KOLT #53

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Airport EGK

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www.saelipark.ch



EDITORIAL Juni 2014

Barrieren im Kopf Ideen kommen selten dann, wenn man sie braucht. Und meistens macht es auch keinen Spass, nach ihnen zu suchen, wenn man muss. Mindmapping, Brainstorming oder Clustering heissen die kreativen Methoden, die wir in der Schule beigebracht bekamen. Auch lernten wir, dass wir jede Idee aussprechen sollen, weil keine Idee falsch oder schlecht ist. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Die beiden Zürcher Architekten Barbara Frei und Martin Saarinen liessen sich von nichts verunsichern. Sie bauten in Egerkingen einen riesigen Flughafen – zumindest in ihren Köpfen. Was wie ein Scherz klingt, ist durchaus ernst gemeint. Über mehrere Jahre arbeiteten Frei und Saarinen nach Feierabend an ihrem Projekt, argumentierten, berechneten, skizzierten und setzten sich sogar ins Flugzeug, um die mögliche Baustelle von oben zu fotografieren. Ab Seite 16 zeigen wir Ihnen, wie dieser Flughafen aussehen könnte und wir lassen die kreativen Köpfe hinter dieser gewaltigen Idee zu Wort kommen. Was nach dem Gespräch mit den beiden Architekten vor allem bleibt, ist der Gedanke, dass eine Idee – egal wie undenkbar – die Macht hat, die Barrieren in unseren Köpfen abzubauen. Uns zeigt, dass Inspirierendes entstehen kann, wenn man bei der Suche nach einer Lösung alle «Aber» ausblendet. Ich wünsche Ihnen, liebe Leser und Leserinnen, eine vorbehaltlos schöne Lektüre! Nathalie Bursać

REDAKTIONELLE MITARBEIT Caspar Shaller, Eno Nipp, Sarah Rüegger, Sara Bagladi, Kilian Ziegler, Pedro Lenz, Marc Gerber ILLUSTRATION Petra Bürgisser FOTOGRAFIE Jorma Müller, Michael Isler, Yves Stuber LEKTORAT Hannes Zwicker, Nina Helbling LESERBRIEFE leserbriefe@kolt.ch, www.kolt.ch/leserbriefe AGENDA agenda@kolt.ch, www.kolt.ch/agenda ABO Jahresabonnement CHF 59.—(inkl. MwSt), Gönnerabonnement CHF 99.—(inkl. MwSt), abo@kolt.ch, www.kolt.ch/abo INSERATE inserate@kolt.ch, www.kolt.ch/inserieren KONTAKT www.kolt.ch, hallo@kolt.ch AUFLAGE 1'500 DRUCK Dietschi AG Druck und Medien, Ziegelfeldstrasse 60, CH-4600 Olten © 2014, Verlag 2S GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung. Die Urheberrechte der Beiträge bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen.

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Cover: zVg von Frei + Saarinen

IMPRESSUM VERLAG / HERAUSGEBER Verlag 2S GmbH, Leberngasse 17, 4600 Olten, verlag@v2s.ch, www.v2s.ch VERLAGSLEITUNG Yves Stuber, Matthias Sigrist REDAKTIONSLEITUNG Nathalie Bursać (nb), redaktion@kolt.ch FINANZEN Matthias Gubler INTERNETAUFTRITT Mathias Stocker LAYOUT / SATZ Christoph Haiderer, Gaia Giacomelli


INHALT

GENUSS 28 Film Ein Meisterwerk zum mitweinen

6 Die Verrücktheit zelebrieren KOLUMNEN

Ruth Ehemann wird in Wangen bald ein Living Museum eröffnen – ein Ort, wo psychisch kranke Menschen Kunst machen können

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Literatur

Eifersucht ist nicht fair

Dorothee Elmiger hat ein zweites Buch geschrieben

Kilian Ziegler

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Eine Idee und ein Elefant treffen aufeinander

Der Koltige Monat

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Von langen Rattenschwänzen die länger werden

Pedro & Petra Das Leben ist zu kurz, um das Velo korrekt zu parkieren

Beilage

AUSLAND

Im Exil

Musik Open-Airs abseits der Massen

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NaRr

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KULTUR / AGENDA

16 Der Grosse Flughafen

Man stelle sich vor, jemand baute den grössten Flughafen der Welt an den Jurasüdfuss. Undenkbar? Von wegen!

Menschen aus der Region berichten aus dem Ausland

3 JugendArt Mit Mich Gerber tritt ein Ausnahmemusiker in der Schützi auf

4 Chor-Jubiläum Der St. Marienchor feiert sein 60-jähriges Bestehen zusammen mit vielen anderen Musizierenden

5 Terminus Hoher DJ-Besuch beehrt Olten

12 Jeder Stadt ihr Bier

Zwei Jungbrauer verwirklichen ihren Traum vom Oltner Bier. Ein Besuch in der Brauküche bei 36 Grad Celsius

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DAS GESPRÄCH

Die Verrücktheit zelebrieren Auf dem ehemaligen Kleider-Frey-Areal in Wangen will Ruth Ehemann bald ein Living Museum eröffnen. Die Idee dazu hat sie aus New York, wo das erste seiner Art steht. von Sara Bagladi (Interview) und Yves Stuber (Foto)

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uth Ehemann, was ist ein sogenanntes Living Museum? Das ist ein Ort, wo psychisch kranke Menschen Kunst schaffen können. Es ist ein Arbeitssowie ein Ausstellungsort, dadurch wird es lebendig. Psychisch Kranke finden oft keine Arbeitsstelle, da sie nicht in unsere Leistungsund Produktionsgesellschaft hinein passen. Im Living Museum haben sie die Möglichkeit ihren Tag sinnvoll zu verbringen und etwas zu schaffen. Es wird an einer Identitätsveränderung vom psychisch Kranken hin zum Künstler gearbeitet. Das wirkt sich positiv auf ihr Selbstwertgefühl aus. Noch wichtiger ist dabei die Entstigmatisierung der Psychiatrie, in dem das Living Museum öffentlich zugänglich ist.

chern steht, ins Rollen und begleite es. Später werde ich einen Tag pro Woche dort sein. Caroline Erdmann wird die Leitung vor Ort übernehmen.

rücktheit und Andersartigkeit, die sie in der Gesellschaft zum Aussenseiter machen, werden hier zelebriert. Sind Menschen mit psychischen Störungen also kreativer? Ja, Studien haben bewiesen, dass psychische Krankheiten oft mit erhöhter Kreativität einhergehen. Das erklärt auch das Sprichwort «Genie und Wahnsinn ist nicht weit entfernt».

Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt. «Studien haben bewiesen, dass psychische Krankheiten oft mit erhöhter Kreativität einhergehen.» Was fasziniert Sie an diesem lebendigen Museum? Als ich das Living Museum in New York entdeckte, gingen mir Herz und Seele auf. Ich bin ein freiheitsliebender Querdenker. Ich habe die Umgebung als so befruchtend und bereichernd erlebt, dass ich dort meine besten künstlerischen Arbeiten geschaffen habe. Der krea-

Seit 12 Jahren leiten Sie die KunsttherapieAbteilung der Psychiatrischen Klinik Wil. Nun ist ein Living Museum in Wangen in Entstehung. Was für Pläne haben Sie? Das Konzept ist sehr ähnlich wie in New York und in Wil. Nach Wangen können alle psychisch kranken Menschen, aber auch externe Künstler kommen. Es soll ein inspirierender Austausch stattfinden – eine Mischung und ein fliessender Übergang von innen nach aussen, von gesund und psychisch krank, normal und verrückt. Ich möchte auch Senioren einbeziehen, die Überalterung der Gesellschaft ist ein grosses Thema. Was reizt Sie am Standort Wangen? Wir bespielen eine lichtdurchflutete, gigantische Fabrikhalle. Die Offenheit ergibt eine wunderschöne Atmosphäre und einen musealen Charakter. Das Ziel ist eine möglichst grosse Kooperation mit beteiligten Mietern im ganzen Areal. Wangen liegt zentral und ist für viele gut erreichbar. Momentan wird renoviert und wir planen eine Fundraising-Strategie, da das Museum von Spendengeldern finanziert wird. Welche Aufgaben übernehmen Sie dabei? Ich bringe das Projekt, das jetzt in den Startlö-

Hat somit jeder Mensch mit mentalen Problemen eine künstlerische Ader? Ich bin überzeugt, dass sich jeder entfalten kann. Die Frage ist, wie weit sich jemand für die Kunst öffnen kann. Es gibt auch solche, die einfach die soziale Gemeinschaft schätzen. Auch für diese hat es hier Platz. Die Kreativität ist schon bei Kindern angelegt, sie gehört eigentlich zum Menschsein dazu. Waren Sie schon als Kind eine kleine Künstlerin? Ich habe früh meine Leidenschaft für das Zeichnen entdeckt. Ich war sehr introvertiert und die Kunst hat mir geholfen, mich auszudrücken. Das versuchte ich auch mit meiner wilden und schrillen Kleidung, die ich selbst nähte. Meine Mutter wollte mich gelegentlich nicht aus dem Haus lassen und so kam es auch vor, dass sie meine Hosen konfiszierte.

tive Fluss und die speziellen Persönlichkeiten, die aufeinander treffen, sind für mich beflügelnd. Menschen, die eine psychische Extremerfahrung gemacht haben, sind so reich an Erfahrung und teilweise unglaublich intelligent. Ich kann wahnsinnig viel von ihnen lernen. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass psychische Krankheiten etwas Schwerwiegendes und Fürchterliches sind. Doch diese Vulnerabilität, die psychisch Kranke in unserer Gesellschaft zu schwachen Menschen macht, soll hier in eine Stärke umgewandelt werden. Genau diese Ver-

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Aufgewachsen auf einem bayrischen Bauernhof machte sich Dr. päd. Ruth «Rose» Ehemann, heute 41, auf nach New York. Dort wurde sie vom Living Museum verzaubert. Sie promovierte in Kunsttherapie in Köln. Nun lebt sie mit ihrer PatchworkFamilie aus Ehemann und fünf Kindern in Wil SG.


«Als ich das Living Museum in New York entdeckte, gingen mir Herz und Seele auf.»

