10 Jahre Verabredung mit Slava

10 JAHRE VERABREDUNG MIT SLAVA

VORWORT

SLAVA IN KRONBERG

Als Mstislav Rostropovich zum ersten Mal seinen Fuß nach Kronberg setzte, da war es erst einige Jahre her, dass er auf einem Stuhl vor der gerade eben gefallenen Berliner Mauer am Checkpoint Charly die Sarabande zweiten Cello-­Suite von Johann Sebastian Bach gespielt hatte – aus Freude und Dankbarkeit darüber, dass die beiden Hemisphären seiner Welt, Ost- und Westeuropa, nun endlich wieder zusammengehören sollten.

Es war das Jahr 1997, das Jahr seines 70. Geburtstags, als dieser weltberühmte, energiesprühende, die Welt umarmende und jedermann herausfordernde Cellist nach Kronberg kam und etwas tat, das der noch jungen Kronberg Academy einen enormen Antrieb gab: Er gründete in Kronberg die Rostropovich Cello Foundation zur Förderung junger Cellisten. Damit gab er einen entscheidenden Impuls, der eine gemeinsame Vision zu einer konkreten Idee werden ließ: junge Talente zu fördern, um mit ihnen und durch sie die Welt zu bewegen.

Seitdem ist Mstislav Rostropovich regelmäßig in Kronberg gewesen, ist aufgetreten, hat Meisterkurse gegeben und so manchen Stein ins Rollen gebracht. Er hat uns inspiriert, ermutigt und angespornt. Er hat sich mit der Kronberg Academy verbündet. Zusammen haben wir unsere Ideen in Taten umgesetzt. Aus einer gemeinsamen Überzeugung heraus, die er so formulierte: „In der Jugend liegt die Zukunft.“

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Mstislav Rostropivch mit Raimund Trenkler

1999, als der zehnte Jahrestag des Mauerfalls bevorstand, rief er mich an: „Ich will mit 150 jungen Cellisten am Brandenburger Tor spielen“. Anruf und Wunsch erreichten mich an einem Sommerabend in der Tiefgarage. Am nächsten Morgen hatte ich sie verdaut und wir machten uns ans Werk, diese verrückte Idee zu verwirklichen. Am 9. November spielten 150 junge Cellisten und Cello-Professoren aus der ganzen Welt gemeinsam mit Mstislav Rostropovich vor dem Brandenburger Tor. Es war der Höhepunkt der Festveranstaltung und des Europäischen Jugendfestes zu diesem Anlass. Und es war ein unvergessliches Erlebnis.

In Kronberg wurde Mstislav Rostropovich in Kronberg das große Große Bundesverdienstkreuz mit Stern verliehen. Er erhielt es für seinen großen persönlichen Einsatz für junge Musiker aus der ganzen Welt in Kronberg. Er erhielt es auch für seine beispiellosen Verdienste um die Entstehung neuer Musik – wohl kein Interpret hat mehr Kompositionen angeregt als er, über 100 Werke für das Cello hat er zum Leben erweckt, indem er sie als erster öffentlich spielte, rund 60 Uraufführungen hat er dirigiert. Und er wurde ausgezeichnet für seinen Einsatz für Freiheit und Demokratie. Nie sei er „nur Musiker“ gewesen, hieß es in der Laudatio von Ministerpräsident Roland Koch. Vielmehr habe er sein Talent immer auch eingesetzt, um Menschen zu helfen.

Nur wenige Wochen nach seinem 80. Geburtstag, den ich in Moskau mit­ erleben durfte, erhielt ich am 27. April 20017 aus Moskau die Nachricht, dass Slavas unsere Welt verlassen hatte. Es war ein besonders warmer Frühlingstag.

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Und dieser Verlust brachte sogleich eine neue Idee hervor: Eine jährliche Verabredung mit Slava am 27. April in Kronberg unter freiem Himmel, durch die wir uns weiterhin und immer wieder aufs Neue von seiner drängenden Schaffenslust anstecken lassen.

Am 3. Oktober 2007, dem für Mstislav Rostropovich so bedeutungsvollen Tag der deutschen Einheit, kamen viele Künstler zu einem Gedenkkonzert für den großen Cellisten in Kronberg zusammen. Es war der Tag, an dem die von Anna Franziska Schwarzbach geschaffene Büste Mstislav Rostropovichs im Zentrum Kronbergs enthüllt wurde – daneben ein Stein, auf dem seitdem jedes Jahr am 27. April ein Cellist einen Satz aus einer Bach-Suite spielt.

Denn seine Büste ist seitdem der „Meeting Point“ für unsere Verabredung mit Slava. Nur zweimal mussten wir seitdem wegen Regens unter ein festes Dach umziehen.

Seit zehn Jahren nun begegnen wir Mstislav Rostropovich immer am 27. April und setzen uns mit ihm auseinander. Die Schirmherrschaft für diesen Tag hat seine Tochter Elena Rostropovich übernommen. Jahr für Jahr spielt einer seiner ehemaligen Schüler und Freunde im Angesicht seiner Büste für ihn.

Jahr für Jahr fasst ein Redner in Worte, was „Slava“ für uns auch heute noch bedeuten kann. Vier dieser Auseinandersetzungen – die Ansprachen der Künstler Julis Berger, Sofia Gubaidulina, Jörg Widmann und Gidon Kremer – haben wir in diesem Heft abgedruckt. Jahr für Jahr weist ein Jugendchor in die Zukunft und beschließt ein Benefizkonzert für die Rostropovich Cello Foundation die kleine Zeremonie. „Slava“ bedeutet Ruhm. Aber „Slava“ hat der Kronberg Academy mit seinen Auftritten nicht einfach nur Glanz verliehen. Er hat sie mitgestaltet, voran­ getrieben, mit Inhalten gefüllt – genauso wie viele andere große Künstler­ persönlichkeiten, die sich heute in Kronberg engagieren. Bis heute stiftet er uns an, beflügelt er uns mit seiner Energie und Leidenschaft und fordert uns mit seiner Wachheit und seinen Erwartungen heraus. So soll es bleiben.

Raimund Trenkler Gründer und Präsident der Kronberg Academy

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ANSPR ACHE VON

JULIUS BERGER 27. APRIL 2012

Liebe Freunde von Slava, „Wenn ich in den Himmel komme“, so Slava vor ungefähr 35 Jahren, „werde ich Beethoven bitten, ein Cellokonzert zu schreiben.“ Wie wir Slava kennen, hat er dieses ihm gewidmete Cellokonzert von Beethoven mittlerweile weit über hundertmal im Himmel gespielt, sogar Pablo Casals hat es ins Repertoire aufgenommen und ­Raimund Trenkler denkt angestrengt darüber nach, wie er die Erstaufführung dieses wichtigen Werkes nach Kronberg bringen kann. – Dass Beethoven zu Lebzeiten kein Cello­ konzert geschrieben hat lag nur daran, dass Slava erst im 20. Jahrhundert gelebt hat.

