TurkishConnections

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porträt

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Semiha ünal Ohne Visum nach Europa Mühelos und mit einem strahlenden Lächeln spricht Semiha Ünal einen nach dem anderen niederländischen Geschäftsmann an auf einer Party im Palais de Hollande, dem niederländischen Generalkonsulat in Istanbul. An nichts kann man hören, dass sie seit 23 Jahren nicht mehr in den Niederlanden lebt. Sie hat ihr eigenes Unternehmen gegründet, das zwischen niederländischen und türkischen Unternehmen vermittelt, und sie gehört zum Vorstand des niederländischen Verbandes. Semiha bewegt sich elegant zwischen den Kulturen hin und her. Geboren und aufgewachsen ist sie in Den Haag. Mit achtzehn Jahren, nach ihrem Abitur am Maerlant Gymnasium bekam sie den Schock ihres Lebens: Ihre Eltern be-

schlossen, zurück nach Eskişehir zu ziehen. Von Den Haag in eine konservative Stadt im Herzen Anatoliens: keine besonders vielversprechende Aussicht. Der einzige Vorteil schien ihr, dass sie dort vielleicht kein Außenseiter mehr sein würde, so dachte sie jedenfalls. Sie wurde enttäuscht. „Ich war völlig geschockt, wie sehr die Menschen sich hier in Schubladen einordnen. Politisch oder ethnisch, da gab es viele Kategorien. Ich wurde oft vor meiner Freundin gewarnt - sie sei Mitglied einer feindlichen Partei. Und ich dachte immer, wir Türken wären alle gleich.” Sie hatte solches Heimweh nach Den Haag, dass ihre Mutter jahrelang ihren Pass versteckte, um ihre Tochter zuhause zu halten. Letztendlich gab sie es auf, heiratete, bekam Kinder, ging arbeiten. Inzwischen

machte sie jedoch ihren Universitätsabschluss und außerdem ein englischsprachiges Studium zum Master of Business Administration. Die niederländischen Wurzeln machten sich immer wieder bemerkbar. Aber sie hatte keinen niederländischen Pass mehr. „Die Niederlande haben mich gefördert: Ich bin dort zur Schule gegangen, habe die niederländische Zivilisation mitbekommen. Aber dorthin zurück konnte ich nicht, es sei denn, ich würde fünf Jahre lang dort hinziehen”, sagt sie ein wenig verbittert. Ihr ausgezeichnetes Englisch, das sie in der Schule gelernt hatte, war ihre Rettung. Sie kämpfte sich hoch bis in eine Managerposition in einem staatlichen Unternehmen. Dadurch bekam sie nach zehn Jahren auch einen speziellen Pass, mit dem sie ohne Visum nach Europa reisen konnte. Als ihre Söhne alt genug waren, kam es dann doch soweit. Sie verlies ihren Mann und flog in die Niederlande. Dort wurde sie in einem Callcenter angenommen. Schon bald bot man ihr jedoch eine Managerposition in einer Geschäftsstelle in Istanbul an. Also flog sie wieder zurück. Auf ihrer Arbeit war sie umgeben von Türken mit niederländischem Hintergrund und dort fühlte sie sich wie ein Fisch im Wasser. Außerdem bietet Istanbul alle Vorteile einer Metropole. „Es ist großartig hier. Meine Freundinnen in den Niederlanden haben ein viel beschränkteres Leben

als ich. Sie arbeiten und gehen dann wieder nach Hause. Hier gibt es so viele tolle Orte. Und das Nachtleben ist der reine Wahnsinn!” Semiha wohnt im asiatischen Teil der Stadt: ein hochmoderner Stadtteil mit Sportanlagen und Einkaufszentren die High Park, Andromeda, South Side oder Equinox heißen. Semiha klingt es wie Musik in den Ohren: international, auch wenn die Niederlande für sie immer noch an erster Stelle kommen. „Ich bekomme zwar keinen Pass, aber die Niederlande werden mich trotzdem nicht los.” In den Ferien kommen ihre Söhne zu Besuch. Der älteste hat gerade einige Monate in Amerika studiert. Das ist gut, sie wünscht sich, dass ihre Kinder sich international orientieren. Niederländisch sprechen sie nicht. „Aber was ‘gezellig’ bedeutet – das wissen sie.”

An nichts kann man hören, dass sie seit 23 Jahren nicht mehr in „Ich bekomme zwar keinen Pass, aber die Niederlande werden den Niederlanden lebt. mich trotzdem nicht los.”


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