarbeiter kamen feierlich an die klagewand.

ich bin arbeitsinvalide meiner heldentränenfabrik, habe schwielen auf den augen, dazu noch den jochbeinbruch bezahlt werde ich nach der leistung und bin zufrieden mit dem, was ich habe.

беларуская мова I нават нашы маці ня знаюць як мы з’явіліся ў сьвет як мы самі рассунуўшы іхнія ногі вылезьлі вонкі так вылазяць пасьля бамбардзіроўкі з руінаў мы ня ведалі хто з нас хлопец а хто дзяўчына і жэрлі зямлю і думалі што жрэм хлеб а нашая будучыня – гімнастачка на тонкай нітачцы далягляду –што там яна толькі не вырабляла бля

мывырасьліўкраінедзе спачаткукрэйдайкрэсьляцьдзьверы іўночыпрыязжаюцьдзьве-трымашыны ізвозяцьнасале ўтыхмашынахбылінемужчыны заўтаматамі і не жанчына с касою але так да нас прыязджала каханьне ізабіралазсабою. толькі ў грамадскіх туалетах мы адчувалі свабоду дзе за двесьці рублёў ніхто не пытаў што мы там робім мы былі супраць сьпёкі летам супраць

die weissrussische sprache I wie wir zur welt kamen wissen selbst unsere mütter nicht wie wir ihnen die beine spreizten und hervorkrochen von allein so kroch man nach dem bombardement aus den ruinen wir wussten nicht wer von uns junge wer mädchen ist wir fraßen erde und dachten das sei brot unsere zukunft aber — diese tänzerin auf dem dünnen strich horizont was vollführt sie uns da für figuren die hure

wir wurden groß in einem lande wo man erst die türen mit kreide markiert und nachts dann zwei, drei wagen vorfahren und uns holen aber in diesen wagen saßen keine männer mit mgs und nicht der gevatter tod aber die liebe kam so zu uns uns zu holen

nur in den öffentlichen toiletten fühlten wir uns frei für die paar kopeken schert’s keinen was du dort tust im sommer hielten wir gegen die glut und gegen den schnee im winter als man aber sah wir selbst waren unsere sprache und uns die zungen herausriß sprachen wir mit den augen und als sie sie uns ausstachen da sprachen wir mit den händen und die hände abhackten — mit den zehen und die beine zerschossen nickten wir mit dem kopf: »ja« schüttelten ihn: »nein« … als sie jedoch unsere köpfe verschlangen bei lebendigem leibe krochen wir zurück in den schoß unserer schlafenden mütter wie in den luftschutzbunker um noch einmal geboren zu werden

und dort sprang die tänzerin zukunft am horizont durch den feuerreif der sonne

Aus dem Weißrussischen von Katharina Narbutovicˇ Valzˇyna Mort , geboren 1981 in Minsk, lebt zurzeit in Washington D.C. Sie ist Lyrikerin, Prosaautorin, Übersetze rin. 2005 erschien in Minsk ihr erster Gedichtband Ja tonen’kaja jak tvae vejki (Ich bin so dünn wie deine Wimpern); im Januar 2008 erschien ihr zweiter (zweispra chiger) Gedichtband Factory of Tears, der 2007 be reits in der schwedischen Übersetzung publiziert worden war, im amerikanischen Verlag Copper Canyon Press. 2004 erhielt Valzˇyna Mort den Crystal-Preis beim Literaturfesti val im slowenischen Vilenica.

9 lyrik
ў нас выкалалі вочы мы пачалі размаўляць рукамі калі нам адсяклі рукі мы размаўлялі пальцамі на нагах калі
мы залезлі назад ў чэравы нашых сьпячых маці як у бомбасховішчы каб нарадзіцца ізноў а там на даляглядзе гімнастачка нашай будучыні скакала праз вогненны абруч сонца
сьнега зімой а калі апынулася што мы былі нашай мовай і нам вырвалі языкі мы пачалі размаўляць вачыма а калі
нам прастрэлілі ногі мы ківалі галавою на »так« і хісталі галавою на »не«... а калі нашыя галовы з‘елі жыўцом
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einwortphrasen

von burkhard müller

die phrase ist der tod des Denkens und der Sprache in der Erstarrung. Beide, Sprache und Denken, leben von der Beweg lichkeit, davon, dass an jedem ihrer Gelenke eine Schwenkung möglich bleibt. Wenn das Denken sich nicht mehr rühren mag, so erkennt man das mit untrüglicher Sicherheit daran, dass im mer wieder dieselben festen Redewendungen auftauchen. Eine Phrase wird darum, wie ein eingerostetes Scharnier, normaler weise aus mindestens zwei Teilen, das heißt zwei Wörtern beste hen, die vormals gegeneinander mobil montiert waren und diese Mobilität eingebüßt haben.

Es gibt aber auch Phrasen, die bestehen nur aus einem einzigen Wort. Das sind eigentlich die interessantesten. Erst einmal schei nen sie ganz unschuldig, wie ein bloßes Stichwort im Lexikon. Aber wenn man sie genauer anschaut, erkennt man, dass, wie in einen Brühwürfel eine ganze Suppe, so in ihre kompakte Gestalt eine ganze Mentalität eingegangen ist, eine bestimmte Art, die immer sich wandelnde Welt starr zu betrachten. Die öffentliche Rede ist voll von ihnen, in der Politik, in der Kultur, in der Wirt schaft, in Festreden und Ansprachen aller Art, wo immer einer ein feierliches Gesicht aufsetzt, eine Erörterung abzuschneiden wünscht, an eine Ressource heranwill, einen anderen einschüch tern oder ihm etwas aufzwingen möchte. Einwortphrasen sind Machtworte. Als die am weitesten verbreitete und wirkungsvolls te darf Arbeitsplätze gelten wie die funktioniert, hat sich inzwi schen herumgesprochen. Aber es gibt noch viel mehr; und ein paar von ihnen, bevorzugt solche, die sich gern in kultureller Re de einfinden, soll hier auf den Zahn gefühlt werden.

paradigmenwechsel

Das Paradigma und sein Wechsel haben ja nun schon einige Jahr zehnte auf dem Buckel (vier, um genau zu sein), aber aus der Mo de kommen sie nie. Sie laufen unter der Rubrik Oldies but Goldies, und wenn der Moderator das Beste der Sechziger, Siebziger, Achtzi ger und von heute! ankündigt, fehlt dieser Schlager selten. Es war eine inspirierte Idee des Wissenschaftstheoretikers Tho mas Kuhn, dessen aktiv tradierter Ruhm sich ganz in diese ein einhalb Vokabeln zusammengezogen hat, als er den Begriff des Paradigmas aus dem Bereich der Grammatik, wo er herstammt, in die Wissenschaftsgeschichte übertrug. In der Grammatik ver steht man unter einem Paradigma ein Beugungsschema für Wör ter, also etwa ich gehe du gehst er geht usw., einfach ein tabel lenfüllendes Muster neben anderen seinesgleichen und das, was die Sprachschüler zumeist meinen, wenn sie über die Grammatik stöhnen. Kuhn verwandelte dieses Nebeneinander in die zeitliche Sukzession und verlieh dem Wort damit eine Unduldsam keit, die ursprünglich nicht drin gesteckt hat. Wer sich in seiner Jugend auf ein wissenschaftliches Paradigma festgelegt hat, hält daran fest mit Zähnen und Klauen, denn jeder Umbruch würde ihm und seinen Kollegen die Lebensarbeit entwerten und sie alle ins Abseits drängen. Das klassische Beispiel eines solchen Para digmenwechsels sind die Errungenschaften Albert Einsteins ge genüber der klassischen Newtonschen Physik.