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NaRr

KILIAN ZIEGLER

von Ricardo de Campos

Weil ich dich liebe Es ist nicht fair, nein das Leben ist nicht fair. Die Welt ist nicht fair, wenn sie die Menschen auf der Welt verteilt, egal ob Oase oder Wüste. Die Menschen sind nicht fair, wenn sie überall McDonalds aufstellen, das Geld dazu aber nicht nachliefern. Du bist nicht fair, wenn du diesem Typen von der anderen Strassenseite ein Lächeln schenkst und mir nicht. Und ich bin nicht fair, wenn ich aufs Gaspedal drücke, wenn dieser Typ gerade über die Strasse läuft. Oder es mir wenigstens vorstelle. Ich kann nicht Autofahren und wahrscheinlich kann ich auch nicht töten. Dafür kann ich schreiben, glaube ich zumindest, kann schreiben, wie er auf meiner imaginierten Windschutzscheibe aufschlägt, am besten in der Nacht, wenn es keine Zeugen gibt. Und am nächsten Morgen würde ich bei dir klingeln mit ernstem Gesicht, würde mich anstrengen, dir in die Augen zuschauen und nicht woanders hin, obwohl es schon einiges zu bestaunen gibt an dir. Ich würde ernst dreinblicken, etwas verwirrt, etwas traurig und dir mit bebender Stimme die schlechte Nachricht überbringen, dass er gestorben ist, der Typ. Und du würdest weinen, in meinen Armen, die ich um dich lege, in die du dich geworfen hast, nicht wissend, was sonst tun. Und ich würde lächeln und für einen Moment das verbeulte Heck, die blutverschmierte, zerrissene Scheibe in meiner Garage vergessen. So stelle ich mir das vor, so schreibe ich das auf und hoffe nicht, dass es wahr wird, sondern hoffe, dass dir tausend niedergeschriebene Tote reichen werden. Tausend Tode tippe ich für dich, für dein Lächeln, dabei weiss ich noch nicht mal, ob du wirklich bist, wie ich dich mir erschreibe. Ricardo de Campos, (*1984) stammt ursprünglich aus Portugal und studiert Publizistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. www.dasnarr.ch

Herr Stampfli und die vermaledeiten Ideen Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen. Geschätzte fünf Tonnen Material in Form eines sehr wahrscheinlich asiatischen, ganz sicher wütenden Elefanten hetzte mich durch das Zoogehege, oder durch eine sehr geräumige Tierhandlung, ich kann mich nicht erinnern, Trauma sei Dank. Sicher ist, noch nie war mir so viel Grau auf den Fersen gewesen; Elfenbein verfolgte Menschenbein. Während ich es hinter mir stampfen hörte, fiel mir ein, was mich in diese Lage manövriert hatte, das Stampfen war schuld. Ich wollte wissen, ob Elefanten es mögen, wenn man sie Herr Stampfli nennt. Wie gesagt, keine gute Idee. Mein «grüezi Herr Stampfli» schien Herrn (nicht-) Stampfli aggressiv gemacht zu haben, für einen Dickhäuter war er ganz schön dünnhäutig. Der Rest ist bekannt, schlechte Idee und so. Woher kommen eigentlich Ideen? Muss man nur lange genug danach suchen, kann man aktiv eine Idee herbeirufen? Oder kommen die Ideen auf einen zu? Gilt es zu warten, bis die Muse sich erbarmt und einem Geistesblitze in den Schädel pflanzt? Sind Ideen wie Kerzen? Gehen sie irgendwann aus? Könnte sein, ich denke an die Bands, die ich früher gut fand, aber nun anscheinend keine Ideen mehr haben. Ist womöglich die

Anzahl der Ideen beschränkt? Was, wenn jeder Kreativ-Schaffende nur, sagen wir fünftausend Ideen zur Verfügung hat? Danach adé messi, Schicht im Schacht und Ruhe im Karton? Wie viele Ideen hätte ich dann noch übrig? Ein Ideenzähler, das wäre eine gute Idee. Im Moment habe ich das Glück, dass mich die Einfälle regelrecht verfolgen, so wie es Herr (nicht-)Stampfli tat. Als dieser seine Füsse kraftvoll in den Boden stempelte und ich um mein Leben rannte, überlegte ich mir, was denn nun gute und was schlechte Ideen sind. Ad hoc formulierte ich die Faustregel: Wenn dir ein Licht aufgeht, ist es eine gute, wenn dir die Lichter ausgehen eine schlechte Idee. Da mir meine Lichter generell sehr lieb sind, sprintete ich so schnell ich konnte weiter und siehe da, die Flucht gelang, zumindest ein bisschen. Unverhofft stand ich in einem neuen Gehege, oder in einer anderen Tierhandlung, ich kann mich nicht erinnern, Trauma und so. Ich begann zu schwitzen, schluckte leer und flüsterte ein «grüezi Frau Kroko Ono».

«Sicher ist, noch nie war mir so viel Grau auf den Fersen gewesen; Elfenbein verfolgte Menschenbein.»

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MEHR ALS EINE DRUCKEREI

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Eine gute Zeit La vache Kili PS: Ein doppelt guter Einfall? Einfall für zwei.

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PEDRO & PETRA

Das Geschenk der Grosstante von Pedro Lenz (Text) und Petra Bürgisser (Illustration)

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ndlich ist im Bahnhof Olten das Veloparkhaus fertiggestellt. Wer neben dem Migrolino durch die Glastür schaut und gute Augen hat, sieht einen grüngestrichenen Tunnel, der weit, weit, weit Richtung Däniken reicht und wohl mehr Fahrräder fassen kann, als wir uns je vorstellen können. Wer selber Fahrrad fährt und es gewohnt ist, sein Gefährt ein paar Sekunden vor Abfahrt des Zuges möglichst nahe an einer Treppe irgendwo hinzuwürgen, wird umlernen müssen. Ab jetzt sind die Fahrradparkplätze normiert, zweistöckig und überwacht. Das ist schön, bedingt aber auch, dass Tausende von radfahrenden Pendlerinnen und Pendler aus der Umgebung ihre Gewohnheiten der neuen Parkieranlage werden anpassen müssen. Das mit dem saloppen in eine Nische würgen des Drahtesels können wir getrost vergessen. Knapp vor Abfahrt des Zuges noch zum Bahnhof pedalen liegt nicht mehr drin.

wir den auch nutzen, egal wie viele jener Minuten, die gerade am frühen Morgen so unendlich kostbar sind, dafür draufgehen werden.

Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt.

Die Veloabstellplätze in der Umgebung des Bahnhofs werden aufgehoben und es braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass die Behörden es nicht dulden werden, dass wir unsere Fahrräder weiterhin einfach abstellen, wo es gerade geht. Wir haben einen unendlich langen Veloparkplatz mit zweistöckigen Ständern geschenkt erhalten und jetzt wird erwartet, dass

«Das mit dem saloppen in eine Nische würgen des Drahtesels können wir getrost vergessen. Knapp vor Abfahrt des Zuges noch zum Bahnhof pedalen liegt nicht mehr drin.»

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Es ist ein bisschen wie in der Kindheit, wenn wir von einer Grosstante ein neues Paar Sonntagsschuhe erhielten, aber immer noch viel lieber in den alten, ausgelatschten Schuhen umherhüpften. Die Grosstante ist jetzt der Bahnhof und das velofahrende Volk sind die beschenkten Kinder. Viele von ihnen werden sich anfangs undankbar zeigen und versuchen, das Geschenk zu ignorieren. Aber irgendwann werden sie oft genug gehört haben, wie undankbar sie sind und es wird ihnen wenig anderes übrigbleiben, als das Geschenk anzunehmen und zu benutzen.

Bis es aber so weit ist, dürfte es noch eine Menge Nacherziehungsarbeit seitens der Behörden und viele erboste Leserbriefe brauchen, in denen stehen wird, die Velofahrer seien lauter undankbare Chaoten, die ihre rostigen Kläpper einfach irgendwohin stellen und denen nur mit der vollen Härte des Gesetzes beizukommen sei. Wer morgens mit dem Velo zur Bahn fährt und alles richtig machen will, wird die Zeit, die es bräuchte, solche Leserbriefe zu lesen dazu verwenden, rechtzeitig loszufahren, und im Velokeller ein Plätzchen zu suchen, bevor der Zug abfährt.


IM EXIL

«Die Geister haben richtig entschieden» Menschen aus der Region berichten aus der Welt – dieses Mal aus einer Gastwirtschaft in Wien, aus einer einst sehr gefährlichen kolumbianischen Stadt und von einer abgelegenen Insel im Südpazifik.

Medellín, Kolumbien

M Wien, Österreich

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ntweder man macht sich in Wien auf die Suche nach dem perfekten Schnitzel oder man fragt nach einer einfachen aber guten Gastwirtschaft und lässt sich dort von der Speisekarte überraschen – Schnitzel hin oder her. In Wien ist das nicht allzu schwer. Bei Wratschko ist es sogar kinderleicht. Im Gastraum steht der Zigarettenrauch bis unter die niedrige Holzdecke, aus der Küche stinkt es nach heissen Bratpfannen und auf der Speisekarte steht in schnörkeliger Handschrift: «Paprikahendel mit Nockerln», «Gekochtes Schulterscherzel mit Rösti, Schnittlauchsauce und Apfelkren», «Krautparadeis Käse Strudel mit Petersilerdäpfel» – als Österreich-Neuling versteht man zwar nicht so richtig, was man da eigentlich bestellt, aber steht das Essen vor einem auf dem Tisch, erkennt man auf den ersten Blick dessen kulinarische Qualität. Bei Wratschko in der Neustiftgasse fängt das schon beim Salatteller mit Schafskäse an. Getoppt ist dieser mit gerösteten Zwiebeln und Basilikumpesto, die Paprika- und Gurkenstücke liegen in einer perfekten Mischung aus Essig und Salzwasser. Dazu gibts ein Stück ofenwarmes Weissbrot und man wähnt sich im Himmel – Schnitzel hin oder her.

edellín, vor 10 Jahren noch eine der gefährlichsten Städte der Welt, steht heute als Sinnbild für den Wandel des ganzen kolumbianischen Landes. Die Metro und die Seilbahnen machen es sehr einfach, die Stadt und das Umland zu besichtigen, sie verbinden, die an den Hügeln gelegenen Armenviertel mit dem Zentrum. Die Bewohner Medellíns sind sehr stolz auf den Fortschritt ihrer Stadt und so kommt es, dass man mit einer der saubersten Metros der Welt fahren kann. Im Parque San Antonio findet man sich vor zwei Vogel-Statuen des Künstlers Botero wieder, die eine halb zerstört durch eine Bombe im Jahr 1995, die andere neu und vollkommen intakt. Es ist ein eindrücklicher Ort, der einem verdeutlicht, was in der noch sehr jungen Vergangenheit in dieser Stadt los war. Aber nicht nur die Geschichte Medellíns, die des ganzen Landes ist faszinierend, und zog uns in ihren Bann vom ersten Tag an unserer vierwöchigen Reise. Die Warmherzigkeit und Freundlichkeit der Menschen hat uns sehr beeindruckt, sie kämpfen hart um das Negativ-Image ihres Landes loszuwerden. Die Probleme vergangener Tage lassen sich nicht abschütteln, dennoch oder vor allem deswegen ist Kolumbien eine Reise wert und je mehr Zeit man in diesem Land verbringt, desto realistischer wird der Werbeslogan: «Colombia – the only risk is wanting to stay!» Elke Feigl, 29, aus Olten, war im Februar vier Wochen in Kolumbien unterwegs und hat sich in das Land verliebt.