In seiner Lebenszeit hat praktisch jeder bedeutende Komponist für unser Instrument geschrieben, fast immer war es die Initiative Mstislav Rostropovichs.

So sucht Slava Nähe, zeitlebens hat er Nähe gesucht – Nähe zu Menschen, Nähe zu Komponisten, zu seinen Zeitgenossen und zu historischen gleichermaßen, Nähe zur Kunst, neben so vielem erinnere ich mich an seine besondere Liebe zu Disto­jewski und Solschenyzin. Slavas Leben war ein Ringen um Nähe. War es Sehnsucht nach Inspiration, nach Licht? „Wir sind nicht gemeint, gemeint ist, was an uns Licht gibt“ so Ilse Aichinger. Ich erinnere mich, wie sehr uns Slava lange vor dem Aichinger Zitat diesen Sinn einzuprägen versuchte: „bescheiden“ zu sein, „Diener“, vergleichbar der Mission eines Priesters, wenn es um die Interpretation eines Werkes geht. Der Inter­ pret als Mittler in höchster Verantwortung erschafft die Nähe seiner Zuhörer zum Geiste des Werkes, sein Wirken ist wichtig, er selber nicht. Vor langer Zeit sagte uns Slava im Unterricht: „Und jetzt ich sagen für Sie, meine liebe Kollegen, wichtigste Sache in meinem Leben: Eine Cellist - und sowieso jede Künstler – muss haben alle Qualitäten überhaupt, er muss haben ganz große Herz, aber muss auch haben kleine Teufel, ja ja! Er muss haben sehr viel Traurigkeit und viele Tränen, aber er muss auch sein lustig und glücklich und auch ein wenig verrückt!“ so Slava im Unterricht in ­Basel. Der komplette Kosmos des Menschseins steht im Dienst, auch der „kleine Teu­ fel“, der den Prozess des Erkennens anregt. Von der Ausgeglichenheit eines Menschen der Yoga betreibt hielt Slava nichts, er war auch kein gesundheitsbewusster Teetrinker. „Lieber 50 Jahre intensiv, als 100 Jahr nur mit Tee“ sagte er mir einmal.

Slavas Umgang mit seinen Talenten könnte aus der Bibel stammen. Er, der alle menschlichen Eigenschaften und dazu in zehnfacher Konzentration in sich hatte, so 8

Leonard Bernstein, hat uns Lehren für das Leben geschenkt. Mischa Maisky sagte hier in Kronberg, er wage es kaum auszusprechen, aber seiner Meinung nach war die her­ ausragendste Lebensleistung von Slava die als Lehrer. Er erwähnte die visionäre Kraft, durch die ein Werk von Bach, Beethoven, Schostakovich oder anderen im Menschen geboren wurde, diese kraftvolle Nähe, die fast alles zum Gelingen bringen kann und er erwähnte auch die Situation, als sein Vater starb. Slava schickte die anderen Studen­ ten nach Hause und setzte sich mit Mischa auf den Boden, mit einer Flasche Wodka, und sprach mit ihm. Es war menschliche Nähe, Trost in einer schweren Stunde.

Hier in Kronberg, anlässlich der Uraufführung eines Werkes von Hans Werner Henze für Celloensemble war er der einzige, der seinen Part perfekt vorbereitet hatte.

Seine Stimme war mit zwei Farben markiert, einschließlich der Einzeichnungen aus der Partitur, Strichen, Fingersätzen. Slava verteilte seine Bleistifte und Radiergummi, die wir nicht dabei hatten. Hier war es intensive Vorbereitung für die Nähe zum Werk.

„Hinter Slavas Mühen um Nähe stand eine tiefe ‚humanitas‘, eine große Verantwortung als Mensch.“ Ich bin sicher, Slava hätte heute auch ein Wort zum Unrecht gegen Julia Timo­ chenko gesprochen. An seiner Stelle fordern wir die Einhaltung der Menschenrechte in der Ukraine. Hinter Slavas Mühen um Nähe stand eine tiefe „humanitas“, eine große Verantwortung als Mensch. Sein Ringen war auch ein Ringen um die Nähe zu Gott. Elena, seine Tochter, hat uns hier sein zerfleddertes Gebetbuch gezeigt, das er immer bei sich hatte. Slava hat jeden Abend gebetet.

In der Zeit des Materialismus und Egoismus hat Mstislav Rostropovich Zeichen gesetzt, die sich wie Leuchtfeuer durch die Zeiten fortpflanzen. So sind wir ihm auch heute, gestern und morgen nahe. Seine Botschaft ist zeitlos, er hat bewiesen, dass Glauben Berge versetzen kann. Ich erinnere mich an eine Geschichte aus dem Unter­ richt: Ein Student fragte: „Wie soll ich denn diese Stelle spielen?“ Slava: „Weiß nicht!“ Dann erzählte er eine Geschichte: Der Lehrer fragt den kleinen Iwanuschka: Hast Du schon mal eine Wespe gesehen? Ja natürlich! Und wie groß ist sie denn? Soooooo groß (Iwanuschkas Arme weit ausgestreckt). Oh, meint der Lehrer erstaunt, ja wie groß ist denn ein Wespennest? So groß (Iwanuschka deutet mit Daumen und Zeigefinger wenige Zentimeter an). Ja aber wie kommt denn die Wespe ins Nest? Weiß nicht? Sie brummt, brummt, aber kommt irgendwie rein.

Lieber Slava, wir danken Dir. Du bist immer noch Deine Lieblingsfigur der Litera­ tur, ein von Idealen beseelter Don Quixote. Auf einem charaktervollen Pferd reitest Du durch unser Leben! Du warst und bist so verschwenderisch mit Deiner Liebe zu uns! Lieber Slava, DANKE! Wir lieben Dich!

Julius Berger am 27. April 2012

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Oben: Konzert in Ludwigshafen, 2004 Unten: Mit Monika Leskovar, Meisterkurs in Kronberg, 2001 Links: Konzert an der Berliner Mauer, 1989

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ANSPR ACHE VON

SOFIA GUBAIDULINA 27. APRIL 2013 Wenn wir der Eröffnung eines Denkmals für eine herausragende Persönlichkeit beiwohnen, spüren wir nicht nur die Feierlichkeit dieses Ereignisses, sondern erleben im Wesentlichen einen Moment, in dem sich das wahre Wesen der Kunst entfaltet wenn die ganze Zauberkraft, die ganze Leidenschaft der erlebten Zeiten beginnt, jenseits der Zeit zu fließen, unausweichlich, stetig, ewig.

