Die wunderbare Reise ins Nichts

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Unsere Wahrnehmung ändert sich. Wir werden hellfühlig, multidimensional und metaphysisch. Ein schleichender Prozess in Richtung kollektives Bewusstsein. Ein paar Protoganisten versuchen schon mal dorthin zu gelangen. Sie machen seltsame Experimente. Ihnen gelingt der Sprung in ein Sein, das sich nicht schlussfolgern lässt. Und dann Freude, Dröhn und Göttertrunken und alle werden Brüder? Oder sind die damit verbundenen Konsequenzen derart, dass dies nur in einer Katastrophe enden kann?

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Die wunderbare Reise ins Nichts

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I. Da lachen ja die Eier Von Alfred zu Paul Experimente Excel und andere Derivate Nähe und Ferne Ästhetischer Logozentrismus

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II. Frau Bollmanns Konzepte Bei Dr. Bender Kiffa Kollega Love Jah Love Implizit und explizit Doppelte Aufklärung Zweiter Anlauf Auf dem Weg zum Kaffe trinken Zwischen Dichtung und Wahrheit Intellektuelle Anschauung Falsch rum ist auch richtig

70 77 88 92 97 104 114 116 122 129 142

III. Bad in der Menge Die Ankunft In Formen fiebern Das Feld Am Akkumulator Energiepulsationen im Bewusstseinsäther Der Form so satt Friedlich und Friederich Denn es kommt die Zeit Die große Gesundheit

166 192 216 233 243 252 261 265 273 290

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INHALTSVERZEICHNIS

Und Pieschke tanzte It´s Party Time Die Angst der Macht

303 316 327

IV. Devs gelbe Zettelchen 337 Die Auflösung der Kreisel 350 An die Natur 355 Mit Tee auf die Reise 368 Die zweite Haut 383 Metaphysik mit Maschinen 389 An den Toiletten 408 Paradoxes Erleben 412 Sex mit Sikhs 424 Depersonalisationen 428 Das Absolute 433 Rasta Hari 449 Henriette unterwegs 453 Frösche und Vögel 455 V. Freude an sich Im reinen Sein Freude, Dröhn und Göttertrunken Im Zeichen des Elefanten

464 478 481 488

Gegentaufe 497

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Nur zwei Dinge

DA LACHEN JA DIE EIER So früh am Morgen war der Weg noch leer. Nur aus den alten Gemäuern drangen leise Lieder und Glo-

Durch so viele Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu? Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage - ob Sinn, ob Sucht, ob Sagedein fernbestimmtes: Du mußt.

läutet wurden. Es war für

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.

Alfred immer etwas Beson-

Gottfried Benn

cken, die zur Andacht ge-

deres, auf dem Pilgerweg in der ersten Dämmerung zu schreiten. Es war ihm, als ginge er mit all denen, die hier schon vor ihm gegangen waren. Suche und Sehnsucht waren eingeschrieben in den Weg und die Luft war in der Frühe noch duftend und wie ein leichter Rausch. Sie kamen von den Bergen, sie gingen in die umgekehrte Richtung, es zog sie noch einmal nach Rishikesh, dorthin, wo alles begonnen hatte. Vielleicht eine Stunde noch, dann würde es hier geschäftig werden. Die Touristen Offices, Coffee Shops, Internetklitschen, Handyschuppen und die vielen Geschäfte, in denen man Kleider, Schmuck und Souvenirs kaufen kann, würden öffnen. Das halbe Inventar würde auf diesen schmalen und jetzt noch einsamen Weg geschoben werden und dann wird es immer voller werden. Lautes Rufen, schrilles Hupen und dröhnende Transistorradios. Gestank, Gerüche und buntes Gedränge.

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Sechs Jahre waren vergangen, seit sie sich in dem Café getroffen hatten. Sie begaben sich auf die höher gelegene Terrasse, die auf langen Holzstelen stand. Von dort aus konnten sie die Tempelanlagen mit ihren Türmen betrachten, die im ersten Licht wie Zuckerhüte glitzerten. Von dort aus konnten sie auch den Strom überblicken, der in Rishikesh noch das klare und kalte Wasser aus den Bergen mit sich führte. Wenn er sich an Felsen verwirbelte, ertönte sein gurgelnder, wenn er über Steine schwappte, sein plätschernder Gesang. Schillernd war das Licht an diesem Morgen und die aufgespannten Tücher flatterten in den fallenden Winden. So warteten sie eine Weile. Sie wähnten sich weit genug entfernt von dem Trubel, der unten bald einkehren würde. Weit genug von den lärmenden Europäern, Amerikanern, Russen und Israelis. Weit genug von ihrer Aufgeregtheit und ihrem Begehren. Jemand kam und nahm ihre Bestellungen auf. Kurz darauf wurden Rühreier, Obstsalat und Orangensaft gebracht. Alfred nippte abwesend an seinem Glas. Wenn der Wind sich legte, vernahm er in seinem Ohr ein Summen. Auch jetzt. Er schaute über den Fluss. Das Summen schien verwoben mit den Anblick der im flirrenden Licht stehenden Uferlandschaft. Ein Vogel erhob sich über den Strom. Es dauerte wenige Sekunden, aber der Augenblick wirkte

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wie angehalten, dehnte sich in die Zeit, schien eine Ewigkeit zu währen. Bronsky hatte inzwischen begonnen, sich über das Essen herzumachen. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten seinen Appetit nicht beeinträchtigt. Während er sich an verschiedenen Tellern bediente, rekapitulierte er die Arbeit des letzten Tages mit amerikanischem Akzent. »Es funktioniert. Ich kann das dosieren. Willst du glücklich sein? Ok ..., kannst du haben«. Er nahm einen großen Bissen. Alfred musterte ihn. Bronsky war begeistert von der Vorstellung, Emotionen hoch und runter regeln zu können. Er hatte nicht begriffen, um was es eigentlich ging. Alfred hatte ein ungutes Gefühl. Wenn etwas schief lief, dann würde er es darauf schieben, kurzsichtig zu sein oder dass zum ersten Mal der Ernstfall eingetreten war. Die letzten Wochen hatten sie im Hauptgebäude alle Verbindungen überprüft und dreimal hatten sie das Becken geflutet. Alles war einsatzbereit. Sie spürten Teilhabe an einer Art höherem Geschick und dass sich nun alles ändern würde. Alfred stand die letzten Tage wie unter Strom, doch fühlte er sich seitdem auch, als hätte man ihm etwas vom Kopf gehoben, als wäre jetzt mehr Weite und Himmel überall und als müsse er sich allseits vor diesem wunder-

