Bruckner-Land

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Im BrucknerLand

Facetten eines

Komponisten

Eine Annäherung an Anton Bruckner: das wollten wir im Brucknerjahr unseren Leserinnen und Lesern anbieten. Bekanntes, Unbekanntes, nie Gehörtes und ständig Wiederholtes sollten dabei thematisiert und hinterfragt werden. – Von Wien bis Vöcklabruck, von Bischof Manfred Scheuer bis zur Urgroßnichte des Komponisten haben wir Menschen befragt, was der große Tondichter aus Ansfelden für unser Land bedeutet. Seine Spuren sind in Oberösterreich allgegenwärtig – und bleiben es.

Eine spannende Reise durchs Bruckner_Land wünschen Ihnen

ELISABETH LEITNER UND HEINZ NIEDERLEITNER

Die ‚Brucknerifizierung‘ Oberösterreichs

Runde Geburtstage animieren zum Feiern, vor allem wenn es sich um einen Jahrestag eines Genies handelt, das uns Kunstwerke für die Ewigkeit hinterlassen hat. Bruckners Hinterlassenschaft, seine Musik, schafft zum Zeitpunkt ihres Erklingens Gegenwart. Egal wann das Werk komponiert wurde. An seiner Person haften viele Klischees und Zuordnungen, die sich oftmalig erst in der näheren Auseinandersetzung als Täuschung entpuppen.

Die ,Brucknerifizierung‘ des Landes ist 2024 in einer Breite, Tiefe und erfindungsreichen Vielfalt gelungen, die uns und dem Geburtstagskind kaum jemand zugetraut hat. In einer umfassenden Bewegung und Leidenschaft in der Vermittlung haben wir gezeigt, dass Kultur ein Netzwerkraum fantasievoller Möglichkeiten ist, um uns zu finden, Gemeinsames zu erfinden, zusammenzukommen oder zu staunen. Kunst, Musik führt uns spielerisch ins magisch menschliche Feld des Gemeinsamen, in ein Wir. Bruckner war und ist unser genialer Komplize!

Mit der ersten OÖ KulturEXPO zum Bruckner-Jahr haben wir ein fantasievolles Stromnetz geschaffen, das neue Formen der Zusammenarbeit, Vernetzung und wechselseitiger kultureller Versorgung aufgezeigt und möglich gemacht hat. Bruckner haben wir erlebt in Kirchen, Konzerthäusern und auf Marktplätzen.

Die erfundenen und erprobten Formen und Formate werden auch in Zukunft dafür sorgen, dass Bruckner nicht vom oberösterreichischen Netz geht.

Ich danke Heinz Niederleitner und Elisabeth Leitner für die intensive und tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Genius Loci, mit der uns die Kirchenzeitung 2024 begleitet hat. Dass daraus diese wertvolle Publikation entsteht, ist eine der bleibenden Kostbarkeiten für Gegenwart und Zukunft!

Norbert Trawöger, war künstlerischer Leiter der KulturEXPO Anton Bruckner 2024 und ist ab August 2025 künstlerischer Leiter des Brucknerhauses Linz

Der Lehrersohn Anton Bruckner

Ansfelden, Hörsching und St. Florian waren die Stationen der Kindheit und Jugend Anton Bruckners.

„Welch prachtvolle Menschen, Philosophen, Denker, Dichter und Musiker muß die Welt verloren haben, weil es ihnen nicht gegönnt war, ihr genuines Handwerk zu erlernen.“ Aus Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“

Dass sich Bruckners musikalisches Genie entfalten konnte, beruht auf zwei Glücksfällen: Erstens war der am 4. September 1824 im damaligen Tausend-Seelen-Dorf Ansfelden geborene Bruckner ein „Überlebender“: einer der fünf von insgesamt elf Kindern seiner Eltern, die das Erwachsenenalter erreichten. Als Erstgeborener erlebte er mit, wie die späteren Geschwister zum Teil sogar am Tage der Geburt starben.

Der zweite Glücksfall für Bruckners musikalische Entwicklung war es, in eine Lehrerfamilie geboren zu werden. Anders als in Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“, wo ein musikalisches Genie verloren geht, wurde Musik in Bruckners Umfeld gelehrt und gepflegt. Schon sein Großvater Joseph war vom Handwerk ins Lehrfach gewechselt und Schulmeister in Ansfelden gewesen. Darin folgte ihm Bruckners Vater, Anton senior. Zunächst schlug auch der Junior den Lehrerberuf ein. Damals war das Schulmeisteramt eng mit den Ämtern des Mesners, des Organisten und des Chorleiters verbunden, offiziell durch einen kaiserlichen Erlass aus dem Jahr 1805. Zu Recht haben Wissenschafter:innen Bruck-

Bruckners Schulen: das Geburtshaus in Ansfelden und das alte Schulhaus in Hörsching (beide neben der jeweiligen Pfarrkirche) sowie die frühere Schule in St. Florian (von links).

ners Herkunft als „Milieu der österreichischen Lehrerorganisten“ bezeichnet. Von seinem Vater erlernte Bruckner das Spiel auf Tasteninstrumenten (Spinett, Orgel) und auf der volkstümlichen Geige. Denn auch wenn der Schulmeister neben Pfarrer und Arzt zu den Gebildeten im Dorf gehörte, waren Lehrer schlecht bezahlt; also spielte Anton senior (später auch der Junior) neben dem Schuldienst im Wirtshaus und zu Festivitäten gegen Bezahlung auf. An der Orgel der Ansfeldner Pfarrkirche konnte der kleine Anton bald seinen Vater während des Gottesdienstes vertreten.

DER BEGABTE COUSIN

Ein weiterer Lehrer in Bruckners Familie war sein Cousin Johann Baptist Weiß. Als Sohn des Schulmeisters von Hörsching führte er Anton nicht nur als Pate 1833 zur Firmung im Alten Dom zu Linz, sondern prägte ihn musikalisch. Denn Vater Bruckner schickte seinen Ältesten 1835/36 zur Hörschinger Verwandtschaft, wo ihn der Firmgöd in Orgelspiel und Generalbass unterwies und mit Werken Haydns und Mozarts bekannt machte. Der Aufenthalt Bruckners in Hörsching war mehr als nur eine kurze Episode. Das erste erhaltene, zweifelsfrei von Bruckner stammende Werk, ein „Pange lingua“ (der Hymnus zum Fronleichnamsfest, Werkverzeichnis Anton Bruckner – WAB – 31), stammt aus dieser Zeit. Unwahrscheinlich ist seine Autorenschaft von „Vier Präludien in Es-Dur“; da Johann Baptist Weiß selbst kompositorisch tätig war, könnten sie von ihm stammen. Bruckner hielt ihn jedenfalls sehr in Ehren. Als sich Weiß 1850 auf dem Friedhof von Hörsching erschoss, weil er sich einer ungerechtfertigten Anschuldigung gegenübersah, traf Bruckner das schwer.

DER TOD DES VATERS

Der spätere Komponist blieb nicht lange in Hörsching: Sein Vater erkrankte 1836 und

der Bub sprang in Ansfelden sowohl an der Kirchenorgel als auch am Schulkatheder ein – mit zwölf Jahren. Ein Jahr später verstarb der Vater. Im Vergleich zu Bruckners Mutter Theresia schildern ihn Quellen als den schönen Seiten des Lebens aufgeschlossen, ohne seine Pflichten vernachlässigt zu haben.

Der Tod des Vaters bedeutete eine Erschütterung der familiären Verhältnisse, die Bruckners schwermütig veranlagte Mutter mit Aufopferung und Durchhaltewillen bewältigte. Obwohl aus eher bürgerlichen Verhältnissen stammend, hatte sie bereits die Heirat mit dem armen Dorfschullehrer die harten Seiten des Lebens kennenlernen lassen.

NACH ST. FLORIAN

Kurz nachdem ihr Mann gestorben war, brachte sie ihren Ältesten durch Propst Michael Arneth vom Stift St. Florian als einen von drei Sängerknaben dort unter. Mit den anderen Geschwistern musste sie die Dienstwohnung verlassen und zog ins damals eigenständige Ebelsberg. Mit viel Arbeit, etwas Unterstützung und einer kleinen Rente brachte sie die Kinder durch. In gewisser Weise endete hier Bruckners Kindheit. Sie war nicht nur von Musik geprägt, sondern auch vom dörflichen Umfeld in Ansfelden und Hörsching, von einer stabilen, aber nicht wohlhabenden Familie, vom Wechsel der Jahreszeiten in der Landwirtschaft, vom Spielen mit den Dorfkindern und dem Aushelfen für den Vater. Schläge waren damals Teil der Kindererziehung. Bruckner empfing sie als Sohn und Schüler. Auch beim Räuberspiel der Kinder setzte es Hiebe. Später berichtete der Komponist, dass er sich die Hose ausgestopft habe und zur Verwunderung der anderen Kinder die Versohlung seines Hinterteils ohne Schmerzensschreie aushielt.

Eine neue Zeit brach für ihn mit dem Eintritt bei den Sängerknaben in St. Florian

Das Stift St. Florian (re.) förderte Bruckner, insbesondere Propst Michael Arneth. Zu dessen Begräbnis schrieb Bruckner die Elegie „Vor Arneths Grab“. Das Grab (li.) findet sich noch heute auf dem Stiftsfriedhof.

an. Mit seinen beiden Sangeskollegen schien er gut ausgekommen zu sein. Untergebracht waren sie aber nicht im Stift, sondern im St. Florianer Schulhaus. Dem dortigen Schulmeister Michael Bogner war es vorbehalten, Bruckners offizielle Schullaufbahn zu einem erfolgreichen Ende zu bringen und ihn bis zum Stimmbruch (1839) gesanglich zu trainieren. Ihm widmete Bruckner später den Männerchor „Der Lehrerstand“ (WAB 77). Einfluss auf den Jugendlichen hatte auch der Unterricht beim Stiftsorganisten Anton Kattinger.

BERUFSWAHL

Das Stift St. Florian prägte Propst Michael Arneth auch weiterhin Anton Bruckners Fortkommen. Der Geistliche, zu dessen Begräbnis Bruckner 1854 eine Elegie komponierte (WAB 53), förderte die Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung zur Lehrerausbildung, die Bruckner am 1. Oktober 1840 bestand.

Bruckner hatte sich selbst dazu entschieden, vermutlich vor allem, um bald seiner Mutter finanziell unter die Arme greifen zu können. Auch für diese Ausbildung zahlte das Stift mit. Nur zehn Monate dauerte der

Kurs an der Präparandie (Lehrerbildungsanstalt) in der Linzer Hofgasse. Anders als zur Zeit seines Vaters hatte Bruckner schon das Glück, dass die Musikausbildung direkt zum Kurs gehörte und Johann August Dürrnberger ihn aus seinem „ElementarLehrbuch der Harmonie- und GeneralbaßLehre“ unterrichtete. Am 16. August 1841 bestand Bruckner die Abschlussprüfung. Der knapp Siebzehnjährige war damit befähigt, als Gehilfe in den Schuldienst einzutreten.

LEHRTÄTIGKEIT

BIS INS HOHE ALTER

Überblickt man die frühen Jahre Bruckners, erkennt man die Förderung, die ihm zuteil wurde. Die Lehrerlaufbahn war vor dem familiären und wirtschaftlichen Hintergrund die naheliegendste Entscheidung. Musizieren war Teil davon. Ausschließlich Musiker zu sein, blieb zunächst ein Traum, der sich für Bruckner erst 1855 erfüllen sollte. Ein Lehrender blieb Anton Bruckner aber auch danach: für Musikschüler:innen, Musiker:innen am Konservatorium und an der Universität Wien, an der er erst zwei Jahre vor seinem Tod die letzte Vorlesung hielt. HEINZ NIEDERLEITNER

Bruckners Jahre der Metamorphose

Windhaag bei Freistadt, Kronstorf, noch einmal St. Florian und dann

Linz: Zwischen dem 17. und 44. Lebensjahr fand Bruckner zu seiner eigenen Kunst.

„Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“

Paulus von Tarsus (1 Kor 13,11)

Bruckners oberösterreichische Wirkungszeit, zwischen dem Abschluss seiner Lehrerausbildung 1841 und seiner Übersiedlung nach Wien 1868, ist eine Zeit der Verwandlung. Am Beginn steht ein Hilfslehrerposten in Windhaag bei Freistadt, am Ende verlässt Bruckner als designierter Konservatoriums-Professor Linz. Aus dem Nebenbei-Musikanten wird ein als Organist und Komponist geistlicher Vokalwerke anerkannter Berufsmusiker; der vorrangig kirchenmusikalisch orientierte Künstler entdeckt die Form der Symphonie für sich; der aus einem dörflichen Umfeld stammende Lehrersohn wird (wenn auch mit wenig Freude) ein Städter; und sein Jahressalär steigt von zwölf Gulden inklusive Kost und Logis in Windhaag auf 800 Gulden als Professor in Wien.

FRÜHE STATIONEN

Rund zwei Jahre lang blieb Bruckner im Mühlviertel. In die Erinnerung hat sich eingeprägt, dass es ihm in Windhaag nicht behagte, allerdings ist das eine Teilwahrheit: Die Arbeitsbedingungen unter dem Schulmeister mit zusätzlichen Diensten an

der Orgel, als Ministrant und in der Landwirtschaft waren hart. Aber Bruckner fand Anschluss zu den Menschen: Er musizierte in Duetten, spielte zum Tanz auf und schuf seine erste Messe (in C-Dur, Windhaager Messe, WAB 25).

Auf Windhaag folgten zwei Jahre in Kronstorf – in derselben Funktion, aber mit angenehmerem Chef und vor allem in der Nähe von Steyr. Die Hilfslehrerzeit beschloss Bruckner, obwohl mittlerweile geprüfter Schulmeister, in St. Florian: Er kehrte in jenes Schulhaus und in jenen Haushalt zurück, wo er schon als Sängerknabe gelebt hatte. Hier geschah 1848 Entscheidendes: Bruckner wurde zunächst provisorischer und nach 1851 definitiver Stiftsorganist. Auch wenn er zahlreiche andere Verpflichtungen hatte, trat damit die Beschäftigung mit Musik an die erste Stelle. Bruckner nutzte seine karge Freizeit für musikalische Studien und knüpfte noch von St. Florian aus Kontakt zu dem Musiktheoretiker Simon Sechter in Wien, der sein Lehrer per Fernkurs wurde.

LINZ

Aber nicht nur in Sachen Bildung war Bruckners Ehrgeiz in St. Florian nicht befriedigt, was seine erfolglose Bewerbung um eine Organistenstelle in Olmütz in Mähren (heute Olomouc) zeigt. Dagegen hat die

kolportierte Geschichte, wie Bruckner nach Linz kam, komische Züge: Der Klavier- und Orgelstimmer Alfred Just war demnach der Annahme, am Tag des Vorspielens für die Linzer Domorganistenstelle sei Bruckner sicher in der Landeshauptstadt. Also kam er nach St. Florian, um sich der ausnahmsweise nicht genutzten Orgel dort anzunehmen. Zu seinem Erstaunen traf er Bruckner aber im Stift. Just bedrängte den Zögerlichen, bis dieser sich auf einen Leiterwagen nach Linz setzte. Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden.

In Linz suchte Bruckner seinen Musiklehrer aus der Präparandie, Johann August Dürrnberger, auf. Als dieser erfuhr, dass Bruckner gar nicht beim Vorspielen antreten wollte, redete er ihm zu und nahm ihn mit in den Dom (heute Alter Dom, Ignatiuskirche). Dort spielte Bruckner als letzter Kandidat die Konkurrenz in Grund und Boden. Am 8. Dezember 1855 übernahm er seinen ersten Orgeldienst im Dom. Dass er erst knapp vor Weihnachten tatsächlich nach Linz zog, hat nach Ansicht der Biografen Göllerich und Auer damit zu tun, dass ihm der Wechsel in die Stadt Überwindung kostete.

VIELFÄLTIG EINGESPANNT

Die Jahre in Linz waren für Bruckner mehr als intensiv: Der Dienst betraf nicht nur die Domorgel, sondern auch jene der nahegelegenen Stadtpfarrkirche. Da selbst zum nachmittäglichen Segen am Sonntag gespielt werden musste, hatte Bruckner kaum Freizeit, zumal er zwecks Aufbesserung seiner Einkünfte Klavierstunden gab. Wie es sich gehörte, engagierte sich Bruckner auch gesellschaftlich, nämlich im Sängerbund „Frohsinn“, dessen Chorleiter er später werden sollte. Wollte er aber Zeit für seine Studien bei Simon Sechter haben, die zunehmend Aufenthalte in Wien erforderten, musste er einen Organisten-Ersatz finden – und bezahlen.

