glaubwürdig Ein Projekt des Jahrgangs 2015 der Kölner Journalistenschule.
„Die Serie hat mich gerettet“
Die Geschichte eines jungen Moslems im Konflikt zwischen Homosexualität und Islam Von Martin Sistig
D
er Bass wummert, die Tanzfläche bebt und der Alkohol fließt. Mittendrin der junge Bankkaufmann Marcel, der Blickkontakt mit einem gleichaltrigen Mann aufbaut. Sie reden kurz und wenig später landen die beiden wild küssend auf der Clubtoilette, wo Marcel im Bewusstsein seiner HIV-Erkrankung noch Kondome aus seiner Hosentasche holt, bevor sie in einer der Kabinen Sex haben. Als Moustafa Tarrafs Familie diese Szenen zu Gesicht bekam, war Funkstille. Moustafa Tarraf ist 25 Jahre alt, Moslem und schwul. Er spielt in der Webserie „kuntergrau“, die sich um eine schwule Clique dreht,
den promiskuitiven und HIV-positiven Marcel. In manchen Szenen ist er sogar komplett ohne Kleidung zu sehen. Doch für ihn geht es um viel mehr als Nacktheit. „Die Serie hat mich gerettet“, sagt Moustafa. Denn obwohl seine Eltern seit 24 Jahren in Deutschland wohnen, leben sie einen konservativen Islam, der Homosexualität verbietet. Für ihren Sohn hatten sie bereits eine Zwangsheirat in ihrer libanesischen Heimat organisiert. „Jetzt oder gar nicht“ lautete daher Moustafas Devise. Im Sommer nutzte er „kuntergrau“ für sein öffentliches Outing: Er postete die beiden ersten Folgen auf seiner Facebook-Seite. Er wusste genau, dass seine Familie den Kontakt abbrechen werde, sobald sie von seiner Homosexualiät erführe. Sein Outing wurde als Undankbarkeit und Affront gegen die Familienehre aufgenommen. „Das ist krass, aber normal“, kommentiert er heute. Moustafa wollte sich einfach nicht mehr verstecken. Gerne hätte er den vertrauten Umgang mit sei-
ner Familie beibehalten, und wäre weiterhin jeden Sommer in den Libanon gefahren. Sollte er seiner Familie allerdings jetzt unter die Augen treten, würde die Situation wohl in körperlicher Gewalt enden. Dabei ist auch Moustafa sehr gläubig und von den Werten des Islam überzeugt: Einmal im Monat geht er zum Beten in die libanesische Moschee in Köln-Kalk. Von seiner
Ansicht seien aber meist verpönt. Bei den alljährlichen Besuchen seiner Familie im Libanon hat Moustafa viel über seine Herkunft und die Kultur seiner Familie gelernt. Homosexualität steht im Libanon unter Haftstrafe, doch in den christlich geprägten Regionen des Landes herrschen durchaus Offenheit und Toleranz. Manchmal wünschte Moustafa sich, seine Familie wäre christlich. In der muslimischen Welt trauten sich die Meisten ihr Leben lang nicht, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Das ist auch in Köln so: „Die konservative Lehre des Islam macht es vielen jungen Muslimen nicht leicht, ähnliche Schritte wie Moustafa zu gehen“, sagt Diplom-Sozialarbeiterin Gema Rodríguez Díaz vom Beratungszentrum „Rubicon“ für Schwule und Lesben. Moustafa jedenfalls hat es geschafft, sowohl zu seiner Homosexualität, als auch zu seinem Glauben zu stehen: „Ich glaube an die Grundwerte des Islam, nicht an das, was die Menschen daraus gemacht haben“. Er hat einen großen gemischten
„Das ist krass, aber normal.“ sexuellen Neigung weiß dort niemand. Er selbst lebt einen modernen Islam: „Der Islam hat viele schöne Seiten, wie die große Nächstenliebe oder die Gebetsrituale.“ Das habe ihm auch für sein Outing viel Kraft und Sicherheit gegeben. Dennoch müsse sich der Islam weiter dem Zeitgeist anpassen, wie es auch in progressiven Interpretationen des Korans geschehe. Gelehrte mit einer solch liberalen
▲ Moustafa Tarraf ist 25 Jahre alt, Moslem und schwul.
Freundeskreis, der seine Offenheit schätzt. Bald will Moustafa ein eigenes Restaurant eröffnen, er führt ein unabhängiges und freies Leben. Seine Religion hilft ihm dabei. „Warum sollte Allah mich so auf die Welt gelassen haben, wenn er Homosexualität als Sünde bestraft sehen will? Ich komme schon in den höchsten Himmel.“
ED IT ORIAL Ein Klick auf Facebook bis zur Meinung, ein halber Gedanke bis zur Wahrheit. Wissen – das kann jeder. Zum Glauben fehlt vielen der Mut. Dabei wird es doch eigentlich erst spannend, wenn man sich nicht mehr sicher ist. Wenn man miteinander reden muss, um der Wahrheit näher zu kommen. 16 Geschichten, die Sie gelesen haben sollten, bevor Sie dran glauben! Jahrgang 2015
Schleierhafte Mode, glasklare Idee:
Der Glaube bleibt unbefleckt:
Auf dem Weg ins gelobte Land:
Sonia Kefi designt moderne Kleidung für muslimische Frauen.
Wie Prostituierte im Berufsalltag Kraft finden.
Wie Flüchtlinge in Deutschland ihre Religion suchen.
5
8
11 Bild: Fotostudio Kuhweide