Doch auch wenn ich bei einer Einweihung eines Denkmals voll Ehrfurcht bin und viel Bedeutung der Tatsache beimesse, dass eine große Persönlichkeit in einer Abbil­ dung verewigt wird, muss ich zugeben, wie schwer es mir jetzt in dieser Minute fällt, mich damit zufrieden zu geben, die echte Erfahrung der lebendigen Kommunikation mit diesem herausragenden Musiker durch etwas Neues zu ersetzen. Eine Erfahrung, die ich ohne zu übertreiben als die Erfahrung der Geburt einer vibrierenden, höchsten Musikalität bezeichnen kann. Mich damit zufrieden zu geben und zu akzeptieren, dass ich für diesen Menschen auch in meiner Seele ein Denkmal errichten muss. Das bedeutet jedoch, dass die unglaubliche Ausstrahlung und Energie, die von seiner ­Persönlichkeit und seinem Talent ausgingen, sich nun in etwas Unveränderliches und Stabiles verwandeln werden. Sie werden zu seiner ewigen Gegenwart.

Dies ist ein notwendiger Schritt. Denn ab jetzt wird diese Ausstrahlung, diese pulsierende Musikalität von diesem wunderbar geistvollen Kunstwerk aus Metall aus­ gehen. Auch ein Kunstwerk aus Metall ist eine lebendige Entität. Es kann klingen, sprechen, denken, Verborgenes lüften.

Bei welchen von diesen uns geschenkten Erfahrungen wünsche ich mir, dass sie von diesem Denkmal an die zukünftige Generation weitergegeben werden sollten?

Vor allem ist es die außergewöhnliche, phänomenale Fähigkeit zu lieben. Die ­Musik zu lieben, die Welt zu lieben, den Menschen zu lieben, die zwischenmensch­ lichen Beziehungen zu lieben, den Klang einer Saite zu lieben. Einer solchen Kraft der Liebe bin ich sonst nie, nirgendwo und in niemandem begegnet. Und dieser Reichtum war in der Klangvielfalt seines Cellos enthalten.

Zum Glück werden nicht nur wir, sondern auch die künftigen Generationen von dem Reichtum profitieren, den seine Tonaufnahmen bieten. Auch wenn das nur eine Andeutung der phänomenalen hohen Kunst sein wird, die Slava seinen zeitgenössi­ schen Zuhörern geschenkt hat.

Ich erinnere mich sehr gerne und mit Dankbarkeit an Slavas erstaunliche, seltene Eigenschaften. Und an sie möchte ich ein großes Lob aussprechen: sein höchst ­leidenschaftliches Cellospiel, seine volle künstlerische Hingabe – die eines wahren 12

Julius Berger und Sofia Gubaidulina

Künstlers, seine vollkommen einzigartige Energie, die Breite seiner Ansichten, seine Güte, und – und dies ist sehr wichtig – seine moralische Reinheit. Denn genau diese fundamentale Eigenschaft ist von größter Bedeutung für die Zukunft.

Im Grunde genommen kann nur sie den Bedrohungen entgegenwirken, die in der heutigen Welt unvermeidlich sind: Denn jeder Schritt des technischen Fortschritts in allen Lebensbereichen hat einen Preis, den wir zahlen müssen. Und wir bezahlen ihn mit der Verkümmerung unserer geistigen Fähigkeiten.

Schon jetzt aber sehen wir, dass wir mit dieser Bezahlung hinterherhinken. Und anstatt dass der Mensch besser, produktiver, effektiver, ehrlicher, reiner und erhabener wird, entstehen immer neue unlösbare Probleme: die weltweite Finanzkrise, die ­globale Angst vor Terroristen, vor dem „Terror weltweit“. Und keine Technologie ist in der Lage, diese Bedrohungen entscheidend zu bekämpfen. Dem liegt nämlich die folgende Ursache zugrunde: der globale moralische Zerfall. Die seelische Verkümme­ rung. Damit begleichen wir die Rechnung.

Und jetzt, vor dem errichteten Denkmal von Mstislav Rostropovich, denke ich nicht nur an uns, sondern an die nächste Generation. Wie sehr sie genau einen s­ olchen Menschen brauchen wird! Mit seinem aktiven Geistesreichtum, mit seiner außerge­ wöhnlichen Energie, mit seiner wahren, tiefen Liebe zu den Menschen, mit seinem Talent, seiner moralischen Reinheit und mit seiner Fähigkeit, die anderen mit diesen Eigenschaften aufzuladen. Seine Talente färbten auf alle in seiner Umgebung ab. Und natürlich kann auch sein riesiges Publikum all diesen geistigen Reichtum und diese moralische Reinheit spüren und aufnehmen.

Ich hoffe, ich glaube daran, dass nicht nur wir, sondern auch die Menschen in der Zukunft diesen einzigartigen Menschen weiterhin ehren werden, und dass sie nicht damit aufhören werden, die heilende Kraft seiner Gegenwart aufzunehmen.

Sofia Gubaidulina am 27. April 2013 13

Oben: Mit Raimund Trenkler und Marta Casals Istomin, International Pablo Casals Cello Competition, 2004 Links oben: Mit Bernard Greenhouse, 2004 Links unten: Mit Julian Steckel, Meisterkurs in Kronberg, 2001

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ANSPR ACHE VON

JÖRG WIDMANN 27. APRIL 2015

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie, meine Damen und Herren hier in Kronberg, haben Rostropovich wiederholt erleben dürfen. Den großen Musiker, seinen Charme und seine Menschlichkeit und werden sich seiner dankbar erinnern. Er hat Kronberg, wie Sie wissen, einmal als die Welthauptstadt des Cellos bezeichnet. Wenn man bei diesem Satz die Koketterie abzieht, dass sie das ja vor allem auch durch seine Präsenz sein konnte, ist dies nach wie vor ein ungeheures Lob und Kompliment für diese Stadt und die Macher der Kronberg Academy. Aber auch ein Auftrag für die Zukunft.

Wir gedenken heute mit Mstislav Rostropovich einer Legende, einem Heroen der Musik, einer nicht nur cellistischen und musikalischen Jahrhundertfigur. Das, was sonst klischeehaft und übertrieben klingen könnte, kann man in seinem Fall, glaube ich, tatsächlich aus vollem Herzen sagen.