Nathalie Bursać, aus Wangen bei Olten, war für zwei Tage in Wien und würde am liebsten in Wratschkos Gastwirtschaft einziehen.

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Wer im Ausland lebt oder seine Ferien jenseits der Grenze verbringt, ist herzlich eingeladen, KOLT einen Beitrag für diese Rubrik zu schicken: ein Bild und max. 1000 Zeichen Text an redaktion@kolt.ch.

IM EXIL

Vanuatu, Insel im Südpazifik

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ormalerweise verbringt man in der Schweiz Ostern mit seiner Familie, sucht oder versteckt «Oschternäschtli» und

isst ganz sicher Unmengen an Schokolade und bunten Eiern. Am anderen Ende der Welt läuft es aber anders. Diese Ostern habe ich in Vanuatu mit den Land-Divers verbracht. Erstens: Wo ist Vanuatu? Ja eben, ziemlich genau am anderen Ende der Welt. Zweitens: Wer sind die LandDivers? Ein Stamm, der vor tausenden vor Jahren das «Bungee-Jumping» erfunden hat, das sogenannte Land-Diving, bei welchem ein paar Waghalsige für eine bessere Ernte von einem 35 Meter hohen Gerüst aus Ästen runterspringen und dabei nur mit zwei Lianen an den Füssen angemacht sind. Das Ziel ist unten mit dem Kopf knapp am Boden aufzuschlagen. Drittens: Warum hab ich meine Ostern mit diesem primitiven Stamm verbracht? Auf meiner Weltreise habe ich in Vanuatu halt gemacht, um interessante Leute kennen zu lernen, in Schiffswracks zu tauchen und um einen aktiven Vulkan hochzuklettern und beim Ausbrechen zu betrachten.

die Strohhütte einer Familie eingeladen. Dort habe ich die nächsten paar Tage unter primitivsten Umständen doch in freundlichster Umgebung verbracht. Mit meinem Gastgeber, der ein ehemaliger Land-Diver ist, bin ich einen Tag vor der Zeremonie den Turm hoch geklettert. Das ganze Gerüst hat gewackelt und einige Äste sind gebrochen. Die Höhe war einerseits atemberaubend schön, anderseits auch atemberaubend angsteinflössend. Er fragte mich eher als Witz, ob ich der erste weisse Land-Diver seines Dorfes werden wolle. Nach langem überlegen stimmte ich ernsthaft zu. Er hat mich über alle Risiken informiert und mir abgeraten zu springen, da sein Bruder vor ein paar Jahren dabei gestorben sei. Mein Entscheid stand jedoch fest.

Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt.

Hier habe ich vom jährlichen Land-Diving auf einer entlegenen Insel gehört. Also habe ich den Kapitän eines Bananen-Frachters bestochen um da hin zu gelangen. Dort angekommen, wurde ich sogleich in

Am Abend vor der Zeremonie wollte mich der «Chief» des Stammes sprechen und hat mir gesagt, dass keine passende Liane gefunden werden konnte, und somit die Geister entschieden hätten, dass ich nicht springen könne. Zuerst hat mich diese Nachricht sehr enttäuscht. Da ich aber, als einziger Weisser, ein paar wundervolle Tage in diesem Dorf erleben durfte, war der eigentliche Sprung zur Nebensache geworden. Die Zeremonie habe ich mir jedoch trotzdem nicht entgehen lassen. Begleitet vom Gesang und Tanz der Einwohner sind die Jungs wie in Trance von da oben runtergesprungen. Die paar wenigen Touristen die eingeflogen wurden, haben die Show mit Entsetzen verfolgt. Ich war mit den Gedanken bei meinen Liebsten und dachte, dass die Geister wohl richtig entschieden haben. Die Zeremonie verlief dieses Mal ohne Zwischenfälle. Obwohl ich nur ein paar Tage da war, fiel mir der Abschied dennoch schwer. Ich fühlte mich wie ein Teil von ihnen. Raphael Fischer, 27, aus Olten, Sport- und Geographie-Lehrer am Gymnasium, ist auf Weltreise.

Wir liefern die Energie fürs Leben in der Region.

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Jeder Stadt ihr Bier Solothurn hat sein «Öufi-Bier», aus Trimbach kommt das preisgekrönte «Degen-Bier» und Zürcher Biere muss man erst gar nicht versuchen aufzuzählen. Nun haben zwei Jungbrauer ihren Traum wahr gemacht und «Dreihalben Tannen Bier» kreiert. Werdas keine Sachen mag,

kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt. Text von Eno Nipp Fotos von Michael Isler

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in süsslicher Duft steigt einem beim Betreten der Bar Galicia in die Nase an diesem verregneten Freitagnachmittag. Hier wir nicht nur Wein ausgeschenkt, wie es sich für eine Bar mit spanischer Vergangenheit gehört. Seit neuestem fliesst auch ein Oltner Bier, das «Drei Tannen Bier» aus dem Zapfhahn. Gebraut wird es ein Stockwerk tiefer, 18 Stunden am Stück, ein- bis zweimal im Monat. Dort, in der ehemaligen Restaurantküche, stehen Johan Gass und Luc Capus inmitten von grossen Tanks, Kesseln, Schläuchen und Gasbrennern. Im Gegensatz zum Wetter draussen herrschen hier beinahe tropische Zustände: an die 36° Celsius und weit über 90% Luftfeuchtigkeit, so der Eindruck beim Betreten der Brauküche. Das sei noch gar nichts im Vergleich zu dem, was später komme, meint Gass und wirft einen prüfenden Blick in das Rezeptbuch, bevor sie gemeinsam den nächsten Arbeitsschritt vorbereiten. Der 22-Jährige ist gelernter Bierbrauer und Lebensmitteltechnologe. Sein Kompagnon, der 24-jährige Capus studiert – neben seiner Arbeit im Galicia – Osteuropa-Studien in Basel.

Dass Olten nun ein eigenes Bier hat, ist das Ergebnis des Aufeinandertreffens eines «unerfahrenen Barkeepers und eines aufmüpfigen Gasts», fasst Capus die Geschichte zusammen, der damals noch im Coq d’Or hinter dem Tresen stand und seinem Gast, dem Bierbrauer Gass, zu wenig Schaum auf sein Bier gab. Aus dieser Begegnung entstand eine Freundschaft und die gemeinsame Idee, ein Bier für Olten zu brauen. Es sind ideale Bedingungen, unter denen sich das Projekt entwickeln kann. Die Brauausrüstung konnten sie leihweise testen und im Galicia fanden sie nicht nur den geeigneten Raum, sondern auch gleich noch den Abnehmer für ihr Bier. Die anfängliche Flaschenproduktion habe sich als zu aufwendig herausgestellt und das passende Etikett mit eigenem Logo fehle sowieso noch, so Capus. Bis auf Weiteres werde das Bier deshalb nur im Offenausschank erhältlich sein. Und genau darum müsse er sich jetzt kümmern, sagt Capus, nimmt sich das Ersatzteil für die defekte Zapfanlage und verschwindet für einen Moment im Nebenraum.

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Johan Gass und Luc Capus brauen das naturtrübe Spezialbier nach dem Reinheitsgebot von 1516, erlassen durch den bayerischen Herzog Wilhelm IV. – sie verwenden nichts als Malz, Hopfen, Hefe und Wasser. Das Wasser kommt aus dem Hahn, der Hopfen aus Wolfwil, wo die Familie Ackerman den einzigen Bio-Hopfenanbau der Schweiz betreibt. Nur das Malz beziehen die beiden Jungbrauer mangels Schweizer Mälzerei aus dem Sortiment des deutschen Familienunternehmens Weyermann aus Bamberg. Ihr Ziel sei es von Anfang an gewesen, sich erst einmal auf diese paar wenigen Zutaten zu beschränken und zu schauen, was sich daraus machen lasse. Der Wecker klingelt. Für Gass und Capus das Zeichen, dass sie die Maische abgiessen können. Unter Maische versteht man die Mischung aus Wasser und Malz. Für das sogenannte Einmaischen muss man das Wasser auf bestimmte Temperaturen erhitzen, erklärt Gass und tippt auf das Thermometer, welches immer griffbereit in der Tasche seiner Arbeitshose steckt. Dabei wer-


Musikfestwoche Meiringen 4.– 12. Juli 2014

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Konzerte

Grosse Werke der Kammermusik, sowie Neues und Rares in unerhörten Interpretationen …

Der Goldene Bogen

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Der Bio-Hopfen aus Wolfwil ist nur eine der Zutaten, die Johan Gass in der Brauküche verarbeitet.

den die verschiedenen Inhaltstoffe aus dem Malz gelöst und – besonders wichtig – aus der Stärke Zucker gebildet. Dieser Zucker wiederum dient später der Hefe als Nahrung. Doch zuvor muss die Flüssigkeit erneut erhitzt und mit Hopfen versetzt werden. Gass dreht den Gasbrenner unter der grossen Würzpfanne auf. Mit jeder Minute wird es heisser in der Brauküche. Wallend setzt sich die Oberfläche des Wassers in Bewegung und Capus gibt ein weiteres Mal Hopfen hinzu. Zwischendurch überprüfen sie mit einer sogenannten Bierspindel, ob die gewünschte Stammwürze – der Anteil der aus dem Malz und Hopfen gelösten Inhaltsstoffe im Wasser – erreicht ist. Danach werden sie die Flüssigkeit in den Gärtank umfüllen, abkühlen lassen und die Hefe beigeben. Nach fünf bis acht Tagen, wenn ein Grossteil des Zuckers zu Alkohol vergoren ist, werden um die 140 Liter Jungbier in kleinere Tanks umgefüllt. Während den folgenden Wochen wird das Bier nachgären und reifen. Erst hier würde sich der endgültige Geschmack entwickeln, sagt

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Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt. Mit viel Schaum – so mögen die beiden Jungbrauer Johan Gass und Luc Capus ihr Oltner Bier.