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samen neuen Sein verbeugen. An Hölderlin musste er denken: Wie der vor jedem, der sein Turmzimmer betrat, irrwitzig und mit einem Schwall von Komplimenten in die Knie ging. Und eine Begebenheit aus Nietzsches Leben kam ihm in den Sinn: Als dieser von Freude und Wahnsinn ergriffen, einem Esel um die Arme fiel. Und hatte dieser nicht kurz zuvor noch geschrieben: »Zum Segnenden bin ich geworden, zum Ja-Sagenden« Doch war nun auch vieles schwer auszuhalten und er war in letzter Zeit ungewöhnlich empfindlich geworden. Ein falscher Ton konnte in seinen Ohren schrill und unerträglich klingen, eine ungeschickte Geste konnte ihn gänzlich aus der Fassung bringen. Das Licht, das die gekalkten Gemäuer am anderen Ufer reflektierten, war Alfred zu blendend geworden. Er drehte sein Gesicht nach Norden. Dort konnte er schemenhaft die Gebirgsketten des Himalaya erkennen. Darüber das ganz wolkenlose Blau. Als er seinen Blick wieder hinabsenkte, gewahrte er ein älteres Paar. Sie saßen zwei Tische entfernt. Er betrachtete sie. Hätte er für dieses Paar einen Hintergrund wählen dürfen, eine Hotelanlage an der türkischen Ägäis oder eine Pension am Starnberger See hätten besser gepasst. Wahrscheinlich waren sie aus einem der neu

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errichteten Wellness Resorts hergekarrt worden. Sie hatten sich ein Bier bestellt und nun saßen sie hier so ruheständlerisch wie Menschen, die wissen, dass sie alles getan hatten, was ihnen aufgetragen worden war und dass es darüber nichts mehr zu sagen gab. Vor ihnen hatte er Zuflucht gesucht. Vor ihnen war er bis zu diesem einstmals abgelegenen Pilgerort geflohen. Alfred fixierte den alten Mann, dann die alte Frau. Sie war keine Schönheit mehr. Vielleicht war sie nie eine gewesen. Ihre Haare hatte sie bis zum Nacken gekürzt. wie ein Feld, das gemäht wurde, wie ein Sommer, der schon lange vorbei war. Doch auch etwas Friedvolles ging von ihnen aus. Und eine Würde, die sie sich in den Jahren der Arbeitsamkeit und des Anstands angespart hatten. Alfred dachte an die Wirren, die sein Leben durchzogen hatten! Nein, da waren kein Zorn und keine Verachtung mehr, nur eine Erinnerung an alte Krisen. Und während er die beiden schonungslos lange anstarrte, gedachte er seiner Eltern. Er spürte ein Mitgefühl aufsteigen. ›Sie haben ihr Leben gelebt. Wie einen Traum, aus dem sie nie erwacht sind‹, ging es ihm durch den Sinn. Nun saßen sie einfach nur noch da und warteten bierselig auf ihr Ende. Immer gleichförmiger in ihrem Denken, immer wortloser in ihrem Beisammensein, immer schicksalsergebener in ihrem Dasein. ›Wie ins Urphlegma eingekehrt. So dumpf wie Eidechsen, die in der Sonne dösen‹, dachte er. Das Mit-

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gefühl war stärker, das Summen in seinem Ohr war deutlicher geworden. Es begann die Festigkeiten zu lösen. Er spürte einen Impuls, sich zu erheben und zu den Herrschaften hinüberzugehen. Er würde ihnen sagen: ›Noch habt ihr Zeit‹. Unwillkürlich hoben sich seine Arme eine handbreit über den Tisch. Bronsky musterte seinen Nachbarn. Alfred führte sich zunehmend auf wie jemand, der den Umständen nicht mehr gewachsen war. Das Projekt war für ihn zu groß geworden. Es machte ihn instabil. Bronsky zündete sich einen Zigarillo an. Zigarillos waren für Alfred schlimmer, als sich in Indien sein Bierchen zu gönnen. Und vielleicht würde dies Alfred ablenken. Was dieser immer noch nicht begriffen hatte: Bei großen Summen gelten erbarmungslose Regeln. Da müssen beide Seiten alles richtig machen. Bronsky hatte gewusst, auf was er sich einlässt. Der Investor hatte gewusst, auf was er sich einlässt. Es war eine Abmachung unter Männern mit starken Nerven gewesen. Das konnte der Investor von jemandem erwarten, der beim Geheimdienst gearbeitet hatte. Das konnte Bronsky von jemandem erwarten, der bei anderen - auch ohne deren Einwilligung - Milliarden eingesammelt hatte. Der Investor sprach nur mit ihm. Alfred nahm er nicht ernst. Alfred war nicht seine Gewichtsklasse. Alfred starrte wie durch sie hindurch, wenn sie irritiert zurückschauten. Bronsky beobachtete erst

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Alfred, dann die beiden Fremden. Er versuchte zu verstehen, was da gerade vor sich ging. Er sagte zu sich: ›Er merkt nicht einmal, dass er glotzt. Solche Typen sind einfach nicht geschäftsfähig.‹ Er griff mit seiner Hand über den Tisch. Er drückte Alfreds Armgelenk kurz und fest. Dann sagte er bestimmt: »Ist gut...wollen wir die Herrschaften in Ruhe lassen.« Er zog seine Hand langsam zurück. Er spürte, dass ihn diese Situation mehr aufregte als ihm lieb war. Da war doch mehr als nur die pure Vereisung jeden Gefühls. ›Seinen kleinen Bruder...,‹ sagte er beschwörend zu sich selbst, ›...lässt man ja auch nicht gleich im Stich‹. Der Alte schaute nun scharf und zurechtweisend zurück. Das war etwas, das Alfred nicht ertragen konnte. Er war ein gebranntes Kind, was soziale Ächtungen betraf. Er hatte Schonung gebraucht. Er war hierher gekommen. Er hatte vieles aufgearbeitet. Er war offener geworden und nun seit Tagen beinahe schutzlos. Zurechtweisungen weckten das alte Trauma. Er spürte, wie ein Zorn in ihm aufzusteigen begann. »No Showtime! Nicht heute!« Bronsky machte ein ernstes Gesicht. »Du hast uns den Appetit verdorben.« Bronskys Worte kamen für Alfred wie aus einiger Entfernung. Es war gut, dass er da war. Er konnte eingreifen. Alfred wollte diesen Zorn wieder loswer-

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den. Er versuchte, ruhig und langsam zu atmen, schenkte Bronsky, der immer noch in Alarmbereitschaft war, ein erschöpftes Lächeln. Das Summen in seinem Ohr war leiser geworden, es war wie das Betriebsgeräusch der durch ihn fließenden Energien, und nun, da er sich ein wenig gefangen hatte, strömten diese ruhiger und gleichmäßiger. Und da war sie wieder: Die Schönheit, die über den Dingen lag, durch die alles wie von innen heraus leuchtete. Er betrachtete Bronskys Essensreste, die leeren Melonenhalbmonde, die dünnen Bananenschalringe, die übrig gebliebenen Erdbeeren. Die Sonne warf ihr Licht über den Tisch. Krümel glitzerten, Blumen und Teller leuchteten in intensiven Farben. Sie waren so dermaßen deutlich und detailreich, dass Alfred den Eindruck hatte, sie wollten ihm ihre Realität nur vortäuschen, als würde es einen Kulminationspunkt geben, bei dem das intensivste und hyperrealste Dasein sich schließlich als irreal und scheinartig offenbarte. Er musste an die Liste mit den Leuten denken, die er einladen wollte. Eine buddhistische Delegation, ortsansässige Yogis, Hindus und Brahmanen, denen er vertrauen konnte. Freunde, die in der Welt verstreut waren. Familienmitglieder? Er hatte ein paar mal darüber nachgedacht. Aber die Familie hatte ihn nie verstanden. Am allerwenigsten würde er seinen Bruder einladen. Es gab wirklich niemanden