Das erste Mal in Kontakt mit diesem Namen kam ich schon als Kind beziehungs­ weise als Jugendlicher. Mein Vater – er war Physiker, zugleich aber ein begeisterter Hobbycellist – schwärmte immer wieder von der Größe und dem Ernst des Spiels dieses russischen Musikers. Er ist einer der wenigen Künstler seiner Zeit, dessen Spiel beim Wiederhören der Aufnahmen und der verfügbaren Videos, die es von ihm gibt, so gar keine Patina angesetzt hat. Das ist etwas Besonderes, weil es ja tatsächlich oft befremdend für uns ist, wenn man hört, wer damals in den 50er-/60er- Jahren berühmt war, im Gesang, an den Instrumenten – weil sich der Stil, der Geschmack, die Ästhetik zum Teil unglaublich verändert haben. Das spricht weder gegen die Künstler, noch gegen uns, es ist einfach eine Tatsache und manchmal ist solch eine „Wiederbegegnung“ dann befremdlich. Nicht so mit Rostropovich.

Ich höre Rostropovich ohnehin gerne, aber ich habe mir jetzt in der Vorbereitung auf heute nochmal gezielt ein paar Aufnahmen angehört und möchte Ihnen meine Eindrücke schildern. Sein Spiel hat über die Jahre hinweg, wie gesagt, keine Patina angesetzt, und es bleibt für mich, um das vorweg zu nehmen, zeitlos gültig, was er auf dem Cello, in seiner Cellokunst geschaffen hat. Wie kraftvoll zeitlos klingt sein

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Schumannkonzert! Leidenschaftlich durchpulst und durchglüht, innerlich bewegt, bereits das Kopfthema des ersten Satzes. Jede einzelne Note ist gestaltet, jedes Detail ist da und – doch viel wichtiger – die Linie, die große Linie, nach der wir Musiker ja immer trachten, ist niemals in Gefahr, auch nur ansatzweise durchbrochen oder zer­ stört zu werden. Er spielt nicht einzelne Noten, einzelne Perlen einer Diamantenkette, nein, er setzt ganze Formteile wie Granitblöcke hin. Selbst die a-Moll-Skalen zum Ende des ersten Soloeinsatzes sind nicht, wie bei vielen anderen, schlampig dahin­ genuschelt, also lediglich virtuoses Beiwerk, virtuoser Lauf nach oben, sondern sie sind von existenzieller Unerbittlichkeit und Erfülltheit. Was freilich fehlen könnte, ist das Fragile, das Selbstzweiflerische Schumanns, das findet hier keinen Raum. Und geht dem Hörer auf wundersame Art und Weise doch keineswegs ab, weil es eine an­ dere Kraft ist, die er diesem Stück entgegensetzt, die wiederum absolut authentisch ist.

„Mach was Du willst, aber mach es überzeugend – dieses Credo hat Mstislav Rostropovich hier auch immer wieder ­glaubhaft vermittelt und vor allem vorgelebt durch sein eigenes Sein, durch sein eigenes Tun, d ­ urch sein eigenes Cellospiel.“ Und diese Authentizität ist es auch, was seine riesige Schülerschar stets an ihm rühmte, gerade auch hier in Kronberg. Jene forderte er auch von jedem einzelnen Studenten ein: „Mach was Du willst, aber mach es überzeugend“. Dieses Credo hat er hier auch immer wieder glaubhaft vermittelt und vor allem vorgelebt durch sein eigenes Sein, durch sein eigenes Tun, durch sein eigenes Cellospiel.

In diesem Sinne kann man auch seine Bachinterpretation verstehen. Natürlich ist das alles weit von allem entfernt, was wir heute unter historischer Aufführungspraxis verstehen. Seine, Rostropovichs Interpretation, zielt hier wieder aufs große Ganze.

Sein Bach ist ehern, groß, wuchtig, männlich, streng, unerbittlich, zeitlos. Und, was doch sehr erstaunt, sein Gebrauch des Vibratos ist erstaunlich dosiert. Manchmal bis hin zu dem Punkt, wo er die Sphäre der Schönheit bewusst verlässt.

Man denkt an Hindemiths Vortragsanweisung: „Tonschönheit ist Nebensache“.

Und an die Stelle der Schönheit setzt er etwas noch viel Wichtigeres: die Wahrheit.

Sie, die Wahrheit, offenbart sich uns hier schonungslos und nackt, bisweilen schmerz­ haft. Wo andere diese Tiefenschichten durch Vibrato und Einzelton-Espressivo, wie ich es nennen würde, zu übertünchen und zu überdecken suchen, ist er im wohl­ verstandenen naturhaften Sinne ganz Fels, ganz Stein. Und ist dabei meilenweit von dem entfernt, was wir bis heute für die russische Streicherschule halten, die ja

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Jörg Widmann

klischeehafterweise immer mit einem üppigen Vibrato ausgestattet ist – angeblich.

Diese Kategorien, schematischen Abgrenzungen und ästhetischen Klischees greifen bei Rostropovich nicht.

Seine Interpretationen der Musik des 20. Jahrhunderts sind schlicht ein Glücks­ fall. Die Cellokonzerte von Prokofiev und Shostakovich werden auf Ewigkeit mit seinem Namen verbunden sein. Sie sind in symbiotischer Zusammenarbeit mit ­diesen Komponisten für den Menschen und Musiker Rostropovich entstanden. Er war ein Charakter, ein Typ. Streitbar, uneitel eitel, und dabei doch immer von allen geliebt. Oder vielleicht gerade wegen alledem. Solche Köpfe und Charaktere, wenn ich das anmerken darf, fehlen mir persönlich oft in unserer heutigen künstlerischen Landschaft, wo ja oft Marketingfirmen Imagekampagnen erstellen, um für einen Musiker, weil er vielleicht so blass ist, überhaupt erst einmal ein Image erfinden müssen. Keine Marketingfirma der Welt könnte einen Typen wie Rostropovich je­ mals erfinden! Er war einzigartig.

„Wenn Mozart Rostropovich gekannt hätte, wäre die Musikgeschichte und die Geschichte der Cellokon­zerte sicherlich anders verlaufen.“ 1977 bis 1994 war er zudem Chefdirigent des National Symphony Orchestra in Washington D.C. Er ist dort nach wie vor legendär und lebt dort in den Gedanken bis heute weiter, wie ich erfahren konnte, als ich dort dreimal mit Christoph Eschen­ bach und dem Orchester Mozarts Klarinettenkonzert gespielt habe. Man spricht

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nach wie vor liebevollst von ihm, mit Bewunderung. Dass Mozart kein Cellokonzert geschrieben hat, nehmen ihm die Cellisten bis heute mit gutem Grund übel. Wir können es nicht mehr ändern. Sicher scheint mir aber zu sein: Wenn Mozart Rostro­ povich gekannt hätte, wäre die Musikgeschichte und die Geschichte der Cellokon­ zerte sicherlich anders verlaufen.