Gass. Sobald sich das gewünschte Ergebnis einmal eingestellt haben sollte, wird auch Platz sein für Spezialitäten und neue Biersorten. An Ideen, so die beiden Jungbrauer, mangle es ihnen nicht. Gerade erst war Capus in Schottland und hat dort ein Bier gekostet, das ihn schwärmen lässt: «Als ob du deine Nase tief in einen Sack voller Hopfen eintauchen würdest!» Diese Begeisterung für Neues, für Biere weit entfernt von den üblichen Einheitsbieren, welche mehrheitlich aus Schweizer Zapfhähnen fliessen, hat wohl dazu geführt, dass die Zahl der Brauereien in der Schweiz in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Noch vor 130 Jahren gab es rund 530 Brauereien. Die fortschreitende Technologisierung in der Produktion führte zu einem Konkurrenzkampf innerhalb der Branche, dem nach und nach die Vielfalt in der Schweizer Brauereilandschaft zum Opfer fiel. Im Jahr 1990 erreichte die Entwicklung ihren Tiefstand: Nur noch 31 registrierte Brauereien gab es im Land. Heute, beinahe 25 Jahre später, gibt es laut dem Verzeichnis der steuerpflichtigen Inlandbrauereien

«Wenn man es nicht besser wüsste, man könnte schwören, es rieche ein wenig nach Maracuja.»

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der Eidgenössischen Zollverwaltung über 440 eingetragene Brauereien. Der Grund für diese Entwicklung ist für Capus klar: «Die Leute wollen wissen, was für ein Produkt sie konsumieren, was alles drin steckt und wer dahinter steht.» Nun sei es aber an der Zeit für eine kleine Abkühlung, sagt Capus und man setzt sich einen Stock weiter oben an den Tresen. Ein Ziel haben die zwei Oltner Brauer bereits erreicht: Mehr Schaum geht kaum. Etwas Geduld und ein gezieltes Nachjustieren an der Zapfanlage führen jedoch zum gewünschten Ergebnis. Die Kohlensäure des ersten Schlucks prickelt noch lange im Gaumen. Das Bier ist herb, beinahe etwas bitter und dennoch fruchtig im Geschmack. Wenn man es nicht besser wüsste, man könnte schwören, es rieche ein wenig nach Maracuja. Ob das wohl eher am Hopfen oder an den tropischen Temperaturen in der Brauküche liegt? Derlei Gedanken nachhängend lässt es sich an der Bar gut ins Wochenende treiben, währendessen unten in der «Brauerei Drei Tannen» noch bis tief in die Nacht weitergearbeitet wird.


DER GROSSE FLUGHAFEN

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Die beiden Zürcher Architekten Barbara Frei und Martin Saarinen hatten vor ein paar Jahren eine Idee. Es war eine Idee, nach der niemand gefragt hatte – genügend Stoff für Diskussionen bietet sie trotzdem. Text von Nathalie Bursać Bilder zVg

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Er würde in der geografischen Mitte der Schweiz liegen und wäre der grösste Flughafen der Welt: der Flughafen Egerkingen.

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as wäre, wenn man in Egerkingen einen Flughafen bauen würde? Keinen kleinen, sondern einen grossen, einen immensen, skulpturähnlich auf den Jura gebaut? Die Probleme rund um den Flughafen Zürich wären mit einem Schlag beseitigt, schreiben Frei und Saarinen im Projektbeschrieb. Dass so ein Vorhaben niemals auch nur eine reelle Chance haben würde, hinderte die beiden nicht daran über mehrere Jahre hinweg am «Grossen Flughafen» zu arbeiten. Sie entschieden sich, den Flughafen auf verschiedene Arten zu visualisieren: Freihand-Bleistiftzeichnungen stellen sie neben eine eindrückliche, fotorealistische Visualisierung. Dass die verschiedenen Darstellungen nicht immer miteinander korrespondieren, sei nicht so wichtig, schreiben die Architekten. Viel mehr erlaube das «lose Nebeneinander» der Zeichnungen eine

«simultane Auseinandersetzung mit verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Möglichkeiten. Die übergeordnete Idee ist aber immer die gleiche: ein Flughafen gebaut auf den Jura bei Egerkingen. Die Abflug- und Landebahnen stehen auf 1000 Meter hohen Pfeilern, die zugleich ein riesiges Gebäude sind, in dem Fitnesscentren, eine Eissporthalle und ein riesiges Shoppingcenter Platz finden. Bedeuten würde ein solcher Bau einen wirtschaftlichen Boom und für die Region rund um den Flughafen Zürich eine Entlastung in Sachen Platzmangel und Lärmbelastung. 2005 begannen Barbara Frei und Martin Saarinen mit dem, wie sie es nennen, «project nobody asked for» – dem Projekt, wonach niemand gefragt hatte – und führten es bis heute fort, zumindest in ihren Köpfen. Im Jahr 2011 gewannen Frei und Saarinen den «Swiss Art

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Award» für ihre Idee vom Flughafen mitten in der Schweiz. Ist die Idee utopisch? Oder hat sie vielleicht doch mehr Umsetzungspotenzial als gedacht? Das sind Fragen, mit denen die beiden Architekten sich auch heute noch beschäftigen. Man kann ihr Projekt als Plädoyer sehen für mehr undenkbare Ideen, für das Ausbrechen aus gewohnten Denkbahnen. Dabei aber nicht die Realität aussen vor zu lassen, das ist die grosse Kunst. Und wer weiss, vielleicht verändert eine solche Idee ja eines Tages die Welt, allein dadurch, dass sie einmal gedacht wurde. Sehen und lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie dieser Flughafen aussehen würde und erfahren Sie, wie die beiden Erschaffer heute, rund neun Jahre nach der ersten Visualisierung, darüber denken.


DIE IDEE

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gglomerationen werden immer dichter, die Frequentierung der Flughafen inmitten derselben steigt. Bevölkerung und Lärmimmissionen nehmen zu. Die heutige Konfliktsituation rund um den Flugbetrieb über Zürich und seiner Umgebung gleicht einem unentwirrbaren Gordischen Knoten. Es wird Zeit für einen Neubeginn. Angesichts der Beeinträchtigung der Lebensqualität zehntausender Menschen durch den Betrieb des Flughafens Zürich werden im Folgenden Ideen und Konzepte skizziert, die den Flughafen, beziehungsweise seinen Ort sowie die heutige Praxis des schrittweisen Ausbaus unter permanentem Protest aus dem In- und Ausland grundsätzlich in Frage stellen. Der Grossraum Zürich dehnt sich unaufhaltbar aus und verdichtet sich. So werden zukünftig immer mehr Menschen vom Fluglärm betroffen sein. Ein Festhalten am Standort des Flughafens führt unweigerlich zu einer Zuspitzung aller lärmbedingten Konflikte mit der Bevölkerung, von der Region Zürich bis ins benachbarte Ausland. Lärmbelastung in Abhängigkeit von der Distanz zu einer Emissionsquelle: Der Logarithmus bedeutet konkret ausgedrückt, dass beispielsweise eine Zunahme der Distanz um 100 auf 200 Meter eine gleich grosse Lärmreduktion bewirkt, wie eine Zunahme um 1000 auf 2000 Meter. Eine relativ geringe Erhöhung der Distanz führt also zu einer beachtlichen Lärmreduktion, sofern man sich nahe an einer Emissionsquelle befindet.

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Die Anflug- und Landebahn steht auf einem gewaltigen Gebäude, dessen Volumen mit dem einer Stadt vergleichbar ist – einer Stadt mit Fitnesscentern, Shoppingmeilen und einem grandiosen Blick auf das Alpenpanorama und das Mittelland.

Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt.

Der vertikale Abflugwinkel eines startenden Flugzeugs ist sehr flach. Bis die zur Einhaltung der Grenzwerte nötige Höhe erreicht wird, muss eine sehr grosse Distanz zurückgelegt werden. Zwei Ansätze zur einer Reduktion des beschallten Raumes sind denkbar: Entweder die vertikalen Anund Abflugwinkel der Flugzeuge werden sehr viel steiler (was im Widerspruch zu den Gesetzen der Aerodynamik und Flugsicherheit stehen dürfte), oder... ...die Start- und Landebahnen des Flughafens werden in die Höhe gestemmt. Geht man von einer technisch gerade noch diskutierbaren Höhe von 1000 Metern aus, dann würde die Lärmbelastung am Boden erheblich verringert. Gemessen an der Grösse des Vorhabens sind relativ wenige bestehende Siedlungsgebiete vom Schattenwurf betroffen. Direkt unter dem Rollfeld befinden sich alle zum Betrieb des Flughafens notwendigen Räume und Anlagen. Flughäfen weisen die rentabelsten Verkaufsflächen auf. Erst sie machen eine Finanzierung des neuen Flughafens möglich. Die Dramaturgie der Ausblicke ist der «Added Value», welcher das Shoppingcenter einzigartig macht. Angegliedert sind Freizeitanlagen sowie eine Event Hall. Im Mittelland, das sich vom Genfersee im Südwesten bis zum Bodensee im Nordosten erstreckt, wohnen zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung. Es ist somit einer der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Europas. Ein Flughafen, der diese

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Wo ein grosser Flughafen ist, ist auch eine boomende Wirtschaft. Wäre die Region am Jurasüdfuss bereit für einen Imagewechsel?

Metropolitanregion bedient, müsste zentraler liegen als der Flughafen Zürich (ZRH). Weder Basel (BSL) noch Genf (GVA) können dies aufgrund ihrer viel geringeren Bedeutung wettmachen. Egerkingen (EGK) liegt im Schwerpunkt des Schweizer Mittellandes und am Schnittpunkt der Nord-Süd-Achsen von Schienen- und Strassenverkehr. Deshalb ist Egerkingen der logische Standort für einen neuen Flughafen. EGK würde eine wirtschaftliche Entwicklung in der am Jurasüdfuss gelegenen Region begünstigen und einen Imagegewinn der Region bewirken. Eine konzentrierte Entwicklung des Mittellandes wäre sinnvoller als eine flächendeckende Zersiedelung der ganzen Schweiz. Das Rollfeld des Grossen Flughafens liegt auf Höhe der Jurakuppe. So wird eine planerisch sinnvolle Verdichtung der Region mög-

lich, ohne am Jurasüdfuss die Lärmproblematik aus Zürich zu importieren. Ein derartiger Eingriff in die Erscheinung eines Landschaftsraumes mag erstaunen. Aber angesichts der Erscheinung von Bahn- und Strassenviadukten oder Staumauern im Alpenraum stellt er keinen Tabubruch dar. Das Volumen unter dem Rollfeld ist in Grösse und Nutzungsdurchmischung mit einer Stadt vergleichbar. Nur so erreicht es die kritische Masse, die als Initialzündung für eine Entwicklung der gesamten Region wirkt. EGK ist an die bestehenden Verkehrsnetze angeknüpft. Die Bahnlinie wird auf kurzer Strecke leicht modifiziert und direkt unter die Eingangshalle des Flughafens geführt. Das Nachhaltigkeitsgesetz der Schweizer Forstwirtschaft zielt auf einen konstanten Waldbestand, wobei die Waldfläche als Ganze erhalten werden muss. Als kompensatorische

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«Die heutige Konfliktsituation rund um den Flugbetrieb über Zürich und seiner Umgebung gleicht einem unentwirrbaren Gordischen Knoten. Es wird Zeit für einen Neubeginn.»