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in seiner Familie, den er hier haben wollte, bis auf seinen Neffen Paul! Doch geriet dieser immer mehr unter den Einfluss seines Vaters. Viele Jahre waren vergangen, seit Alfred Paul das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte immer eine tiefe Verwandtschaft ihm gegenüber empfunden. Gelegentlich hatte er sich nach ihm erkundigt, aber nicht direkt bei Paul, nicht bei seinen Verwandten und vor allem nicht bei seinem eigenen Bruder, sondern über eine junge Frau erfuhr er, was Paul so machte und wie es ihm ging. Ihn würde er einladen. Nicht über seine Postadresse, es müsste anders bewerkstelligt werden. Er versuchte sich zu konzentrieren. Er brauchte einen Plan. Während er über dieses Thema nachsann, Paul, Pauls Vater, der ja auch sein Bruder war, und über die möglichen Konsequenzen, begann er zu zweifeln. Die ganze Liste musste er noch einmal überdenken. Die Dinge drangen in ihrem Licht, in ihren Farben, in einer Deutlichkeit und Intensität auf ihn ein, die kein klares Denken zuließen. Sie erschienen wie aufgegangen in sich selbst. Es war ihm, als wollten sie auf ihn zukommen, als würde er sie durch ein Vergrößerungsglas sehen. Sie waren schön. Unwirklich schön. So, als wären sie in ihrem blühenden und von Zwecken ganz unberührbarem Sein, innerlich

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leer. In einer solchen Verfassung war es nicht einfach, normal zu bleiben. Beim Knabbern der Brezel war ihm dies deutlich geworden. ›Ein Wunder, dass die Brezel nach Brezel schmeckt!‹ dachte er sich, während er sie vorsichtig und kraftlos in sich hineinmampfte. ›Woher kommt der Geschmack, wenn die Brezel doch nur so tut, als ob sie eine Brezel wäre?‹ Er hatte sie lange angesehen. Alte Erinnerungen waren hochgekommen und Gefühle, die er überwunden zu haben glaubte: Erniedrigung, Minderwertigkeit und diese Wut. All das dümpelte nun dunkel und widerständig im feinen und hellen Gewebe der Energien. Es schien ihm, als ob die Energien an Intensität zunahmen. Er blickte auf seine Hände. Sie kribbelten. Sein ganzer Körper wurde von diesem Kribbeln erfasst. Die Energien elektrisierten die feinen Haare auf seiner Haut, sie summten wieder lauter im Ohr und es war ihm, als würden sie ihn vom Boden heben. Da sah er die Verhärtung im Gesicht des Mannes, die Versteifung im Körper der alten Dame. Er nahm dies wahr wie einen Schatten im energetischen Fluss. Es war ein Schatten, den er verursacht hatte. Diese Kräfte schienen wie an ihm zu ziehen. Er musste aufstehen und alles rückgängig machen. Er musste den Frieden wiederherstellen und die Harmonie. Und während er aufstand, sah er sich aufstehen und hörte

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sich sagen: ›Ich stehe auf und löse das Problem‹ Er stand schon, als er diesen Satz vollständig gewahrte und sein Gehirn sich fragte: ›Welches Problem soll ich lösen?‹ Es war selbstverständlich dasselbe Gehirn, das zu Bronsky rüberblickte - der ihn überrascht ansah - und das längst wusste, was es in diesem Fall zu sagen hatte: »Mach dir keine Sorgen, Bronsky. Es gibt hier kein Problem.« Und nun, da er stand, fühlte er sich aufgerichteter, klarer und entschiedener. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er dem Drängen Bronskys, sich wieder hinzusetzen, nicht nachgab. Doch es war nicht alles in Ordnung mit seinem Stehen. Er wankte, kippte nach vorne, stolperte auf unsicheren Beinen einem entsetzten Pärchen entgegen. Er sagte zu sich: ›Ich werde mal Hallo sagen‹. Er spürte die Erlösung, die darin lag. ›Es wird sich alles in Licht verwandeln‹, dachte er in diesem Augenblick. Inzwischen war er an ihrem Tisch angelangt. Er blickte in verwackelte Gesichter, in sich drehende Bilder. Ihm fehlten die Worte. Er grinste das Pärchen an. Seine Augen erschienen ihm leuchtend, so als wollte die Kraft aus der Dunkelheit heraustreten. Das Strömen war nun so stark, dass er unwillkürlich die Arme hob. Er streckte sie weit hinauf und grinste. So, als wollte er für sich, seine Sünden, für die Beiden

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und überhaupt für alles um Erlösung bitten. Doch er spürte auch die Verlegenheit, in welche er sich und die Beiden brachte. Was sollte er ihnen überhaupt sagen? Ihm viel nichts Besseres ein als: ›Tut uns einen Gefallen und kommt uns mal besuchen‹. Er brachte den Satz aber nicht über die Lippen. Bronsky betrachtete Alfreds gestreckten und schwankenden Rücken. In ihm war nur ein Gedanke und dieser spendete ihm Gelassenheit. ›Ich werde ihn verschwinden lassen!‹, denn er konnte es nicht zulassen, das ihn jemand ernsthaft in Gefahr brachte. Es war schlimm, dass sich alles so entwickelt hatte. Sie hatten sich zu einer Zeit getroffen, als sie beide in einer Krise steckten. Bronsky hatte sich entschieden, seine alte Existenz an den Nagel zu hängen. Sie waren beide auf der Suche gewesen und zu Weggefährten geworden, weil sie etwas miteinander verband. Alfred verschaffte ihm die Verbindung zu den Menschen, die er für seine Apparaturen benötigte. Das war der Deal. Was dieser jedoch nie kapiert hatte, war, dass es verbindliche Abmachungen mit dem Investor gab. Dieser hatte die Leute organisiert, die das dafür notwendige Gerät aus geheimen, militärischen Lagern organisiert hatten. Dieser hatte Millionen bereitgestellt, damit das alles aufgebaut werden konnte. Bronsky hatte dem Investor nur die halbe Wahrheit

