kinki magazine - #16

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Ein Blick in ihre Gesichter genügt, um sich ein Bild davon machen zu können, wie anstren­ gend ihre Flucht war.

ngeachtet dessen, wie sie die Schweizer Grenze überquert haben, müssen sich alle Asylsuchenden in einem der Meldeämter der Einwanderungsbehörde in Chiasso, Vallorbe, Basel oder Kreuzlingen registrieren lassen. Sobald ihre persönlichen Daten aufgenommen wurden, werden sie ein zweites Mal befragt. Diesmal werden persönliche und familiäre Hintergründe recherchiert sowie der Grund des Asylantrages festgestellt. Aus Sicherheitsgründen wird jeder einzelne Flüchtling genau überprüft, es werden Fingerabdrücke genommen und eine Akte mit Foto des Antragstellers angelegt. Dieses Verfahren soll helfen sicherzustellen, dass dieselbe Person nicht mehrmals Anträge zum Beispiel unter falschem Namen stellen kann. Die Bearbeitung des Antrages dauert in der Regel fünf bis zehn Tage. Eine Zeit, die die Flüchtlinge oft in Frustration und Angst vor einer Ausweisung verbringen. Fakt ist, dass so der erste Tag eines jeden illegalen Einwanderers aussieht, der sein Glück in der Schweiz suchen will. Gründe, die die Menschen dazu bewogen haben, ihre alte Heimat vielleicht auf immer zu verlassen, verschwinden oft unter einem Deckmantel aus Lügen oder Schweigen. Die Antworten findet man jedoch allzu häufig in ihren Augen. Blicke, die Bände sprechen. Der Grund, warum Immigranten die italienischschweizerische Grenze bevorzugt bei Nacht überqueren, scheint unklar. Meist werden die Flüchtlinge von gut organisierten Schleuserbanden über die sogenannte ‹Grüne Grenze› gebracht – trotz des mittlerweile in Kraft getretenen Schengener Abkommens. Hier endet eine Reise durch Illegalität und Angst. Oft lässt sich nicht genau nachvollziehen, wie lange diese Menschen hierher unterwegs gewesen sind. Meist Monate, in manchen Fällen sogar Jahre. Augenscheinlich mussten sie auf ihrem Weg, der von Armut und Ungewissheit geprägt war, grosse Entbehrungen in Kauf nehmen, bis sie in Chiasso oder den anderen Städten nahe der Grenze angekommen sind. Ein Blick in ihre Gesichter genügt, um sich ein Bild davon machen zu können, wie anstrengend ihre Flucht war. Geprägt von Ausbeutung und schrecklichen Erlebnissen, verwirrt von Desinformation und Sprachbarrieren. Nach Tausenden von Kilometern kennt jeder von ihnen erschütternde Geschichten: unaussprechlich, geflüstert. Nach dem Eindruck, den all diese Geschichten hinterlassen, kann man den Weg eines Einwanderers am besten mit dem eines Kajakfahrers vergleichen, der bei Sturm versucht den Atlantik zu überqueren: Diese Reise ist selbstmörderisch. Der vorliegende Fotoessay zeigt die von ihrer zermürbenden Flucht erschöpften Menschen, die im Land ihrer Träume angekommen sind. Der erste Augenblick in einem neuen Leben. Text: Jacek Pulawski und Prisca Colombini Übersetzung: Florian Pflüger Fotos: Jacek Pulawski

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