Aber Rostropovich hat allein schon durch die Stücke, die er uraufgeführt hat und in Auftrag gegeben hat, Musikgeschichte geschrieben. Allein dadurch. Wenn er nur das gemacht hätte, wäre er meiner Ansicht nach schon unsterblich. Weit über hundert Werke, manche, wie er selbst, sagen über zweihundert – das muss man sich für einen Moment ganz haptisch-physisch vorstellen! Auch was das bedeutet, ein neues Werk, diese Masse an Noten, ein neues Stück, das die Welt überhaupt noch nicht gehört hat, einzustudieren! Er hatte ja dieses phänomenale Gedächtnis, meistens hat er gleich die Uraufführung auswendig gespielt, unvorstellbar. Natürlich sind nicht alle Stücke, die er uraufgeführt hat, sozusagen ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen, aber: no risk, no fun, man muss das in Kauf nehmen, nicht alle neuen Stücke kön­ nen sofort Welterfolge sein. Allein folgende Namen mögen dafür sprechen, dass es keine Übertreibung ist, wenn ich sage, dass er allein dadurch Musikgeschichte ge­ schrieben hat: Es haben Komponisten für ihn geschrieben, wie die erwähnten Sergei Prokofiev, Dmitri Shostakovich, aber auch so unterschiedliche andere Komponisten wie Witold Lutosławski, Benjamin Britten, Henri Dutilleux, Leonard Bernstein, Pierre Boulez, Alfred Schnittke und Sophia Gubaidulina. Sehen Sie allein die ästhe­ tische Bandbreite dieser Komponisten – das liest sich wie ein „who is who“ der Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Er hat sich, und das scheint mir abschließend ganz wesentlich zu sein, wie kaum ein anderer Musiker des 20. Jahrhunderts oder überhaupt, um die Musik seiner Zeit verdient gemacht. Ich sage das bewusst in einer Zeit, in der Musik sehr oft, wenn ich mir viele Konzertprogramme anschaue, „museal“ wird. Wir führen – aus gutem Grunde, weil es Meisterwerke sind, die man immer spielen soll – aber manchmal nur noch Werke auf, die ein- oder zweihundert Jahre alt sind. So schön das ist, zur Zeit Gustav Mahlers war das anders. Zur Mahlerzeit dauerten Konzerte übrigens drei Stunden und waren keine Häppchenprogramme, keine MTV-Clips von drei Minu­ ten Dauer, sondern sie dauerten drei Stunden. Es wurde an einem Abend eine Beet­ hovensinfonie gespielt, neue Lieder von Richard Strauss und dann eine neues Sym­ phonie von Gustav Mahler. Und dieses Selbstverständnis sollten wir uns, finde ich, auch wieder zu Eigen machen. Das möchte ich allen Musikern unserer Zeit, vor ­allem den jungen, sehr ermutigend zurufen! Es gibt einen Gustav Mahler zuge­ schriebenen Satz, der heißt: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitertragen des Feuers.“ In diesem, in Slavas Sinne also: lassen Sie uns das Feuer weitertragen! Vielen Dank.

Jörg Widmann am 27. April 2015

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Oben: Konzert in Wiesbaden, 1999 Rechts oben: GrĂźndung der World Cello Organisation in Kronberg, 2003 Rechts unten: Mit Marta Casals Istomin, 2004

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ANSPR ACHE VON

GIDON KREMER 27. APRIL 2016

Liebe Freunde, es freut mich, dass so viele von euch zu dieser Verabredung gekommen sind. Es ist auch für mich ein besonderer Anlass für Erinnerungen und Gedanken. Ich bin zwar kein Sprecher und Worte fallen mir schwer, ich erzeuge ja Töne und versuche mit Tönen das weiterzugeben, was ich empfinde. Aber heute muss ich mich auf Worte konzentrieren und die richtigen finden. Ihre Aufmerksamkeit hilft mir und trotzdem bin ich ein wenig nervös, weil ich ohne meine Geige etwas nackt bin.

Wenn ich an Slava Rostropovich denke, so denke ich nicht nur an einen großen Künstler, dessen Lebensweg ich immer verfolgt habe, den ich bewundert habe, mit dem ich zusammen spielen durfte und viele Gespräche führte. Ich denke an ihn als eine Persönlichkeit, an der man sich messen muss.

In unseren Tagen, in denen so viele Musiker, auch wenn sie brillant auftreten, einander so ähnlich sind, geht oft etwas verloren: dass die persönliche Stimme etwas ganz, ganz Wichtiges ist. Ich will damit sagen, dass ich Musik, Komponist und Inter­ pret gerne erkennen möchte wenn ich eine Aufnahme höre. Und das möglichst schon nach etwa 20 Sekunden. Es ist so wunderbar, eine Handschrift vor sich zu haben, die Handschrift eines Komponisten und nicht nur einen Ausdruck aus einem Computer.

Und es ist wunderbar, in einem Interpreten das zu finden, was man selbst in sich sucht – die eigene Stimme. Hier in Kronberg gibt es die Gelegenheit für viele junge, werdende Musiker, diese eigene Stimme zu suchen. Und natürlich sind diejenigen be­sonders interessant, die sich von anderen unterscheiden.

Slava Rostropovich war eine Persönlichkeit. Nicht nur als Musiker, sondern in allem was er tat in seinem Kampf um eine gewisse Gerechtigkeit. Er war nicht der einzige Musiker, der diesen Kampf gekämpft hat: denken wir nur an Pablo Casals, denken wir an Yehudi Menuhin, denken wir an Leonard Bernstein. Hier reiht sich Slava Rostropovich wunderbar ein.

Ich erinnere mich an die Tage, in denen er den großen Menschen und Schrift­ steller Alexander Solschenizyn in Schutz nahm und einen öffentlichen Brief an die russische Regierung schrieb. Viele seiner Freude damals in den 70er Jahren waren 22

verwundert über diesen Auftritt eines einzelnen Menschen gegen einen ganzen Staat oder zumindest gegen die Regierung und die Ideologie dieses Staates. Aber auf die Frage, warum er sich getraut hat, diesen Brief nicht nur zu schreiben, sondern auch abzusenden, antwortete Slava ganz schlicht: „Ich befürchte nichts, ich schlafe einfach besser“. Und diese Worte – ich schlafe besser – klangen in meinen Ohren wie Kirchen­ glocken. Es war ein Bekenntnis zur Wahrheit und zu dem Beruf, den wir ausüben: Musiker zu sein mit reinen Tönen. Diese reinen Töne zu finden ist oft sehr schwierig, aber sie lassen sich finden – nicht nur nach stundenlangem Üben, sondern auch auf der Suche nach den „Obertönen“.