Vor den Studien bei Sechter hatten vor allem der Ennser Chorleiter Leopold von Zenetti und der St. Florianer Organist Anton Kattinger Bruckner musikalisch vorangebracht. In der St. Florianer Zeit waren liturgische Werke wie das Requiem (WAB 39) und die Missa solemnis (WAB 29) entstanden. Aus Kronstorf sind eine Messe in d-Moll ohne Gloria („Kronstorfer Messe“, WAB 146) und eine Gründonnerstagsmesse (WAB 9) überliefert.

KOMPOSITORISCHER DURCHBRUCH

Da Sechter seinen Schülern das Komponieren während der Ausbildung verbot und sich Bruckner mit wenigen Ausnahmen daran hielt, entstanden in den ersten Linzer Jahren nur wenige Stücke. Das sollte sich nach der Sechter-Zeit ändern, wobei Bruckner weiter „in Ausbildung“ blieb: Mit dem Linzer Kapellmeister Otto Kitzler studierte er Formenlehre und Instrumentation. Im Rahmen dieses Unterrichts lernte Bruckner nicht nur die Musik Richard Wagners kennen (den er 1865 persönlich traf), sondern hatte auch größere Kompositionsarbeiten auszuführen: eine Ouvertüre (WAB 98), einen Orchestermarsch (WAB 96) und eine Symphonie (f-Moll, „Studiensymphonie“, WAB 99). Nach Ende seiner Studien bei Kitzler lud Bruckner den Kapellmeister zum Feiern beim „Jäger im Kürnberg“ (Leonding) ein.

DIE GROSSEN MESSEN

Zu all den Studien, die Bruckner in jenen Jahren unternahm, kamen Prüfungen, die er offenbar zur Selbstversicherung anstrebte. Berühmt wurde die Wiener Orgelprüfung im November 1861, bei der ein Prüfer ausrief: „Er hätte uns prüfen sollen!“ Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Bruckner „nebenbei“ Prüfungen zum Hauptschul- und zum „höheren“ Lehrer bestand, nachdem er privat unter anderem Latein gebüffelt hatte.

Für Bruckner erfolgte nach dem Abschluss der Lehre bei Kitzler eine produktive Zeit: In Linz entstanden unter anderem die drei großen Messen (d-Moll 1864, e-Moll 1866, f-Moll 1867/68, WAB 26–28), wobei die mittlere zur Weihe der Votivkapelle des Neuen Linzer Domes 1869 erklang. Für dessen Grundsteinlegung hatte Bruckner 1862 eine Festkantate geschrieben. Angesichts dieser reichen Produktion geistlicher Musik ist es kein Wunder, dass ein Freund – Moritz von Mayfeld – auf eine Symphonie drängte. „Der Mayfeld“ habe ihn „ins Symphonische einitrieb’n“, erzählte Bruckner später. Die Studiensymphonie sah er nur als Schularbeit. Und Mayfelds Idee machte Sinn: Mit dem Unterricht bei Sechter und der erwähnten Orgelprüfung hatte Bruckner Kontakte nach Wien geknüpft. Wer musikalisch reüssieren wollte, musste dorthin. War es da nicht gut, eine Symphonie im Portfolio zu haben? So schrieb Bruckner 1865/66 seine Erste Symphonie (WAB 101; Achtung: die sogenannte „Nullte“, WAB 100, entstand erst danach). Der Komponist hat die Erste sein „keckes Beserl“ (freches Mädel) genannt.

LEBENSKRISE

Noch während Bruckner nach einer Aufführungsmöglichkeit suchte, überschattete eine große Krise sein 43. Lebensjahr. Sie hatte sich angekündigt: Schon Sechter musste Bruckner mahnen, auf seine Gesundheit zu achten. Letztlich forderten die Jahre des musikalischen Dauer-Dienstes, des Lernens und des Musikunterrichts ihren Preis: Aufgrund totaler Erschöpfung fuhr er am 8. Mai 1867 nach Bad Kreuzen auf Kur und blieb dort bis zum 8. August. Sein Arzt habe ihm „den Irrsinn als mögliche Folge“ angekündigt, schrieb er einem Freund. Die Überreiztheit zeigte sich an einem Zählzwang. In Bad Kreuzen trieb ein Platzkonzert böhmischer Musiker den nervösen Bruckner regelrecht in die Flucht.

Der Alte Dom (Jesuitenkirche, im Vordergrund) und dahinter die Stadtpfarrkirche (hoher Turm) in Linz.

Nach Linz zurückgekehrt ging es aufwärts: Am 9. Mai 1868 führte Bruckner seine Erste Symphonie mit einem halbprofessionellen Orchester im Linzer Redoutensaal auf. Auch wenn viele das Werk nicht verstanden und mancher Musiker Proben und Konzert als „a Hetz“ (einen Spaß) auffasste, war es ein wichtiger Schritt für Bruckner. Mayfeld schrieb in der Linzer Zeitung: „Wir wünschen, dass er bald eine seinen Fähigkeiten und musikalischen Kenntnissen entsprechende Stellung in der Residenzstadt Wien finden möchte, um seinem schöpferischen Schaffen mit Muse obliegen zu können.“ Da Bruckners Lehrer Sechter inzwischen gestorben war, bewarb er sich um dessen Stelle am Wiener Konservatorium. Der Herbst 1868 markierte damit einen weiteren Einschnitt in seinem Leben. Als gereifter und – im mehrfachen Sinn – geprüfter Musiker betrat Anton Bruckner das glatte Wiener Parkett. HEINZ NIEDERLEITNER

Name: Bruckner, Anton Beruf: Symphoniker

Zwischen 1868 und 1887 komponierte Anton Bruckner in Wien acht seiner elf Symphonien. Sein Leben schwang zwischen Widerstand und Erfolg hin und her, ist aber im Ganzen betrachtet eine Geschichte des sozialen Aufstiegs.

„Lieber Freund, ich hab’ ja keine Zeit, ich muss meine Vierte schreiben.“

Anton Bruckner zu Otto Kitzler

Mariä Empfängnis 1881: Der Katholik Anton Bruckner verlässt abends die Votivkirche am Wiener Ring und macht sich zu Fuß auf den Heimweg in die nahe Heßgasse 7. Schon von weitem sieht er Flammen. Als er erfährt, dass das Ringtheater brennt, nimmt er die Beine in die Hand. Denn nur die Gasse trennt das Theater von seiner Wohnung. Dort lagern die Partituren und Entwürfe seiner Werke, in vielen Fällen Einzelstücke. Mit Müh und Not dringt Bruckner durch Schaulustige und Absperrungen in seine Wohnung vor. Die Fensterläden sind schon angekohlt. Er packt seine Kompositionen zusammen und bewacht sie bis zum Ende des Brands, der mehreren Hundert Menschen das Leben kostet. Eigentlich wollte Bruckner an jenem Abend auch in dieses Theater. Nur eine Programmumstellung hielt ihn ab. Wäre Bruckner an diesem Abend gestorben, so hätte er wichtige Werke nicht kom-

Anton Bruckner in seiner Wohnung in der Heßgasse 7 in Wien.

poniert und auch den weiteren Erfolg seiner Symphonien nicht mehr wirklich miterlebt. Die Aufführung der Vierten Symphonie am 20. Februar 1881 – gegen den Willen der Wiener Philharmoniker vom Dirigenten Hans Richter durchgesetzt – war gerade sein erster wirklich großer Erfolg als Symphoniker.

In anderen Zusammenhängen hatte sich Bruckner zu diesem Zeitpunkt im Wiener Musikleben etabliert – allen Widerständen zum Trotz. Seit dem Herbst 1868 war er Professor am Konservatorium und zunächst „expectierender“, ab 1878 tatsächlicher Hoforganist. Er feierte in Paris und London Erfolge an der Orgel.

KRITIK

Es ist daher nur eine Teilwahrheit, wenn in Bruckner vor allem das Opfer des Wiener Kritikerbetriebs gesehen wird: Niemand anderer als der von Bruckner als Hauptgegner wahrgenommene Kritiker Eduard Hanslick lobte sein Können als Organist und beispielsweise auch das Te Deum. Ja, es stimmt: Hanslicks Besprechungen von Bruckner-Symphonien waren niederschmetternd („traumverwirrter Katzenjammerstyl“), aber derselbe Kritiker hat auch angesichts von Tschaikowskis Violinkonzert gefragt, „ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört“; er war generell in der Wortwahl nicht zurückhaltend.

Ja, es stimmt weiter: Die Wiener Philharmoniker mussten erst von Bruckners Können überzeugt werden. Manche Dirigenten haben seine Symphonien nicht verstanden. Und ja, der Kampf zwischen Wagnerianern und Brahmsanhängern wurde auch auf dem Rücken Bruckners ausgetragen –Brahms sah in Bruckner gar einen „armen verrückten Menschen, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen“ hätten. Aber selbst er machte gegen Ende seinen Frieden mit dem Oberösterreicher. Und trotz

mancher Widerstände gelang es Bruckner, Lektor an der Universität Wien (1875, ab 1880 mit Gehalt) und deren Ehrendoktor (1891) zu werden. Der Kaiser verlieh ihm das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens (1886) und Bruckner konnte aus seinen Einkünften seine Geschwister unterstützen. Die einseitige Sicht von einem ländlichen Genie, das am Wiener Großbürgertum zu scheitern drohte, ist mehr Dichtung als Wahrheit. Bruckners Lebenslauf lässt sich besser als gesellschaftlicher Aufstieg vom dörflichen Lehrersohn zum Professor und Komponisten in der Hauptstadt beschreiben. Ja, es gab herbe Rückschläge. Aber das ist nichts Ungewöhnliches und am Ende war Bruckner das, was er sein wollte: ein weltbekannter Symphoniker. In Wien entstanden zunächst in der Phase zwischen 1868 und 1877 fünf Symphonien (in der jeweils ersten Fassung): die d-MollSymphonie (von Bruckner nach Ablehnung durch den Dirigenten Felix Dessoff „annulliert“, daher der irreführende Name „Nullte“) sowie die Symphonien zwei bis fünf. Mit 1877 beginnt aber der Reigen der Überarbeitungen, welche die Symphonien zwei, drei und vier betrafen. Nicht mehr ganz so zügig entstanden daher die sechste (1881), siebte (1883) und achte Symphonie (1887, erste Fassung). Zwar begann die Arbeit an der Neunten schon 1887, aber eine weitere Welle von Überarbeitungen (Symphonien 1, 2, 3, 4 und 8) brachten das Projekt ins Stocken. Dazu kamen die Komposition des Streichquintetts (1878/79), die Entstehung und Revision des Te Deums (1881, 1883/84), des 150. Psalms (1892) und der OrchesterKantate „Helgoland“ (1893).

DURCHBRUCH

Viel ist über Bruckners „Unsicherheit“ geschrieben worden, die ihn zur mehrmaligen Überarbeitung von Symphonien getrieben habe. Kritik von außen veranlassten in jedem Fall die Überarbeitungen der Sym-

phonien drei und vier. Hier sind auch die Änderungen am größten. Bei der Bearbeitung von Symphonie Nummer zwei hat insbesondere der Musikwissenschafter Robert Haas Einflüsse von „Ratgebern“ gesehen. Die späten Überarbeitungen rund um das Jahr 1890 schöpften zum Teil aber auch aus Erfahrungen, die Bruckner selbst in der Arbeit an den in der Zwischenzeit entstandenen Werken gemacht hatte. Das Bild einer völligen Ablehnung von Bruckners Symphonien bis zum Durchbruch ist zu differenzieren. Die Aufführungen der zweiten Symphonie 1873 und 1876 waren Achtungserfolge. Gefolgt wurden sie vom Durchfallen der Dritten 1877, die herabwürdigende Reaktionen nicht nur beim Großteil des Publikums, sondern auch beim Orchester hervorrief. Den ersten wirklich großen Erfolg mit einer Symphonie konnte Bruckner, wie bereits erwähnt, 1881 mit der Vierten in Wien erringen. Der internationale Durchbruch kam mit dem Erfolg der Siebten Symphonie in Leipzig (1884) und München (1885) sowie mit der Aufführung der Dritten in New York (ebensfalls 1885).

Und wie lebte der Mensch Bruckner zwischen Komponieren, Lehren und um seine Anerkennung kämpfend? In den ersten Jahren besorgte seine unverheiratete Schwester Maria Anna den Haushalt des Junggesellen. Als sie schon 1870 starb, fand Bruckner eine Stütze in Katharina Kachelmaier, die ihn bis an sein Lebensende betreute, am Schluss pflegte und die in seinem Testament bedacht wurde.

WERK UND LEBEN

Sosehr Bruckner in seinen Symphonien um Ordnung in der Struktur bemüht war, so wenig kümmerte er sich in seiner Wohnung darum: Die ohnehin spärliche Einrichtung wurde von einem Flügel und einem Harmonium dominiert. Auf dem Flügel sollen, so bezeugen es Besucher,

Papierstöße mit Entwürfen und Partituren, aber auch Kleidungsstücke herumgelegen haben.

Gegessen hat der Komponist oft abends im Gasthaus, dann aber viel, deftig und mit Bier. Bruckner war dem Schnupftabak zugetan. Krümel davon waren auch auf den Tasten seines Flügels zu finden. Immer wieder zog es ihn mit Freunden in die Natur und nach Oberösterreich, neben St. Florian und Kremsmünster insbesondere zu seiner Schwester in Vöcklabruck.

DER LOHN DER ARBEIT

In sein letztes knappes Lebensjahrzehnt ging Bruckner ab 1887 als arrivierter Künstler. Auch wenn er sich viele seiner Symphonien noch einmal zur Verbesserung vornahm, ist es das Jahrzehnt seiner Neunten Symphonie, die für ihn zu einem Wettlauf mit der Zeit werden sollte. War er 1881 beim Theaterbrand dem Tod entgangen und konnte so den Lohn für seine Arbeit einfahren und weitere Kompositionen schaffen, so ging es jetzt darum, dem Tod sein letztes großes Werk abzutrotzen. Die Neunte ist mehr als Musik, sie ist Mystik zwischen Todesangst und Auferstehungshoffnung. HEINZ NIEDERLEITNER

Brand des Ringtheaters – zeitgenössisches Bild.

Anton Bruckner und die Totenuhr

Am Ende seines Lebens hat Bruckner erreicht, was er sich wünschte:

Bekanntheit als Symphoniker, materielle Absicherung, mehr Freiheit zum Komponieren. Doch für den großen Schlussakkord fehlt die Zeit. Der Rest ist – offenes – Schweigen.

„Alles deutet darauf hin, dass Bruckner Vorstellungen, die er in seiner geistlichen Musik, insbesondere in seinen Psalmvertonungen, entwickelte, später in die symphonische Konzeption des Finales der Neunten hineinprojizierte.“

Am 18. Dezember 1892 steht Anton Bruckner am Ausgang des Wiener Musikvereinsgebäudes mit 48 dampfenden Krapfen. Er wartet auf Hans Richter, den Dirigenten, der eben Bruckners Achte Symphonie zur erfolgreichen Erstaufführung gebracht hat. Gemeinsam mit ihm will er die Krapfen verzehren.

Die grandiose Uraufführung der Achten zeigt Bruckner auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Seine Symphonien sind in den Konzertsälen „angekommen“. 1891 ist der Ansfeldner Meister zum Ehrendoktor der Universität Wien promoviert worden. Der Kaiser, dem die Achte gewidmet ist, unterstützt Bruckner ebenso finanziell wie der Oberösterreichische Landtag sowie Freundeskreise in Oberösterreich und Wien. In diesen Jahren beendet er seine Unterrichtstätigkeit am Konservatorium (1891) und seinen Dienst bei der Hofkapelle (1892). Im November 1894 hält er eine letz-

te Vorlesung an der Universität Wien. All das lässt die Zeit als optimal für die Entstehung der Neunten Symphonie erscheinen. Aber dieser Freiraum kommt spät: Ab etwa 1890 lässt die Gesundheit des Oberösterreichers nach. Phasen schwerer Erkrankung wechseln sich ab 1892 mit guten Zeiten ab. Bruckners Hauptleiden ist Wassersucht (Ödeme) verbunden mit Herzinsuffizienz. Das alleine erklärt freilich nicht, warum es Bruckner zwischen September 1887 und seinem Tod am 11. Oktober 1896 nicht gelingt, seine letzte Symphonie voll instrumentiert zu beenden. Er unterzieht die Symphonien 1 bis 4 Überarbeitungen. Auch die 1887 vollendete Achte wird 1892 nicht in ihrer ersten Form, sondern in einer Zweitfassung (1890) uraufgeführt. Daneben komponiert Bruckner andere Musikstücke: das „Deutsche Lied“, „Helgoland“, den „150. Psalm“ und „Vexilla regis“. Es ist gemutmaßt worden, Bruckner habe sich –wie später Mahler – vor der Vollendung der Neunten Symphonie gefürchtet, da Beethoven nach seiner Neunten gestorben ist.