Es geht also noch um viel mehr als ein bloßes Umdenken. So ra dikal vollzieht sich der Wechsel hier, dass er sogar die sonst stets gemachte Voraussetzung, es gebe wissenschaftlichen Fortschritt, in Gefahr bringt. Denn die Veränderung vollzieht sich nicht im stockwerkhaften Weiterbau, wo eine Generation die Funda mente liefert, die zweite die Mauern und die dritte das Dach; sondern eher nach dem Muster der Mode. Natürlich ist der neue Hut dieser Saison irgendwie auf der Basis des alten erwachsen, aber das hilft diesem nichts; er ist nunmehr ganz klar bloß noch ein alter Hut, und ihn zu tragen macht lächerlich. Der geistige Strom wechselt sein Bett, komplette Flussschlingen werden abgeschnitten, büßen die Befahrbarkeit ein und ver sumpfen.

Mehr als einen Paradigmenwechsel pro Fach und pro Generati on oder Jahrhundert kann es also gar nicht geben. Aber es ist er staunlich, wie schnell aus einem Tausendmarkschein ein Tau sendlireschein werden kann, wenn man seinen Kredit überzieht. Jeder hat sich daran bedient, der nur überhaupt nur irgendwas

anleiern und seinem Projekt Zuwendung und Zuwendungen ver schaffen wollte. Das Paradigma schrumpfte ein zur bloßen stei gernden Vorsilbe des Wechsels (so wie etwa steinalt älter als alt und saukalt kälter als kalt ist); und auch mit dem Wechsel nahm man es nicht mehr so genau, dass er unbedingt ein Nacheinan der bezeichnen müsste. Sogar in der bildenden Kunst, wo doch von jeher ganz verschieden geartete Talente nebeneinander sa ßen, sich vielleicht grollend beäugten, aber vom Markt gerade in ihrer reizvollen Differenz geschätzt wurden, machte sich die hier gänzlich unpassende Rede vom Paradigma breit sicheres Zei chen dafür, dass es seinen vormals sehr scharfen begrifflichen Biss verlor. Die Paradigmen begannen sich wieder zu vertragen, wenn man jedem von ihnen sein eigenes Kästchen einräumte, wie einst in der Grammatik. Wenn der Weltkongress der Psycho analytiker tagt und der leidige alte Zank zwischen Freudianern und Jungianern beigelegt werden soll, ohne alte Wunden diskur siv aufzureißen, dann einigt man sich am besten darauf, dass hier eben verschiedene Paradigmen am Werk seien; dann nicken alle beifällig und erleichtert. So wurde ein großer Tomahawk zu ei ner kleinen Friedenspfeife umgeschnitzt.

innovation

Neuer Dinge begierig bist du, Catilina! schleuderte Cicero seinem Todfeind in öffentlicher Sitzung entgegen. Jener Catilina hatte unmittelbar zuvor ein missglücktes Attentat auf den Konsul Cicero verübt, er hatte Banden ausgerüstet, die die Stadt in Brand stecken und in Anarchie stürzen sollten aber alles das war nichts im Verhältnis zu diesem aufgipfelnden Vorwurf. Wer bei den Römern Neues wollte, Neues als Neues, der war unten durch.

Und hatten sie nicht recht damit? Wer Neues will, dem sollte füglich erst einmal Misstrauen entgegenschlagen. Er steht in der Pflicht, einen doppelten Beweis anzutreten: erstens, dass das Al te, dass er abgelöst wünscht, ein schlechtes Altes sei; zweitens, in welcher Weise das, was er stattdessen vorschlägt, besser wäre. Nicht als ob das Alte schon als solches gut ist. Aber es hat in je dem Fall bisher so einigermaßen funktioniert, man weiß, wie man mit ihm dran ist; und wem man zumutet, es aufzugeben, dem muss man erhebliche Sicherheiten bieten. In jedem Fall wird die Umstellung sogar aufs Bessere ihren erheblichen Preis haben: Sie wird Mühe machen, Geld kosten, Zeit fressen, Ver wirrung stiften. Es ist wie beim Umzug: Natürlich muss man im Leben zuweilen umziehen; aber dann sollte die andere Woh nung erhebliche Vorteile besitzen, die der bisherigen abgingen. Ob und wann man umzieht, muss man sich ganz genau überle gen, denn die Sache bedeutet unbedingt Stress. Niemand wird es auf sich nehmen, ununterbrochen umzuziehen und aus dem Umzug ein Prinzip zu machen, nur weil er so gern den Möbelwa gen rollen hört.

Genau dieses Prinzip aber steckt als Forderung, die an die Gesell schaft insgesamt ergeht, in dem einen Wort Innovation. Eigent lich heißt es ja nichts weiter als Erneuerung. Aber dem deutschen Wort fehlt der anmaßende Umsturzwille. Erneuern kann man z.B. einen nachgedunkelten Hausanstrich oder einen verrotte ten Gartenzaun; dann sollen Haus und Zaun wieder werden wie früher. Erneuern lässt sich ein Arbeitsvertrag, dann läuft er ein fach weiter wie bisher. Wehe aber, es bekommt ihn die Innovati on zu fassen! Dann werden höchstwahrscheinlich die Arbeits zeiten dereguliert, oder eine bisherige Anstellung verwandelt sich in ein Franchising ohne Garantiehonorar. Das Neue, sagt Schopenhauer, sei nur selten das Gute, weil das Gute nur kurze Zeit das Neue sei. Die Innovation behauptet das Gegenteil. Immer, ganz grundsätzlich soll das Neue das Gute sein! Und ist es einmal nicht ganz so gut, so kann das nur daran liegen, dass es inzwischen schon wieder Moos angesetzt hat und infolgedessen ein neues Neues her muss. So lässt sich das Prinzip der Innovation niemals widerlegen.