„Slava ging seinen eigenen Weg, oft sehr widersprüchlich, und trotzdem sich selbst immer treu.

Er versuchte die Wahrheit zu vermitteln, mit Tönen und ab und zu auch mit Worten.“ Wenn man einen Sprung macht in die Gegenwart: Wer in Russland heute – in e­ inem etwas anderen, aber der früheren Sowjetunion doch sehr ähnlichen Russland – traut sich, solche Töne von sich zu geben? Töne gegen eine herrschende Macht und für die, die Schutz brauchen? Kaum ein Musiker, der mir bekannt ist – und ich denke dabei an hervorragende Musiker, einige davon haben öfters Kronberg besucht – wäre zu einem solchen Schritt bereit. Sie spielen eher mit dem Staat und mit der Macht, sie sind – was auch in Deutschland nicht unbekannt ist – Mitläufer, weil das bequemer ist. Aber Slava hat sich nie auf Bequemlichkeit eingestellt. Slava ging seinen eigenen Weg, oft sehr widersprüchlich, und trotzdem sich selbst immer treu. Er versuchte die Wahrheit zu vermitteln, mit Tönen und ab und zu auch mit Worten.

Ja, Slava war in vielen Dingen ein Einzelgänger. Ich erinnere mich, als Konse­ quenz aus diesem Brief wurden Slava sämtliche Konzerte verboten, er durfte kaum noch spielen in der Sowjetunion. Und trotzdem, er suchte nach Möglichkeiten, seine Töne weiter zu vermitteln. Er trat manchmal sogar dreimal am Tag auf. Im Kinosaal in Baku z. B. erklangen Bach-Suiten. Er dirigierte Tosca in Vilnius, das etwas ferner war von Moskau, und er versuchte, seine Kräfte der Jugend zu vermitteln, indem er mit dem Studentenorchesters des Moskauer Konservatoriums im dortigen großen Saal Tchaikovskys Pathétique aufführte. Und das war ein Ereignis! Ein Ereignis auch deshalb, weil es sein Abschiedskonzert von Russland war und damals noch niemand vorhersehen konnte, dass die Situation sich nach knapp 20 Jahren ändern würde und Slava Rostropovich doch noch eine laut gefeierte Heimkehr ermöglicht würde.

Ich war in diesem Abschiedskonzert und blieb stark beindruckt von der emotio­nalen Kraft, nicht nur auf der Bühne durch die jungen Musiker und Slavas Enthusiasmus, 23

Gidon Kremer, Raimund Trenkler

sondern auch durch die ganze tragische Situation für ihn und seine Frau Galina Wischnewskaja. Denn jeder wusste: Slava verlässt Russland und wir hören ihn nie mehr wieder. Es war wirklich sehr erschütternd. Seine Töne aber blieben und lebten in all denen weiter, die sie gehört haben.

Slava war daraufhin in der ganzen Welt aktiv, er wurde überall bejubelt und ich als junger Mensch versuchte, von ihm etwas abzuschauen, was er richtig machte. Ich fand damals durchaus, dass er nicht alles richtig machte – so wie jeder von uns nicht immer nur perfekte Töne erzeugt. Und trotzdem war in seinem Handeln und in seinem Spiel so viel Anziehendes.

Ich erinnere mich an ein Treffen in Stockholm, bei dem ich ihn fragte, was ich denn tun solle: Ich lebte damals noch in der Sowjetunion und kämpfte mit denselben dunklen, undurchschaubaren Mächten, wie viele andere meiner Kollegen. Slava, auf seine typische Art, ermutige mich nicht direkt dazu, das Land zu verlassen. Aber er ermutigte mich – der immer noch nicht verstanden hatte, dass das der einzige Weg ist – durch ein Beispiel, das den Künstler in mir herausfordern sollte: Bei einem Abend­ essen sagte er: „Gidon, aber verstehst du es denn nicht, kannst du es nicht verstehen?“ (Er schien mich für einen Dümmling zu halten) „Verstehst du denn nicht? Wenn ich jetzt im Westen spiele, bekomme ich für ein Konzert 10.000 Dollar“ (damals gab es noch eine andere Wertschätzung des Dollars) „10.000 Dollar! Und weißt du, wenn man 10.000 Dollar bekommt, dann spielt man einfach viel besser!“ Irgendwie war ich amüsiert über die Aussage und nahm sie für bare Münze. Aber als ich ins Hotel ­zurück kam dachte ich: Also, was für einen Unsinn erzählt der da. Was hat meine Musik mit Geld zu tun, ich will einfach frei sein, zu spielen was und wo ich will.

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Aber natürlich hatte Slava wohl mit dieser Aussage versucht, mich irgendwie auf das richtige Gleis zu bringen.

Ein paar Jahre später begab ich mich nach Berlin, um ihn dort zu treffen – kurz vor meiner Entscheidung im Westen zu bleiben, als ich schon als „abgesprungen“ galt, aber immer noch nicht so sicher war, ob ich nicht doch noch einmal zurück nach Moskau gehen sollte. (Es ist eine lange Geschichte, warum ich schließlich zurück­ gegangen bin, aber die werde ich jetzt nicht erzählen, damit das Konzert rechtzeitig beginnen kann.) Da sagte er mir genauso belehrend: „Was stellst du dir überhaupt vor? Mit dem Tiger spielt man kein Schach!“ Und dieser Satz blieb hängen. Obwohl ich dann nach Moskau ging und Schach mit dem Tiger gespielt habe. Aber er blieb hängen, denn auf die Dauer ging das natürlich überhaupt nicht, ich hab nur noch etwas mehr Zeit gebraucht, das zu verstehen.

Aber dann denke ich wieder an heute. Ich denke daran, wie sehr die Politiker in aller Welt, aber auch in Deutschland, versuchen, mit dem Tiger Schach zu spielen.

Und ich muss wieder an Slava denken, und daran, dass er Recht hatte: Mit dem Tiger spielt man kein Schach. Aber es geht nicht nur um Politiker. Es geht auch um Künst­ ler, die den Begriff „Patriot“ ganz unterschiedlich verstehen. Slava war sicher ein großer Patriot seines Landes und trotzdem war er gezwungen, sein Land zu verlassen.

Wilhelm Furtwängler war sicher ebenfalls ein Patriot seines Landes und entschied sich, in Deutschland zu bleiben. Es gibt Augenblicke im Leben, wo man Entscheidun­ gen treffen muss, und die kann man nicht kollektiv treffen, die muss jeder für sich selbst treffen. Und in diesem Zusammenhang denke ich an die Künstler, die heraus­ fordern, und nicht an diejenigen, die es sich bequem machen und mit der Macht ge­ meinsam spielen.