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erzählt. Er hatte verschwiegen, wie brisant diese Apparate waren. Bronsky hatte ihn auf einer Party kennengelernt, auf der Forschung und Geld miteinander verkuppelt werden sollten. Der Typ besaß weltweit exclusive Hotelanlagen. Sein Geschäft war erfolgreich, wenn sich die Gäste in seinen Ressorts wohlfühlten, wenn er sie glücklich machen konnte. Er besaß dafür nun die perfekte Technologie. Und Alfred kannte die Menschen, mit deren stillen und wachen Geist er seine Geräte füttern und mit deren mentalen Alphawellenarchitektur er seine Apparate noch wirkungsvoller machen würde. Doch was der Investor nicht wusste und was Alfred erst nach und nach klar wurde, alle geistigen Frequenzen ließen sich bis zu einem Punkt verstärken, an dem sie sich materialisieren konnten. Diese Fleischwerdung des Geistes durch die gezielte Intensivierung bestimmter Frequenzen hatte begonnen, selbst Bronsky Angst zu machen. Was nicht zusammenpasste, das waren die unterschiedlichen Motive, die sie diesen Deal eingehen ließen. Alfred hatte angefangen, daraus seine persönliche Mission zu machen. Ihm schwebte ein „High Tech Ashram“ vor, eine „technologiegetriebene Erleuchtungsbegegnungstätte“. Für umsonst! Das konnte er dem Investor nicht einmal andeuten, der hatte in den letzten Monaten immer weniger Geduld und

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wurde ungehalten, weil er merkte, dass sich alles schwieriger gestaltete, als ihm erzählt worden war. Und er hatte nur eines im Kopf: Den von Bronsky versprochenen kolossalen »Return of Invest«. Mit fetten Renditeversprechungen hatte er den Dicken so dermaßen angefixt, dass er alles fraglos vorfinanziert hatte. Bronsky hatte es nun mit zwei Menschen zu tun, die jeder auf seine Weise am Durchdrehen waren und das konnte für ihn schlimm enden. Zu allem Unglück wollte Alfred nun auch noch seinen Neffen Paul zu sich einladen, nur weil der ihm »so ähnlich sei« und »so sehr am Herzen lag«. Bronsky zündelte an dem Zigarillo. Er wollte noch nicht einschreiten, vielleicht würde sich Alfred beruhigen, wenn er da lange genug wie ein Idiot herumgestanden hatte. Doch Alfred begann,

Preston NIchols

sich bedrohlich vorzubeugen, und dann gab er einen seltsamen Laut von sich. Es war der Anfang des Satzes, der noch in seinem Kopf herumschwirrte: »Tut...« Als Alfred vor den Beiden mit erhobenen Armen gestanden hatte, schien es ihm für einige Sekunden, als wäre dies sein eigenster und ganz natürlicher Zustand. Er blickte in erstaunte und ganz

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Um eine Vorstellung von Bronsky´s bewusstseinverändernden Maschinen zu bekommen, ist es hilfreich sich die Interwievs mit Preston Nichols bei Youtube anzuschauen. Ist der Mann ein Hochstapler? Doch weshalb sollte er lügen? Wenn es darum gegangen wäre seine Geschichte glaubhafter zu machen, dann hätte er doch eigentlich die Episode mit seinem betrunkenem Alien-Arbeitskollegen nicht einfügen dürfen. Oder auch nur ein Trick?

youtube.com/watch?v=AGglyC8QEnk


entsetzte Gesichter. Doch begannen die Alten, ihre Fassung zurück zu gewinnen. Der Mann sah ihn zornig und mit stechenden Blicken an. Er zischelte etwas Verächtliches hervor. Das hing diesem wie dunkler Nebel vor dem Mund. Alfred konnte es nicht verstehen, noch immer stand er wie unter Strom, noch immer hatte er seine Arme oben. Das war auf einmal komisch und er stand da wie ein Narr. Sein Leben lang war er ein Narr gewesen vor den Blicken dieser „immerzu Anständigen” und „von Grund auf Vernünftigen”. Er spürte eine Kontraktion seiner Kräfte, einen Schmerz in der Brust und er registrierte den Bodensatz alter Erinnerungen und Gefühle, die noch einmal und noch heftiger nach oben wirbelten. Noch hatte er den Satz auf der Zunge ›Tut uns...‹, doch brachte er ihn nicht mehr über die Lippen. ›Die werde ich nicht einladen! Die werde ich nicht aus dem Schlaf ihrer Vernunft wecken‹. Mit Argumenten war da nichts zu machen. Er wollte etwas sagen. Aber was sollte er denn sagen? Er sagte wieder nur: »Tut...« Und dann wieder: »Tutt« Und: »Tuuut«

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in verschiedenen Intonationen und Tonlagen. Und dabei dachte er: ›Das ist hinreichend schwachsinnig. Das allerbeste Mittel gegen Verstand‹. Mehr fiel ihm nicht ein. Zu mehr war er nicht in der Lage. Er war nahe herangekommen. Seine Pupillen schienen sich wie unter einem inneren Druck nach vorne zu wölben. Die Energien steigerten sich wie zu einem alles auslöschenden Rauschen. Jedoch gab es keine Entladung, keine Erlösung, kein Licht. Und dann, als wollte etwas in ihm den Fremden noch einen letzten Löffel Brei nachschieben, fügte er seinem letzten »Tut« noch die Bemerkung hinzu: »...und Tot.« Der ältere Herr hatte sich anfangs gestört gefühlt, denn er hatte bemerkt, dass er beobachtet wurde. Zwei Tische entfernt saß dieser Typ, der in seiner Midlife Crisis hängengeblieben war. Fast hätte der ihm Angst gemacht. ›Man kennt sich ja noch nicht so aus hier‹. Aber als er ihn dann aufstehen sah, die Ungeschicklichkeit in den Bewegungen, die Schlabberigkeit in dem Gehabe. Da war ihm alles klar. Zu seiner Frau hatte er noch rübergeworfen: »Dafür hat man bei uns Anstalten erfunden.« Er hatte es nicht böse gemeint. Er spürte eine derartige Überlegenheit, dass ihn die Schwäche dieser anderen Natur geradezu betroffen machte. Und als die-

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ser mit seiner Streckgymnastik nicht aufhören wollte, da raunzte er den Schwachkopf an: »Jetzt komm mal runter mit den Armen. Da oben wachsen keine Bananen.« Das hatte dieser aber nicht verstanden und ihn nur wie weggetreten angestarrt. Also musste er nachhelfen, ganz sachlich, sodass dieser Unverständige verständig werden müsste: »Wir möchten in Ruhe unser Frühstück genießen, dazu müssen sie uns nicht Gesellschaft leisten. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Wenn sie sich jetzt bitte auf ihren Platz begeben könnten.« Doch schien der Trottel ihn nicht zu hören, sondern kam mit seinem irren Gesicht nur noch näher und machte Tut und laberte was vom Tot. ›Und ich dachte, ich wäre deutlich genug gewesen‹, hatte der Mann, der Hans Gombert hieß, da zu sich gesagt. Ebendieser Hans Gombert, der den Krieg noch erlebt hatte, der als kleiner Junger so viele Tote sehen musste und nachts stramm vor dem Bett stand, wenn Fliegeralarm war. Der dort seine kleine Mütze aufgesetzt bekam und wie aufgezogen den Weg zu den Bunkern zurücklegte. Dieser Hans Gombert, der ein Jahr in Tempelhof als Kofferkuli gearbeitet hatte und der auf zwei Stangen acht Taschen balancieren konnte. Der dann doch noch studiert hatte und Chefinge-

