kinki magazin - #36

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lichen Bedürfnisse wegen den Bund fürs Leben eingehen, obwohl sie im Kopf noch gar nicht bereit dafür sind.› Auf der anderen Seite bieten das Judentum und die mit ihm verbundene Gemeinschaft aber auch eine grosse Sicherheit und enorme Geborgenheit, die einem Heranwachsenden in seinen schwierigen Jahren der Identitätsfindung wertvolle Unterstützung und Rückhalt leisten können. ‹Egal worum es geht: Ich weiss, Gott ist da und hilft mir, wenn ich ihn brauche›, sagt Gitta Diamant.

Vegetarisch statt koscher

Leonardo Fridman treffe ich an einem frühen Mittwochabend in einem Seitengebäude der jüdischen Gemeinde in Basel. Als Jugendleiter der Gemeinde ist er für die Organisation der Treffen der beiden jüdischen Jugendbünde – der liberaleren Emuna und der religiös-zionistischen Bne Akiwa – zuständig. Er ist sehr interessiert und neugierig, was meine Beweggründe, diesen Artikel zu schreiben, betrifft und bald geraten wir in ein angeregtes Gespräch, in dem die Frage, wer wen interviewt, ziemlich schnell hinfällig wird. Auch Leonardo ist säkularisiert aufgewachsen. Er wurde in Argentinien als Sohn eines protestantischen Schweizers und einer jüdischen Argentinierin geboren. Die Familie ist kurz darauf in die Schweiz gezogen. Nach der Scheidung seiner Eltern hat Leonardo den jüdischen Kindergarten und die jüdische Primarschule besucht, und später am Gymnasium Leonhard in Basel seine Matura gemacht. Um sein dreizehntes Lebensjahr herum hat er sich entschieden, ein frommes Leben zu führen. Zunächst allerdings eher aus disziplinarischen als aus religiösen Gründen: ‹Wenn man keinen Vater zu Hause hat, entsteht ein Bedürfnis nach Stabilität. Ich habe mir diese mit dem jüdischen Leben mehr oder weniger erarbeitet. Ich habe damals begonnen, mir Dinge an-

zueignen, von denen ich fand, sie gehörten zur Thora oder würden von Gott von mir verlangt.› Wie die meisten Jugendlichen in diesem Alter hat auch Leonardo ‹sein Ding› gesucht, was in seinem Fall eben das Judentum war, und auch geblieben ist: ‹Ich habe angefangen, den Sabbat einzuhalten. Ausserdem habe ich mich zwei Jahre lang vegetarisch ernährt. Das bedeutet zwar nicht koscher, aber immerhin Disziplin. Mit dem Umstieg auf koschere Lebensmittel kam dann das Beten hinzu. Erst einmal, schlussendlich dann dreimal täglich.› Spannungen aus religiöser Sicht waren selten im Alltag und traten wenn überhaupt vor allem im schulischen Kontext auf. Seine Mutter konnte zwar nicht immer genau nachvollziehen, wie und warum Leonardo seinen Glauben lebte, liess ihn aber stets gewähren. Erst als er im Gymnasium auf Probe kam, bestand sie darauf, dass er am Sabbat zur Schule geht. Im Allgemeinen wurde er sonst in Ruhe gelassen, da er in Teenagerzeiten sehr introvertiert war und erst später, auch gegen aussen hin, aufgeblüht ist.

‹Als Jude rechtfertigt man sich immer, für alles.›

Um mir einen Einblick in seine Jugendarbeit zu verschaffen, hat mir Leonardo angeboten, am nächsten Sabbat bei einem Treffen der beiden Jugendgruppen als Gast aufzutreten, um den Jugendlichen ihrerseits einen Blick auf das Judentum von aussen zu ermöglichen und eine Diskussion anzuregen. ‹Wenn du einen frommen Juden für ein Interview anfragst, so wird sich dieser selber fragen: Warum soll ich mich exponieren? Wird das meine Beziehung zu Gott verbessern? In diesem Fall aber denke ich, dass wir in einer Diskussion mit einem Aussenstehenden immer wieder unser eigenes Jüdischsein reflektieren müssen, was sicher nicht schaden kann.›

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Bereits nach kurzer angeregter Unterhaltung mit den Jugendlichen wird mir klar, dass das Bekenntnis zum eigenen Jüdischsein etwas ist, um das ein Jude nicht herumkommt, egal ob er nun religiös ist oder nicht einmal an Gott glaubt.

‹Ich werde leider immer gleich als Botschafter Israels angesehen.› Die Tatsache, Angehöriger einer Minderheit zu sein und sich immer wieder für abweichendes Verhalten rechtfertigen zu müssen, wirkt natürlich verstärkend: ‹Als Jude rechtfertigst du dich pausenlos. Ich glaube diese Rechtfertigung im Allgemeinen ist per se schon eine Definition für das Judentum.› Gerade für diejenigen, die eine öffentliche Schule besuchen, ist die Wirkung nach aussen, der Umgang und auch die Reibung mit Nichtjuden ein wichtiger Punkt, der schnell aufgegriffen wird. Die Grenzen zwischen Klischee-Vorstellungen und Antisemitismus verlaufen dabei fliessend. Erstaunte Fragen wie ‹Du bist Jude? Warum hast du keine Löckli? Wo ist dein Käppi? Und deine Nase?› gehören zu den harmloseren Dingen, mit denen sich ein junger Jude in seiner Schulzeit immer wieder konfrontiert sieht. Ein wenig problematischer, wenn auch durchaus ambivalent, wird das Verhältnis zu muslimischen Jugendlichen beschrieben. So kann blosses Jüdischsein schon mal ein Grund dafür sein, dass eine Mädchenfreundschaft gekündet wird und plumpe Gifteleien gehören zur Tagesordnung. Gerade die Frommeren haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass


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