Wer keine halben Sachen mag, kann KOLT hier abonnieren, damits pünktlich zum Monatsbeginn im Briefkasten liegt. Damit Egerkingen nicht vom Fluglärm betroffen wäre, müsste man entweder die Anflug- und Abflugwinkel ändern – oder man baut die Landebahn 1000 Meter über dem Boden.

Massnahme könnte die frei werdende Fläche auf dem alten Flughafenstandort aufgeforstet werden. Sinnvoller dürfte es allerdings sein, dies in dünn besiedelten Gebieten zu tun, um die kostbare Fläche in Zürich seinem Standortpotenzial entsprechend zu entwickeln. Der Grosse Flughafen würde bei heutigen Bahnreisezeiten von Basel, Bern und Zürich in 30 Minuten, von St. Gallen und Genf in 2 Stunden erreicht. Von der Bahnhofshalle sind es nur wenige Meter bis zum Steilbahnterminal. Im Gegensatz zu der Summe aller vom Fluglärm betroffener Liegenschaften im Grossraum Zürich ist es nicht unrealistisch, die Gebäudehülle des neuen Flughafens extrem schalldämmend auszubilden. Das Kongresszentrum bildet mit der angrenzenden Tonhalle einen der kulturellen Kristallisationspunkte mit überregionaler Aus-

strahlung. Der Typus des diagonalen Atriums ist ein wiederkehrendes Element in der Architektur des neuen Flughafens. Die geneigten Flächen sind zumeist begeh- oder befahrbar durch Fussgänger, Steilbahnen, Mountainbiker, Kletterer, Skifahrer,... Massgebender als die Terminierung ist die Frage, warum trotz aller akuter Konflikte im Zusammenhang mit dem Flugbetrieb in Zürich bisher kein «Grand Projet», kein konzeptioneller Ansatz zu deren Lösung bekannt ist. Betrachtet man die Fluglärmproblematik als Konsequenz effektloser «Good Intentions» seitens der Politik und den Planern, dann stellen sich Fragen... Was spricht gegen eine Verlegung? Die «unschweizerischen» räumlichen und zeitlichen Dimensionen? Die schier endlose Anzahl an Hürden, die für eine Realisation zu überwin-

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den wären? Die Unmöglichkeit, anstelle der Politik der kleinen Schritte einmal das Grosse, im Vergleich zum Gewohnten Gigantische zu denken, quasi als Gegenentwurf zu der gängigen Praxis?

*Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Projektbeschriebs «Der Grosse Flughafen», abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Frei + Saarinen Architekten, Zürich. Den vollständigen Text gibt es auf www.freisaarinen.ch/Projekte/Der_Grosse_ Flughafen.pdf


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DIE ERSCHAFFER Über eine gute Idee lässt es sich stundenlang reden. KOLT traf die beiden Architekten Barbara Frei und Martin Saarinen in Zürich, um genau das zu tun. Interview von Nathalie Bursać Fotos von Jorma Müller

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Wer keine halben Sachen mag, Saarinen: hier abonnieren, kann KOLT damits pünktlich zum Saarinen: Monatsbeginn im Briefkasten liegt.

enn man Flughäfen-Bilder googelt, so muss man feststellen, dass irgendwie alle Flughäfen gleich aussehen. Barbara Frei: Das liegt vermutlich daran, dass alle Flughäfen die gleiche Funktion erfüllen müssen. Es gibt bestimmt einen hohen Tower, dann Hallen, in denen sich Leute bewegen und hinausschauen wollen. Deshalb kommt das Material Glas auch sehr häufig vor. Martin Saarinen: Grund dafür ist auch die Globalisierung. Airports sind ein relativ junges Bauprogramm, das es seit weniger als hundert Jahren gibt. Deshalb gibt es auch wenige Flughäfen mit einem eigenen Ausdruck, einer eigenen Sprache. Es gibt Ausnahmen, wie den neoklassizistischen Flughafen Tempelhof in Berlin. Das ist bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber der Nazi-Architektur immerhin ein anderer Ansatz als die kühlen Stahl-Glas-Bauten, die man auf der ganzen Welt findet. Fakt ist, dass ein britischer Architekt in Hongkong auf einer Aufschüttung im Meer einen Flughafen baute, der dann aber nicht anders aussieht als einer in London. Sie beide haben einen Flughafen entworfen, der vielen Betrachtern ein «Wow» entlockt. Welche Reaktionen haben Sie erlebt? Saarinen: Wir haben das Projekt natürlich vorwiegend in unserem Dunstkreis diskutiert und unsere Kollegen und Kolleginnen ordnen das etwas anders ein. Die Frage ist, wodurch dieses «Wow» verursacht wird. Ist es die Monumentalität? Frei: Ich glaube, das ist das, was die Leute fasziniert: die Grösse, die gewaltige Dimension. Die Reaktionen tendierten oft in die Richtung: «Junge Architekten haben eine witzige Idee.» Eigentlich aber hat das Projekt einen ernsthaften Hintergrund.

Angenommen ein Scheich von Dubai käme zu Ihnen und wollte Ihren Flughafen bauen. Es ist nicht so, dass der grosse Flughafen unbaubar wäre. Er hat sicherheitstechnische Mankos, die wir bewusst ausgeblendet haben. Neben der Lande- und Startstrecke wäre normalerweise noch Gelände einzuplanen, falls ein Flieger von der Spur gerät. Teil dieser Arbeit war die Frage, warum so ein Projekt nicht denkbar ist.

Warum gibt es Leute, die so ein Projekt für utopisch halten? Frei: Wir haben viel über den Begriff «Utopie» nachgedacht und kamen zum Schluss, dass der grosse Flughafen keine Utopie ist. Wenn man es sachlich betrachtet, so kann man ihn mit anderen Bauprojekten vergleichen, die allerdings nicht in unserem Kulturkreis realisiert wurden. Aufgeschüttete Inseln im Meer zum Beispiel. Saarinen: Wenn man im «20 Minuten» lesen würde, dass irgendwo auf dem Ural ein Flughafen gebaut wird, wäre unsere Reaktion: «typisch!» und nicht «das geht ja gar nicht!». Technisch machbar ist alles, wenn unbegrenzte finanzielle Mittel bereitstehen und es keinen Widerstand gibt. Eine geballte Utopie wären fliegende Häuser. Eine Komponente der Arbeit ist, dass dieser Flughafen eine Skulptur auf dem Jura ist. Die andere Komponente der Arbeit ist es, wieder einmal zur Diskussion zu stellen, ob und wie der Flughafen in Zürich Kloten bleiben soll. Und dann ist die Idee gar nicht mehr utopisch. Wie findet man den Weg zwischen Utopie und Realität? Frei: Wir reden von einem realen Problem. Es gibt diesen Flughafen Kloten, der viele Leute

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mit Lärm beschallt. Auch steht er auf wertvollem Land, auf dem man Häuser bauen könnte. Das ist ein Problem, über dessen Lösungen man nachdenken kann. Das wäre der modernistische, technokratische Ansatz. Wir klammern bei unserem Projekt viele Aspekte und Probleme aus. Das ermöglicht uns aber, überhaupt über das Problem nachzudenken. Wir sind grundsätzlich nicht mehr fähig, über grosse Ideen zu reden. Die Expo war das höchste aller Gefühle. Grosse Ideen und Projekte gibt es in der Schweiz nur, wenn kein Weg daran vorbei führt. So ist es beispielsweise bei der Verkehrsinfrastruktur. Bei diesem Thema hat man plötzlich nationale Interessen und arbeitet kantonsübergreifend zusammen. Der längste Eisenbahntunnel der Welt ist so ein Beispiel. Die Menge an Erde, die man dort wegschafft, entspricht wohl etwa dem Volumen unseres Flughafens. Aber abgesehen von solchen Fällen ist es nicht mehr möglich, darüber nachzudenken, wo wir in 100 Jahren sein wollen. Sie erwähnen das Wort «unschweizerisch» in Ihrem Projektbeschrieb. Saarinen: Wir haben keinen Präsidenten, der während seiner vierjährigen Legislaturperiode «Grand Projets» realisiert. Es ist nicht möglich, grosse Veränderungen anzureissen, geschweige denn durchzusetzen. Es braucht einen Kim Jongun, um gewaltige Projekte durchzusetzen. Dies soll jetzt um Himmels Willen nicht als Plädoyer für totalitäre Systeme missverstanden werden. Trotz aller Qualitäten verunmöglicht unser Föderalismus aber manchmal eine längerfristige Vorstellung davon, wo man hin will. Die einzigen, die in grossen Zeiträumen denken, sind Förster, da ein Baum hundert Jahre braucht, um gross zu


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werden. Wir haben in der modernistischen und technokratischen Tradition das Szenario durchgespielt. Das Resultat lautet so, dass der beste Ort für den Flughafen die Mitte der Schweiz ist. Was ist es für ein Gefühl, an einer solchen Idee zu arbeiten? Frei: Es war wie eine Befreiung für den Kopf für uns als eher kleines Büro, das viele kleine Projekte realisiert und sich auf Baustellen mit Problemen herumschlägt, wie man etwa die ideale Fuge zwischen Boden und Wand hinkriegt. Das sind so unsere kleinen Alltagsprobleme. Und ab und zu will man halt daraus ausbrechen. Saarinen: Der therapeutische Effekt ist ein Nebeneffekt. Einen Kommentar abzuliefern, obwohl man nicht danach gefragt wird, das reizt mich. Das ist auch eine Form, seine Meinung auszudrücken. Wir drücken uns mit unseren Mitteln aus, mit Zeichnungen und Visualisierungen. Sie schreiben, das passiere im Stillen. In Ihrem konkreten Fall blieb das Projekt aber nicht im Stillen. Auch jetzt noch, Jahre später, ist «Der Grosse Flughafen» immer noch Thema. Saarinen: Wir sind nicht hausieren gegangen mit dem Projekt, aber es gab immer wieder Anlässe, auf denen wir es vorstellen durften. Immer wieder traten Leute an uns heran, die das Projekt letztendlich in kleinen Schritten weitergebracht haben. Es ging nicht auf gedanklicher Ebene weiter. Aber das grosse Rendering-Bild war eine Auftragsarbeit für eine ArchitekturZeitschrift. Deshalb haben wir zwei unserer Mitarbeiter ins Flugzeug gesetzt, um die Gegend von oben zu fotografieren. Provokation interessiert uns nicht, aber dennoch ist das Projekt ein kritischer Kommentar.