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nieur geworden war. Der mithalf beim Wiederaufbau und der Hochhäuser entworfen hatte, durchdacht und grundsolide bis in das kleinste Detail. Derselbe Hans Gombert, der heute noch manchmal gefragt wurde, wie er das alles habe leisten können, und der zunehmend weniger gefragt wurde. Der vor fünfzig Jahren in Berlin Neukölln sein Ja Wort ausgehaucht hatte. Der für das alles hart arbeiten musste: Den Aufbau und die eigene Karriere und den wohlverdienten Ruhestand. Der musste sich das nicht sagen lassen, soviel bornierte Dummheit war ihm dann doch zu viel. »Geh mal weg« schnauzte er verächtlich und »Du störst«. Dabei drückte er ihm angewidert zwei ausgestreckte Finger in die Brust. Die beiden Finger hatten eine Grenze in Alfred berührt. Sie hatten versucht, in die Heiligkeit seines Seins zu dringen. Da hoben ihn die Kräfte noch einmal empor und Alfred beugte sich nach vorne, stemmte seine Arme auf den Tisch und schob sich bedrohlich nah zu dem Anderen heran. Er sagte mit Nachdruck: »Tut!« Das war ganz wunderbar und angemessen blöd. Alfred schaute dem gedrungenen und stämmigen Alten eindringlich in die Augen. Und da sah er, wie

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klein dieser geworden war. Er sah die Bomben, die auf ihn niedergegangen waren und die übermächtigen Amerikaner, denen er sich angedient hatte. Alfred hob sich über ihn wie sein Schicksal und Gombert sah in sein Schicksal! So wie ihm die Welt damals erschienen war: Fremdartig und feindselig. Für einen Moment spürte Hans Gombert, was er an sich selbst am wenigsten mochte. Für einen Moment. Und dann spürte er, dass auch er gerechtfertigt war, dass er immer aus allem das Beste gemacht hatte, dass er es sich nicht geleistet hatte zu versagen! Ein ebenso heiliger Zorn stieg nun in Gombert auf. Und auch Alfred sah in sein Schicksal, sah in all die Feindbilder seiner Wirklichkeit, sah in das, was ihn geprägt hatte. Zorn traf auf Zorn. Nur war in diesem gemeinsamen Zorn keine Aggressivität. Nur Macht und Heiligkeit und Schicksal. Keine Eskalation fand statt. Alfred war gerechtfertigt, Hans war gerechtfertigt. Beide erschienen einander in diesem Moment, in dem was sie »auch« waren, in ihrer gesammelten Kraft und Selbstherrlichkeit. Allerdings bei aller Tragik der weiterhin bestehenden Tatsachen, wie Gombert dachte: ›Denn ein Mann ohne Familie ist wie ein Haus ohne Dach. Und wenn das Schicksal da immer reinregnet, dann zerstört es das Fundament‹.

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Seine Frau hatte dies alles verängstigt mit angesehen. Sie wollte diese Reise nicht. Jetzt war geschehen, was sie befürchtet hatte. Die Reise war seinem Selbstverständnis geschuldet, dass sich das Leben auch im hohen Alter ein bisschen Abenteuer erhalten sollte. Jetzt hatte er sein bisschen Abenteuer. Sicher nicht so berechenbar, wie er sich dies gewünscht hatte. Und nun hatte sich der Fremde auch noch unmittelbar vor ihnen aufgebaut und starrte ihren Mann eigentümlich an. Beide schienen für einen Moment nicht zu wissen, was sie einander sagen sollten. Der andere, dickliche Fremde stand jetzt direkt hinter seinem durchgeknallten Freund. Er griff ihm unter die Arme. Sie dachte: ›Wenn man Hunde an die Leine nimmt, dann fangen sie an zu beißen‹. Sie befürchtete das Schlimmste. Alfred spürte Bronskys festen Griff. Der wollte ihn wegziehen und sagte: »Jetzt ist Schluss!« Vielleicht wäre Alfred gegangen, aber er wollte sich keinesfalls abführen lassen. Hans Gombert war mittlerweile zu seiner alten Selbsicherheit und zu der Überzeugung gelangt, dass in Alfred´s Desolatheit die ersten Anzeichen einer echten Demenz erkennbar wären. Er hatte sich auch Gedanken darüber gemacht, wie er Bronsky in dieser Situation

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unterstützen könnte und meinte beschwichtigend zu Alfred: »Am besten Sie gehen jetzt mal lieber. Da hilft kein Tuten und kein Blasen.« Seltsam dissonant schob sich für Alfred die gut gemeinte Blödigkeit dieser Bemerkung in die Besonderheit dieses Augenblicks. Er blickte in die aufgeplusterte Ernsthaftigkeit des Mannes, dann in die klaffende Angst der Frau. ›Ernst und Angst, Angst und Ernst. Ein tolles Paar! Spaß muss her! Diskussionen sind das Letzte, was wir gebrauchen können‹. Für einen Augenblick war da kein Gedanke. Dann hörte sich Alfred sagen: »Mein lieber Herr Meier... beim Tuten einen Blasen? Da lachen ja die Eier!« Er überlegte eine Sekunde, ›Meier? Eier? Unterstes Niveau! Aber gut!‹ Er war aufgestanden, um ein Problem zu lösen, wo es gar kein Problem gegeben hatte, und überhaupt: ›Das sollte man doch feiern!‹ Die seltsam elektrisierende Kraft hatte nachgelassen, aber eine Aufgedrehtheit war geblieben. Alfred wurde festgehalten und er empfand dies keineswegs als unangenehm, zumal sich in ihm noch alles drehte. ›Wieso nicht tanzen? Zu Meier und Eier. Zu einem so guten Reim! So heilsam für Herrn Ernst und auch für Frau Meier. Und eigentlich ist doch sowieso alles

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egal‹. Er konnte seinen Oberkörper durch Bronskys festen Griff kaum bewegen. Seine fuchtelnden Arme gingen sinnlos ins Leere. Es blieben ihm aber noch die Beine zum Tanzen, und weil Bronsky derjenige war, der ihm mal diesen Reim vorgeträllert hatte, sollte der jetzt gefälligst auch mitmachen. Was er ansatzweise und gezwungenermaßen auch tat. Alfred sah in das entsetzte Gesicht der Frau, lachte und tanzte: »Tut, tut, tut...« Er war wie das Kasperle. Er baumelte mit Armen und Beinen. Das fühlte sich richtig gut an. Nach all diesem Druck nun doch eine Art von Entladung: »Tut, tut, tut! Wir fahren in den Zoo...« In seinem Kopf reimte sich der Satz zu Ende: ›...da sehen wir Herrn Meier. Der greift sich an die...Waden.‹ »Tut, tut, tut! Wir fahren in den Zoo...!« Alfred ließ seinen Kopf nach hinten fallen und schaute in das sich drehende Muster der aufgespannten Tücher. ›Ach ist das schön, ach ist das herrlich! So kinderselig und schwachköpfig gut‹ Er hörte die blökende Stimme von diesem Hans im Ernst. Er gab sich einen Ruck und kippte mit dem Kopf in seine Richtung. »Mein lieber Hans Meier. Wir fahren in den Zoo...da