Aber eine Achillesferse hat die Innovation doch. Da sie das Neue rein formal als unaufhörliche Veränderung bestimmt und in ih ren Begriff keinerlei inhaltliche Merkmale aufnimmt, kommen

die Betroffenen bald auf den Trichter, dass es hier ein bisschen Komödie auch tut. Wenn es vor allem wichtig ist, dass der Mö belwagen sich immerzu bewegt, dann kann man ihn auch drei mal um den Block fahren lassen und die Möbel wieder dort aus laden, wo sie vorher standen, und keiner merkt was. Sobald ir gendeine Einrichtung zur Innovation verdonnert wird, genügt meistens ein kleiner Stuhlwalzer: Alle springen hoch, rennen herum, schreien Innovation! , und wenn die Musik aufhört, set zen sie sich so schnell wie möglich wieder hin. Nur dass (diese kleine Extra-Ersparnis lässt man sich selten entgehen) hinterher ein Stuhl fehlt.

intervention

Es gab einmal eine Zeit, da verursachte die Kunst Skandale. Sie rief: Die Kunst darf alles! Und, vorhersehbar wie ein Echo, scholl es aus der Gesellschaft zurück: Darf sie nicht! Das war eine gute Zeit für die Kunst. Aber sie konnte keinen Bestand haben. Irgendwann hatte die Kunst alle Positionen erobert, die zu erobern ihr lohnend schien, und gleichgültig, was sie von nun an unternahm, es tat ihr einfach niemand mehr den Gefallen, sich aufzuregen, wenn Nackte über die Bühne tanzten, Blut von der Leinwand troff oder ein Pissoir das Museum zierte. Alles war möglich ge worden, und nichts hatte mehr was zu bedeuten. Erst als der Spießbürger sich nicht mehr empören wollte, ver stand die Kunst, was für ein köstliches Elixier sie an seiner Empörung gehabt hatte. Die Figur der kämpferischen Grenzüber schreitung mochte sie um keinen Preis auch in Friedenszeiten mehr missen. So trat an die Stelle des Skandals die Intervention. Nichts anderes bedeutet sie als den flehentlichen Antrag auf ei nen Skandal. Vorher, im Heldenzeitalter der modernen Kunst, herrschte das vor, was die Börse einen seller’s market nennt, das Publikum nahm Anstoß, wo es ihn kriegen konnte, liebend gern und zu fast jedem Preis. Dieser wurde von einem buyer’s market abgelöst, wo die Kunst den Anstoß nunmehr anpries wie sauer Bier. Schaut her, sagt die intervenierende Kunst, wir sind doch ganz frech, wir respektieren eure Grenzen nicht, wir erklären euch den Krieg und marschieren ein, was wollt ihr denn noch! Und da euch die Kunst als solche egal geworden ist und ihr nicht mehr darauf beharrt, dass Kunst von Können kommt, so nehmt uns wenigstens politisch zur Kenntnis und echauffiert euch! Jedoch weiß niemand besser als besagter Spießbürger, an dessen Adresse sich dieses Angebot mit verzweifelten Untertönen rich tet, dass die Kunst und die ihr nahestehenden geistigen Diszipli nen, wo sie aus ihrer Haut heraus und in die Politik hinein wollen, keinen wirklichen Schaden stiften können; nicht mehr als ein kleines Kind, das sich auf den Boden wirft und schreit und mit den Fäusten auf den Boden trommelt. Der Spießbürger also lehnte sich lächelnd zurück und sprach: Ihr tut doch bloß so, als ob ihr einmarschiert! Und so ist es.

Der Begriff der Intervention zeugt hier vor allem von einer em phatischen Verkennung der Lage. Denn Intervention, das be zeichnet den souveränsten Akt des Souveränen. Intervenieren ist das, was mächtige Staaten tun, wenn sie auswärts durch Be nutzung oder Inaussichtstellung direkter Gewalt ihren Interes sen Geltung verschaffen und damit die bestehenden Regeln kurzerhand außer Kraft setzen. Von Regeln hängt allein der ab, der über Souveränität nicht verfügt. Die Kunst begeht einen schweren Irrtum, wenn sie ihre endlich doch errungene Autono mie mit Souveränität verwechselt. Intervention kommt daher auf den Spitzen der Bajonette und aus der Tiefe des Banktresors. Wer keine Bajonette hat und auf anderer Leute Subventionen an gewiesen bleibt, tut gut daran, von dieser kindischen Drohung die Finger zu lassen. Das geht noch nicht mal ins Auge, das schießt bloß leer in den Wind.

Burkhard Müller , geboren 1959 , arbeitet als Dozent für Latein an der TU Chemnitz und als Journalist für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Zuletzt erschien von ihm Die Tränen des Xerxes. Von den Leben digen und den Toten im Klampen Verlag, Springe 2006

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1 Budapest, 1945 2 Ruhepause, Krim 1943 1 2

1 Berlin, Prenzlauer Berg, Juli 1945 2 Chaldej als Soldat in Grundausbildung, 1938  Berlin, Französische Straße 1945 4 Soldaten vor Wien, 1945 5 Am Rande der Siegesfeier auf dem Roten Platz, Moskau 1945

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meldungen

verlängerung der förderung kultureller spitzeneinrichtungen Seit 2004 ver half die Kulturstiftung des Bundes sechs großen kulturellen Spitzeneinrichtungen durch eine zunächst auf max. fünf Jahre zugesicherte Förde rung zu größerer Planungssicherheit. Der Stif tungsrat hat im Dezember 2007 eine Verlänge rung dieser Förderungen bewilligt. Die docu menta wird von 2008 bis 2012 erneut mit 3 , 5 Millionen Euro gefördert, die berlin biennale erhält in den Jahren 2010 und 2012 jeweils bis zu 2 ,5 Millionen Euro, das theatertreffen bekommt für die jährlichen Festivals von 2009 bis 2012 jeweils 1,5 Millionen Euro, die donaueschinger musiktage in den Jahren 2009 und 2010 jeweils 210 000 Euro, das ensemble modern in den Jahren 2009 und 2010 jeweils 445 000 Euro, und das Berliner Medienkunstfestival transmediale wird in den Jahren 2010 bis 2012 mit jährlich 450 000 Euro finanziert.

neue jury Der Stiftungsrat der Kulturstiftung des Bundes hat in seiner Sitzung im Dezember 2007 auch die neue Jury, die über die Anträge in der allgemeinen projektförderung be findet, berufen. Die Jury ist mit Fachleuten ver schiedener künstlerischer Sparten besetzt und wird alle drei Jahre neu berufen. Über die An tragsprojekte beraten ab 2008 Dr. Marion Ackermann, Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart; Dr. Ulrike Lorenz, Direktorin des Kunstforums Ostdeutsche Galerie in Regensburg; Dr. Simone Eick, Direktorin des Deutschen Auswanderer hauses in Bremerhaven; Wilfried Schulz, Schauspiel-Intendant und Geschäftsführer des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover; Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Professorin für Theater wissenschaften mit Schwerpunkt Tanzwissen schaften an der FU Berlin; Dr. Jörg Bong, Pro grammgeschäftsführer und Programmleiter für deutschsprachige Literatur beim S.Fischer Verlag Frankfurt; Hanns Zischler, Schauspieler, Autor, Regisseur; Peter Herbolzheimer, Jazz-Musiker, Komponist, Arrangeur und Dr. Meret Forster, Redakteurin für Neue Musik bei MDR Figaro.

sieben millionen euro für 26 projekte im kur-programm Im Februar 2008 wählte eine Jury 26 Projekte für das programm zur konservierung und restaurierung von mobilem kulturgut ( KUR ) aus. Museen, Archive und Bibliotheken mit kulturgeschichtlich bedeutsamen Objekten, die akut in ihrer Substanz vom Verfall bedroht sind, hatten sich um eine Förderung zur Konservierung und Restau rierung ihrer gefährdeten Sammlungsschätze beworben, für die es größtenteils auch an den notwendigen Techniken oder an den wissen schaftlichen Grundlagen für eine fachgerechte Restaurierung fehlt. Auch dafür werden die För dermittel des KUR -Programms eingesetzt, für das die Kulturstiftung des Bundes 7 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Das KUR -Programm führt sie gemeinsam mit der Kulturstiftung der Länder durch.