In der Schweiz ist es nicht sehr verbreitet, dass Architekturbüros grossmassstäbliche Ideen entwickeln – im Gegensatz zu anderen Ländern. In Holland zum Beispiel gibt es eine lange Tradition, darüber nachzudenken, wie man das Land organisieren kann. Wie legt man die Barrieren im Kopf ab? Saarinen: Eine Methode könnte sein, dass man zu aller erst versucht Fragen zu stellen. In unserem Beruf ist man immer gefordert Fragen zu stellen, aber es sind immer Andere, die im Vorfeld das grössere Ganze definieren. Frei: Es fängt damit an, dass man nicht einfach Aufgaben löst, sondern sich selber Aufgaben stellt. Vielleicht ist es auch eine Charakter- oder Mentalitätsfrage, ob man aus Eigeninitiative Antworten sucht? Frei: Wir sind es uns gewöhnt, in der Architektur ist es unsere Arbeitsweise, verschiedene

Saarinen: Ja natürlich. Toll wäre, wenn nicht nur wir der Meinung wären, dass man in dieser Angelegenheit über Alternativen nachdenken muss. Aber das ist natürlich ein No-Go. Man würde so viele Leute und Unternehmen vor den Kopf stossen. Wenn irgendjemand da draussen das Projekt weiterentwickeln will, dann würden wir das natürlich machen. Das klingt jetzt aber nicht nach Eigeninitiative. Saarinen: Das stimmt. Nur ist das Projekt eigentlich abgeschlossen. Es ist alles gesagt. Wir haben die Visualisierung, wir haben die Geschichte, wir haben auf mehreren Ebenen erklärt, was die Idee ist. Aber es noch breiter zu treten, bringt es nicht. Wenn in drei Jahren wieder jemand mit Ihnen über den grossen Flughafen reden will, dann werden Sie nicht nein sagen? Frei: Wir reden sehr gerne darüber. Beim Reden kommt man auch immer wieder auf neue Fragen. Ist es richtig zu fliegen? Ist es richtig, den Flughafen immer mehr zu vergrössern? Das sind Fragen, die immer noch aktuell sind. Und die muss man immer wieder neu fragen. Ich weiss nicht, ob wir jemals eine Antwort darauf finden werden. Saarinen: Das Gute daran ist, dass man sich noch einmal überlegt, was diese Idee eigentlich soll. Ich bin zum Schluss gekommen, dass unser Projekt eine Visualisierung des Gegenteils der Realität ist. Das kann Prozesse in Bewegung setzen und somit etwas leisten. Utopien haben immer eine Wirkungsgeschichte. Giovanni Battista Piranesi war ein sehr berühmter Architekt im 17. Jahrhundert, der meines Wissens kaum etwas gebaut hat, sondern bekannt ist für seine vielen Zeichnungen. Bis zum heutigen Tag hat er aber viele Architekten und Architektinnen beeinflusst. Irgendwann kann man vielleicht irgendetwas bewirken, aber das ist nicht vorhersehbar.

«Grosse Wer keine halbenIdeen Sachen mag, undhier Projekte kann KOLT abonnieren, gibtpünktlich es in derzum damits Schweiz nur, Monatsbeginn im wenn kein Briefkasten liegt. Weg daran

In einem Interview sagten Sie einmal, dass Sie sich gerne mit internationalen, grossmassstäblichen Städtebauprojekten beschäftigen würden. Was ist aus diesem Wunsch geworden? Frei: Bei unserer allerersten Wettbewerbsteilnahme ging es darum, einen ganzen Stadtteil zu entwickeln. Bisher war es so, dass jedes unserer Projekte ein wenig grösser war als das vorherige. Aber es sind immer noch keine Grossprojekte. Saarinen: Bei unserem ersten Auftrag realisierten wir einen kleinen Anbau an eine Bar (Anm. d. Red.: Bar des Kino Xenix in Zürich) und seither sind wir nicht davon weggekommen, komplizierte Umbauprojekte zu realisieren. Uns interessiert es jedoch nach wie vor grossmassstäblich zu denken. Ich muss zugeben, dass wir nicht jede Gelegenheit genutzt haben, um bei internationalen Wettbewerben mitzuwirken und so auf uns aufmerksam zu machen.

Sind Sie als Architekten gefangen im Berufsalltag? Saarinen: Manchmal kann man sich durchaus verzetteln im kleinräumigen Denken. Über Architektur oder Städtebau nachzudenken und dazu eine Meinung zu haben, bedingt aber nicht, dass man selber in diesem Metier verwurzelt ist.

vorbei führt.»

Lösungsansätze zu suchen. Auch wenn es nur um eine Minergie-Katzentür geht. Wir testen viele verschiedene Varianten, ohne zu beurteilen, welche die bessere oder schlechtere ist. Saarinen: Natürlich ist es auch eine Charakterfrage. Ungefragt etwas zu formulieren hat etwas Aufdringliches. Da macht man sich nicht nur beliebt. Bei unserem Flughafen ist es schon so, dass wir damit einen kritischen Kommentar machen. Aber wirklich verändern könnte man etwas, wenn man in der Planung operieren würde. Um den grossen Rahmen zu ändern, müsste man nicht Architekt sein, sondern Politiker. Wenn man den Flughafen der Schweiz wirklich nach Egerkingen bringen will, dann muss man über die Politik gehen. Wie geht es weiter mit dem grossen Flughafen? Sie haben einmal gesagt, Sie würden gerne daran weiterarbeiten.

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Martin Saarinen (42), aufgewachsen in Bettlach, hat in Solothurn die Kantonsschule besucht, bevor er für sein Architekturstudium nach Zürich zog. Barbara Frei (41) wuchs in Horgen auf und lebt in Zürich. Kennengelernt haben sich die beiden während des Architekturstudiums an der ETH. Nach Praktika im In- und Ausland haben sie sich 2005 selbstständig gemacht und in Zürich das Architekturbüro «Frei + Saarinen» eröffnet. Mit dem Projekt «Der grosse Flughafen» gewannen Frei und Saarinen 2011 den «Swiss Art Award».


SERIE

FILM

Grosswerdung Ein kleiner Junge spielt 12 Jahre lang die Hauptrolle und schreibt damit Filmgeschichte.

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iev Schreiber, das ist der Hüne mit den Eichhörnchenbacken und den kleinen fiesen Äuglein. Der, der immer die zwielichtigen Gestalten spielt. Und das auch nur in mittelmässig guten Filmen wie «X-Men Origins». Liev scheint jetzt aber ganz gross rauszukommen dank einer Serie von Showtime. Darin spielt er den grimmigen Ray Donovan, der sich seine (sehr grossen) Brötchen damit verdient, den Reichen und Prominenten in L.A. die Probleme vom Hals zu schaffen. Du bist ein berühmter Sportler und die Prostituierte, die du am Abend zuvor mit ins Hotelzimmer genommen hast, liegt tot neben dir? Ray regelt das. Du bist ein berühmter Actionschauspieler, niemand weiss, dass du schwul bist und jemand erpresst dich mit einem eindeutigen Sexvideo? Ray regelt das. Und Ray regelt das effizient, aber auch auf eine nicht ganz legale Weise. Davon kriegen seine Frau und die beiden Kinder nichts mit. Die Familienharmonie droht erst zu kippen, als Rays Vater Mickey, gespielt von einem grandiosen Jon Voight, aus dem Knast entlassen wird und Anspruch auf seine Rolle als Grossvater wahrnehmen will. Der Serie «Ray Donovan» fehlt es manchmal ein wenig an Glaubwürdigkeit, aber die herausragenden schauspielerischen Leistungen sowie die mit Bartstoppeln überwucherten Backen von Liev trösten bei weitem darüber hinweg. (nb)

von Caspar Shaller

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s ist die Langzeitbeobachtung einer Subjektwerdung: Richard Linklaters «Boyhood». Der amerikanische Regisseur («Before Sunrise») drehte 12 Jahre lang einen Film über Kindsein und Erwachsenwerden. Auf dem Sundance-Festival verstummte die Kritik ehrfürchtig, angesichts eines Films von solcher emotionalen Nähe, völlig entleert jeglicher stumpfer Hollywooddramatik und doch voller Leben. 2002 wählte Richard Linklater den 6-jährigen Ellar Coltrane aus, der bis 2014 die Hauptrolle in seinem Film spielen würde. Man sieht diesem Jungen in Echtzeit auf seinem Weg durch die Pubertät zu, wie er die Scheidung seiner Eltern durchmacht (gespielt von Ethan Hawke und Patricia Arquette), wie er in neue Städte zieht, neue Schulen besucht, erste Erfahrungen macht, grosse wie kleine. Die Intimität des Filmes zeigt sich gerade darin, dass nicht die grossen Momente im Leben, sondern die kleinen gezeigt werden. Es gibt keine Hochzeiten oder Beerdingungen, die klassischen Ursachen für Veränderung und emotionales Wachstum in Hollywood-Filmen. «Boyhood» ist wie ein Dokumentarfilm, mehr noch – er ist eine filmgewordene Erinnerung von solcher Schön-

Ray Donovan

(2013, 12 Episoden in 1 + Staffeln, Drama, Showtime, USA)

DIE

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Boyhood

USA//Drama ab 5. Juni bei youcinema

ALBEN MEINES LEBENS

Nirvana MTV Unplugged in New York Eines der Alben meiner Jugend. Diese Verlorenheit. Immer und immer wieder gehört und dabei fiktive Gespräche mit dem schon toten Kurt Cobain geführt.

heit und solchem Schmerz, dass man stellenweise nicht anders kann, als zu weinen. Diese Art von Projekt ist nicht ganz neu, so gab es die BBC-Dokuserie «7 Up», die Kinder im Abstand von sieben Jahren besuchte, während sie älter wurden. Linklater selbst hat diese Form des periodischen Wiedersehens in seiner «Before»-Trilogie perfektioniert, in der sich Ethan Hawk und Julie Delpy alle neun Jahre wieder treffen, um sich klar zu machen, wie sie sich verändert haben. Doch «Boyhood» schafft eine neue Stufe der Intimität. Wo «7 Up» fast wissenschaftlich in seinem Voyeurismus wirkt und die «Before»-Filme sich in intellektuellen Gesprächen erschöpfen, geht «Boyhood» viel weiter. Das ist kein Voyeurismus, es ist nicht einfach nur interessant zu sehen, wie andere Menschen leben. Das ist unser Leben. Wir sehen die ganze Reise in einem Stück, als wären wir selbst dabei. Wir haben diese Reise alle angetreten.

von Kutti MC

IAM L’école du micro d’argent Geschichten von der Strasse, trostlos und glaubwürdig über dramatische Beats erzählt. Eines der Rap-Alben, das ich manchmal immer noch höre.