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sehen wir `nen Schimmel, der wackelt mit dem...mit der...mit dem tut!, tut!, tut!« Von hinten raunte ihm Bronsky ins Ohr: »Es heißt Tuff, tuff, tuff. Nicht Tut, tut, tut.« »Danke!«, erwiderte Alfred überrascht. »Das war mir entgangen...Danke!« ›Als ob das einen Unterschied machen würde?‹, dachte er bei sich. In diesem Punkt war Bronsky wirklich etwas Besonderes. Immer dann, wenn es am wenigsten angemessen war, konnte er zum Pedanten werden. »Es handelt sich ja schließlich um eine Eisenbahn und nicht um ein Auto.« »Danke Bronsky. Danke! Könntest du das den Herrschaften erklären. Wir fahren mit der Eisenbahn?« »Ja!, mit der Eisenbahn. Und wir fahren jetzt auch nicht in den Zoo. Wir fahren jetzt nach Hause.« Bronsky hatte Alfred fest an sich gedrückt. Er ging mit ihm ein paar Schritte mit, um ihn dann nur noch entschiedener zur Treppe und zum Ausgang zu schleppen. So wie ein Angler, der die Leine ersteinmal kurz abrollen lässt, wenn ein großer Fisch angebissen hat. Die wenigen Gäste, die oben saßen, hatten sich erhoben. Wenn Alfred die Augen schloss, wurde das Kreisen zu stark. Er hielt die Augen offen

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KAPITEL01  SZENE 01:  DA LACHEN JA DIE EIER

und versuchte, einen Punkt an der Decke zu fixieren. Das brachte Erleichterung. Die Sätze drehten sich in seinem Schädel. ›Fahren in den Zoo‹ ›Tuff, tuff, tuff‹ ›Fahren in den Zoo‹ ›Tuff, tut, tuff‹. Er fühlte sich wie in einen großen Wirbel hineingerissen, die kreisenden Bewegungen wurden allmählich sanfter und er bemühte sich, keine weiteren Verwirbelungen zu verursachen. ›Fahren in den Zoo‹ ›Tuff, tuff, tuff‹ ›Fahren in den Zoo‹ ›Tuff, tuff, tuff‹. Eine Kinderglückseligkeit stieg in ihm auf und ein Frieden, der da drinnen war. Auch brachte er diese anderen Reime nicht mehr über die Lippen. Die Reime mit der Uschi und den Zicken. Aus Alfreds bemühten Tanzversuchen war ein Sichwiegenlassen geworden, ein Getragensein von kreisenden Energien und von Bronskys kräftigen Händen. Alfred suchte noch einmal nach seinem Spielkameraden. Er suchte Hans. Der sah betroffen aus. Und er suchte nach seiner Muschi Meier. Die sah noch betroffener aus. Die Beiden wussten nicht mehr so recht, was sie von alledem halten sollten. Alfred wollte ihnen noch zuwinken, während er weitergetragen wurde. »Wir fahren jetzt nach Hause und nehmen eine Brause. Tuff, tuff, tuff«, flüsterte ihm Bronsky väterlich ins Ohr. »Danke, Bronsky! Tuffen ist viel schöner als Tuten.«

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Und während Bronsky ihn mühevoll die Treppe nach unten bugsierte, übersetzte er ein wenig für die, die da Spalier standen. »We´re leaving now the tower and take a little shower. Tuff, tuff, tuff.« Alfred dachte an die gute alte Sesamstraßenzeit. Ernie und Krümelmonster. Als er noch klein und alles gut war. ›Tuff, tuff, tuff. Wieso? Weshalb? Warum? Tuff, tuff, tuff‹ Für einen Moment hielt er in seinem Singsang inne: »Wieso überhaupt weshalb und warum?« fragte er. Bronsky der Psychopath, der Mann für die Details im falschen Augenblick, zumindest hier fehlte es ihm nicht an der nötigen Introspektion: Er flüsterte Alfred ins Ohr: »Wer da fragt bleibt dumm! Tuff, tuff, tuff« Alfred hatte die Augen geschlossen, ließ innerlich los und fühlte sich getragen »Ach ja..., genau..., danke Bronsky.«

VON ALFRED ZU PAUL

Tausende Kilometer weiter

nördlich: Dort saß Paul an seinem Arbeitsplatz, auf dem Bildschirm blinkte der Curser hinter einer globalen Variablendefinition. Seine Stirn war heiß und an seinen Schläfen hatte sich ein Druck aufgebaut. Er hatte Daten hin und her geschoben. Er hatte dafür

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KAPITEL01  SZENE 02  VON ALFRED ZU PAUL

Prozeduren verfasst. Seine letzte Prozedur protokollierte, welche Dokumente die Nutzer geöffnet hatten. Die Namen der geöffneten Dokumente wurden nacheinander in der Globalen abgelegt, um dann später in dem Menü »Zuletzt geöffnete Dokumente« zu erscheinen. In seiner Vorstellung waren Variablen Eimer. Mit Eimern war es möglich, Daten von einem Ort A zu einem Ort B zu schaffen. In B wurden die Namen zuerst einmal in einer Liste abgelegt. Die Liste stellte er sich als einen ebensolchen, aber länglichen Behälter mit vielen Ablagefächern vor. Doch nicht alles gelangte bis dorthin. Er hatte eine Bedingung definiert, durch die gleichlautende Dokumente aussortiert wurden. Denn weshalb sollte man etwas von A nach B schleppen, um dann festzustellen, dass es dort nicht benötigt würde. ›Schleppen?‹ Paul stutzte über seinen eigenen Wortgebrauch. Schließlich handelte es sich ja nur um ein elektromagnetisches Ereignis, das sich im Bruchteil einer Sekunde vollzogen hatte. Ein paar Nullen waren zu Einsen geworden. Im Gegenzug hatten sich Einsen in Nullen verwandelt. ›Nein, das auch nicht! Das war kein Tauschgeschäft!‹ In seinen Skripten standen Buchstaben, Zahlen, Operatoren und Klammern. Und wenn man sich an die formal-logischen Bestimmungen hielt, dann war alles, was sich an Ort A befand, zu-

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gleich auch an Ort B vorhanden. Aus diesem Grund war die Variable doch global. A und B wurden durch sie in eins gesetzt. Zwei Orte waren ein Ort. Also gab es weder einen Transport noch einen Transfer? ›Ist das nicht schon Metaphysik oder die Überwindung von Raum und Zeit?‹ Eine philosophische Komplikation und das mitten beim Programmieren. Paul hatte das Schreiben seiner Skripte unterbrochen, er schloss die Augen und suchte nach einem neuen Anfang. Er begann, seine Arbeit mehr von außen zu betrachten. Sein Bewusstsein war nicht mehr so eingeschränkt und tunnelartig, wie es sich während des Schreibens seiner Befehle, Bedingungen und Schleifen angefühlt hatte. Das war schöner, als sich auf einzelne Programmierzeilen zu konzentrieren. Außerdem war er müde. Er wollte auch nicht mehr darüber nachdenken, ob Variablen eimerartige Behälter oder nur Ausdrücke von beliebiger Bedeutung waren und ob sie sich an einem oder an mehreren Orten gleichzeitig befinden konnten. Paul entschloss sich, weiter loszulassen. Aus größerer Entfernung blickte er auf seine Arbeit in diesem Unternehmen. In diesem System war er also eingebunden: Weiter oben gab es größere Entscheidungs­ spielräume. Nach unten hin nahmen die Freiheiten ab, dort gab es klare Aufgabenbeschreibungen. Für die meisten Tätigkeiten wurden Programme benötigt.