Zu den Restaurierungsprojekten gehören unter anderen umbrische Tafelbilder des LindenauMuseums Altenburg, naturkundliche Präparate in Konservierungsflüssigkeit ( Nasssammlungen ) des Museums für Naturkunde der Hum boldt-Universität Berlin, kunst- und naturhisto

kulturstiftung des bundes magazin 1144

rische Objekte des Naturalienkabinetts Waldenburg, eine Stoffmustersammlung der württem bergischen Textildruckfirma Pausa (heute ein Kulturdenkmal), historische Tasteninstrumen te aus Weimar und Halle, archäologische Eisen funde, Tonbänder, Zeitungsseiten, Wachsmou lagen mit naturnahen Wiedergaben von Krank heitsbildern aus dem Deutschen Hygiene-Mu seum Dresden, mittelalterliche Grabtextilien aus dem Dom zu Speyer, historische Waffen aus dem Thüringer Landesmuseum Heidecksburg. Eine vollständige Übersicht über alle im KUR Programm geförderten Projekte und weitere In formationen zum KUR -Programm unter www. kulturstiftung-bund.de/restaurierung

über 100 projekte im fonds neue län der Vor kurzem wurde bereits der 100. Kultur verein im Fonds zur Stärkung des bür gerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern gefördert! Zuletzt kamen dazu der Kunstverein Schwerin , das Heimatmuseum Warnemünde und der Klosterverein Rehna in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen der Hörspielsommer Leipzig und die Freunde aktueller Kunst in Zwickau, in Thüringen der Neue Europäische Kunstsalon und in Brandenburg der Verein Denkmale Glambeck . Im Juli 2002 hatte die Kulturstif tung des Bundes den Fonds Neue Länder einge richtet. Er hat ein Fördervolumen von 3,3 Milli onen Euro.

weitere auszeichnung für einen film aus der kurzfilmrolle mach doch was du willst Der Film Peters Prinzip von Ka thrin Albers und Jim Lacy erhält den FriedrichWilhelm-Murnau-Kurzfilmpreis 2008. Wir gra tulieren! Etliche der insgesamt 11 Filme der Rol le mach doch, was du willst aus dem Pro gramm Arbeit in Zukunft der Kulturstif tung des Bundes sind bereits, zum Teil mehr fach, ausgezeichnet worden. Momentan tourt die Kurzfilmrolle durch deutsche Kinos, Termine unter www.machdochwasduwillst.org

die ausstellung schrumpfende städte auf tournee in russland Zum Ende der zweijährigen internationalen Tournee ist die Ausstellung Schrumpfende Städte nun erstmals auch in Russland zu sehen (14 3.– 28 4 08 ).

Im Pro Arte Institute und im Museum für Stadt geschichte in St. Petersburg präsentiert das Pro jekt zahlreiche Studien zu Ivanovo und Ost deutschland. Ein Resümee der sechsjährigen Forschungsarbeit zeigt das Projekt Schrump fende Städte derzeit außerdem in einer um fassenden Doppelausstellung im Ruhrgebiet. (Dortmund: Museum am Ostwall, bis 27 4 08 / Duisburg: Liebfrauenkirche, bis 11 5 08 ) Weitere Informationen unter www.shrinkingcities.com

neue projekte

Im November 2007 erhielten auf Empfehlung der Jury 23 Pro jekte aller Sparten eine Förderzusage im Rah men der antragsgebundenen Projektförderung.

der große wurf faltungen in der gegenwartskunst Bei Falten und Faltungen denkt man zunächst an Phänomene des Alltags. Weniger bekannt ist, dass sie auch Naturwissen schaftlern, Mathematikern und Philosophen zu denken geben: Wie und warum faltet sich Materie und wie kann man diese Prozesse beeinflussen? Die Ausstellung Der grosse Wurf widmet sich den Prinzipien und Gestaltungs möglichkeiten von Faltungen in hauptsächlich zeitgenössischen Arbeiten im Bereich bildende Kunst.

bild und raum / ausstellungen

michaela melián: speicher vom flüchtigen der moderne Das gemeinsame Aus stellungsprojekt des Ulmer Museums und des Lentos Kunstmuseum Linz widmet sich der Ge schichte der legendären Hochschule für Gestal tung in Ulm (1953 1968 ). Die Ende der 60er Jah re geschlossene Hochschule galt als wegweisend in den Bereichen Design, Architektur, Film, Fo tografie und elektronische Musik. Zur Ausstat tung der Ulmer Hochschule gehörte auch eines der ersten elektronischen Studios der Bundesre publik, welches heute im Deutschen Museum in München steht. Die Künstlerin Michaela Melián gestaltet zur Geschichte dieser Hoch schule eine Rauminstallation als einen erleb baren Erinnerungsraum aus Zeichnungen, Fo tografien, Projektionen und Klängen. Ihr künst lerisches Vorgehen versteht sie als eine Politik der Erinnerung. Zentrale Themen bei diesem Projekt sind die frühe digitale Kultur und das Ver hältnis von Design und Moderne.

Kuratorin: Brigitte Reinhardt / Künstlerin: Michaela Melián Ausstellung und Rahmenprogramm: Ulmer Museum: 20 4. 23 6.08 / Ausstellung: Lentos Kunstmuseum, Linz ( AT : Feb ruar – Mai 2009 / Ulmer Museum www.museum.ulm.de