Eminem The Marshall Mathers LP Diese Energie. Diese Verzweiflung. Diese Intonation. Dieser Flow. Eminem ist der Rapper, der mich am meisten inspiriert, erfreut und verärgert hat.

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The Streets Original Pirate Material Da war eine neue Stimme, ein neuer Slang, da war eine neue Klangwelt. The Streets bleibt einer meiner LieblingsSpoken-Word-Künstler. Ein smarter Beobachter am Rand.

D'Angelo Voodoo Schwarz. Soul. Komplex, einfach, schwer, leicht, undurchdringbar. Und es sind nicht die Lyrics, es ist diese Stimme von D’Angelo, die von der Wahrheit kündet.


MUSIK

Tschüss, Frühling! Hallo, Festival-Sommer! Für diese Festivals findet ihr keine überteuerten Tickets auf Online-Verkaufsplattformen. Und das ist gut so. von Marc Gerber

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ie graue, triste Zeit neigt sich langsam dem Ende zu. Es wird Zeit die Musik, die man im Winter im Ohr hatte, live zu erleben. Doch wer nicht schon im Dezember Early-Bird-Tickets für die grossen Musikfestivals gekauft hat, kann höchstens noch auf den überteuerten Schwarzmarkt hoffen. Doch es gibt Alternativen. Vom 12. bis 14. Juni lädt das «B-Sides»Festival auf den Krienser Hausberg ein. Die

Organisatoren rund um Marcel Bieri, verstehen es seit Jahren, internationale und nationale Musikperlen auf den Berg zu holen. Ob Elektro-Beats und Didgeridoo-Klänge vom Kanadier «Caribou» oder sanfte Balladen vom Berner «Merz», das Festival hat für jeden Geschmack etwas dabei. Wem der Weg nach Luzern zu weit ist, dem empfehle ich am 21. Juni das kleine Open Air «Earthquake». Ein volles Ohr Schweizer Musik gibt es im sonst eher ruhigen Herzogenbuchsee im Oberaargau. Es gibt Punk-Rock aus Langenthal mit dem «Rebel Squad», PopRock von «Redwood» oder auch Indie-RockKlänge aus Biel mit «Death by Chocolate» für 0 Franken, das Earthquake Open Air ist nämlich gratis.

Auch gratis ist das «Chrutwäje Open Air» auf der Pferderennbahn in Aarau am 4. Juli. Dank der überdachten Location, wird auch bei Sturm niemand nass und man kann sich voll auf die Schweizer Künstler konzentrieren. Mit «The Bianca Story» gibt es Pop-Musik aus Basel, die jedes Füdli zum schwingen bringen wird. Dazu gibt es mit dem Elektro-Duo aus Bern «We Love Machines» auch für Fans von vibrierenden Beats noch Musik bis die Sonne aufgeht. Wer wieder Mal sein Metal-Shirt anziehen will, für den gibt es nur eine Adresse in der Region: das «Open Air Gränichen». Zum 20-jährigen Jubiläum am 22. und 23. August gibt es einige Highlights im Line-Up. «Heaven Shall Burn» aus Deutschland servieren einen Mix aus Hardcore und Trashmetal. Einen längeren Anreiseweg haben «Deez Nuts» aus Australien. Sie gehören zu einer der weltweit bekanntesten Hardcore-Bands und haben auch im Moortal viele Fans. Abgerundet wird das Open Air mit Zürcher-HC von «Vale Tudo», die schon das Coq d'Or in Olten restlos gefüllt haben.

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DIE SCHALLPLATTE FÜR IHRE AUGEN

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BUCH

GRENZENLOSE ENERGIE – DAS POWER PRINZIP

von Daniel Kissling

von Anthony Robbins

Wer möchte das nicht: sich die Welt seiner Träume erschaffen. Robbins ist einer der führenden Köpfe auf dem Gebiet der psychologischen Motivations- und Leistungsforschung. Auf knapp 500 Seiten wechseln sich praktische Übungen mit Passagen über das Denken und Handeln erfolgsorientierter Menschen ab. Wer sich seines noch schlummernden Potentials bewusst werden möchte, sollte bis zur letzten Seite dabeibleiben. Michael Isler, Fotograf

THEOS REISE von Catherine Clément

Was uns „Sophies Welt“ über Philosophie lehrt, erfahren wir in „Theos Reise“ über Religionen. In Jerusalem, Jakarta, Tokio oder Bahia – in allen Ecken der Welt entdeckt Theo die zahlreichen Glaubensrichtungen. Eine interessante Lektüre für solche, die ihren Wissensdurst über die verschiedenen Religionen stillen möchten. Sara Bagladi, Redaktorin

MASSIMO MARINI von Rolf Dobelli

Dieses Buch führt uns zurück in eine Zeit, als die bösen Ausländer noch die „Tschinggen“ waren und ein ebensolcher den unglaublichen Spross Massimo Marini in die Welt setzte. Dobelli schildert Aufstieg und Fall einer Familie und schickt den Leser durch die wunderbarsten und schrecklichsten Wendungen. Von Süditalien bis an die Zürcher Goldküste. Sarah Rüegger, Redaktorin

Über Grenzen Schlafgänger von Dorothee Elmiger

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ine Geschichte, so besagt eine kluge Literaturtheorie, ist in ihrem Kern immer eine Grenzüberschreitung. Ob nun der junge Müllersohn auszieht, um die schöne Prinzessin zu retten oder Romeo und Julia sich ausserhalb der Stadt über soziale Schichten hinweg lieben: Geschichten entstehen dadurch, dass jemand seine neudeutsche «comfort zone» verlässt, die angestammten Grenzen überschreitet. Die Figuren in Schlafgänger von Dorothee Elmiger jedoch überschreiten keine Grenzen, sie sprechen nur davon. Sie sind keine Protagonisten, sondern vielmehr Gesprächsteilnehmer. In einem unbestimmten Saal, wahrscheinlich dem Speisesaal eines Hotels, treffen sie aufeinander, die Schriftstellerin, der Logistiker, A.L. Erika, die Übersetzerin, Herr Boll, Frau Boll und einige mehr – und reden. Und reden. Und reden. Und monologisieren, diskutieren, rezitieren, über ihr Leben, übers Reisen, über (andere) Kulturen, Orte und Sprachen, über Ein- und Auswandern, Ein- und Ausführen, übers Hingehen, Weggehen, Aufgehen und Eingehen, über Grenzen und deren Überschreitung eben. Schon in ihrem ersten Roman Einladung an die Waghalsigen, der in Klagenfurt mit dem 2. Bachmann-Preis ausgezeichnet und für den Schweizer Buchpreis 2010 nominiert worden war, spiel-

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www.youcinema.ch KOLT Juni 2014 30

ten Orte und die Reise dorthin eine wichtige Rolle. Erkundeten dabei aber zwei Mädchen eine postapokalyptische Landschaft im Nirgendwo, so sind die Schlafgänger und ihre Leben ganz konkret verortet. Vom Basler Hafen ist die Rede, von Berliner Nächten, dem Louvre in Paris und der Insel La Réunion. Stück für Stück, von Wortmeldung zu Wortmeldung geben die Figuren mehr preis von ihrem Leben. Gleichzeitig sind es auch ebenjene Koordinaten, welche dieses Buch in der realen Welt, der jetzigen Zeit verankern. Die Schlafgänger diskutieren nämlich nicht nur klug und poetisch über ihre eigenen Reisen, sondern auch über handfeste Debatten. Es geht um Migration, um Grenzgänger, Austauschsemester, Rückführungen. Es geht um eine, um unsere globalisierte Welt, wo die einen Grenzen fallen, während andere umso stärker befestigt werden. Der Logistiker, die Schriftstellerin, der Student, das sind wir. Die Schlafgänger sind wir.

Dorothee Elmiger

Schlafgänger DuMont, Köln 2014, 142 S.


WO SPIELT DIE MUSIK?