FINALE

Letztlich ist aber klar: Bruckner will seine Neunte Symphonie abschließen, insbesondere ab dem Zeitpunkt, da er merkt, dass

Im Auftrag von Bruckners Ärzten machte der Hobbyfotograf Fritz Ehrbar am 17. Juli 1896 diese beiden letzten Fotografien von Anton Bruckner im Belvedere (oben und links). Am kleineren Bild von links: Arzt Dr. Richard Heller, Kathi Kachelmaier, Anton Bruckner, sein Bruder Ignaz und Arzt Professor Leopold Schrötter. Verdeckt hinter Schrötter steht möglicherweise Kachelmaiers Tochter Ludovicka. Das Foto rechts unten zeigt das Gebäude heute. Der Eingangsvorbau wurde in der Zwischenzeit entfernt.

es sein letztes Werk wird. Am Ende seiner Vorlesungstätigkeit 1894 berichtet er seinen Studenten an der Universität, dass er drei der vier Sätze bereits vollendet habe – nur im dritten Satz sei noch etwas Arbeit übrig. Die Vollendung des Finales aber wird zu einem Wettlauf mit der Zeit.

DER LETZTE UMZUG

Die äußeren Daten sind bekannt: Anfang Dezember 1894 erkrankt Bruckner so schwer, dass ihm die Ärzte wenig Chancen einräumen, seine Arbeit fortsetzen zu können. Doch der Komponist rappelt sich wieder auf. Nachweislich am 24. Mai 1895 beginnt er mit der Komposition des Finales. Unterdessen wird klar, dass die Wohnung im vierten Stock der Wiener Heßgasse 7 für Bruckner nicht mehr passt. Über Erzherzogin Marie Valerie, der Tochter von Kaiser Franz Joseph I., wird ihm eine große, ebenerdige Wohnung im Kustodenstöckl des Schlosses Belvedere in Wien zugeteilt, die er im Juli 1895 mit seiner Wirtschafterin Katharina Kachelmaier bezieht. Die Parkanlagen direkt vor der Türe bieten ihm Frischluft ohne große Anstrengungen. Wieder wechseln sich bessere und schlechtere Phasen ab.

Noch bis in den Sommer 1896 arbeitet der Komponist am letzten Satz seiner letzten Symphonie. Daneben ist er kein einfacher Patient. Als ihm bedeutet wird, er könne vorsichtig wieder Fleisch essen, will er gleich Geselchtes mit Knödeln. Als ihm der Arzt sagt, so sei das nicht gemeint, erwidert der Oberösterreicher, wenn er kein Geselchtes bekomme, wolle er lieber gleich beim Kakao bleiben. Dass Frau Kathi streng mit Bruckner sein muss, trägt ihr die Bezeichnung „Hauskorporal“ ein. Es besteht aber keinerlei Zweifel darüber, dass die Dienste Kachelmaiers und der Ärzte Bruckner ein würdiges Ende ermöglichen. Denn insbesondere in der finalen Phase ab Sommer 1896, als eine Lungenentzündung

hinzukommt, gibt es Zeiten der Verwirrtheit. Die Geschichte, dass Anton Bruckner bis zum allerletzten Tag an der Vollendung seiner Neunten Symphonie gearbeitet hat, ist wenig realistisch.

Der 11. Oktober 1896 ist ein Sonntag. Noch zu Mittag schaut ein Arzt zur Visite bei Bruckner vorbei und findet ihn in keinem besorgniserregenden Zustand. Gegen drei Uhr nachmittags klagt Bruckner, ihm sei kalt, und verlangt Tee. Frau Kathi rät ihm, ins Bett zu gehen. Als sie den Tee bringt, kann Bruckner nur mehr davon nippen. Er legt sich auf seine linke Seite, tut zwei Atemzüge und stirbt. So beschreiben die Biografen Göllerich und Auer Bruckners Tod.

Was fehlt, ist ein letztes Wort – im direkten und im übertragenen Sinn. Dass der Mensch Anton Bruckner nicht mit einer tiefgründigen Bemerkung aus der Welt schied, fügt sich in sein Leben. Gesprochene Worte waren nicht sein Metier. Was Bruckner zu sagen hatte, hat er in seiner Musik gesagt. Doch auch hier fehlt das letzte Wort: Das Finale der Neunten Symphonie ist weit gediehen, aber nicht fertig. Dass der dritte Satz, das Adagio, das heute die meisten Aufführungen von Bruckners Neunter still und – nach verzweifelten und erschütternden Stellen – versöhnt beendet, wird nicht zu Unrecht als passend empfunden. Klar ist aber auch, dass das nicht jener Schluss ist, den Bruckner dem Werk zugedacht hat.

KONTRAKT MIT GOTT?

Es ist gut dokumentiert, dass er als Notlösung für den Fall, dass er das Finale nicht beenden würde, vorgesehen hat, an dessen Stelle sein „Te Deum“ aufzuführen. Es ist, wenn auch nicht unhinterfragt, belegt, dass Bruckner die Neunte „dem lieben Gott“ widmen wollte. Auch wenn das vielleicht nicht die ursprüngliche Absicht war, passt es doch zu der Geschichte, die einer der behandelnden Ärzte Bruckners

erzählte: Demnach hatte der Komponist die Vorstellung, mit Gott einen Kontrakt abgeschlossen zu haben. Wenn der Schöpfer wolle, dass die ihm gewidmete Symphonie fertig werde, müsse er Bruckner entsprechend lang leben lassen. Damit wird die Frage nach Bruckners Glauben eröffnet: Wann, wenn nicht im Angesicht der Ewigkeit, ist diese Frage aktuell? Es könnte sein, dass Bruckner nur „der religiösen Praxis seiner Zeit entsprechend“ religiös war, wie Elisabeth Theresia Hilscher in der Theologisch-praktischen Quartalsschrift argumentiert hat. Aber das bedeutet nicht, dass seine Symphonien ohne religiösen Hintergrund wären. Hat er im Adagio der Neunten das „Misere (Erbarme dich)“ aus seiner f-moll-Messe aus rein musikalischen Gründen zitiert? Hat es nur musikalische Gründe, dass auch die dMoll-Messe und das „Te Deum“ dort zitiert werden?

ANGST

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Der Feuilletonist Wolfgang Stähr schreibt: „Man muss nicht soweit gehen und aus jeder Zweiunddreißigstelnote, die Bruckner niedergeschrieben hat, ein Glaubensbekenntnis heraushören zu wollen, um dennoch klar zu erkennen, dass Bruckners Symphonik gar nicht anders verstanden werden kann denn als religiöse Musik.“

Zum Finale der Neunten hat der Bruckner-Kenner Constantin Floros geschrieben, dass es einen Verweis zum ersten Satz der Achten enthält: In der zweiten Fassung ist dort am Satzende die „Totenuhr“ zu hören, wie Bruckner einmal erklärte: „Dös is so, wie wenn einer im Sterben liegt und gegenüber hängt die Uhr, die, während sein Leben zu Ende geht, immer gleichmäßig fortschlägt.“ Der Tod ist Mysterium, eine Herausforderung auch für Nichtglaubende. Zu Recht heißt es, dass die Neunte Symphonie Momente der Todesangst enthält. Ist sie also Zeugnis der „Erschütterung weltanschaulicher Gewissheiten“, wie der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen schrieb?

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UND HOFFNUNG

Vielleicht ist die Neunte einfach nur radikal ehrlich: Auch die allergläubigsten Menschen kennen die Angst vor dem Tod. Die Nachwelt hält das Finale von Bruckners Neunter nicht vollständig in Händen (auch wenn weniger fehlt, als man denken würde). Es fehlt das letzte Wort. Aber indem Bruckner auf die Notlösung des „Te Deums“ verwiesen hat, benennt er seine Hoffnung: „In te, Domine, speravi – non confundar in aeternum.“ (Auf dich, Herr, habe ich gehofft – in Ewigkeit werde ich nicht untergehen.) HEINZ NIEDERLEITNER

„Liebste Freundin und Kunstgenossin“

Über Bruckners Leben ist im Vergleich zu anderen Zeitgenossen wenig bekannt, dafür gibt es viele Klischees. Mit seinem Buch „Mensch Bruckner!“ bricht Bibliothekar Friedrich Buchmayr die enge Welt um Anton Bruckner auf.

„Der Komponist und die Frauen“ lautet Ihr Untertitel. Wie kam es zu diesem Buch?

Friedrich Buchmayr: Als Leiter des Bruckner-Archivs St. Florian habe ich über die Jahrzehnte hinweg die Quellen und Publikationen zu Bruckner genau kennengelernt. Mir ist aufgefallen, dass über den Menschen, der hinter dem weltweit anerkannten Komponisten steht, sehr wenig gesichertes Wissen vorhanden ist, speziell über sein Verhältnis zu Frauen. Gleichzeitig gibt es eine Flut von Anekdoten, die den Blick verstellen.

Eine saubere Trennung in Fakten und Fiktion ist meist nicht mehr möglich. Deshalb wollte ich in meinem Buch 73 Zeitzeug:innen auftreten lassen und in einen Dialog über den Menschen Bruckner verwickeln, der zu einer Klärung beitragen soll. Die Anekdoten werden „vorgeführt“ (in jeder Bedeutung des Wortes), diskutiert, bestätigt oder widerlegt und die Leser:innen können sich dann ihre eigene Meinung bilden.

Was haben Sie selbst in der Beschäftigung mit Bruckner, seinem Leben und den Frauen in seinem Leben spannend gefunden?

Buchmayr: Die Bedeutung der Mutter Theresia, der Schwester Maria Anna und der resoluten Wiener Haushälterin Katharina

Kachelmaier für Bruckner ist allgemein bekannt. Überraschend war für mich der Einfluss von Frauen auf sein Werk. Viele Lieder und Klavierwerke wie „Erinnerung“ wären ohne die Frauen, denen sie gewidmet sind, nicht entstanden. Bruckner hat diese Kompositionen auch genau auf die Widmungsträgerinnen abgestimmt. Mit der Wiener Pianistin und Sängerin Marie Demar besprach er seine im Entstehen befindliche 8. Sinfonie. Er nannte sie „seine liebste Freundin und Kunstgenossin“ und besuchte mit ihr Wagner-Opern. Hier wäre durchaus noch Forschungsbedarf.

Ihr Buch ist viel mehr als nur ein Buch über Bruckners Frauen, es gewährt Einblicke in

Friedrich Buchmayr war bis Ende 2024 Archivar des Stiftes St. Florian.

1866 machte Bruckner Josephine Lang, Tochter eines Linzer Fleischhauers, einen Heiratsantrag.

das Leben in St. Florian und in Linz, in Wien. Welche Rückmeldungen haben Sie bislang erhalten?

Buchmayr: Fachleute schätzen einige unbekannte Quellen, die eingebaut sind. Ein Berliner Rezensent hat gelobt, dass man quasi nebenbei viel über die „kulturelle Grundierung Österreichs“ erfährt. Sehr viel Zustimmung erfuhr das originelle Format der Mehrstimmigkeit, die das Lesen zum Vergnügen macht. Eine Frau hat berichtet, dass sie das Buch in einer Nacht gelesen hat und zwei Tage später gleich noch einmal, so mitreißend fand sie es.

Wie sind Sie zu den Charakteren gekommen?

Buchmayr: Ich habe diese Personen über Bruckner-Biografien kennengelernt und mir dann ihre eigenen Aufsätze und Aussagen zusammengesucht. Als Nächstes habe ich diese Texte immer wieder gelesen und genau hingehört, bis die Leute als lebendige Figuren vor mir gestanden sind und sozusagen mit mir geredet haben. Der Ankerpunkt für meine literarischen Fantasien waren aber immer die Aussagen der Personen selbst.

Wenn nach der Lektüre Ihres Buches über Bruckner und die Frauen gesprochen wird, was soll sich verändert haben?

Buchmayr: Es wäre schön, wenn einige skurrile Anekdoten in der Versenkung verschwinden würden und wieder mehr über die interessanten Frauenbeziehungen gesprochen würde, wie mit der „Kunstgenossin“ Marie Demar oder mit seinen Klavierschülerinnen und Studentinnen am Konservatorium und an der Universität. Bruckner hatte sicher seine Eigentümlichkeiten im Umgang mit Frauen, aber da war und ist er nicht allein und das kann ja kein Freibrief für Respektlosigkeit sein. Vielleicht müssen wir uns auch von der liebgewordenen Aufspaltung Bruckners in den langweiligen Alltagsmenschen und den innovativen Komponisten verabschieden, vielleicht gibt es da viel mehr interessante Aspekte in seinem Leben als vermutet.

DIE FRAGEN STELLTE

ELISABETH LEITNER

Buchhinweis: Friedrich Buchmayr, Mensch Bruckner. Der Komponist und die Frauen. Verlag Müry Salzmann, 2019.

Schatten rund um Bruckner

Anton Bruckner wird heuer gefeiert. Wie bei jedem Menschen gab und gibt es auch schwierige Aspekte rund um ihn. Sich ihnen zu stellen, ist Teil einer redlichen Beschäftigung mit Künstler und Werk.

Anton Bruckner war ein Kind des 19. Jahrhunderts. Neben der sozialen war die nationale Frage eine bestimmende Thematik der zweiten Jahrhunderthälfte, gerade im Vielvölkerreich der Habsburgermonarchie. Während sich Ungarn, Tschechen und Südslawen emanzipierten, musste die deutschsprachige Bevölkerung Österreichs hinnehmen, dass sie nach der Niederlage bei Königgrätz (1866) von der Bildung des deutschen Kaiserreichs ausgeschlossen war. In dieser Situation wurde starker Deutschnationalismus salonfähig, nicht zuletzt im Kontext männlicher Geselligkeit.

DER „DEUTSCHE“ BRUCKNER

Bruckner hat für Männergesangsvereine Werke geschrieben. Ein Teil trägt, soweit es den Text betrifft, deutschnationalen Charakter. In der heutigen Aufführungspraxis ist davon nur noch die Kantate „Helgoland“ (1893) zu hören: Der frei erfundene Text von August Silberstein erzählt von einem durch göttliche Intervention vereitelten Angriff der Römer auf die Sachsen, die auf Helgoland leben. Das ist Unsinn, der vor dem Hintergrund der Seeschlacht bei Helgoland 1864 und der Übergabe der Insel von den Briten an das Deutsche Reich 1890 entstand. Rein musikalisch betrachtet ist das Werk heute noch spannend.

Kaum mehr gesungen wird heute dagegen der „Germanenzug“ (1863/64), ebenfalls nach einem Gedicht von Silberstein. Darin besingt der fromme Katholik Bruckner germanische Gottheiten. Martialisch heißt es: „Teutonias Söhne, mit freudigem Mut, / sie geben so gerne ihr Leben und Blut, / die Freiheit, die Heimat ja ewig bestehn, / die flüchtigen Güter, sie mögen vergehn!“ Besonders befremdlich ist heute das „Volkslied“ (1882): In ihm wird der „deutsche Stamm“ in Österreich besungen, der „auf die Ostmark einst gestellt“ wurde, um aus „deutschen Leibern einen Wall“ zu bauen und dem „Feind den Weg zu weisen“; der Feind schleiche sich nun herbei, um zur „schimpflichsten der Taten“ zu verführen: „Das Deutschtum, unsres Wesens Kern, / das sollen wir verraten.“ Jedoch: „Das Blut, das unsere Scholle düngt, / ist nicht umsonst geflossen.“ Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg muss einem dieser Text von Josef Winter die Kehle zuschnüren. Und wie war das vor 1945? Anton Bruckner wurde von den Nationalsozialisten stark vereinnahmt. Es ist kein Zufall, dass diese im enteigneten Stift St. Florian ein Brucknerzentrum geplant hatten. 1937 wurde unter Anwesenheit von Hitler und Goebbels eine Brucknerbüste in der Gedenkstätte Walhalla bei Regensburg aufgestellt.

Und das Adagio aus Bruckners Siebter Symphonie folgte 1945 im Radio auf die verlogene Meldung von Hitlers Tod. Der oben beschriebenen Männerchöre konnten sich die Nazis aber nicht so einfach bedienen. Die Textdichter Silberstein und Winter waren, obwohl beide getaufte Protestanten, nach den Maßstäben der Nazis Juden, Winters Frau Josefine starb 1943 im Ghetto Theresienstadt. Silberstein und Winter mögen sich zu Lebzeiten noch so sehr als Deutsche in Österreich empfunden haben: Ihre Texte waren für die NS-„Rasseantisemiten“ tabu, ein neuer Text eines „arischen“ Dichters zum „Germanenzug“ setzte sich nicht durch.