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KAPITEL01  SZENE 02  VON ALFRED ZU PAUL

Deren Prozeduren hatten begonnen, das operative Denken und Handeln zu übernehmen. Sie führten verwaltungstechnische, datenanalytische und archivarische Arbeiten aus. An diesem Übergang von Mensch zu Maschine hatte seine Arbeit ihren Ort. Er war der Herr der Schnittstellen. Hier gab es immer wiederkehrende Bedienungsabläufe und Handlungsmuster. Er war dafür verantwortlich, dass die Abläufe zwischen Mensch und Maschine reibungslos funktionierten. Er war kein Profi. Er war achtzehn Jahre alt. Er machte ein Praktikum in der Firma seines Vaters. Er war begabt und vielleicht würde er einmal Informatik studieren. Seine Arbeit war nicht sinnlos. Sein Vater hatte ihm eine Kalkulation überreicht, die beschrieb, wie nützlich seine Arbeit sei. Es ging um die Beschleunigung des System in diesen tiefer gelegenen Zonen. Denn angesichts der Menge an Operationen, die dort stattfanden, erzeugten kleine Optimierungen einen messbaren und relevanten Nutzen. Albert hatte ausgerechnet, dass man eine halbe Arbeitskraft einsparen könnte, wenn selbst kleinste Arbeitsabläufe reibungsloser gestaltet wurden. Die schnell verfügbare Auflistung der zuletzt geöffneten Dokumente in einem Programmmenü stellte eine solche Optimierung dar. Paul hatte die Kalkulation an seinen Bildschirm geheftet. Auf dem Zettel stand, wie viel Zeit

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gespart werden konnte, wenn man zwanzig Operationen pro Tag - etwa durch direkten Aufruf der zuletzt geöffneten Dokumente - um etwa fünf Sekunden beschleunigen würde, nämlich: 5 Sekunden x 20 Operationen x 210 Mitarbeiter x 220 Tage = 1.232.000 Sec = 20.533 Minuten = 342 Stunden = Ersparnis von 128,1 Arbeitstagen. Allerdings gab es ein Problem. Das Problem war, dass in Albert`s Firma die Mitarbeiter seit geraumer Zeit wenig zu tun hatten. Paul blickte auf diesen Zettel. Es waren zum Glück nur noch drei Wochen bis zum Ende seines Praktikums. Das war überschaubar und schließlich war es doch auch irgendwie ein Üben von Bescheidenheit. So wie Pixel schieben oder Text formatieren. Hier im Unterdeck werkelte er an ineinander verzahnten Nutzer-Operationen und System-Aktionen. Selten war Denken so konkret und logisch wie hier unten. Hier waren Gedanken messbare Gehirnströme auf neuronalen Bahnen. Auf dieser Ebene war es möglich, Gehirnströme und Datenströme miteinander zu vereinigen. Weiter oben erschien das Denken eher diffus, subjektgefärbt und von spekulativem Charakter. Hier unten musste man manchmal Abstand nehmen, um nicht wie ein Prozessor heißzulaufen. Dies geschah durch wiederholte Seitwärtsbewegungen seines Bewusstseins, durch Formen von

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KAPITEL01  SZENE 02  VON ALFRED ZU PAUL

Draußen-Sein. Dieses Draußen-Sein hatte für Paul – gefühlt - auch ein unsoziales Moment. Es bedeutete Nicht-Mehr-Zugehörigkeit mit all denen, die tief in ihrer Arbeit steckten. Selbst auf dieser Ebene wirkten noch die sozialen Korrektive. Er war abgeschweift. Er hatte sich von seiner Denkarbeit frei gemacht und es war angenehm gewesen, für eine Weile die Augen zu schließen. Paul dachte darüber nach, wie er sich etwas mehr entspannen konnte. Manchmal ging er hinter das Gebäude. Dort befand sich eine kaum genutzte Rampe, die am späten Nachmittag von der Sonne beschienen wurde. Dort könnte er jetzt hingehen. Doch dann fiel ihm ein, dass er von Henriette einen Ordner mit Musikstücken bekommen hatte. Der Order hatte einen seltsamen Namen, er hieß »Alfred«. Henriette machte ein Praktikum in derselben Firma. Neben ihr gab es noch zwei weitere Abiturienten. Die beiden redeten meist über ihre Arbeit. Sie redeten über Entwurfsmuster, Prozessdiagramme und Datenklassen. Henriette beteiligte sich selten. Sie sagte manchmal etwas, wenn eine zu große Differenz zwischen dem entstand, was die beiden fachsimpelten und dem, was sie aus guten Gründen besser wusste. Das gab ihren Worten Gewicht. Sie war schmal, fast schon zu schmal. An ihrer Stirn sah man

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das Blut pulsieren. Man konnte ihren Kopf arbeiten sehen. Aber das war nicht hässlich. Nicht bei ihr. Pauls Blicke hielten sich gern bei ihr auf. Sie suchten nach der tieferen Bedeutung von dem, was sie dort sahen. Auch er fühlte sich manchmal von ihr beobachtet. Er meinte die Intensität ihrer Blicke auf seiner Haut spüren zu können. Nie erzählte sie ihm etwas von sich. Ihre Zurückhaltung war irritierend. Auch er wagte es nicht, sie nach persönlicheren Dingen zu fragen. Umso erstaunlicher war es, dass sie sich eines Tages und völlig ohne Anlass nach seinem Musikgeschmack erkundigte. Und dann hatte sie ihm angeboten, ob er nicht einmal in diesen Ordner hineinhören wollte. Jetzt war dafür der richtige Augenblick gekommen. Paul begann in dem Ordner zu stöbern. Es gab ein paar Unterordner. Er klickte auf den, der »Independent« hieß. Da lag Zeug aus den Siebzigern rum. Paul war erstaunt. ›Die Ramones? Sie hört Punk?‹. Er hörte in ein paar Stücke hinein, in Klassiker wie: »I don´t want to grow up«. »Blitzkrieg Bop« und »I wanna be sedated«. Es war, als würde ihm jemand eine Kreissäge in den Kopf halten. Aber dann kam die Energie rüber. Dann wurde es gut. Für etwa zehn Minuten, dann hatte er genug. ›Das Zeug macht rammdösig‹, fand er. Während er weiter durch die

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KAPITEL01  SZENE 02  VON ALFRED ZU PAUL