Kuratorin: Sylvia Martin / Mit Arbeiten von Doug Aitken US ) , John Baldessari US , Michal Budny ( PL , Olaf Holzapfel, Pier re Huyghe ( FR ) Gareth James ( GB Bojan S ˇ arcˇevic´( CS ) Richard Serra ( US Monika Sosnowska PL Wolfgang Tillmans Janaina Tschäpe, Franz Erhard Walther, Albert Weis, Rachel Whiteread GB ) , Haegue Yang ( KR u.a. / Krefeld, Kunstmuseen, Museum Haus Lange und Kaiser Wilhelm Museum: 2 3.–25 5 08 /Kunstmuseen Krefeld www.krefeld.de/kunstmuseen

blickmaschinen optische experimente und ihre rezeption in der zeitgenössischen kunst Die Ausstellung verbindet aktuelle künstlerische Positionen mit einer medienarchäologischen Perspektive. Sie geht von der Beobachtung aus, dass sich zeitgenössische Künstler vielfach historischen Medien zuwenden, um auf diese Weise die Bedingungen aktueller Bild produktion zu reflektieren. Zusammen mit den künstlerischen Arbeiten werden Objekte der umfangreichen Sammlung des Filmemachers Werner Nekes präsentiert, deren Stücke sich zu einer Kulturgeschichte der optischen Medien zusammenfügen: Von der Laterna magica bis zur Wunderscheibe gelten die Objekte als Vorläufer für Film, Fernsehen und digitale Medien. Die künstlerischen Arbeiten variieren an den Aus stellungsorten, um an die Sammlungen vor Ort und den jeweiligen Stand der Debatte anknüp fen zu können.

kavalierstart

1978 – 1982 ausstellung Die Ausstellung Kavalierstart 1978–1982 zeigt künstlerische Positionen der frühen acht ziger Jahre, in denen ein neues Denken in Bildern sichtbar wurde. Bei den Werken der ausgewähl ten Künstler/innen handelt es sich zum großen Teil um frühe Arbeiten von mittlerweile sehr bekannten Künstler/innen. Die Strategien der ausgewählten Künstler/innen setzten sich ab von rationalistischen und funktionalistischen Tendenzen der Moderne und erprobten statt dessen stärker Strategien wie Fiktion und Narra tion, Ironie, Aneignung und Simulation. Der Titel verweist auf die Aufbruchssituation in der bildenden Kunst der frühen achtziger Jahre. Kuratorin: Stefanie Kreuzer / Mit Arbeiten

Kuratorin: Nike Bätzner / Mit Arbeiten von Christan Boltanski FR ) Janet Cardiff & George Bures Miller CA ) Gábor Császári ( HU , Valie Export ( AT , Margarete Hahner, Gary Hill US ) , William Kentridge ( ZA ) , Rachel Khedoori AU ) , Julio Le Parc ( AR ) , Zoltán Szegedy-Maszák PL ) , Anthony McCall ( GB , Giu lio Paolini IT ) , Markus Raetz ( CH , Jesus Raphael Soto ( VE ) u.a. Museum für Gegenwartskunst Siegen: 5 10 08 11 1 09 / C3 Center for Culture & Communication Foundation, Budapest ( HU : 15 2 .–17 5 09 / Centro Andaluz de Arte Contémporaneo, Sevilla ES : 14 6.– 20 9 09 / Museum für Gegenwarts kunst Siegen www.kunstmuseum-siegen.de

multiple city stadtkonzepte 1908I2008 Wie lässt sich die gegenwärtige Entwicklung der Städte beschreiben, an welche Stadtkonzepte des 20. Jahrhunderts lässt sich heute noch an knüpfen? Die Ausstellung in den Räumen des Architekturmuseums in der Pinakothek der Moderne stellt künstlerische Fotos, originale Pläne und Modelle historischen Stadtkonzepten gegenüber. Begleitend zur Ausstellung fin den Diskussionsrunden mit Soziologen, Urba nisten, Philosophen und Künstlern sowie ein Filmprogramm statt.

20 4. 20 7 08 / Museumsverein Museum Morsbroich www.mu seum-morsbroich.de

Projektleitung: Winfried Nerdinger / Künstlerische Leitung: Sophie Wolfrum / Kuratorin: Susanne Schaubeck / Mit Markus Lanz, Urs Schönebaum u.a. / Ausstellung, Filmreihe, Symposien: Pinakothek der Moderne, München; Filmmuseum München: 12 11 08 16 2 09 / Architekturmuseum Technische Universität München www.architekturmuseum.de

von John Baldessari US ) , Peter Fischli & David Weiss CH ) , Katharina Fritsch, Isa Genzken, Robert Gober ( US ) , Jack Goldstein ( US ) , Mike Kelley ( US ) , Martin Kippenberger, John Knight US ) , Allan McCollum ( US ) , Raymond Pettibon US ) , Cindy Sherman ( US , Jeff Wall ( CA u.a./ Museum Morsbroich, Leverkusen:
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fluchtpunkt und appell einar schleef. bildernachlass Der Bildernachlass des Theaterregisseurs und Schriftstellers Einar Schleef in der Stiftung Moritzburg in Halle besteht aus 150 Gemälden und mehr als 6 000 Zeichnungen. Er vermittelt einen nahezu lückenlosen Einblick in Schleefs bildkünstlerisches Schaffen, das heute weit weniger bekannt ist als seine Arbeit für das Theater. Analog zu seinem Schaffenskonzept wird die Ausstellung mit konventionellen musealen Präsentationsformen brechen. Die ausgewählten Werke sollen in einem ehemaligen Kaufhaus in Halle gezeigt und in Sichtbahnen abschreitbar sein, um Zyklen, Serien und Rei hen vollständig auszubreiten. Die Ausstellung wird parallel zu den Händelfestspielen und zum Festival Theater der Welt in Halle statt finden. So präsentiert sie die Vielschichtigkeit seines Werks einem möglichst großen Publi kum, das Schleef zwar als Theatermann, nicht jedoch als bildenden Künstler kannte.

Kurator: Michael Freitag / Ehemaliges Karstadt-Gebäude Mansfelder Straße, Halle/Saale: 26 4.– 20 7 08 / Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes www.moritzburg. sachsen-anhalt.de

subvision *kunst *festival *off Weltweit haben sich abseits der großen Kunstmessen und -biennalen neue Formen künstlerischer Aktivitäten und Vermittlungsstrategien entwickelt. Diese Künstlerinitiativen, Produzenten-Galerien oder artist run spaces arbeiten jenseits des etablierten Kulturbetriebs dennoch erfolgreich und öffent lichkeitswirksam. Die drei großen Hamburger Kunstinstitutionen Hamburger Kunsthalle, Deichtorhallen und die Hochschule für bilden de Künste wollen über hundert dieser Künst leriniativen aus der ganzen Welt nach Hamburg einladen. In der HafenCity Hamburg findet das Festival in einem Areal von Schiffscontainern statt. Eine kuratorische Arbeitsgruppe kombi niert Projekte und Initiativen der bildenden Kunst mit vergleichbaren Ansätzen aus Archi tektur, Zeitschriften, Internet, Film, Mode und Design.