ANTISEMITISMUS IM 19. JAHRHUNDERT

Bei jeder Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ist die Frage von Belang, wie sie auf die antisemitischen Zeitströmungen reagiert hat. Bruckners Idol Richard Wagner war ebenso Antisemit wie sein autorisierter Biograf August Göllerich. Doch gerade da werden die Angaben widersprüch-

Fatale Verehrung: Am 6. Juni 1937 wurde unter Anwesenheit Hitlers diese Büste Bruckners von Adolf Rothenburger in der Walhalla bei Regensburg aufgestellt.

lich. In der Biografie von Göllerich und Max Auer wird behauptet, Bruckner habe eine Abneigung gegen Juden aus religiösen Gründen gehabt. Einen jüdischen Schüler seiner Harmonieklasse soll er gefragt haben: „Liabs Kinderl, glaubst du denn wirkli, dass der Messias noch nicht auf der Erde war?“ Ebenfalls laut Göllerich/Auer vermied Bruckner das Wort „Jude“ und sprach von „den Herren Israeliten“, was der Musikwissenschaftler Constantin Floros aber als Zeichen von Bruckners religiöser Toleranz deutet. Göllerich und Auer behaupten jedoch, an Gustav Mahler habe Bruckner „der Jude“ gestört. Doch verwunderlich: An anderer Stelle in derselben Biografie wird berichtet, Bruckner habe Mahler sehr geschätzt.

Der Komponist und Pianist Robert Fischhof war Schüler Bruckners. In seinen Lebenserinnerungen erzählt er, er habe Bruckner darauf angesprochen, ob er Antisemit sei. Bruckner habe geantwortet, er sei frommer Katholik und der Heiland habe verkündet, man solle den Nächsten lieben wie

sich selbst. Er stellte Fischhof nach dessen Bericht eine schriftliche Bestätigung aus: „Ich, Anton Bruckner, erkläre ohne Rücksicht, dass ich niemals Antisemit war und niemals Antisemit sein werde.“ Fischhof gibt an, zum Zeitpunkt der Abfassung seines Buches „Begegnungen auf meinem Lebensweg“ (1916) das Dokument noch besessen zu haben.

Dazu kommt, dass der langjährige ehrenamtliche Privatsekretär und Schüler Bruckners Friedrich Eckstein Jude war. Bruckner hatte jüdische Schüler. Mit Studenten setzte er die Anmietung eines Harmoniums vom jüdischen Klavierhändler Bernhard Kohn durch, welche die Direktion des Konservatoriums zunächst verweigert hatte. Zudem schreiben Göllerich und Auer in antisemitischer Manier, dass Bruckner die Idee gehabt habe, „eine typisch polnische Jüdin“ (Orginalzitat) zu heiraten. Sie müssen aber nur eine Seite weiter einräumen, dass der Komponist einem Musikkritiker gegenüber dagegen protestiert habe, als Antisemit hingestellt zu werden. Insgesamt zeigt sich, dass es in Bruckners Umfeld Antisemitismus gab, er selbst aber weitgehend immun dagegen gewesen zu sein scheint.

DIE AFFÄRE ST. ANNA

Ein weiterer schwieriger Punkt ist die „Affäre St. Anna“, die Brucknerbiografin Elisabeth Maier erforscht hat: Bruckner unterrichtete einige Jahre Orgelspiel an der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt St. Anna in Wien. Als er im Herbst 1871 aus London, wo er mit Erfolg als Organist aufgetreten war, zurückkehrte, wurde er mit der Nachricht konfrontiert, dass er sich an der Bildungsanstalt einer Disziplinaruntersuchung stellen müsse und er fürs Erste auch nicht unterrichten dürfe. Was genau geschehen ist, darüber gehen die Angaben auseinander. Laut einer Version habe er eine Schülerin „lieber Schatz“ genannt, was die nebensitzende Kollegin eifersüch-

tig gemacht habe, weswegen es zur Anzeige gekommen sei. Bruckner-Biograf Max Auer verstieg sich dazu, die angeblich eifersüchtige junge Dame sei eine „‚feinere‘ Kandidatin aus jüdischer Familie“ gewesen – was sich jedoch als unbelegte antisemitische Ausfälligkeit Auers herausgestellt hat.

MEDIENWIRBEL

Bruckner selbst schreibt in einem Brief, es werde behauptet, er habe eine Schülerin im Zorn „Urschl“ genannt, andere aber bevorzugt. Es schwingt auch mit, Bruckner habe 15- bis 19-jährigen Schülerinnen „den Hof“ gemacht. Bruckner, der zeitlebens jungen Frauen Heiratsanträge machte, betonte in mehreren Briefen diesbezüglich jedenfalls sein reines Gewissen. Schulintern war die Sache bald erledigt. Bruckner lehrte weiter, wollte aber künftig nur männliche angehende Lehrer unterrichten. Die Sache hätte also glimpflich ausgehen können, hätten nicht Zeitungen davon Wind bekommen. Deren „Skandal“ hatte teilweise eine andere Richtung: Demnach wäre im „Nationalitätenkampf“ der Donaumonarchie der „deutsche“ Professor Bruckner in Gefahr gewesen, infolge einer Intrige durch einen „tschechischen“ Musiker ersetzt zu werden. Und als ob das nicht schon gereicht hätte, veröffentlichte eine „Die Bombe“ benannte Wochenzeitung einen satirischen Text: Darin berichtet eine fiktive, der Theaterhalbwelt entstammende Dame ihrer Freundin von der Affäre und würzt die Erzählung mit doppeldeutigen Anspielungen. All das griff Bruckners schwaches Nervensystem an.

Letztlich hinterlässt die Episode mehr Fragen als Antworten, soweit es die faktische Grundlage betrifft. Auf atmosphärischer Ebene gibt sie Einblick, wie ein weitgehend unpolitischer Mann in den Nationalitätenstreit verwickelt wurde und wie er sich in gesellschaftlichen Fragen mitunter selbst im Wege stand. HEINZ NIEDERLEITNER

Markus Poschners Bruckner-Aufnahmen wurden im Jänner mit dem „ICMA Special Achievement Award“ ausgezeichnet.

„Bruckner wird nie langweilig“

Zu Anton Bruckners 200. Geburtstag hat Markus Poschner, Chefdirigent des Bruckner Orchesters Linz, seine Einspielung sämtlicher Fassungen aller Bruckner-Symphonien vorgelegt. Ein Gespräch über Fassungsunterschiede, die Aufgabe des Dirigenten und Menschheitsfragen in der Sprache der Musik.

Wie wichtig ist es, sich bewusst zu machen, welche Fassung einer Bruckner-Symphonie man hört?

Markus Poschner: In den frühen Fassungen sehen wir ein völlig anderes Bild von Anton Bruckner als in den späteren. Bruck-

ner schreibt hier kompromisslos, avantgardistisch, unmittelbar und von höchster Dringlichkeit. Das ist sehr wichtig zu wissen, um das Jahrhundertgenie Anton Bruckner als Ganzes zu verstehen. Unsere Mission war es daher auch, unser Pub-

likum mit diesen Fassungen zu konfrontieren und diese den anderen Versionen gegenüberzustellen.

Vergleicht man die Urfassung der vierten Symphonie (1874) mit der heute populären 1878/80er-Fassung, dann sehen wir zwei völlig unterschiedliche Werke. Was bewegt Bruckner, was treibt ihn an? Wie kommt es, dass er diese revolutionären und einzigartigen Gedanken, die quer zum damaligen Massengeschmack standen, aufs Papier bringt – und davon auch trotz aller Misserfolge nicht ablässt? Er ist seinem Vorhaben unbeirrbar bis in seine letzte Symphonie hinein gefolgt, in der er dann, völlig von Hörerwartungen befreit, seiner ultimativen Vision zum Durchbruch verholfen hat.

Die verschiedenen Fassungen der Symphonien entstanden aus verschiedenen Gründen – von der Weiterentwicklung als Komponist bis zur Reaktion auf Misserfolge. Lässt sich das im Detail rekonstruieren?

Poschner: Die Motive sind im Einzelnen schwer auseinanderzuhalten, denn wir können ja nicht in den Kopf des Komponisten hineinschauen. Mit Überarbeitungen begonnen hat Bruckner jedenfalls schon vor den großen Misserfolgserlebnissen. Später hat er auch aus Frustration heraus Symphonien verändert – verändern müssen. In wieder anderen Fällen hat er sich viele Jahre nach der erstmaligen Komposition erneut mit der Partitur auseinandergesetzt, weil sich sein Können verändert hat: Seine erste Symphonie beispielsweise überarbeitete er nochmals mehr als 20 Jahre nach der Erstaufführung.

Die neue Ausgabe seiner Werke macht jetzt auch im Druck Bruckners einzigartiges Periodisieren seiner Werke sichtbar, die Einteilung der Takte in der Partitur nach bestimmten Zahlenverhältnissen. Früher hat man das weggelassen, weil man dachte, es täte zunächst für die Aufführung nichts

zur Sache. Aber für das Verständnis dessen, was da passiert, sind diese Einteilungen eminent wichtig. Man erkennt Symmetrien oder gerade die Asymmetrien, die Bruckner sehr bewusst einsetzt.

Nehmen wir ein Beispiel her: Die erste Fassung der vierten Symphonie (1874) hat ein völlig anderes Scherzo und ein anderes Finale als die zweite Fassung (1878/80). Dazwischen entstand das Volksfestfinale (1878). 1887/89 kommt die dritte Fassung hinzu. Wenn Sie wählen müssen, welche Fassung spielen Sie?

Poschner: Die Antwort ist ein ganz Entschiedenes „Es kommt darauf an“. (lacht) Auf die unglaublich komplexen, avantgardistischen Einsprengsel im ersten und letzten Satz der Urfassung will ich auf gar keinen Fall verzichten. Auch das von Ihnen angesprochene erste Scherzo ist zauberhaft.

Dennoch hat Bruckner, noch bevor es die übliche Ablehnung gab, das neue Scherzo komponiert. Interessant ist auch die neue Sicht auf die vom Musikwissenschaftler Robert Haas (1886–1960) so bekämpften Eingriffe von Zuarbeitern Bruckners wie den Schalk-Brüdern oder Ferdinand Löwe. Heute wissen wir, dass vieles davon sehr wohl von Bruckner für die Druckfassung autorisiert war.

Was nun die vierte Symphonie betrifft: Ich persönlich finde, dass die 1878/80er-Fassung perfekt in der Balance ist. Die dritte Fassung hat diesen großen Strich im letzten Satz, wo die Reprise nicht mit dem Hauptthema beginnt, sondern gleich mit dem zweiten Thema. Das plötzliche Erscheinen dieses Hauptthemas im Fortissimo halte ich aber für die ganz große Stärke. Wenn es um die Aufführung geht, kommt es auch darauf an, mit welcher Motivation wir für welches Publikum spielen. Bei manchen Gelegenheiten kann die unbekannte Urfassung die bessere Wahl sein.

Warum wird bei der achten Symphonie bis heute auch die sogenannte Haas-Fassung gespielt, die lange nach Bruckners Tod entstand?

Poschner: Die Achte ist für mich der aufregendste und verrückteste Fall: Die einzige wirklich authentische Version ist die erste Fassung von 1887. Sie wird heute fast nie gespielt. Die 1890er-Fassung ist die Überarbeitung nach massiver Kritik u. a. des Dirigenten Hermann Levi, die hat Bruckner selbst aber nie gehört. Die einzige Version, die Bruckner je gehört hat, ist die Druckfassung von 1892, die aber wiederum nicht authentisch ist, weil da die Schalk-Brüder und wahrscheinlich auch Ferdinand Löwe viel hineingebastelt haben, ohne dass Bruckner dies je abgesegnet hätte. Und jene Version, die heute in Musikerkreisen als die schönste gilt, die Fassung von Robert Haas, hat Bruckner weder gehört noch so komponiert noch je autorisiert. Die Achte steht somit geradezu exemplarisch für sämtliche Probleme, die Bruckner-Symphonien mit sich gebracht haben.

Das Finale der Neunten konnte Bruckner nicht zu Ende komponieren. Heute gibt es Aufführungsfassungen aus dem überlieferten Material. Die einen sagen, das soll man nicht spielen, weil das so nicht von Bruckner ist. Andere sagen: Da ist mehr Bruckner drin als Mozart im Mozart-Requiem. Das ist wohl eine Glaubensfrage?

Poschner: Ja, absolut. Das Problem beginnt damit, dass Bruckners Arbeitszimmer, das damals voll von Skizzen zur Neunten war, nach seinem Tod nicht versiegelt wurde und kondolierende Besucher „Erinnerungsstücke“ in Form von Notenblättern mitgenommen haben. Teilweise sind sie später wieder aufgetaucht. Letztlich hat man zu wenig Material, um den Satz nach Bruckners Plan vollenden zu können. Sein – leider nur mündlich überlieferter – Wille war, statt des unvollendeten Finales das

Te Deum zu spielen. Ich selbst kann der Aufführung ohne Finale viel abgewinnen, denn mit den Hörnern und den Wagnertuben am Ende des langsamen Satzes entschwindet die Musik am Schluss sozusagen nach oben. Letztlich muss jeder Interpret und auch jeder Hörer für sich beantworten, was für ihn stimmig ist.

Sie haben Ihre Aufnahmen aller BrucknerSymphonien mit zwei Orchestern durchgeführt: dem Bruckner Orchester Linz und dem Radio-Symphonieorchester Wien. Wie ähnlich oder wie verschieden sind diese Orchester?

Poschner: Natürlich hat jedes Orchester seine eigene Individualität im Klang. Das ist vielleicht der wesentlichste Unterschied, der vor allen Dingen mit den Musikerpersönlichkeiten zu tun hat, aber auch mit dem Raum. Wenn es bei Bruckner aber darum geht, den volksmusikalischen Lokalkolorit und die Verwurzelung in der Wiener Klassik zu zeigen, sprechen beide Orchester absolut denselben österreichischen Dialekt. Beide sind zwar multinationale Ensembles – allein im Bruckner Orchester haben wir 25 verschiedene Nationalitäten. Aber die Musikerinnen und Musiker sind hier größtenteils sozialisiert worden, haben meist in Österreich studiert und kennen den Klang und die Art und Weise des Spielens. Das ist der entscheidende Punkt. Im Übrigen habe ich es als großes Geschenk empfunden, die Ensembles nicht bis zur Deckungsgleichheit engführen zu müssen, sondern jedem seinen Charakter lassen zu können. Das ist für mich als Dirigent ohnehin das oberste Gebot: Ich muss versuchen, ein Orchester immer zu sich selbst zu führen, also zu helfen, dass die Musiker das sein dürfen, was sie sind, und das tun, was sie am besten können.

Der Charakter eines Ensembles ist aber nichts Statisches. Sie sind seit 2017 Chefdirigent des

Im Linzer Redoutensaal fand am 9. Mai 1868 die Uraufführung von Bruckners erster Symphonie statt. Im Jubiläumsjahr 2024 führte sie das Bruckner Orchester Linz unter Markus Poschner am selben Ort erneut auf.

Bruckner Orchesters. Inwieweit sind Sie an der Entwicklung des Orchesters beteiligt?

Poschner: Genauso wie man einen Busfahrer nicht nach der Aussicht fragen sollte, müssten diese Frage eigentlich andere beantworten.

Aber Sie werden mit einer Idee nach Linz gekommen sein.

Poschner: Natürlich, aber die Idee ist eben, dass man nicht einfach etwas von außen mitbringt, das man obendrauf stülpt, sondern erkennt, was da ist. In Bezug auf Bruckner, den das Orchester ja im Namen führt, ist eine große Tradition vorhanden, weil das Repertoire seit Jahrzehnten in jeder Saison gespielt wird. Was den Notentext betrifft, ist da eine unglaublich hohe Kompetenz und Expertise. Eine Dirigentin oder ein Dirigent muss diese Werke in Linz nicht proben, sondern man steigt auf einem ganz anderen Niveau ein und kommt sofort zu den Feinheiten. Es zeich-

net das Bruckner Orchester aus, dass es mit großer Freiheit, Lebendigkeit und auch Flexibilität mit diesen musikalischen Texten umgeht, weil man sie hier einfach bis in die Haarspitzen beherrscht. Dessen muss man sich aber auch selbst bewusst werden. Denn gleichzeitig stehen wir auf einem nahezu unübersichtlichen Markt an Bruckner-Interpretationen, auf dem wir erkennbar sein und uns behaupten müssen. Wir müssen diese Musik immer neu erleben und neu denken. Es ist keine Option, eine Bruckner-Interpretation für die Ewigkeit „einzutüten“. Gerade bei Bruckner geht das nicht, weil wir bei ihm sowohl das Expansive, das Choralhafte, das Spirituelle, aber auch das unglaublich Irdische finden: In jeder Symphonie spielt die Polka eine Rolle, ein Ländler oder ein schneller Walzer. Bruckner hat mit Polaritäten gearbeitet, mit Extrempositionen. Jede Symphonie ist wie ein Individuum, das immer neu verstanden werden muss, obwohl er stets eine

sehr ähnliche Schablone als SymphonieBauplan benutzt hat. Und dafür braucht es Ensembles wie das Bruckner Orchester oder auch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, denen diese Werke längst in Fleisch und Blut übergegangen sind. Dann kann man sie als das sehen, was sie sind: große Weltbeschreibungsformeln.