Slava habe ich auch durch gemeinsames Musizieren erlebt. Es ist kein Zufall, dass er sich einem Komponisten zugewandt hat, mit dem ich schon lange befreundet war, den er aber, als er noch in Russland war, zunächst nicht entdeckt hatte. Umso mehr hat es mich gefreut, als Alfred Schnittke endlich auch auf die lange Liste von Uraufführungen kam, die wir Slava verdanken. Es war mir eine besondere Freude, gemeinsam mit Slava und Yuri Bashmet Alfred Schnittkes Trippel-Konzert, das „Konzert zu dritt“, aufzuführen. Damals passierte auch etwas Merkwürdiges: Wir spielten in Moskau im großen Saal (zu der Zeit durfte Slava schon wieder in Russland spielen, sogar ich durfte in Russland spielen). Wir trafen uns auf der Bühne, wir spiel­ ten das Konzert zu dritt von Alfred Schnittke und in der Partitur dieses Werkes – über das der Komponist nicht mehr berichten konnte, weil er schon nicht mehr sprechen konnte nach seinem dritten Schlaganfall – befand sich ein Notenblatt mit einem Menuett. Slava nahm es mit Humor: Er befand, dass das Konzert zu dritt ein Titel ist, der darauf anspielt, dass man in Russland sehr gerne eine Flasche Wodka zu dritt leert. Was natürlich mit der Absicht von Alfred nicht unbedingt übereinstimmte.

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Slava nutze die Gelegenheit dieser Uraufführung auch noch dazu, das sich in der Partitur befindende Menuett als eine Zugabe anzusagen, obwohl das Menuett, wie ich meine, zum Konzert zu dritt dazu gehört als eine Art Kadenz der drei Solisten, die sich, bevor das Finale eintritt, in traurigen Tönen zusammenfinden. Slava aber meinte, Alfred hätte es komponiert, weil er genau wusste, dass unser Auftritt erfolg­ reich sein würde. Mit dieser „Interpretation“ kann ich mich bis heute nicht abfinden.

„Slava erkannte den Wert, etwas Gutes zu tun, indem man Brücken zur Jugend und damit zur Zukunft baut. Er lockte zahlreiche junge Musiker nach Kronberg, um gegenseitig voneinander zu lernen – die Jugend von den Meistern und die Meister von der Jugend.“ Slava und ich waren uns nicht immer einig in der Anschauung der Dinge und es gab ab und zu auch Dinge, die uns entfremdeten. Aber wenn wir über Musik sprachen und Musik machten, dann herrschte Harmonie, und ich denke dabei an all die Auf­ tritte, die ich mit Slava als Cellist oder als Dirigent hatte. Musik ist eben ewig und sie überlebt uns. Und so lebt auch ein Konzert zu dritt von Schnittke weiter, ein Konzert, das wir beide, Slava und ich, initiiert haben.

Das gleich gilt für unsere Ideen. Slava war ganz zu Beginn hier in Kronberg, bei der Kronberg Academy, und hat hier seine Rostropovich Cello Foundation gegrün­ det. Er erkannte den Wert, etwas Gutes zu tun, indem man Brücken zur Jugend und damit zur Zukunft baut. Vor nahezu 20 Jahren habe ich auch eine kleine Brücke ­gebaut für die Zukunft der baltischen Musiker, indem ich die Kremerata Baltica – die inzwischen in Kronberg zum „Orchestra in Residence“ wurde“– gegründet habe.

Slava gründete hier nicht nur die Foundation, er lockte auch viele junge Musiker hier­ her, von denen wir alle auch in diesen 10 Tagen enorm profitiert haben*. Denn es ist nicht so, dass nur die Jugend von den Meistern lernt. Die Meister lernen auch von der Jugend, weil die Jugend direkter ist, sie ist ehrlicher, wenn man so will.

Wir alle kommen und gehen, aber die guten Dinge, die wir schaffen – wie die Partituren musikalischer Werke – überleben. So überlebt auch in der Kronberg ­Academy alles, was Slava hier hinterlassen hat, die Spuren von Slava, sein Geist. Slava wusste um den Wert von Kronberg von Beginn an und wir alle profitieren davon noch heute. Deshalb kann man sagen: Slavas Geist spricht auch heute, an seinem Tag Gidon Kremer am 27. April 2016 des Gedenkens. Vielen Dank.

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Rostropowitsch

Der Jahrhundert-Cellist

Die Edition

The Sound of

Limited Deluxe Edition – 40 CDs, 3 DVDs, 200-seitiges Buch Ein unvergleichlicher Überblick über Leben & Werk des epochalen Musikers

Legendäres aus der umfangreichen Rostropowitsch-Diskografie – 2 CDs

rostro-cello.de

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Oben: Konzert in Ludwigshafen, 2004 Rechts oben: Mit Pablo Casals Links unten: Mit David Geringas und Mischa Maisky in Kronberg, 2001 29

„Ich möchte einen lang gehegten Wunsch Wirklichkeit werden lassen und eine neue Stiftung ins Leben rufen.

Diese Stiftung wird dazu bestimmt sein, begabten jungen Cellisten erweiterte Ausbildungsmöglichkeiten zugänglich zu machen.“ Mstislav Rostropovich 1997 in Kronberg

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In Übereinstimmung mit der Zielsetzung der Kronberg Academy hat Mstislav Rostropovich 1997 eine Stiftung ins Leben gerufen, um neue Generationen hochbegabter Cellisten in ihrer Arbeit zu unterstützen.

Er hat der Kronberg Academy den Auftrag zur Verwaltung dieser ­Stiftung erteilt und den Stiftungszweck näher definiert.

Die Rostropovich Cello Foundation • vergibt Stipendien an hochbegabte Cello-Studenten (Cello Meisterkurse, Patronat) und • ermöglicht es jungen, talentierten Cellisten, gemeinsam mit weltbekannten Solisten Kammermusikwerke zu erarbeiten und aufzuführen (beim Kronberg Academy Festival) Es ist das Bestreben der Rostropovich Cello Foundation, ihre Stipendiaten bei Bedarf leihweise mit klanglich herausragenden, modernen Instrumenten auszustatten, die sie mit Hilfe von Spenden erwirbt oder durch ihre Kontakte zu zeitgenössischen Geigenbaumeistern vermittelt.

Die Rostropovich Cello Foundation wurde mit Unterstützung der Deutsche Bank Stiftung gegründet und ist weiterhin in hohem Maße auf die Unterstützung engagierter Förderer angewiesen.