Künstlerische Leitung: Martin Köttering / Kuratoren: Brigitte Kölle, Tim Voss / Künstlerischer Beirat: Hubertus Gassner, Robert Fleck / HafenCity Hamburg: 27 8.– 7 9 08 / subvision GmbH www.subvision-hamburg.de

under influence ausstellung Zum The ma Rausch werden internationale künstlerische Positionen gesammelt. Wie hat sich der Konsum von bewusstseinsverändernden Substanzen ge wandelt und was sagt er über eine Gesellschaft aus? Die künstlerischen Arbeiten und das um fangreiche Vermittlungsprogramm beschäftigen sich mit dem Gebrauch so genannter Volksdro gen wie Alkohol und Nikotin und thematisie ren die gesellschaftlichen Sanktionen von leis tungssteigernden oder bewusstseinserweiternden Drogen. Die vorwiegend zeitgenössischen künstlerischen Positionen reflektieren das Mo tiv der Sehnsucht nach einer anderen Realität und beziehen dieses auf unterschiedliche gesell schaftliche Situationen im Wandel der Zeit.

Kuratorin: Susanne Weiß / Mit Arbeiten von Pawel Althamer ( PL und Artur Zmiejwski ( PL ) , Ulf Aminde, Jan Bünnig, Lysann Buschbeck , Olafur Eliasson DK , Esra Ersen ( TR ) , Dirk Lange, Antje Majewski, Oliver Pietsch, pymca ( GB , Ashkan Sahihi ( US ) Soziale Einheit Rosemarie Trockel Herbert

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Volkmann, Stafeta / Dresden: Kunsthaus, Städtische Gale rie für Gegenwartskunst: 2 8.– 5 10 08 / Kunsthaus Dresden www.kunsthausdresden.de

bühne und bewegung

neue stücke aus europa 2008 theaterbiennale Das alle zwei Jahre stattfindende Festival ist weltweit das einzige, das ausschließ lich neue Stücke zeitgenössischer Autoren zeigt. Mit Unterstützung bereits bekannter Dramati ker, die als Paten für den Nachwuchs fungieren, lädt das Kuratorenteam noch unbekannte, aber vielversprechende Autoren aus über 20 Ländern mit ihren Stücken ein. Für viele Dramatiker wurde die Teilnahme an den früheren Festivals zum Ausgangspunkt ihrer internationalen Kar riere. Während das Publikum zehn Tage lang ein hochrangiges Theaterfestival erlebt, profitieren die Newcomer von der Einbindung in ein einmaliges Netzwerk von Theatermachern und Autoren aus ganz Europa.

Künstlerische Leitung: Markus Bothe Manfred Beilharz Ur sula Ehler Tankred Dorst / Staatstheater Wiesbaden, Staatstheater Mainz: 12 . – 22 6 08 / Hessisches Staatstheater Wiesbaden www.newplays.de

palast der projekte thematisches festival zum verhältnis von theater und ökonomie Von Geld ist im Theater in der Re gel nur die Rede, wenn es dem Theaterbetrieb fehlt. Aus Anlass des 100jährigen Bestehens des Hebbeltheaters 2008 wird das Verhältnis zwi schen Theater und Ökonomie jedoch auf ganz andere Weise untersucht. Im Themenfestival wird das Theater selbst zu einem Handelsplatz: In einer groß angelegten Börse werden Theateri deen und -modelle als Projekte getauscht oder versteigert. In einem weiteren Teil werden Pro duktionen gezeigt, die wirtschaftliche Themen und Zusammenhänge reflektieren. Hier geht es um das Investieren, Produzieren, Verteilen und Verschulden. Den dritten Teil des Festivals bil det ein Symposium zu Konzepten wie Absti nenz, Diskretion und Beschränkung. Ökono mische Prozesse werden nicht nur simuliert, sondern finden als reale Experimente im Thea terraum statt.

Künstlerische Leitung: Matthias Lilienthal / Kurator/innen: Barbara Gronau, Carena Schlewitt / Mit Showcase beat le mot Tomas Schweigen ( CH Chris Kondek u.a. / Hebbel am Ufer, Berlin: 16.– 30 4 08 / Hebbel-Theater Berlin GmbH www.hebbel-am-ufer.de

heiner müller sprechen künstlerisches und wissenschaftliches symposium – performances, präsentationen, workshops Wie kann man, wie muss man Heiner Müllers Texte sprechen? Wie ver halten sich Stimme, Zeit und Raum zu seinen Texten? Das Giessener Theaterinstitut stellt in Kooperation mit der Université de Paris X , der Hessischen Theaterakademie Frankfurt und der Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft Fragen rund um Sprache und Stimme in Heiner Müllers Werk in den Mittelpunkt eines dreitägigen Symposiums. Schauspieler, Regisseure, Studierende, junge Künstler kuratiert von Lau rent Chétouane (Münchner Kammerspiele) erforschen in Performances, Lectures und szeni-

schen Experimenten den Umgang mit Heiner Müllers Texten.

Künstlerische Leitung: Heiner Goebbels / Mit Laurent Ché touane, Jean Jourdheuil ( FR , Rainer Nägele ( US ) , Heiner Goebbels, Josef Bierbichler, Anton Bierl ( CH , Hans-Thies Leh mann Tatsuki Hayashi ( JP Ulrike Hass Günther Heeg Krassimira Kruschkova BG ) , Helmut Schäfer u.a. / JustusLiebig-Universität, Giessen: 26.– 29 6 08 / Institut für An gewandte Theaterwissenschaft www.atw-giessen.de theater von anfang an! das festival des theaters für die jüngsten Was un seren europäischen Nachbarn schon länger ver traut ist, wird in Deutschland erst allmählich auf breiterer Ebene diskutiert und erprobt: Theater für die Kleinsten. Das Kinder- und Jugend theaterzentrum Frankfurt greift in die bundes deutsche Debatte um frühkindliche ästhetische Bildung ein und zeigt, dass Kinder unter 5 Jah ren mehr Theaterkunst vertragen als Erwachse ne mitunter vermuten. In einem Festival zeigen neun Theatergruppen aus Deutschland ästhe tisch anspruchsvolle Produktionen. Sowohl für Kinder als auch für internationale Theaterkünstler dieses Genres, mit denen der künstlerische Austausch gesucht wird. Das Festival in Dres den schließt einen zweijährigen Themenzyklus ab und ist nach Berlin, Mannheim und Hamm die letzte Station des Projekts Theater von Anfang an! Eine Ausstellung der bisherigen Ergebnisse sowie Diskussionsrunden mit inter nationalen Vertretern aus Jugend- und Kultur politik ergänzen die Gastspiele und zeigen Per spektiven der Weiterentwicklung dieses Bereichs kultureller Bildung auf. Künstlerische Leitung: Gerd Taube / Beteiligte Theater: Thea ter Junge Generation, Dresden; HELIOS Theater, Hamm; SCHAWWL Kinder- und Jugendtheater am Nationaltheater Mannheim; Theater SiebenSchuh, Berlin; DeutschSorbisches Volkstheater, Bautzen; Theater Mär, Hamburg; Spielraum Theater, Kassel; Junges Schauspielhaus, Düssel dorf u.a. / Theater Junge Generation, Dresden: 6.– 9 11 08 / Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland www.theatervonanfangan.de

anders eine theaterinszenierung nach dem roman von hans joachim schädlich Grundlage der Inszenierung von norton.commander.productions ist der Roman Anders von Hans Joachim Schädlich. Der Roman stellt drei Fälle der jüngeren deutschen Ge schichte vor, in denen Menschen nach einem politischen Systemwechsel einen extremen Rol lenwechsel vollzogen haben. Es geht um Fragen nach persönlicher Moral und Zivilcourage un ter Bedingungen politischer Unfreiheit sowie um individuelle Gestaltungsmöglichkeiten der Wende. Vor dem Hintergrund des 20. Jahrestages des Mauerfalls soll die Inszenierung mit Gast spielen in mehreren deutschen Städten sowie in Straßburg auch besonders ein junges Publikum erreichen, welches die Verhältnisse vor der Wen de nur vom Hörensagen kennt.