Sie haben eben vom schnellen Walzer gesprochen. Mir ist aufgefallen, dass Sie Bruckners frühe Symphonien teilweise sehr schnell spielen. Was ist der Grund dafür?

Poschner: Die frühen Symphonien sind echte Sturm-und-Drang-Werke. Da steht in den Scherzi nicht nur „bewegt“, sondern „sehr schnell“. Aber was heißt das schon? Bruckner ist mit Tempoangaben sparsam, also muss man sich selbst seinen Reim darauf machen und einen Blick auf die unmittelbaren Vorbilder werfen. Das ist in erster Linie Richard Wagner, aber auch Hector

Berlioz, den Bruckner in Wien unbedingt kennenlernen wollte. Berlioz war gerade in seinen rhythmischen Experimenten und in der Orchestersprache extrem. Seine Einflüsse kann ich in Bruckners frühen Symphonien regelrecht nachweisen – nicht nur in der Dritten, aber da besonders im letzten Satz. Wenn man in die Rezeptionsgeschichte von Bruckner-Symphonien blickt, heißt es oft: Das ist viel zu schwer zu spielen, also spielen wir es lieber langsam. Diesen Reflex kennen wir auch bei Beethoven, denken Sie an den letzten Satz seiner 8. Symphonie. Ich glaube, das ist ein viel zu einfacher Weg. Natürlich geht es nicht darum, metronomisch genau zu sein, es geht ja niemals um Buchstabentreue. Ich werde damit keine bessere Aufführung haben, aber ich muss das, was der Komponist schreibt, unbedingt als die erste Inspirationsquelle nehmen, ich muss irgendwie in seinen Kopf kommen.

Richard Wagner und Anton Bruckner auf einem der berühmten Scherenschnitte Otto Böhlers.

Über Richard Wagners Einfluss auf Bruckner wird oft geschrieben und gesprochen. Der Oberösterreicher hat Wagners Werke in den Symphonien zitiert. Aber ich höre keinen Wagner, wenn ich Bruckner höre. Können Sie mir das erklären?

Poschner: Ja, das ist absolut richtig, denn da besteht ein altes Missverständnis. Zwar gibt es ohne Wagner keinen Bruckner. Wagner war ihm eine entscheidende Inspirationsquelle, aber nur neben ganz vielen anderen, die auch wichtig waren: Beethoven, Mozart, Haydn, Renaissancekomponisten, französische und italienische Musik sogar bis Rossini. Was Bruckner nie war, ist der Symphonien schreibende Epigone Wagners, den aber so viele so gern gehabt hätten. Auch die vielen Zitate ändern nichts daran, dass Bruckner eigenständige Musik geschaffen hat. Und Bruckner überwindet Wagner sogar in der neunten Symphonie, weil er harmonisch noch einen Schritt weiter geht.

Niemand kam so nahe an die Zwölftonmusik heran, an die Idee serieller Musik, an Schichten, an das Prozesshafte, als seinerzeit Anton Bruckner, und das haben Anton Webern, Alban Berg und Arnold Schönberg schon bemerkt. György Ligeti oder Olivier Messiaen wären ohne Bruckner nicht denkbar. Aber auch hier zeigt sich seine Polarität: Einerseits steht er stark in der Tradition, andererseits steht er auch für die Avantgarde – auch in philosophischer und ästhetischer Hinsicht. Er definiert sich nicht wie Beethoven über den Kampf, den dieser für die Ideale der Französischen Revolution ausgetragen hat.

Bei Bruckner tritt das Ritual an die Stelle des Kampfes, eine fast schon überpersönliche Draufsicht auf Kunst. Die Verbindung zwischen Beethoven und Bruckner ist Schubert. In Bezug auf Wagner heißt das: Bruckner hat sich von ihm inspirieren lassen, aber wusste genau, was er von ihm bekommt und was nicht.

Wenn man nach Symphonikern des 20. Jahrhunderts sucht, die von Bruckner inspiriert waren, muss man sicher Gustav Mahler nennen, der ja Hörer in Bruckners Vorlesung war. Aber wie würden Sie das bei Dmitri Schostakowitsch einschätzen?

Poschner: Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube, kein Symphoniker nach Bruckner kommt um ihn herum. Eine gewisse Affinität könnte man darin sehen, wie Schostakowitsch die Blechbläser einsetzt – das Choralhafte. Andererseits birgt seine Musik wieder sehr stark politischen Kampf – und zwar auf eine sehr persönliche Art. Denken Sie daran, wie Schostakowitsch die existenzielle Bedrohung durch Stalin thematisiert und seine eigenen Initialen D-S-C-H mit den Noten d, es, c und h in die Musik hineinkomponiert. Bei Mahler hat Bruckner seine Spuren hinterlassen. Wen man aber unbedingt nennen muss, wenn es um durch Bruckner inspirierte Komponisten geht, ist Jean Sibelius. Bei ihm finden wir auch diese sakrale Aura, das Weltensprengende und auch diese tiefe Spiritualität.

Ihnen ist eine Gesamteinspielung der Bruckner-Symphonien in allen ihren Fassungen gelungen. Einen ähnlichen, aber nicht abgeschlossenen Versuch gab es in den 1980erJahren durch Gennadi Roschdestwenski mit dem damaligen Orchester des Kulturministeriums der UdSSR. Ich fand das überraschend, dass da jemand in der Sowjetunion sitzt und sich in dieser Intensität mit Bruckner auseinandersetzt.

Poschner: Das passt zu Roschdestwenski, der ja selbst komponiert hat und ein sehr analytischer Mensch war – wie viele Dirigenten aus der russischen Schule damals, etwa Jewgeni Mrawinski oder Jewgeni Swetlanow, den ich noch live erlebt habe. Heute würde man vielleicht sagen, das waren unterkühlt denkende Dirigenten, die aber die Architektur eines Werkes und seine Wirkung genau kannten. Die hatten ein

unglaublich gutes theatralisches Gespür im Umgang mit Steigerungen. Obwohl Bruckner keine Opern geschrieben hat, hatte auch er ein solches Gespür und das perfekte Timing.

Sie haben im Jubiläumsjahr sehr viel Bruckner gespielt. Braucht man da auch BrucknerPausen?

Poschner: Ich brauche keine BrucknerPausen. Aber hin und wieder Dirigierpausen! Das hat nichts mit Bruckner zu tun, sondern damit, dass alles Kraft kostet, was man mit Leidenschaft und Herzblut tut. Bruckner aber wird nie langweilig oder uninteressant. Kunstwerke wie seine Symphonien haben so viel mit unserem Leben und mit unserem Herzen zu tun, dass

ELF SYMPHONIEN IN 18 FASSUNGEN

Dass Anton Bruckner elf Symphonien geschrieben hat, ist wahr, unterschlägt aber, dass es teilweise sehr unterschiedliche Fassungen dieser Werke gibt. Mit dem Bruckner Orchester Linz (BOL) und dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien (RSOW) hat Dirigent Markus Poschner alle in der „Neuen Anton Bruckner Gesamtausgabe“ der Nationalbibliothek herausgegebenen Fassungen eingespielt – elf Symphonien in 18 Fassungen. Bis 2024 wurden alle CDs veröffentlicht, einzeln (unter dem Label Capriccio), aber auch als Gesamt-Box (bei Naxos).

wir nie davon ablassen können. Vielleicht sind wir manchmal nicht in der Stimmung oder abgelenkt. Aber Bruckners Musik ist nichts, was man alle paar Jahre mal wieder aus dem Regal holt. Die Musik solch großer Komponisten ist Teil unseres Menschseins geworden. Ihr Genie liegt darin, dass sie die großen Menschheitsfragen und Dinge des Lebens verdichten und in der Sprache der Musik aussprechen konnten. An diesen ewigen Fragen kommt niemand vorbei. Sie sind ein Geheimnis, das wir begrifflich nicht begreifen können, sondern das uns ergreift. Erst wenn wir ergriffen werden, verstehen wir, fangen wir an zu leben. Und dafür brauchen wir die Musik.

DIE FRAGEN STELLTE

HEINZ NIEDERLEITNER

In der Stiftsbasilika St. Florian hat Anton Bruckner seine letzte Ruhestätte gefunden.

Anton Bruckner findet seinen Stil

Bis zu seinem 44. Lebensjahr war Bruckner vor allem in der Kirchenmusik beheimatet. An seinen komponierten Messen lässt sich die musikalische Entwicklung des gebürtigen Ansfeldners ablesen.

Anton Bruckner hat sich vor allem als Schöpfer von Symphonien verstanden. Insofern ist es richtig, wenn die Rede vom „Musikanten Gottes“ relativiert wird. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass Bruckner als Kirchenmusiker angefangen hat. Insofern ist es kein Wunder, dass sein Œuvre viele geistliche Werke enthält, darunter seine Messen. Mit „Messe“ ist die Vertonung von Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei gemeint. Dazuzählen kann man auch die spezielle Form des Requiems (Messe für Verstorbene). Spricht man von Bruckners Messen, ist meist von den drei großen Messen in d-, eund f-Moll die Rede. Das Bruckner-Werkverzeichnis kennt aber neben dem Requiem acht Messen bzw. Messfragmente.

FRÜHWERKE

Bruckners ganz frühe Messen sind Werke des damaligen Lehrers bzw. Lehrergehilfen, der auch für die Kirchenmusik verantwortlich war. Da war er nicht allein, auch sein Cousin und Lehrerkollege Johann Baptist Weiß schrieb Messen und Requien. Bruckners Frühwerke lassen wenig bis gar nichts vom späteren Bruckner-Stil erkennen, sondern orientieren sich unter anderem an Vorbildern aus der Zeit der Wiener

Klassik, zum Beispiel an Mozart und an Joseph Haydn.

WINDHAAG BEI FREISTADT

Das bekannteste Frühwerk ist die Windhaager Messe, die um 1842 in Windhaag bei Freistadt entstand. Die liturgischen Texte sind gekürzt: weder Jesus Christus noch der Heilige Geist kommen im Credo direkt vor. Ein Mitvollzug der Liturgie wurde einst von den Messbesucher:innen nicht erwartet: Für die Gültigkeit war lediglich erforderlich, dass der Priester den vollständigen Text betete.

Die Windhaager Messe baut auf Bruckners Unterricht bei seinem Cousin Johann Baptist Weiß und später an der Lehrerbildungsanstalt bei Johann August Dürrnberger auf.

KRONSTORF

Die nächste Station auf Bruckners Weg war Kronstorf, sein damaliger musikalischer Lehrer war der in Enns lebende Leopold von Zenetti. Zu den Werken dieser Zeit gehört die Kronstorfer Messe (1844). Sie hat kein Gloria, was darauf hindeutet, dass sie für die Fastenzeit komponiert wurde. Das Credo ist zwar geplant, aber nicht ausgeführt. Ebenfalls unfertig geblieben ist die „Messe für den Gründonnerstag in F-Dur“

(Choralmesse „Christus factus est“), in der das Sanctus der Kronstorfer Messe leicht verändert wiederverwendet wird. Nur eine Skizze haben wir von der „Missa pro Quadragesima“. Unklar ist hier, ob sie noch in Kronstorf oder schon in St. Florian entstand.

ST. FLORIAN

Das Requiem von 1849 ist eindeutig in St. Florian angesiedelt, wo Bruckner bei Stiftsorganist Anton Kattinger lernte. Anlass für das Werk war das Ableben des Gerichtsbeamten Franz Sailer. Dieser förderte Bruck-

ners Entwicklung noch über den Tod hinaus: Er vermachte ihm sein Klavier, ein Instrument, das sich Bruckner damals nicht hätte leisten können. Es begleitete ihn sein Leben lang, alle großen Werke sind auf diesem Instrument entstanden. Das Requiem erklang zu Sailers erstem Todestag 1849 in St. Florian. Dass es noch im selben Jahr auch in Kremsmünster zu hören war, zeugt von Bruckners beginnender Bekanntheit.

Den krönenden Abschluss von Bruckners frühen Messkompositionen bildet die „Missa solemnis“. Erstmals wurde sie bei

Das Manuskript der Messe in e-Moll, die Bruckner dem Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier widmete.

einem Festgottesdienst 1854 im Stift St. Florian gespielt. „In Bruckners ‚Missa solemnis in B‘ sind all jene Stilkriterien zu finden, die zusammenfassend seine künstlerische Entwicklung, beginnend von seiner Zeit als Hilfslehrer bis zu seiner Berufung als Domorganist zu Linz, dokumentieren“, schreibt Bruckners fünfter Nachfolger als Linzer Domorganist, Wolfgang Kreuzhuber. Er hat den „notwendigen künstlerischen Entwicklungsprozess“ der frühen Schaffensperiode analysiert.

LINZ

Der Wechsel nach Linz sowie die weitere Ausbildung bei Simon Sechter und Otto Kitzler führten zu einer Zäsur in Bruckners Arbeit: Jetzt folgten die „großen“ Messen in d-, e- und f-Moll. Mit der Messe in d-Moll setzte Bruckner selbst den Beginn seiner Tätigkeit als fertig ausgebildeter Komponist an.

BRUCKNER WIRD BEKANNT

Diese Messe in d-Moll wurde 1864 im damaligen Linzer Dom (heute Ignatiuskirche) erstmals im Gottesdienst gespielt. Sie wurde kurz darauf im Redoutensaal außerhalb der Liturgie wiederholt. Mit diesem Werk machte Bruckner in Wien auf sich aufmerksam.

Die Messe in e-Moll komponierte Bruckner für die Einweihung der Votivkapelle des neuen Linzer Domes 1869. Das Werk ist dem Linzer Bischof Franz Joseph Rudigier gewidmet. Bruckner hatte es bereits 1866 abgeschlossen, doch der Weihetermin verzögerte sich. So kam es, dass der bereits in Wien lebende Komponist nach Linz zurückfuhr, um zu dirigieren. Die Messe in f-Moll ist noch mehr ein Werk des Ortswechsels: 1867/68 in Linz komponiert, erklang sie erstmals 1872 in Wien. Mit ihr schloss Bruckner seine Messen ab, ein geplantes weiteres Requiem kam nicht mehr zustande.

Als Komponist, der sich nach eigenen Worten „von der Kette [der strengen Ausbildung, Anm.] losgerissen“ hatte, musste sich Bruckner bei den großen Messen die Frage stellen, wie er es mit dem Cäcilianismus halten wollte. So wird eine Restaurationsbewegung bezeichnet, die einen puristischen, entweltlichten Stil in der Kirchenmusik einmahnte, dessen Vorbilder der Gregorianische Choral und Giovanni Pierluigi da Palestrina waren: Stark vergröbert ging es um vielstimmigen Gesang mit vorzugsweise sparsamer oder keiner instrumentalen Begleitung.

KEIN CÄCILIANER

Bruckner ist jedenfalls kein Cäcilianer geworden, auch wenn er gelegentlich Anleihen nahm. Nicht allein, dass zwei der letzten drei Messen auf großen Orchestereinsatz bauen, hat er mit Blick auf den liturgischen Text in der Musik dramatische Betonungen des Inhalts vorgenommen. Als Komponist von Messen kam Bruckner den Cäcilianern am ehesten mit jener in e-Moll entgegen. Sie ist für achtstimmigen Chor und nur 15 Bläser geschrieben. Gemeinhin wurde diese Besetzung mit der Aufführung unter freiem Himmel begründet, allerdings wird auch mit einer künstlerischen Entscheidung argumentiert. Jedenfalls gelang es Bruckner, alte und neue kompositorische Zugänge zusammenzubringen. Bruckner trat den Beweis an, dass er zwar entsprechend den cäcilianischen Vorstellungen komponieren kann, aber einen eigenständigen Weg gehen will, ja sogar muss, wie er selbst sagte: „Die wollen, dass ich anders schreibe. Ich könnt’s ja auch, aber ich darf nicht. Unter Tausenden hat mich Gott begnadigt und dies Talent mir, gerade mir gegeben. Ihm muss ich einmal Rechenschaft ablegen. Wie stünde ich dann vor meinem Herrgott da, wenn ich den anderen folgte und nicht ihm!“ HEINZ NIEDERLEITNER

Bruckners Glaube

Was in Wien schrullig daherkam, war für Oberösterreich nicht ungewöhnlich: Bruckners Katholizität. Seine Zeitgenossen in Wien waren damals von Kirche weit weg.