AM TRESEN

Elektro aus Japan, Hip-Hop aus Südafrika ieht irgendwie noch nett aus, denkt man. Blumen im grossen Fenster, oder Post-Punk aus Brooklyn, der Raum hell und es scheint noch MOST WANTED New York – und alles frisch Platz zu haben drinnen. Doch noch bevor die Hand beim Türgriff angelangt ist, aus dem Studio. stutzt man. Da sitzen nur Männer Stadtbibliothek drin. So ein bitzeli ältere. Und Bandcamp ist eine 2007 hinter der Bar nur Frauen. Sie sehen ein wenig aus wie gegründete Website, auf der Rihannas Tanten. Da man Rihanna Erscheint der zweite Band zu einem sich zumeist unabhängige recht easy findet, überwindet man sich. Wer keine erfolgreichen Buch, so steigt die halben Sachen mag, Anders als erwartet, lächelt eine von ihnen Nachfrage nach dem ersten, so Künstler selber promoten mutmachend (Julia?), als man zögernd den geschehen bei «Silber – KOLT hier abonnieren, Raum betritt. Man bestellt an der Bar «eine kann und gleichzeitig ihre Musik Das erste Buch der Stange, bitte». Man setzt sich an einen der verkaufen können – eine beiden Tische im Raum und wartet auf das damits pünktlich zum Träume». In der als Trilogie Bier. Die bitzeli älteren Herren auf den angelegten Geschichte erzählt die wahre Fundgrube! Wer sich Barhockern drehen einem den Rücken Autorin Kerstin Gier von Liv, die Monatsbeginn im zu und während man die 3dl Calandain letzter Zeit unheimliche Sachen nicht durch die tausend Bier für 4 Franken 30 in einem unüblich träumt, die sich plötzlich in der Realität hohen Tempo trinkt, sieht man sich um. Briefkasten liegt. hübschen Profile von neuen wiederholen. Man bemerkt die drei Champagnerkorken Künstlern klicken mag, kann auf dem Boden vor dem Dart-Automaten, die Plastikblumen in den Vasen, die Fahne Jugendbibliothek auch einmal pro Woche der Dominikanischen Republik an der eidottergelben Wand. Man sieht, wie eine beim Bandcamp-Weekly Jan Weilers Buch von Rihannas Tanten beim Bierzapfen ein wenig tanzt und dabei lächelt. Jetzt reinlauschen. Eineinhalb «Das Pubertier» eine Zigarette wär gut, denkt man, und ist in der Stadtbibliothek gerade Stunden bester Sound, entscheidet sich nach einem kurzen Blick der Renner schlechthin. Weiler ins Fumoir, dass man die Zigi doch lieber bezeichnet Teenager-Gesichter als frisch hochgeladen und von auf dem Weg nach Hause rauchen will. «Pickelplantagen». Und von solchen Wortschöpfungen soll es in diesem den Bandcamp-Machern Julia’s Bar Buch von einem Vater über nervige zielsicher ausgewählt. Aarauerstrasse 10, Pubertierende nur so wimmeln – und

S

Olten

die Leser scheinen es zu lieben.

www.bandcamp.com

G ross es som m erLi n e-U p bei ber n h ei m. 79.90

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Die falsche Symbolik des runden Tisches Nach den diversen Überprüfungsaufträgen an die Leistungserbringer der Stadt Olten hat der Stadtrat ein provisorisches zweites Entlastungspaket im Umfang von 5,3 Millionen Franken für das Budget 2015 erarbeitet und dieses zur Vernehmlassung an den sogenannten „runden Tischen“ präsentiert. Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Ziel wurde dabei jedoch ausgelassen. Text von Yves Stuber

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er runde Tisch hat Symbolcharakter. Er impliziert, dass verschiedene Meinungen Platz daran finden und gemeinsam nach einer einvernehmlichen Lösung gesucht wird. In diesem Sinne sprach im Januar diesen Jahres auch Stadtpräsident Martin Wey im Interview mit KOLT: «Wir müssen diese Leute an einen Tisch holen, ihnen unseren Vorschlag präsentieren und ihre Meinung miteinbeziehen. Wir müssen die Betroffenen zu Beteiligten machen.»

obiger Aussage des Stadtpräsidenten erwartet: dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden und gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Dieser Schritt wurde ausgelassen. Der Stadtrat hat nach Erhalt und Studium der Berichte selbständig ein provisorisches zweites Entlastungspaket erarbeitet, respektive weitere Sparmassnahmen von 5,3 Millionen Franken für das Budget 2015 beschlossen. Dieses Paket wurde Ende April/Anfang Mai 2014 an den sogenannten «runden Tischen» zur Vernehmlassung vorgelegt. Diese runden Tische dienten der Oltner Regierung dazu, Meinungen und Reaktionen auf dieses provisorische Massnahmenpaket einzuholen und nicht dazu, eine Lösung zu suchen oder einen gemeinsamen Entscheid zu fällen – was

In der Medienmitteilung der Stadt Olten «Runde Tische stiessen auf gutes Echo» vom 7. Mai 2014 steht, die Stadt werde sich Mitte Mai mit den eingegangenen Rückmeldungen befassen und dann ihr definitives Massnahmenpaket schnüren. Dieses werde die Basis bilden für die anschliessende Ausarbeitung des Budgets 2015, das im November 2014 dem Gemeindeparlament vorgelegt werde. Bis zum aktuellen Zeitpunkt wurden die Betroffenen nicht zu Beteiligten gemacht, lediglich ihre politischen Vertreter konnten sich zu den Sparmassnahmen äussern. Die vorgeschlagenen Kürzungen wurden nicht vorgängig mit den Institutsleitungen diskutiert und setzen somit auch keine gemeinsam vereinbarten Prioritäten innerhalb der jeweiligen Betriebe und ihren Budgets. KOLT hat auf Nachfrage beim Kunstmuseum und beim historischen Museum beispielsweise erfahren, dass die beiden Museen in ihrem Bericht an die Stadt Olten keine konkreten Zahlen als Sparpotenzial genannt haben. Trotzdem müssen sie ohne weitere Diskussion ihre Budgets – gemäss provisorischem Entlastungspaket – um rund 20% auf 500'000 Franken an jenes Budget des Naturmuseums angleichen, für welches im Budget 2015 keine Kürzung vorgesehen ist. Dies, nachdem alle Museen bereits im Budget 2014 pauschal 10% ihres Budgets kürzen mussten. Wie und wo sie diese beträchtlichen Aufwände einsparen sollen, bleibt wohl ihnen selbst überlassen.

«Die genannten Kultur- mag, Wer keine halben Sachen institutionen wurden kann KOLT hier abonnieren, weder eingeladen, noch näher über die geplandamits pünktlich zum ten Massnahmen oder über den Inhalt derim Monatsbeginn Diskussionen an den Tischen informiert.» Briefkasten liegt.

Diese Leute, diese Betroffenen, sind hauptsächlich die Institutionen, welche einen Leistungsauftrag der Stadt Olten erfüllen müssen. Namentlich sind dies beispielsweise die städtischen Museen, die Wirtschaftsförderung oder der Verein Olten Tourismus. Aufgrund der Überprüfungsaufträge mussten diese Partner in einem Bericht an den Stadtrat ihre Sparpotenziale aufzeigen, auflisten wie ihre Betriebe und somit ihre Budgets zusammengesetzt sind – teilweise sogar welche ihre konkreten Aufgaben sind. In einzelnen Fällen wurden die Konsequenzen einer möglichen Fusion oder einer Schliessung kommuniziert. Will die Stadt Olten Betroffene zu Beteiligten machen, darf man vermuten, dass sie sich nach dem Studium dieser Berichte mit den Leistungserbringer an einen runden Tisch setzt, um Sparziele zu formulieren und gemeinsam ihre Aufgabenbereiche neu zu definieren oder – im schlimmsten Fall – eine Schliessung zu besprechen. Dieses Vorgehen hat KOLT nach

im Vorfeld fälschlicherweise so hätte verstanden werden können. KOLT hat bei zwei Museen und beim Jugendkulturhaus «Provisorium 8» nachgefragt, ob sie an diesen Tischen gesessen haben. Die Antwort war stets dieselbe: Die genannten Kulturinstitutionen wurden weder eingeladen, noch näher über die geplanten Massnahmen oder über den Inhalt der Diskussionen an den Tischen informiert. Die runden Tische waren eine rein politische Angelegenheit. Lediglich die Vertretungen der politischen Parteien, der einzelnen ausserparlamentarischen Kommissionen, des Gewerbeverbands, des Industrie-und Handelsvereins, der Betriebskommission der Stadtverwaltung und der Personalverbände waren eingeladen.

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DER KOLTIGE MONAT

Der Rattenschwanz trifft KOLT

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OLT ist abhängig von seinen Abonnenten und Abonnentinnen sowie seinen Inserenten. Und KOLT erhält keine öffentlichen Subventionen. KOLT finanziert sich ausschliesslich durch seine Abo- und Inserateinnahmen. Und trotzdem treffen die städtischen Sparbemühungen auch KOLT. Unter anderem, weil unsere Abonnenten unter den städtischen Sparbemühungen leiden. So haben wir beispielsweise folgende Kündigung eines Abonnenten erhalten: Grundsätzlich spricht uns die Art und Weise von KOLT an. Die Kündigung kumuliert sich aus schlussendlich verschiedenen Gründen, die eigentlich nichts mit dem Erscheinungsbild und Inhalt von KOLT zu tun hat: - Aus finanziellen Gründen haben wir uns eine Übersicht verschafft, welche Ausgaben sind notwendig und welche nicht - Einen entscheidenden Einfluss hatten auch die Massnahmen der Stadt Olten, Dienstleistungen für Auswärtige massiv zu verteuern. So haben wir soeben für ein Abo der Badi Olten neu CHF 240! (Auswärtigen-Tarif) bezahlt. Diese Mehrkosten sind an einem anderen Ort einzusparen. Ich denke, es ist wichtig den Verantwortlichen der Stadt Olten zu kommunizieren, dass die repressiven Massnahmen gegen Auswärtige sich in anderen Bereichen negativ auswirken werden.

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Schade. Und obwohl KOLT nicht im Auftrag der Stadt Olten oder einer verwaltungsnahen Institution arbeitet, muss das Magazin nun auf einen Abonnenten verzichten, weil dieser der Stadt kommunizieren möchte, dass ihre Massnahmen auch andere Bereiche treffen. Mit dieser Aussage hat er selbstverständlich recht. In KOLT inserieren oft auch kulturelle Institutionen. Wenn ihnen die Fördergelder gestrichen werden, dann sparen sie dies bei der Werbung und somit bei KOLT. Die Herausgeberin von KOLT, Verlag 2S GmbH, produziert nicht nur das Magazin, sondern auch Unternehmenspublikationen, bietet Grafik-, Fotound Textarbeiten als Dienstleistung an. Beispielsweise hat die Firma im Auftrag der Wirtschaftsförderung das stadtbekannte Magazin «Klein + Fein» konzipiert und produziert. Da die Stadtregierung für das Budget 2015 auch bei der Wirtschaftsförderung Kürzungen vorsieht, wurde der Auftrag für eine Fortsetzung von «Klein + Fein» gestoppt. Ein Rattenschwanz, der länger wird: Denn auch unsere Fotografen und Texter müssen auf diesen Auftrag verzichten. Mit unserem höchst bescheidenen Gewinn musste der Verlag 2S bis anhin kaum bis wenig Steuern bezahlen. In Zukunft werden es wohl noch weniger bis keine Steuern mehr sein. Immerhin etwas Positives.

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summerlounge Der neue Stadtstrand in Olten

Riggenbachstrasse 10 www.pure-olten.ch/summerlounge


Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien. Oscar Wilde

Nur wer Träume hat, kann auch etwas bewegen.

SIO AG Generalvertretung COVER RĂśtzmattweg 66 CH-4603 Olten T +41 62 207 07 07 F +41 62 207 07 00 info@cover.ch cover.ch

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