Künstlerische Leitung: Harriet Maria und Peter Meining / Mit Irm Hermann, Hermann Beyer, Thomas Neumann, Nikolaus Woernle, Martin Bochmann, Gabriele Nagel u.a. / Mousonturm, Frankfurt am Main; Festspielhaus Hel lerau, Dresden; Hebbel am Ufer, Berlin; Forum Freies Theater, Düsseldorf; Le Maillon, Straßburg FR ) Premiere: Frankfurt am Main: 24 10 08 / norton.commander.productions www. nc-productions.com

50 jahre fidena jubiläumsprogramm Aus Anlass des Jubiläums zum 50jährigen Beste hen des Figurentheaters der Nationen wird eine der ältesten Theaterformen im internationalen zeit genössischen Kontext in seiner erstaunlichen Vielfalt präsentiert: In den Genres Puppen-, Ob jekt-, Handpuppen- und Figurentheater treten Gruppen u.a. aus Japan, Taiwan, der Türkei, Australien und Frankreich auf. Sie verbinden tradi tionelle Spielweisen mit neuen Formen aus Bil dender Kunst, Tanz und Theater und wollen so wohl ein erwachsenes als auch ein junges Publikum ansprechen. Die Mischung aus Altmeis tern des Figurenspiels wie dem Japaner Hoichi Okamoto und Grenzgängern wie der Tänzerin und Choreografin Nicole Mossoux löst Spar tengewohnheiten auf und öffnet den Blick für das Spiel zwischen Mensch und Materie.

Künstlerische Leitung: Annette Dabs / Schauspielhaus Bo chum, Pact Zollverein Essen, Zeche 1, Bochum, prinz re gent theater Bochum / Museum Bochum: September 2008 Deutsches Forum für Figurentheater e.V. www.fidena.de musicflash performancereihe Die aus der Performancegruppe Gob Squad stammenden Künstler Alex & Liane entwickeln in dieser dreiteiligen Reihe mit namhaften Hamburger Musikbands ein neues theatrales Format. Deich kind, Tocotronic und Die Sterne sind Protago nisten jeweils eines Stücks, in dem die Emotio nalisierung durch Musik und deren Instrumen talisierung für den Starkult zur Diskussion ge stellt werden. Bekannt durch ihre Installationen und zahlreichen Performances inszenieren Alex & Liane die Bands und ihre Auftritte im Stil eines Konzerts für jeweils 800 bis 1000 Zuschau er Zahlen, die das Theater selten erreicht. Die Auftritte werden versetzt mit Filmsequenzen und theatralen Szenen, die den Mythos um die Stars brechen und Einblick in die Mechanismen der Interaktion zwischen Künstlern/Stars und ihren Fans bieten.

Künstlerische Leitung: Amelie Deuflhard / Mit Alex Large Liane Sommer, Deichkind, Tocotronic, Die Sterne u.a. / Kampnagel, Hamburg: 14.– 24 5 , 12 .– 23 11 08, 20.– 31 5 09 / Kampnagel www.kampnagel.de

film und neue medien

kunst der vermittlung aus den archiven des filmvermittelnden films Für Filme, die das Kino selbst thematisieren, seine Ge schichte und seine Ästhetik, könnte man das Genre filmvermittelnder Film erfinden: Das kann eine künstlerische Videoarbeit sein, die zum Beispiel typische Einstellungen aus Hitchcock filmen versammelt; das kann aber auch ein Do kumentarfilm über Bildmotive des Regisseurs John Ford sein. Das Genre filmvermittelnder Film würde ganz unterschiedliche Formate, etwa ex perimentelle und essayistische Formen für Ki no oder Fernsehen und Bonusfilme auf DVD umfassen. In Deutschland boten bislang vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender Regis

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seuren die Möglichkeit, in Filmen über Film nachzudenken. Das Projekt will nun die min destens 50jährige Geschichte solcher Filme über Film dokumentieren. Sie sollen recherchiert, er fasst, bekannt und verfügbar gemacht werden. Künstlerische Leitung: Michael Baute / Projektleitung: Stefan Pethke / Mit Volker Pantenburg, Stefanie Schlüter, Werner Dütsch, Sebastian Lütgert, Harun Farocki, Matthias Mül ler, Cristina Nord, Christiane Habich, Tag Gallagher ( US ) , Bettina Henzler, Winfried Pauleit, Alexander Horwath AT u.a. / Wien: 12 .– 13 9 08, Berlin: 10.– 11 10 08, Köln: 7.– 8 11 08, Bremen: 22 .– 24 1 09, München: 13.– 14 3 09 u.a. / entuziazm Freunde der Vermittlung von Film und Text www.entuziazm.de

dorfliebe eine filmproduktion Unter der künstlerischen Leitung von Pamela MeyerArndt entsteht 2007 der Dokumentarfilm Dorfliebe , der die Veränderung im Leben des Dorfes Berka in Nordthüringen von 1949 bis heute aufzeigen will. Nach dem Prinzip einer Lang zeitbetrachtung werden die Fotoserien des spä teren DDR -Modefotographen Ludwig Schirmer (1950 1961) und seines Schwiegersohns Werner Mahler filmisch genutzt, um einen historischen Einblick in die Gemeinschaft des Dorfes zu ge ben. Meyer-Arndt stellt ihnen aktuelle Filmauf nahmen aus dem heutigen Berka gegenüber. So beschreibt der Film das soziale Miteinander und den Wandel einer Dorfgemeinschaft in verschie denen politischen Systemen.

Regie: Pamela Meyer-Arndt / Künstler: Ludwig Schirmer, Werner Mahler / Filmvorführungen an diversen in- und ausländischen Kulturinstituten: 1 1.– 31 12 09 / Filmgalerie 451 Film produktion OHG www.filmgalerie451.de

musik und klang

uraufführungen zum bachfest tho maskirche leipzig kompositionsauf träge und aufführungen Das traditions reiche Bachfest in Leipzig will in den nächs ten drei Jahren Uraufführungen in Auftrag ge ben, die von der Faszination und Inspiration der Kompositionen Johann Sebastian Bachs auf die heutige Komponistengeneration zeugt. Einen Auftrag für 2008 erhielt der aus Chemnitz stam mende Komponist Friedrich Goldmann; 2009 wird ein Werk des Japaners Toshio Hosokawa zu hören sein, welches die Bachschen Choräle zum Ausgangspunkt nimmt. Eine Kompositi on des Engländers Sir Harrison Birtwistle wird 2010 den Zyklus beschließen.