Am 12. Jänner 1885 schrieb der Komponist Johannes Brahms an die mit ihm befreundete Elisabeth von Herzogenberg, die dringend ein Urteil über den Symphoniker Bruckner von ihm erwartete: „Alles hat seine Grenzen. Bruckner liegt jenseits, über seine Sachen kann man nicht hin und her, kann man nicht reden. Über den Menschen auch nicht. Er ist ein armer, verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben. Ich weiß nicht, ob Sie eine Ahnung davon haben, was das heißt, seine Jugend bei den Pfaffen verlebt zu haben?“

Abgesehen davon, dass dieses zu trauriger Berühmtheit gelangte Urteil des allgemein als sarkastisch bekannten Brahms voller menschlicher Verachtung ist, ist es auch grundfalsch, was das Stift St. Florian betrifft: Das Augustiner-Chorherrenstift war auch noch zur Zeit Bruckners „ein Ort von Welt“, ein Zentrum von Gelehrsamkeit und Freude an der Kunst, und sollte für

Bruckner von lebensentscheidender Bedeutung werden: Seine Zeit als Sängerknabe (1837–1840) und später als Lehrer an der Schule des Marktes (1845–1855) und provisorischer Stiftsorganist (1850–1855) war für ihn prägend, bereichernd, Horizont erweiternd und gab ihm die Möglichkeit zu ausgiebigen musikalischen Studien. Später, als schon arrivierter Komponist, suchte Bruckner das Stift als seinen bevorzugten Ferienaufenthalt auf, da es ihm Heimat, Erholung und die nötige Ruhe zum Komponieren bot.

ZEITGENOSSEN BRUCKNERS

Aber wie erschien Bruckners Zeitgenossen denn eigentlich sein gelebter Glaube? – Als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist (in den Jahren 1855 bis 1868) zählte Bruckner zum kleinen Kreis der das Kulturleben der Stadt tragenden Männer. In den ersten Rezensionen seiner Werke wird kein einziges Mal seiner persönlichen Frömmigkeit

Bruckner hält in der Überarbeitung seiner e-Moll-Messe ein „Misterium“ fest: Sein Bestreben, die Komposition in Perioden zu acht Takten einzuteilen, macht eine Ausnahme im Gloria bei den Worten „tu solus altissimus, Jesu Christe“ (Du allein bist der Höchste, Jesus Christus). Bruckner schreibt verwundert als „Nota bene“ direkt in seine Partitur: „Misterium (unerwartet nach 7. Tact d. Periode)“.

Erwähnung getan – sie hatte sachlich hier nichts verloren und scheint niemandem als absonderlich und eigens erwähnenswert aufgefallen zu sein.

Ganz anders war die Situation in Wien. Der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber beschreibt die Jahre 1840 bis 1870 als einen eindeutigen Tiefpunkt kirchlichen Lebens in Wien. Nur 5 Prozent der Männer bekannten sich damals öffentlich zur Kirche. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass Bruckners praktizierte Katholizität manchen seiner Wiener Zeitgenossen als absonderliche Schrulle erschien, schon etwas besser zu verstehen. – So weit ein erster Blick von außen auf Bruckners Katholizität.

BRUCKNERS INNENLEBEN

Der große Symphoniker war äußerlich gesellig, aber in Wahrheit scheu und verschlossen; über sein Innenleben äußerte er sich kaum; umso kostbarer sind deshalb seine einzigen wirklich privaten Aufzeichnungen, seine Taschen-Notizkalender, aber auch sie sind von wohlformulierten, mitteilungsfreudigen Tagebüchern meilenweit entfernt.

In diesen kargen Notizen nehmen die sogenannten „Gebetsaufzeichnungen“ weiten Raum ein, ein Phänomen, das von Theologen, Historikern und Psychologen jeweils ganz verschieden beurteilt wird und auch zu ganz gegensätzlichen und teils sogar kontroversiellen Aussagen geführt hat.

Bruckner wurde in eine Zeit großer intellektueller und geistiger Umbrüche hineingeboren; als Zeitgenosse Friedrich Nietzsches gingen die drängenden weltanschaulichen Fragen sicherlich nicht spurlos an ihm vorbei.

Doch widmete er offenbar täglich bis zu zwei Stunden dem Gebet, wie seine von ihm vor seiner Umgebung geheim gehaltenen Gebetsaufzeichnungen bis zum Tag seines Todes zeigen. Dieses Gebet war ihm mit Sicherheit eine Quelle der Kraft und des Haltes, auch in Zeiten der Angst und der Bedrängnis.

Die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Maier ist eine der besten Kenner:innen des Lebens und der Werke Anton Bruckners. Zu ihren vielen Veröffentlichungen zählt die Biografie „Anton Bruckner. Blicke auf ein Leben“ (Musikwissenschaftlicher Verlag 2024).

ELISABETH MAIER
Taufschein von Anton Bruckner (links). Bruckners Notizbuch (rechts): Der Komponist führte handschriftliche Aufzeichnungen, in denen er sein Gebetsleben dokumentierte.

Musik, die Höhen und Tiefen auslotet

Das „Te Deum“ auf Platte: So hat Bischof Manfred Scheuer als Schüler Bruckner gehört. Ein Gespräch über die Kraft der Musik, über Bruckner und Kirche.

Wann sind Sie selbst mit Anton Bruckner in Berührung gekommen? Wann haben Sie zum ersten Mal Bruckner gehört?

Manfred Scheuer: Mein persönlicher Zugang zu Anton Bruckner geschah über den Musikunterricht und den Religionslehrer Johann Bergsmann. Dieser hat uns in Bruckner eingeführt. Bergsmann war sechs Jahre lang mein Musiklehrer, wir haben Bruckners Te Deum damals auf Platte gehört. Im Dom habe ich dann zum ersten Mal Bruckners „Locus Iste“ gehört. Was mich damals bei dieser Musik existenziell berührt hat, waren diese Unterschiede: tiefe Abgründe, leiser Jubel, ein Ausbruch, ein Suchen und Finden, Zweifel.

Haben Sie selbst etwas von Bruckner gesungen?

Scheuer: In meiner musikalischen Karriere wurde ich sowohl in der Volksschule als auch im Gymnasium von meinen Lehrern als unmusikalisch beurteilt. Ich habe erst in der Studentenzeit sukzessive die liturgischen Gesänge erlernt und bin auch mal zum Chor vergattert worden.

Immer wieder liest man, dass Bischof Franz Joseph Rudigier Werke bei Bruckner in Auftrag gegeben hat. Heute treten die Kirche als Mäzenin und der Bischof als Auftraggeber nur noch selten auf. Wie sehen Sie das?

Scheuer: Ich verbinde mit diesem Amt schon, dass ich in der christlichen Tradition stehend das Kulturschaffen fördere. Ich habe aber erst vor vier, fünf Jahren realisiert, welche Rolle Bischof Rudigier hier hatte. Das war mir früher nicht so bewusst. Wenn ich auf Bischof Rudigier blicke, ist das Faszinierende bei ihm, dass er damals den Dom in einem antiklerikalen Umfeld in Auftrag gegeben hatte. Was für eine verrückte Idee! Er hat zunächst den Turm errichten lassen und die Votivkapelle auf der anderen Seite, dazwischen war viel Raum. Damit war klar, der Dom kann nicht kleiner gebaut werden. Bischof Rudigier hat zudem eine Bank gegründet, den Pressverein, den Landesverlag. Die ganze Bandbreite des Lebens ist hier bei ihm abgebildet: Kultur, Soziales, Kunst, Musik. Auch Bruckner hat Neues geschaffen, und er hat nicht zu klein von den eigenen Möglichkeiten her gedacht.

Sie schreiben über den Zusammenhang von Musik und Architektur bei Bruckner: Seine eMoll-Messe sei Musik gewordene Architektur. Der Mariendom spielt eine besondere Rolle in seinem Schaffen ...

Scheuer: Zur Grundsteinlegung des Mariendoms hat er die Festkantate komponiert, für die Weihe der Votivkapelle die e-MollMesse, die mit ihrer Besetzung auf die bau-

Bischof Manfred Scheuer im Linzer Mariendom.

liche Situation Rücksicht nahm. Das Werk ist komponiert für achtstimmigen gemischten Chor und 15 Blasinstrumente. Die Musiker standen im Freien. – Seine kirchliche Laufbahn war die Voraussetzung für die Karriere als Komponist.

Brucknerforscher:innen wehren sich heute gegen die Vereinnahmung Bruckners als „Musikant Gottes“. Dennoch: Glaube, Spiritualität, Kirche spielten eine große Rolle für ihn als Mensch und Musiker. Kann man Bruckner ohne Gott verstehen?

Scheuer: In der Rezeption Bruckners fällt auf, dass er für die einen der Musikant Gottes war, andere sehen in ihm einen genialen Komponisten, der Zwangsstörungen hatte. Er hat sich vom Messkomponisten zu einem Komponisten entwickelt, der eine Offenheit für Transzendenz in den musikalischen Motiven seiner Sinfonien erkennen hat lassen. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hat es sicher Versuche gegeben, ihn kirchlich zu vereinnahmen. Er selbst wollte als moderner Komponist anerkannt werden.

Seine Musik war ein Gegenkonzept zum reinen Positivismus und Materialismus der damaligen Zeit. Die Entfremdung und Emanzipation von Kunst, Kultur und Kirche war im 19. Jahrhundert groß. Bruckners Frömmigkeit hatte Züge, die irritieren, die aber auch im Umfeld des 19. Jahrhunderts zu sehen sind. Er war nicht religionskritisch. Würde man ihm aber die Offenheit für Transzendenz absprechen, würde man ihm Gewalt antun.

Musik, Kirche und Liturgie ganz allgemein betrachtet: Welchen Zusammenhang sehen Sie heute?

Scheuer: Ich glaube schon, dass Kirche Raum für Musik ermöglicht, gerade in Österreich, und dass Menschen, die mit der Kirche verbunden sind wie zum Beispiel Balduin Sulzer, auch zur Moderne etwas beigetragen haben. Für mich geht es auch um die Frage nach dem Stellenwert der Musik in der Liturgie und Pastoral: Wir wissen, dass die Chöre, das betrifft Kinder, Jugend und Erwachsene gleichermaßen, eine sehr große Bedeutung haben für die

Lebensfreude der Einzelnen und für die Gemeinschaft. Das ist wichtig, denn auch hier ist Kirche erlebbar.

In der Coronazeit hat man gesehen, wie sehr das den Menschen abgeht, wenn dies nicht mehr möglich ist. Und ohne Musik jetzt vereinnahmen zu wollen in dem Sinne, dass es nur um „gebrauchsfertige“ liturgische Musik geht: Liturgie braucht die Musik. Zum Gebet und zum Lobgesang gehört die Musik dazu.

Inwiefern macht es einen Unterschied, Bruckners Werk in der Kirche oder im Konzertsaal zu hören?

Scheuer: Es ist ein Unterschied, wenn ich die e-Moll-Messe in der Liturgie höre oder im Konzertsaal. Bei ersterem ist es eine Form des Gebets.

In der Liturgie ist das Te Deum Bruckners nicht nur eine Aufführung, sondern eingebunden in den Vollzug dessen, was wir feiern. Und: Nicht jede Musik ist für jeden Raum geeignet.

Musik kann als Symbol des Transzendenten, als Symbol der Gottfähigkeit verstanden werden, sagen Sie. Was heißt das?

Scheuer: Musik kann mehr aussagen als das argumentative Wort. Wenn wir bei Bruckner hören „Non confundar in aeternum“ (im Sinne von: „Ich werde nicht für immer verloren sein“), dann drückt das eine Hoffnung aus, existenzielle Höhen und Tiefen werden ausgelotet. Die Musik kann diese Dimension einfangen, sie hält hier etwas offen.

DIE FRAGEN STELLTE ELISABETH LEITNER

Klaus Birngruber, der Leiter des Diözesanarchivs Linz, mit der Widmungsausgabe von Bruckners e-Moll-Messe. Im Bild hinten: Bischof Franz Joseph Rudigier, dem das Werk gewidmet ist.

Geburtsort Ansfelden

Im Bruckner-Jahr spielt der Geburtsort Ansfelden mit seinem Brucknerbund eine große Rolle. Obmann Peter Aigner erzählt, was sich alles tut.

Wie ist das Bruckner-Jahr hier angelaufen?

Peter Aigner: Das Bruckner-Jahr hat im Bezirk Linz-Land und speziell in Ansfelden mit einem musikalischen Feuerwerk gestartet. Am 6. Jänner fand etwa im ausverkauften Saal der Gartenbauschule Ritzlhof/ Ansfelden ein Geburtstagskonzert, gestaltet vom Anton Bruckner Geburtstagsorchester, statt.

Das Orchester, bestehend aus circa 60 jungen Musikerinnen und Musikern der Landesmusikschulen des Bezirks (Ansfelden, Enns, Leonding, Neuhofen/Krems und Traun) spielte unter meiner Leitung Musik aus Ländern, die Bruckner besuchte. Es gab weiters eine Lesung aus Bruckners Briefen mit musikalischer Begleitung. Und die Konzertwertung des OÖ. Blasmusikverbands Linz Land wurde auf meine Anregung hin mit einem Schwerpunktstück aus Bruckners Werk durchgeführt. Somit hatten auch viele Amateurmusiker:innen teilweise zum ersten Mal Gelegenheit, aktiv als Ausführende Musik von Anton Bruckner einzustudieren und aufzuführen.

Wie ist die Resonanz auf Anton Bruckner?

Aigner: Durch die intensive Vorbereitung auf das Bruckner-Jahr von vielen Institutionen in Oberösterreich merke ich schon,

dass zumindest vordergründig der Name Anton Bruckner viel mehr wahrgenommen wird, und durch die Vermittlungsprojekte (Bruckner-Crashkurs, Workshops für Kinder, etc.) finden auch viele bis dato nicht mit klassischer Musik im Allgemeinen und Bruckner im Besonderen in Berührung gekommenen Menschen einen Bezug, in diesem Fall auch zu Bruckners Leben und Werk.

Wie kommt Bruckner bei Kindern, Jugendlichen und jungen Musizierenden als Mensch und als Komponist an?

Aigner: Speziell bei den Proben zu dem bereits erwähnten Geburtstagskonzert habe ich bewusst immer wieder Geschichten aus dem Leben Bruckners einfließen lassen und habe bemerkt, wie interessiert und aufgeschlossen die jungen Musiker:innen alles aufgenommen haben und richtig Lust bekommen haben, mehr von ihm zu erfahren und vor allem aber auch spielen zu wollen.

Bei Workshops mit jüngeren Kindern können wir speziell in Ansfelden auch die Zeit vermitteln, die Anton Bruckner als Kind hier verbrachte, insofern zeigen wir hier einen „Gleichgesinnten“, der genauso wie andere Kinder Lust auf Streiche, auf Spiel und Abenteuer hat.

Der Verein feiert heuer sein 100-Jahr-Jubiläum.

PETER AIGNER

MUSIKSCHULLEHRER, KÜNSTLERISCHER

LEITER DER KAMMERMUSIKTAGE ST. MARIEN, OBMANN BRUCKNERBUND ANSFELDEN

Peter Aigner studierte Viola in Linz und Wien, unterrichtet an der Musikschule Neuhofen/Krems und kuratiert Veranstaltungen im Rahmen des Jubiläumsjahrs Anton Bruckner für den Bezirk Linz-Land.

www.brucknerbund-ansfelden.at

Beim diesjährigen Workshop am 10. Mai 2024 dürfen wir sogar das Geburtshaus Anton Bruckners besuchen!

Was ist Ihnen als Obmann des Brucknerbunds Ansfelden besonders wichtig?

Aigner: Dass wir Anton Bruckner heuer im Rahmen unserer Möglichkeiten entsprechend feiern, dass sich viele Menschen von dieser Feierlaune anstecken und mit-

reißen lassen und unsere Veranstaltungen zahlreich besuchen, dass sich Ansfelden als ein weiterer „Bruckner-Hotspot“ neben Linz, St. Florian und Wien etabliert, dass sich viele Menschen für den Brucknerbund Ansfelden interessieren und dass diese Feierlaune mit dem 31. Dezember 2024 nicht endet, sondern ab dem 1. Jänner 2025 noch lange anhält.

ELISABETH LEITNER

Peter Aigner ist Obmann des Brucknerbunds Ansfelden.
Anton Bruckners Leben und Werk: Workshop für Kinder in Ansfelden.

Wo sich Bruckner entfalten konnte

Seine Kreativität entfaltete sich in St. Florian. Nach dem Tod des Vaters kam Anton Bruckner als Sängerknabe in das Stift: ein Ort von Welt, in dem Kunst und Wissenschaft gefördert wurden.

Komponisten, Burgschauspielerinnen, Schriftstellerinnen und Historiker gaben sich im 19. Jahrhundert im AugustinerChorherrenstift ein Stelldichein. Das Stift wurde durch die Pröpste Michael Ziegler und Michael Arneth zu einer neuen Blüte geführt.