Ehrenvorsitzende Elena Rostropovich Kontakt Gabriela Denicke, Telefon 06173 - 78 33 78, stiftung@kronbergacademy.de 31

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CHRONIK

VERABREDUNGEN MIT SLAVA 2008 – 2017

David Geringas

Mischa Maisky

2008

2009

CELLIST David Geringas

CELLIST Mischa Maisky

Sarabande aus der 5. Cellosuite c-Moll BWV 1011 von J. S. Bach

Sarabande aus der 2. Cellosuite d-Moll BWV 1008 von J. S. Bach

REDNER Otto Schily, Innenminister a.D.

REDNER Ministerpräsident Roland Koch

CHOR Akademischer Mädchen-

CHOR Knabenchor Minsk, Leitung:

chor Liepaites aus Vilnius, Litauen, Leitung: Petras Vailiones

Vladimir Gloushakov

BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Tatjana Vassilieva (Violoncello) David Geringas (Violoncello) Tatjana Geringas (Klavier) Werke von Franz Schubert, Kaija Saariaho, Sergei Rachmaninoff, Sergei Prokofiev

BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Marie-Elisabeth Hecker (Violoncello) Francesco Piemontesi (Klavier) Mischa Maisky (Violoncello) Lily Maisky (Klavier) Werke von Frédéric Chopin, Dmitri Shostakovich und Sergei Rachmaninov

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Natalia Gutman

2010

2011

CELLISTIN Natalia Gutmann

CELLIST Ivan Monighetti

Sarabande aus der 2. Cellosuite d-Moll BWV 1008 von J. S. Bach

Sarabande aus der 3. Cellosuite C-Dur BWV 1009 von J. S. Bach

REDNER Bürgermeister

REDNERIN Elena Rostropovich

Klaus E. Temmen CHOR Akademischer Mädchenchor

„Liepaites“ Vilnius, Leitung: Arturas Dambrauskas BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Dai Miyata (Violoncello) Anna Naretto (Klavier) Natalia Gutman (Violoncello) Viacheslav Poprugin (Klavier) Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Johannes Brahms

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Ivan Monighetti

CHOR Shchedryk Kinderchor Kiew,

Leitung: Marianna Sablina BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Ivan Monighetti (Violoncello) Pavel Gililov (Klavier) Alexander Buzlov (Violoncello) Anna Naretto (Klavier) Werke von Ludwig van Beethoven, Benjamin Britten und Mstislav Rostropovich

Young Chang Cho

Julius Berger

2012

2013

CELLIST Young Chang Cho

CELLIST Julius Berger

Bourées aus der 3. Cellosuite C-Dur BWV 1009 von J. S. Bach REDNER Julius Berger

Präludium für Violoncello solo von Sofia Gubaidulina und Präludium aus der Cellosuite Nr. 1 G-Dur BWV 1007 von J. S. Bach

CHOR Akademischer Mädchenchor

REDNERIN Sofia Gubaidulina

„Liepaites“ Vilnius, Leitung: Audrone Steponaviciute Zupkauskiene

CHOR Wiesbadener Knabenchor,

BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Monika Leskovar (Violoncello) José Gallardo (Klavier) Young-Chang Cho (Violoncello) José Gallardo (Klavier)

Julius Berger (Violoncello) Gabriel Schwabe (Violoncello) José Gallardo (Klavier) Cello Passionato: Hyun-Jung Berger, Alberto Brazzale, Aleksandra Lelek, Sara Chordà, Daniel Claret, Jeeyon Kim, Alessandro Sica (Violoncelli) Sofia Gubaidulina (Aquaphon) Alberto Brazzale (Aquaphon)

Werke von Dmitri Shostakovich, Edvard Grieg und Ástor Piazzolla

Leitung: Roman Twardy

Werke von Sofia Gubaidulina, Johannes Brahms 35

Frans Helmerson

2014

2015

CELLIST Frans Helmerson

CELLIST Lluís Claret

Präludium aus der Cellosuite Nr. 2 d-Moll BWV 1008 von J. S. Bach

„Elegie“ von Enric Casals

REDNER Harald Eggebrecht CHOR Akademischer Mädchenchor

„Liepaites“ Vilnius, Leitung: Audronė Steponavičiūtė-Zupkauskienė BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Frans Helmerson (Violoncello) István Várdai (Violoncello) Walter Delahunt (Klavier) Werke von Benjamin Britten, Franz Schubert, Mstislav Rostropovich und Dmitri Shostakovich

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Lluís Claret

REDNER Jörg Widmann CHOR Limburger Domsingknaben,

Leitung: Klaus Knubben BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Kian Soltani (Violoncello) Andriy Dragan (Klavier) Lluís Claret (Violoncello) Àlex Ramírez (Klavier) Werke von Robert Schumann, Franghiz Ali-Zadeh und Pablo Casals

Steven Isserlis

Elena Rostropovich

2016

2017

CELLIST Steven Isserlis

CELLIST Gary Hoffman

Sarabande aus der Cellosuite Nr. 3 C-Dur BWV 1009 von J. S. Bach

Bourée aus der Cellosuite Nr. 3 C-Dur BWV 1009 von J. S. Bach

REDNER Gidon Kremer

REDNERIN Elena Rostropovich

CHOR Limburger Domsingknaben,

CHOR Knaben- und Mädchenchor

Leitung: Andreas Bollendorf

am Frankfurter Dom, Leitung: Andreas Boltz

Abschlusskonzert von Chamber Music Connects the World

Christian Tetzlaff (Violine) Steven Isserlis (Violoncello) und jungen Nachwuchskünstlern Werke von Erich Wolfgang Korngold und Felix Mendelssohn Bartholdy

BENEFIZKONZERT für die Rostropovich Cello Foundation

Aleksey Shadrin(Violoncello) Boris Kusnezow (Klavier) Gary Hoffman (Violoncello) David Selig (Klavier) Werke von Dmitri Shostakovich, Giya Kancheli, Claude Debussy, Ernest Bloch und Leonard Bernstein

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Bildnachweis: Stephan Cropp (14 unten), Nina Erfle (11 unten), Sasha Gusov (14 oben / 15 / 21 unten), Barbara Klemm (30), Kronberg Academy Archiv (4 / 10 / 20 / 21 oben / 28 oben), Andreas Malkmus (6 / 11 oben / 29 / 34 rechts / 35 / 37 rechts / 38), Lutz Sternstein (13 / 18 / 28 unten / 32 / 33 / 34 links / 36 / 37 links), SĂśnke TollkĂźhn (1), Patricia Truchsess (24) 39

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