Komponisten: Friedrich Goldmann, Toshio Hosokawa ( JP ) , Sir Harrison Birtwistle ( GB ) / Ensemble: musikFabrik NRW / Thomaskirche, Leipzig: 15 6 08, 14 6 09, 13 6 10 / Stiftung Bach-Archiv Leipzig www.bach-leipzig.de

common enterprise jeu de vie In dem Projekt Common Enterprise erprobt das Ensemble der Kölner musikFabrik mit dem Komponisten Thierry de Mey eine neuartige Konzertform, bei der die traditionelle Trennung zwischen kompositorischem und interpretato rischem Prozess aufgehoben ist. Die Musiker bringen sich in die Werkgenese ein und der Komponist entwickelt musikalische Charaktere, die die Individualität jedes Ensemblemitglieds

kulturstiftung des bundes magazin 1146

berücksichtigen. Dieser Arbeitsprozess soll zu sätzlich mit elektronischen Mitteln erweitert werden. Jeu de Vie , die erste von drei geplanten Kompositionen entsteht unter der Leitung des renommierten belgischen Komponisten und Multimedia-Künstlers Thierry de Mey. Künstlerische Leitung: Thierry de Mey BE ) / Ensemble: musik Fabrik / Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR , Köln: 27 2 09 musikFabrik Landesensemble Nordrhein-Westfalen e.V. www.musikFabrik.org

klima musiktheater Die Konzerte, Musik theateraufführungen und das Kolloquium der Rheinsberger Pfingstwerkstatt Neue Musik sind jedes Jahr einem aktuellen Thema gewidmet. Mit dem Thema Balance steht 2008 das Verhält nis von Mensch und Natur im Mittelpunkt. Unter dem Titel Klima soll ein multimedi ales Musiktheater entstehen, das im Rahmen der Pfingstwerkstatt uraufgeführt wird. Unter schiedliche Musikstile kontrastierend, wird auf verschiedenen künstlerischen Ebenen (Musik, Text, Video) das Verhältnis von Mensch und Klima, ihre gefährdete Balance, bearbeitet.

Künstlerische Leitung: Ulrike Liedtke / Mitwirkende / Künstler/ innen: Ralf Hoyer, Susanne Stelzenbach, Barbara Kenne weg, Antje Kaiser, Dominik Busch, Titus Engel / Kammerensemble Neue Musik Berlin / Musiktheater, Schlosstheater Rheinsberg: 9.– 25 5 08 / Musikakademie Rheinsberg www.musikakademie-rheinsberg.de

netzwerk madrigal die modernität der renaissance-madrigale Die italienische Renaissance ist eine Zeit großer musikalischer Innovationen: In der Madrigalkunst der Renaissance gibt es Anknüpfungspunkte zu modernen Kompositionstechniken sowie zu den Tonsystemen der alteuropäischen und außereuropäischen Musikkulturen von Bulgarien bis Vietnam. Selbst in der Wahl ihrer literarischen Themen wirken die Madrigale erstaunlich zeit genössisch: Sie verarbeiten deutlich erotische und sexuelle Motive (Tod, Begehren und Ver lust). In fünf Konzerten will das Projekt Netz werk Madrigal des KlangForum Heidel berg diese Aspekte der Kompositionskunst der Renaissance zu Gehör bringen. Dazu werden Eingangsstücke und Zwischenspiele kompo niert, mit denen diese musikalischen Miniaturen einen verbindenden Rahmen bekommen. Die teilweise schroff und modern wirkenden Harmoniewechsel sind noch heute und viel leicht gerade heute wieder eine Herausforde rung für zeitgenössische Interpreten wie Kom ponisten.

Künstlerische Leitung: Walter Nußbaum / Mit Schola Heidelberg, ensemble aisthesis / Heidelberg, Zürich, Venedig u.a.: 1 5 09 31 3 11 / KlangForum Heidelberg e.V. www.klanghd.de

europareise 2008 c/o pop festival c/o pop 2008 Das auf elektronische Musik spezialisierte Festival c/o pop widmet sich seit 2004 aktuellen Ansätzen und Bewegungen in der eu ropäischen Independent-Popkultur. Das Projekt Europareise 2008 im Rahmen von c/o pop führt die intensive europäische Vernetzung des Festivals auf einer inhaltlichen Ebene weiter und berücksichtigt dabei vor allem Länder am Rande Europas. Zehn dieser Länder (u.a. Nor wegen, Rumänien und die Türkei) sind eingeladen, mit einem repräsentativen Live-Act oder

einer Band das musikalische Programm zu ge stalten. Künstler und Multiplikatoren aus den Bereichen Musik, Design und Kunst werden über Produktionsbedingungen und Möglichkeiten des Austauschs diskutieren. Künstlerische Leitung: Ralph Christoph / Mit Hans Nies wandt, Wulf Gäbele, Stefan Lehmkuhl, Alberto Campo IT , Rokolectiv RO ) , Numusic ( NO , Ultrahang ( HU ) , Dis-Patch RS , Pomladi ( SI , Resfest ( TR ) , Wilsonic SK , Dissonanz IT ) , Roots & Routes PT ) u.a. / Stadtgarten, c/o pop u.a., Köln: 13.– 17 8 08 / cologne on pop GmbH www.c-o-pop.de

wort und wissen

und such ein anderes immer von hölderlin sprechen. internationale hölderlin-tage in bad driburg In Bad Driburg verbrachte Hölderlin zusammen mit Susette Gon tard, der Diotima seiner Dichtung, im Jahr 1796 die vielleicht glücklichsten Wochen seines Le bens, die in seiner Dichtung markante Spuren hinterlassen haben. An diesem Ort findet ein großes öffentliches Dichtertreffen von bedeu tenden Hölderlin-Übersetzern aus mehreren europäischen Ländern und den USA statt, bei dem die Herausforderungen neuer HölderlinÜbersetzungen, der Einfluss von Hölderlins Dichtung auf andere Sprachen und auch auf an dere Kunstgattungen, speziell die Musik, Gegenstand von Gesprächsrunden und Anlass für musikalische Aufführungen sind.

Künstlerische Leitung: Brigitte Labs-Ehlert / Mit Aris Fioretos ( SE ) , Christopher Middleton (GB) , Philippe Jaccottet ( FR) , Luigi Reitani ( IT , John Ashbery US , David Constantine (GB) , Fuad Rifka LB ) , Rüdiger Safranski, Urs Widmer ( CH ) , Wolfgang Rihm, Walter Steffens, Dzˇevad Karahasan ( BA , Petr Borkovec ( CZ , Friederike Mayröcker ( AT ) / Gräfliches Bad Driburg und Umgebung: 13.–16 11 08 / Literaturbüro OstwestfalenLippe in Detmold e.V. www.literaturbuero-detmold.de

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