90 Chorherren zählte das Stift damals, sodass manch Anwärter aufgrund von Platzmangel abgewiesen werden musste. Die jungen Chorherren wurden ermuntert, an der Universtität in Wien zu studieren und sich der Forschung zu widmen. Zur jahrhundertelang gepflegten Musiktradition gehörte seit 1774 auch die größte Orgel der Donaumonarchie. In Reiseberichten wird die wunderbare Lage des Stifts und die majestätische Gestaltung durch Jakob Prandtauer beschrieben.

WIE ALLES BEGANN

Über all das informiert die erste Station der Ausstellung „Wie alles begann. Bruckners Visionen“. Eröffnet am Tag des hl. Florian wird die Schau bis 27. Oktober Besucher:innen in die Welt Bruckners und seiner Zeitgenossen entführen. Sie zeigt mit vielen anschaulich präsentierten Fotografien, Briefen, Dokumenten, Plänen, dem Bruckner-Flügel und Bruckners Mobi-

liar ein Bild von Bruckners Kreativstätte –und implizit auch von Kirche, die sich damals mitten im gesellschaftlichen Zentrum positionierte, wie Kurator Klaus Heinrich Kohrs betonte.

BRUCKNERS JUGEND

Die Ausstellung im Stift St. Florian informiert auch darüber, welche unmittelbare Auswirkungen der Tod von Bruckners Vater im Jahr 1837 für den zwölfjährigen Anton hatte. Seine Mutter war mit fünf Kindern in eine Notlage geraten. Als Pfarrer Seebacher die triste Lage der Familie sah, wurde er aktiv und schrieb Propst Arneth einen Bitt-Brief, dieser holte den kleinen Anton als Sängerknaben nach St. Florian. Arneth, gebürtig aus Leopoldschlag, wählte insgesamt drei Knaben aus, die beim Schullehrer am Marktplatz wohnen sollten und auf Kosten des Stifts Musikunterricht bekamen. Etliche Auftritte waren schon zu bewältigen: 94 Messen waren es im Jahr 1838/39. Bruckner erhielt zusätzlich Geigen- und Orgelunterricht.

BRUCKNER ALS LEHRENDER

Station zwei lässt die Zeit Revue passieren, in der Bruckner als Lehrender tätig war. Beeindruckend in Bruckners Biografie ist

grundsätzlich, sein Wille sich ein Leben lang fortzubilden, er war ein ewig Lernender. Sein erster Dienstort war Windhaag bei Freistadt, gefolgt von Kronstorf und St. Florian. Mit kleinen Kompositionen und Widmungen hielt sich Bruckner mit seinen (Berufs-)Wünschen in Erinnerung. In St. Florian übernahm er bei seiner Rückkehr als Lehrer Orgeldienste und wurde bis 1855 vorläufiger Stiftsorganist. Bruckner durchforstete das Musikarchiv des Stifts und studierte Werke von Mozart, Michael und Joseph Haydn, Beethoven und anderen Komponisten. In dieser Zeit widmete er sich auch seinen kompositorischen Studien. Ab 1849 entstanden an die 30 Kompositionen, sechs davon können in der Ausstellung angehört werden. 1855 übersiedelte Bruckner nach Linz, zuvor hatte er am Vorspiel für den provisorischen Posten als Dom- und Stadtpfarrorganist Linz teilgenommen und gewonnen.

DEM STIFT VERBUNDEN

Dem Stift blieb er – auch in seiner späteren Wiener Zeit – immer verbunden. Die Gruft wurde dann auch seine letzte Ruhestätte. Bruckner verfügte testamentarisch, dass sein Körper nach seinem Tod einbalsamiert und in einem doppel-

ten Metallsarg direkt unterhalb der Orgel beigesetzt werden sollte. Er starb am 11. Oktober 1896 im Alter von 72 Jahren in Wien und wurde dann nach Oberösterreich überstellt. Die Station vier dokumentiert das aufwändige Verfahren rund um Bruckners Tod und seinen Leichnam. Propst Holzinger meinte dazu bei der Präsentation: „Wir haben ihn. Hier ist er – der Sarkophag mit Inhalt!“ Aber nicht nur das: In einem Gedenkzimmer (in der Ausstellung Station drei) ist zuvor jenes Mobiliar zu sehen, das sein Bruder Ignaz Bruckner schon zu Lebzeiten sammelte. Darunter auch Möbelstücke aus der Wiener Zeit, etwa sein Totenbett und das Bild der verstorbenen Mutter am Totenbett – hinter einem grünen Vorhang verborgen.

DREI PAVILLONS

Im Stiftshof befinden sich zudem drei Pavillons, die – künstlerisch gestaltet – Hörbeispiele, Filmporträts und die Biografie Bruckners niederschwellig erlebbar machen. Ein aufschlussreicher Katalog sowie verständliche Museumsführer komplettieren das Ausstellungsangebot. Auch Kinder sind willkommen, ein spannendes Vermittlungsprogramm wurde eigens dafür erarbeitet. ELISABETH LEITNER

Bruckner-Musik am Bruckner-Flügel und das Bruckner-Zimmer im Gedenkraum.

Anton Bruckners täglicher Aufstieg

Linz ist reich an Schätzen: Die Brucknerstiege und die Brucknerorgel im Alten Dom sind Originale aus Bruckners Zeit.

„Hier ist Bruckner täglich mehrmals aufund abgegangen“, sagt Organist Bernhard Prammer und öffnet vorsichtig die Tür zur Brucknerstiege im Alten Dom, einem Original-Schauplatz mitten in Linz. Historische Gemäuer, unverputzte Ziegel, weiß gekalkte Wände, zwei Glockenzüge – sie sind nicht mehr aktiv – fallen als Erstes auf. Die Stiege führt zur Original-Brucknerorgel.

Der Alte Dom war neben der Stadtpfarrkirche Bruckners Arbeitsort, den er vom 24. Dezemer 1855 bis Ende September 1868 fast täglich mehrmals aufgesucht hat.

Die Brucknerorgel war sein geliebtes Instrument, das er nach seinen Vorstellungen umbauen hat lassen. Sie ist von Franz Xaver Chrismann in barocker italienischer Tradition gebaut worden.

BRUCKNERSTIEGE

Die Brucknerstiege ist heute ein kleines Museum, das Bruckners Linzer Jahre dokumentiert. Den Grundstein dafür hat vor vielen Jahren August Humer, gebürtig aus Ried im Innkreis, gelegt: der Organist und Professor am damaligen Bruckner-Konservatorium hat früh erkannt, welcher Schatz hier verborgen ist und sich zeitlebens um die Pflege der Orgel und der Kirchenmusik im Alten Dom gekümmert. Bernhard Prammer führt diese Tradition als ehemaliger Schüler Humers fort. „Es ist eine Art

Erbversprechen“, sagt der begeisterte Organist und Orgellehrer der Landesmusikschule. 2011 wurde die Brucknerstiege eröffnet. Finanziert hat sie der Brucknerbund für Oberösterreich, der seit Jahrzehnten Projekte im Alten Dom fördert. Die Brucknerstiege ist nun für Gruppen zugänglich. Zehn Austria Guides (früher Fremdenführer) bieten Führungen an, auch die Orgel kann extra besucht werden. Wenn gewünscht, ist auch ein „Orgelkurzkonzert“ buchbar.

MENSCH, MUSIKER, KOMPONIST

Die Brucknerstiege ist als ein Museum am Gang konzipiert. Stufe um Stufe geht man hier bis zur Orgelempore hoch. „Die

Brucknerstiege: Bruckners täglicher Auf- und Abgang im Alten Dom

Fensternischen im Stiegenaufgang sind unser Joker“, erklärt Prammer. Hier lassen sich Inhalte gut lesbar unterbringen. Auf vier Leuchttafeln wird das Leben Bruckners beschrieben und aufgefächert und damit nachvollziehbar gemacht, wer Bruckner als Mensch, Musiker und Komponist war. Was der Ansfeldner Meister in dieser Zeit komponiert und wie er sich in das allgemeine Musikleben eingebracht hat, wird mit Text und Bild dokumentiert. Auch seine Weggefährten und Förderer sind hier erwähnt: etwa sein Freund und Bewunderer Rudolf Weinwurm oder das Ehepaar Moritz und Betty von Mayfeld. Sie alle haben sich in den Linzer Jahren um Bruckners Wohl und seinen angeschlagenen Gesundheitszustand gesorgt sowie sein berufliches Fortkommen gefördert. Bruckner hat mit der Einsamkeit gekämpft und sich überarbeitet.

DOMORGANIST

Dass sich Bruckner überhaupt als Domorganist beworben hat, dazu hat es den Anstoß von außen gebraucht, erzählt Pram-

mer. „Als er nach dem Tod des Linzer Dom- und Stadtpfarrorganisten Wenzel Pranghofer am 9. November 1855 durch den Orgelbauer Alfred Just gedrängt wird, am Probespiel zur Neubesetzung des Postens teilzunehmen, entschließt er sich zögernd erst im letzten Moment. Beide Probespiele – das für die provisorische und das für die definitive Besetzung des Postens –entscheidet er erfolgreich für sich, seine Mitbewerber weit hinter sich lassend“, ist hier auf einer Tafel nachzulesen.

„ZUM HERRLICHSTEN GENUSSE“

Im Protokoll vom 25. Jänner 1856 über das Probespiel zur definitiven Anstellung Bruckners als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist wird Folgendes festgehalten: „Die Kommission,derVertreterderKirche,der Stadt und namhafte Personen des Linzer Musiklebens angehörten, entschied sich für Bruckner, der das ihm gegebene Improvisationsthemaineinestrengen,kunstgerechtenvollständigenFuge,alsauchdie ihm aufgelegte schwierigere Choralbegleitung mit so hervorragender Gewandtheit

„Lebe wohl“: Schriftzug, höchstwahrscheinlich von Bruckner mit Bleistift (oben) an der Orgel angebracht

Bruckner, 1854, ein Jahr vor seinem Probespiel in Linz.

Klangdenkmal: um hier spielen zu können, bedarf es der Kenntnisse in historischer Spielpraxis.

undVollendung zum herrlichsten Genuße verarbeitetundausgeführthat,daßdessen ohnedieß in der praktischen Behandlung der Orgel, wie nicht minder in seinen bekannten sehr gediegenen KirchenmusikCompositionen bewährte Meisterschaft sichneuerlichmitallerAuszeichnungfest erprobte.“

BISCHOF RUDIGIER UND BRUCKNER

In Bischof Franz Joseph Rudigier (1811–1884) findet er bald einen Bewunderer und Förderer, weist Prammer bei der Führung hin. Rudigier schätzte, wie viele seiner Zeitgenossen, vor allem Bruckners Kunst der Improvisation. Der Linzer Bischof hat im Jahr 1854 die „missa solemnis in b-Moll“ (WAB 29) in St. Florian miterlebt, die Bruckner zur Amtseinführung des neuen Propstes geschrieben hat. Bruckner war Bischof Rudigier seither ein Begriff. Im Linzer Diözesanarchiv sind etliche Belege dafür zu finden: Briefe, Autografe und Widmungen geben Aufschluss darüber, wie Bruckner und Bischof Rudigier miteinander verkehr-

ten. Am Ende der Brucknerstiege öffnet Bernhard Prammer die Tür zur Orgelempore. Hier steht die Brucknerorgel: das Original. Ein Juwel für Aug’ und Ohr.

ELISABETH LEITNER

Brucknerorgel

Das Instrument im Alten Dom, an dem Anton Bruckner während seiner Tätigkeit als Linzer Domorganist wirkte, befindet sich heute noch als einzige der sogenannten Brucknerorgeln im Originalzustand. Die Orgel wurde ursprünglich für die Stiftskirche Engelszell von Franz Xaver Chrismann gebaut. Als Entstehungszeit wird das Jahr 1760 angenommen. 1856 regte Bruckner eine komplette klangliche Umgestaltung der Orgel an, die vom Orgelbauer Breinbauer aus Ottensheim durchgeführt wurde. Dieser Status ist bis heute erhalten geblieben. www.brucknerstiege.at

Dies ist der Ort, von Gott geschaffen

Anton Bruckner ist mit dem Linzer Mariendom verbunden: durch Werke, die er für ihn geschaffen hat. Der Komponist dirigierte im Dom –und spielte an der alten Chororgel.

„Es gibt kaum ein Gebäude, das so verbunden ist mit Bruckner wie der Dom“, sagt Wolfgang Kreuzhuber. Der Domorganist hat sich an Bruckners Spuren im Mariendom geheftet. Kreuzhuber ist als Domorganist der fünfte Nachfolger Anton Bruckners in dieser Funktion und kennt die Orte im Mariendom, an denen Bruckner höchstpersönlich gestanden ist und dirigiert hat. Die starke Verbindung zu Bischof Rudigier hatte zur Folge, dass der Komponist aus Ansfelden viele seiner Werke für den neuen „Mariä Empfängnis-Dom“ in Linz geschrieben hat. Rudigier galt als „glühendster Bewunderer“ des Orgelspiels von Anton Bruckner. Der Bischof bestellte sich Bruckner immer wieder zum „Zwecke der musikalischen Tröstung“ in den Alten Dom. Er lauschte allein in der Kirche sitzend Bruckners Spiel, hörte ergriffen zu und erlangte dadurch, so berichten die Quellen, sein seelisches Gleichgewicht wieder.

WERKE FÜR DEN MARIENDOM „Gotik und Neogotik haben Bruckner sehr interessiert. In Wien war er oft im Stephansdom und studierte die Zahlenverhältnisse“, weiß Kreuzhuber. Zur Grundsteinlegung des Mariendoms komponierte Bruckner auf die Bitte Rudigiers hin eine Festkantate, die 1862 vom Sängerbund Frohsinn uraufgeführt wurde.

Auch die e-Moll-Messe, die später zur Einweihung der Votivkapelle am 29. September 1869 vom Komponisten selbst uraufgeführt wurde, ist ein Auftragswerk Rudigiers. Zudem schuf Bruckner das berühmte „Locus iste“, ebenfalls für die Einweihungsfeier der Votivkapelle. Der Text des Locus iste ist mächtig: „Dieser Ort ist von Gott geschaffen, ein unschätzbares Geheimnis, kein Fehl ist an ihm.“ – Heute ein Standardwerk für jeden Chor, der etwas auf sich hält. Die Aufführung kam zum Festtag der Einweihung nicht zustande, aber vier Wochen später, am 29. Oktober, erklang das Werk unter der Leitung des damaligen Chordirigenten Johann Baptist Burgstaller, der mit Anton Bruckner befreundet war.

STOLZ MEINES LEBENS

Das „Te Deum“ – ein Werk ohne Auftrag – stellte Bruckner erstmals 1881 fertig. Es wurde am 10. Jänner 1886 im Wiener Konzerthaus zur Aufführung gebracht. Bruckner bezeichnete sein Te Deum als „Stolz meines Lebens“: „Wenn mich der liebe Gott einst zu sich ruft und fragt: ‚Wo hast du die Talente, die ich dir gegeben habe?‘, dann halte ich ihm die Notenrolle mit meinem Te Deum hin und er wird mir ein gnädiger Richter sein.“ In einer Kirche erklang es erstmals im Linzer Mariendom.

Im „Linzer Volksblatt“ vom 1. Oktober 1887 wird darüber Folgendes berichtet, wie Kreuzhuber recherchiert hat: „Die Abendandacht wurde verherrlicht durch die vorzügliche Aufführung von Anton Bruckner’s großartigem Te Deum. Diese herrliche Composition wurde gestern zum erstenmale in einer Kirche bei einem Gottesdienste aufgeführt; denn bisher wurde sie wegen ihrer Ausdehnung und Wegen der immensen, schwierigen Anforderungen, die Bruckner an den Chor und an das Orchester stellt, nur im Concertsaale zur Aufführung gebracht. (...) Bruckner selbst äußerte sich dem Schreiber dieser Zeilen gegenüber, dass es ihn unendlich freue, sein Te Deum zum erstenmale beim Gottesdienste in jener Kirche zu hören, welche ihm so sehr an’s Herz gewachsen sei und in welcher auch im Jahre 1869 bei der

Einweihung derVotivkapelle seine E-mollMesse zum erstenmale gesungen wurde.“

MUSIK UND RAUM

Domorganist Kreuzhuber fühlt sich von Bruckner und dem Raum des Mariendoms inspiriert. „Dieser Geist beeinflusst meine Arbeit“, erzählt er. Werke, die für diesen Dom geschrieben wurden, sollen auch mit dem Raum – und nicht gegen ihn – musiziert werden. Auf die Architektur müsse man sich einlassen. Auch Kreuzhuber komponiert, sein jüngstes Werk ist eine Festfanfare, die beim Festakt erklingen wird. Mit der Neugotik musste sich der Domorganist selbst erst anfreunden. Jetzt ist er seit über 40 Jahren im Mariendom tätig und selbst ein lebendiger Dombaustein. „Ich habe den Dom mittlerweile sehr schätzen gelernt.“

Den Weg zur Sängerempore ist auch Bruckner gegangen, diese Orgelpfeifen sind noch aus seiner Zeit. Rechts: Auf der Sängerempore steht die alte Chororgel, an der auch Bruckner spielte.

Mein Urgroßonkel Anton Bruckner

Auf den Spuren Bruckners wandelte die Kirchenzeitung im Jubiläumsjahr und besuchte Gabriele Sieb in Vöcklabruck. Sie hält das Gedenken an ihren Urgroßonkel hoch.

Ankunft in Vöcklabruck, Treffpunkt Heimathaus neben der Pfarrkirche: Dort wartet Gabriele Sieb auf den Besuch aus Linz. Die pensionierte Lehrerin und Organistin hat viel zu berichten: „Anton Bruckner war immer präsent in unserer Familie“, erzählt sie. Das Locus iste habe sie schon als Kind gekannt. „Anton Bruckner war zudem der Firmpate meines Großvaters“, weiß Sieb zu berichten.

Im ersten Stock des Heimathauses ist ein Bruckner-Zimmer eingerichtet. Sieb zeigt auf die Büste aus Gips, die hier links an der Wand den Raum zu überblicken scheint. Ein bisschen streng schaut er aus, der Herr Bruckner: „Wenn ich ihn sehe, kommen Erinnerungen hoch, denn die Büste stand bei uns in der Gärtnerei.“ Bruckner war ihr Urgroßonkel. Als Kind ging sie täglich mehrmals an der Büste vorbei.

DAS HUEBER-GÄRTNERHAUS

Ihr Vater war Stadtgärtner, Organist und Kirchenmusiker in Vöcklabruck, sein Name war Rudolf Hueber. Seine Großmutter war Rosalia Hueber, die Schwester Anton Bruckners. Rosalia und ihr späterer Mann Johann Nepomuk haben sich in St. Florian kennengelernt, er arbeitete dort in der Stiftsgärtnerei. Nach der Heirat ging Rosalia mit ihrem Mann nach Vöcklabruck. Jahrelang betrieben sie und ihre Nachkom-

men die Gärtnerei Hueber. Bei Schwester Rosalia ließ sich der Komponist auf seinen Besuchen gerne verwöhnen. Im HueberGärtnerhaus lebt Siebs Mutter Johanna, die mittlerweile 93 Jahre alt ist. Auf dem Bürgerhaus erinnert eine Gedenktafel an Anton Bruckner und an seine Schwester.

Gabriele Sieb steht hier vor dem Hueber-Gärtnerhaus in Vöcklabruck.

Zahlreiche Gegenstände wie etwa der Tragesessel Bruckners, Briefe, Fotos erinnern noch an diese Zeit. Viele Exponate sind im Privatbesitz und als Leihgaben in Museen. Erst vergangene Woche wurde für die aktuelle Ausstellung in der Nationalbibliothek Bruckners Schlapphut aus dem Heimathaus abgeholt und nach Wien transportiert.

ERHOLUNG IN VÖCKLABRUCK

Fotos und Textschildchen liegen in den Schauvitrinen des Heimathauses, auch ein Foto von Bruckners Lieblingsnichte Laura, die er sehr gefördert hat. Ihr vererbte er sein Klavier, das nun – restauriert – in St. Florian zu bestaunen und auch wieder zu hören ist.

In Vöcklabruck genoss Bruckner neben der Zeit mit der Familie die Spaziergänge. „Er ging gerne schwimmen“, erinnert sich Gabriele Sieb an frühere Erzählungen. Hier schrieb er auch an seiner 8. Symphonie, wie (fast) jede:r hier in Vöcklabruck weiß. Am Franzmairhaus auf dem Stadtplatz, wo er sein Gastzimmer hatte, ist eine Gedenktafel angebracht, die etwas verwittert in Vergessenheit zu geraten scheint.

DAS ERBE BRUCKNERS

Das trifft nicht auf Bruckner selbst zu: In Vöcklabruck wird der Musiker von Welt in Ehren gehalten. Im Juni wurde für den Meister aus Ansfelden das VöcklaBRUCKNERfest2024 veranstaltet. „Ich freue mich, dass Bruckner im Bruckner-Jahr im ganzen Land wieder eine größere Rolle spielt und von einer breiteren Bevölkerungsschicht wahrgenommen wird“, sagt dazu Gabriele Sieb.

Die Grabstätte der Familie Hueber ist oben am Friedhof der Kirche Maria Schöndorf. Befragt nach dem künstlerischen Erbe in der Familie, meint Gabriele Sieb: „Mein Vater hat Orgel und Geige gespielt, es gab viel Volks- und Hausmusik, das war ihm wichtig.“ Sie selbst ist Organistin und auch an der Bruckner-Gedächtnisorgel in der Stadtpfarrkirche im Einsatz, eine ihrer Enkelinnnen spielt Klavier. Erst kürzlich gab es einen gemeinsamen Ausflug nach St. Florian. In Erinnerung an den berühmten Vorfahren haben zwei Enkelinnen der Bruckner-Orgel einen Besuch abgestattet. Fazit: Bruckners Erbe ist sehr lebendig.

Gabriele Sieb im Bruckner-Zimmer des Heimathauses Vöcklabruck. Sie stellt die Exponate in den Vitrinen vor, etwa ein Foto von Laura Hueber, Bruckners Nichte.

Ein ganzes Land –von Bruckner bewegt

Bruckner greifbar, fühlbar und hörbar machen:

Das ist Norbert Trawöger, dem künstlerischen

Leiter des Brucknerjahres, gelungen.

Im Jahr 2024 wurde anlässlich 200 Jahre Anton Bruckner ein besonderes Jahr ausgerufen: die Kultur-Expo „Anton Bruckner 2024“. Sie sind ihr künstlerischer Leiter. Wie ist die Expo angelaufen?

Norbert Trawöger: Wir wollten kein Gedenkjahr machen, sondern eine Bewegung initiieren, haben uns umfassend vorbereitet und der durchaus ambivalenten Figur Anton Bruckner viel zugetraut. Und ich sage schon heute in großer Dankbarkeit, die Bewegung, die durchs Land geht, ist schlichtweg umwerfend. Das ganze Land ist zu einer großen Symphonie geworden, mit Stimmen, Gegenstimmen, unterschiedlichen Instrumenten und Farben – und vor allem neuen Möglichkeiten, ein Wir zu finden. Vom „Crash-Kurs“ bis zur Schorgel (ein Orgelspielplatz, Anm.), von den großen Konzerten und Ausstellungen bis zum Klangwald, dem Kunstautomaten bis hin zum Bruckner-Most. Die Liste wird täglich länger. Bruckner regt uns an, bringt uns zusammen und schafft einen neuen Resonanzraum, der nicht Lebensverzierung ist, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit.

Bruckner haben Sie schon als Achtjähriger gehört, die Begeisterung ist geblieben. Was fasziniert Sie an der Person Bruckner?

Trawöger: Seine oberösterreichische Biografie führt in die Welt hinaus. Mich beeindrucken seine Leidenschaft und seine Resilienz. Er war Halbwaise, kein Wunderkind, Sozialaufsteiger, der sich bis zum Umfallen ausbildet, sich von großen Krisen nicht beeindrucken lässt. Er war ein ewig Lernender, Zweifel und Selbstgewissheit gehörten zu ihm. Er war zudem ein guter Tänzer und Schwimmer, der sein Genie bis zum letzten Atemzug freilegt. Er mutiert vom Kirchenmusiker, vom Weltorgelimprovisator zum Weltsymphoniker. Er ahnte als Hilfslehrer in seinem Sechs-Quadratmeter-Zimmer in Kronstorf, das heute das kleinste Brucknermuseum der Welt ist, dass der Weltraum seine Dimension ist.

Bruckner ist in aller Munde. Was bringt es neben Wissen- und Horizonterweiterung, sich mit Bruckner zu beschäftigen?

Trawöger: Bruckner wirkt wie ein Vergrößerungsglas in unsere vielfältige Kultur. Ein gesteigertes Bruckner-Bewusstsein kann uns bewusster machen, in welch unglaublich vielfältigem Kulturraum wir in unserem Logenplatz im Weltgeschehen leben dürfen.

Es geht um Zusammengehörigkeit, da steckt das Hören drinnen. Bruckner reißt dabei die Fenster in die Welt auf. Seine Mu-

sik ist Wir-Musik, die das Ich nur im Du kennt. In diesem Wortsinn ist er ganz katholisch, allumfassend, der Choral trifft auf die Polka, das Alte auf das Neue und mittendrin sind wir. Wobei ich auch anmerken muss, dass ich den „Musikanten Gottes“ stark in Zweifel ziehe: Das ist ein übles Klischee aus dem Jahr 1924. Bruckner überwindet in seiner klingenden Spiritualität Grenzen, nichts ist hermetisch abgeschlossen.

Es geht um das WIR: Wir spielen etwas vor! Wir sind im Gespräch! Wir gestalten etwas! Wir erinnern dabei an das Menschliche, auch das Fremde zu schätzen, die andere Meinung gelten zu lassen, auch wenn ich sie nicht teile. Es geht um Offenheit und Respekt. Oder wie Balduin Sulzer einmal gesagt hat: „Im Zweifel für das Unbekannte!“

Wir sind mitten im Kultursommer und im Brucknerjahr. Wie soll es danach weitergehen?

Trawöger: Kultur ist kein Standbild, wir müssen auch in Zukunft dahinter sein, dass diese erhöhte Schwingung nicht verloren geht, es muss nicht immer Bruckner sein. Für die Bewegung müssen wir alle sorgen. Heuer machen wir Erfahrungen in größeren Zusammenhängen und natürlich braucht es weiterhin stimulierende Formate und ausreichend Mittel dafür.

Welche Themen meinen Sie?

Trawöger: Es geht um das Wunder der Musik, um die Wichtigkeit der Kunst für die Gesellschaft: die Offenheit für das Neue, es geht um das Dazwischen, die Widersprüchlichkeit, um Neugierde, Risikofreudigkeit als Grundhaltung. Musik und Kunst zeigen das vor, sie sind daher unersetzlich für Bildung und Ausbildung. Was vielleicht nicht so bewusst ist: Österreich ist Weltmarktführer in Sachen Kunst und Kultur, das ist kein Festspiel, sondern gesellschaftliche

Realität. Diese Verantwortung braucht Bewusstsein und auch Geld.

Dirigent Franz Welser-Möst hat mehrmals kritisiert, dass Österreich als Musikland in die Mittelmäßigkeit zurückfalle und von anderen Ländern überholt werde, was Spitzenleistungen im Musikgeschäft angeht. Wie sehen Sie das?

Trawöger: Unsere Mentalität verwechselt gelegentlich gehobene Mittelmäßigkeit mit Gemütlichkeit. Mit einem „Passt schon!“ sollten wir uns nicht zufriedengeben. Es geht immer darum, Grenzen zu weiten, sich für die Welt und das Du einzusetzen und zu verausgaben.

Sie waren schon immer sehr umtriebig als Musiker, Lehrer, Schreiber. Heuer sind Sie als künstlerischer Leiter der BrucknerEXPO und als künstlerischer Direktor des Bruckner-Orchesters Linz auf vielen Kanälen präsent: Kaum eine Woche, in der nicht ein Artikel, Radio- oder Fernsehbeitrag mit Ihnen erscheint. Wie schaffen Sie das?

Trawöger: Ich lebe und liebe den Ausnahmezustand eines intensiven Lebens, was viel Disziplin und wenig Schlaf erfordert. Man verausgabt sich, man gibt viel, aber man bekommt auch ungeheuer viel zurück, und manches bleibt unvollendet. Die Gefahr ist, wenn man erfolgreich ist, dass man nicht mehr kritikfähig ist. Daher ist es wichtig, den Zweifel zu lieben, verletzlich zu bleiben, sich nicht ganz sicher zu sein, sich auszuliefern, sich zu zeigen. Ich lebe in großer Dankbarkeit, dass ich zufällig in diesem Land geboren bin und die Möglichkeit des Gestaltens habe. Ich halte dies für meine Pflicht, diese täglich zu versuchen und wahrzunehmen. Und das Wichtigste ist, sich selber nicht zu ernst zu nehmen und sehr viel über seine Unzulänglichkeiten und vor Glück zu lachen! DIE FRAGEN STELLTE ELISABETH LEITNER

Mehr dazu siehe auch Seite 3 (Vorwort)

Im Nachklang

Die Beschäftigung mit Anton Bruckner, seiner Zeit, seinem Leben, seiner Persönlichkeit, den Phasen seines Schaffens, seinem Lebensstil und seiner Werke sind für mich mit einem Wort ausgedrückt, eine Bereicherung. Ich könnte es auch anders formulieren: Das Ganze ist mehr – viel mehr – als die Summer seiner einzelnen Teile und Teilchen. Ein Nachwort zu Bruckner ist für mich so etwas wie ein Nachklang. Ein Hinhören auf Gehörtes in einer besonders achtsamen Weise. Möge dieser Nachklang immer neu erklingen. In den Artikeln und Büchern zum Jubiläum und älteren Werken wird Anton Bruckner aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Von manchen belächelt, als schrullig angesehen, aber andererseits auch bewundert und geschätzt. Obwohl er vom Geheimnis der Musik so fasziniert war, lag ihm viel an dem, wie er wahrgenommen wurde. Er war ein Kind seiner Zeit und doch aus der Zeit gefallen. Er lebte seine Berufung, die ihm vieles als nebensächlich erscheinen ließ, was sein Umfeld als wichtig erachtete. So ergeht es wohl vielen Künstlern. Der Mensch Anton Bruckner war mehr als eine Aneinanderreihung von Episoden. Er war ein Mensch, der seine Berufung entdeckte, entfaltete und immer tiefer lebte.

Sein unbändiger Wille, dem Geheimnis des Lebens und dem Geheimnis Gottes zu dienen, und in diese Geheimnisse immer tiefer einzudringen, prägte sein Leben im umfassenden Sinn. Sein theoretisches musikalisches Wissen, seine kompositorische Breite in den Genres und seine Experimentierfreudigkeit führten schließlich zu genialen Meisterleistungen. Die Musik war sein Leben und prägte sein Leben. Der Hang zum Perfektionismus war seine Stärke, aber auch seine Falle. Loslassen, ohne aufzugeben, das kostete dem Komponisten und Menschen oft viel Kraft, aber im tiefsten Innersten war er davon überzeugt: Ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden. In diesem Band wurden viele Aspekte, Informationen und Eindrücke zu Anton Bruckner zusammengetragen. Möge die Summe der Teile die Leser:innen zu einer Wahrnehmung der weltimmanenten und transzendenten Wirklichkeit inspirieren. Das Leben ist mehr als die Summe der Leistungen.

Johann Hintermaier ist Bischofsvikar für Bildung, Kunst und Kultur in der Diözese Linz

Impressum _

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Zusammengestellt und herausgegeben von Elisabeth Leitner (Ressortleiterin Kultur) und Heinz Niederleitner (Chefredakteur).

Layout: Basislayout: WANTED Werbeagentur GmbH., Reinzeichnung: Sigi Hafner. Entwurf Titelseite: Heinz Niederleitner unter Verwendung eines Scherenschnitts von Otto Böhler Druck: Berger, Horn (Herstellungsort).

© 2025. Alle Rechte vorbehalten.

Bildnachweise:

Seite 1: Otto Böhler, Scherenschnitt (Detail); Seite 3: Maria Frodl; Seite 10: Grillich, Ludwig/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com; Seite 12: Austrian Archives/brandstaetter images/picturedesk.com; Seite 14: Historische Bilder: Fritz Ehrbar (2), Belvedere heute: Weingartner-Foto/picturedesk.com; Seite 16: Musikvereinsgebäude: Sammlung Hubmann/brandstaetter images/picturedesk.com; Seite 17: Franz Reischl; Seite 18: unbekannt; Seite 22: Reinhard Winkler/BOL; Seite 25: Bruckner Orchester Linz; Seite 26: Otto Böhler, Scherenschnitt; Seite 32: ÖNB Musikaliensammlung; Seite 35: Hermann Wakolbinger/Diözese Linz; Seite 38: Foto Peter Aigner: R. Winkler; Seite 42: Historisches Bild: Josef Löwy; Inschrift: Brucknerbund für OÖ; Seite 47: Historisches Bild: unbekannt; Seite 50: Hermann Wakolbinger/Diözese Linz. Alle übrigen Bilder: Kirchenzeitung Diözese Linz.

Zeit für Kultur. Zeit für Lesegenuss.

Die KIRCHENZEITUNG bringt gesellschaftspolitische, kulturelle und religiöse Themen zur Sprache, die für das Leben in der heutigen Welt von Bedeutung sind.

Foto:
Reinhard Winkler

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