Musiklisten scrollte, musste er an Henriette denken. ›Warum hört sie dieses Zeug?‹ Er hatte sich seit einer halben Stunde nicht mehr mit seinen Aufgaben beschäftigt. Die Stücke von den Ramones waren Gift für sein informatisch geschultes Gehirn. ›Die waren wirklich weich in der Birne!‹ dachte er. Was seine Arbeit betraf, schien jetzt alles noch hoffnungsloser als zuvor. Er vergrub sein Gesicht in beide Hände und verblieb eine Weile in einem Zustand von Regungslosigkeit. Er fühlte die trockene, dunkle Wärme seiner Hände, spürte die Anspannung im Rücken und wie das Gewicht seines Körpers ihn in den Sitz drückte. Er meinte sich bis in die Zehenspitzen hinein spüren zu können. Er kroch mit seiner Aufmerksamkeit langsam den Nacken hinab, strich über die Oberarme, glitt in die Finger hinein. Alles erwachte unter dieser hin und her wandernden Wahrnehmung zum Leben. Erinnerungen zogen schnell und wie ineinander verwischt an ihm vorbei. Bilder aus seiner Kindheit tauchten auf: Sommerferien. Szenen wie aus einem Film. Henriette mit offenen Haaren. Henriette ihm entgegeneilend. Die Bilder waren so flüchtig, dass er sie im schon selben Moment nicht mehr erinnern konnte. Dann spürte er wieder in seinen Körper rein. Das holte ihn zurück. Paul blinzelte durch seine Finger auf einen geöffne-

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ten Musikordner. Dort viel ihm ein Musikstück mit dem eigentümlichen Namen: »YHSVH« von einem JoYHSVH: (Yod Hey (Shin) Vav Hey) steht im Hebreischen für den heiligen Namen Gottes. Wenn Shin in den Namen eingefügt wird so bekommt der Name eine zusätzliche Bedeutung.

nathan Goldman ins Auge. Er wählte es an. Ein Chor erhob seine Stimme. Pauls erster Gedanke war, dass es sich um einen gregorianischen Chor han-

deln musste. Aber die Musik war entrückter. Sie klang, als hätte man den Chor ins Jenseits geschossen. Die Sänger mussten dort ihren Verstand verloren haben, denn sie brachten keinen einzigen Satz zusammen. Sie erhoben ihre Stimmen, konnten aber nur gedehnt und wie in Trance »Yooooood« und »Heeeeeey« singen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es für ihn wäre, wenn sein Denken in einem »o« oder »e« stehen bleiben würde, wenn sein Bewusstsein in einem endlos langen »oooooooooo« oder »eeeeeeeeeeeee« zusammenfallen würde. Diese Laute verhallten langsam und wie in einem aus sich selbst heraus geschaffenen, unendlichen Raum. Für einen Moment war es still. Aus den entgrenzten Räumen schillerten Töne, die entfernt so klangen, als würde man auf Glocken und Triangeln schlagen. Die Unendlichkeit, so schien es ihm, war mit dem Gesang in Resonanz gegangen. Dann war es wieder still. Aus dieser Stille begann sich der Gesang erneut wie auf Flügeln ausgebreitet zu erheben. Sehnend stei-

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KAPITEL01  SZENE 02  VON ALFRED ZU PAUL

gerte er sich von »Yod« zu »Hey« und »Shin«, um dann in einem »Vav« an seinen musikalischen Wendepunkt zu gelangen. Wie Erlösung klang so weit oben dieses hell gesungene »Vav«. Und wie in Dankbarkeit darüber schienen die Stimmen über »Hey« wieder hinabzusinken. Wieder Stille. Ihm war, als würde dieser Gesang bis in das Zentrum seiner Zellen dringen. Er musste an Henriette denken. Sie war zwar seltsam, aber dass sie so etwas hörte, das war erstaunlich. Und als er an sie dachte, da war es ihm, als ob er sie zugleich spüren konnte. Als ob sie anwesend wäre. Ein Feld war hinzugekommen. Dieses strahlte durch den auf und ab wogenden Gesang. Er fühlte darin die Klarheit ihres Wesen. Er fühlte, wie in ihr vor allem ein Erkennen war. Fürsorge und Erkennen. Keine Leidenschaft. Kein Verlangen. Und dann wurde ihm klar: In dieser tiefsten Stille, die unmittelbar nach dem Chor entstand, in dieser Stille war ihre Anwesenheit am stärksten. Langsam hoben sich die Gesänge, um dann wieder in den Fernen zu verhallen. Dann war da diese Stille, war auch Henriette. Das Universum antwortete erneut mit seinen sternenhaft glitzernden Rückkopplungen, die wie in einem unendlichen Weltenraum verhallten. Das waren kolossale Bilder. Doch jedes Mal, wenn sich die Bilder aufbauten, ragten sie

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beide da noch heraus. Ein Teil von ihnen schwebte über diesen sinfonischen Kathedralen. Paul dachte an Kirche. Die Musik war erhaben, doch zugleich war sie auch ernst und einschüchternd. Er dachte an Dogma, an Katholizismus. Er empfand Hermetik. Die Klänge begannen ihren Zauber zu verlieren. Und wie, um sich seiner eigenen Grenzenlosigkeit zu vergewissern, suchte er die Orte auf, die in einem anderen Kosmos lagen, solche, die ihm versicherten, dass er auch das Gegenteil von dem sein konnte, wohin die Musik ihn gerade entführt hatte. Er dachte an das schrammelige Stück, das er soeben noch gehört hatte, an »Judy is a Punk«. ›Ist Henriette nicht auch Judy?‹ fragte er sich, während ein anderer Aspekt von Henriette immer noch engelhaft am musikgewirkten Firmament schwebte. Vielleicht würde Punk-Henriette im Himmel von da oben herunter jubilieren. ›Transformiere auch die Ramones in deine Pracht und Herrlichkeit‹ Er hätte ihr da etwas Nettes hochreichen wollen. Eine Blume oder eine Flasche Bier. Es wäre eine Geste der Verbundenheit gewesen, ein gemeinsamer Widerstand gegen etwas, das sich angemaßt hatte, eine Totalität zu werden. Die Musik war so unerträglich geworden, dass Paul sie je beendete. Er saß für ein paar Momente reglos auf seinem Stuhl. Er fühlte sich benommen. Die

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KAPITEL01  SZENE 04:  EXCEL UND ANDERE DERIVATE

Bilder waren erloschen. Einsichten hingen im Raum. Er war für eine halbe Stunde in eine andere und vielleicht sogar »wesentlichere« Realität eingetaucht gewesen. Er musste noch ein halbe Stunde bleiben. Er sah in eine ergraute Welt, aber es war die Dosis Ernüchterung, die er brauchte, um zurückzufinden. Programmieren kam nicht mehr in Frage, nun gab es nur noch eine Sache zu tun. In dieser Hinsicht war Dipl. Ing. Hinkel unerbittlich. Paul musste prüfen, ob seine Programmierung reibungslos ablief und ob die Bedienung des Menüs »Zuletzt geöffnete Dokumente« den allgemeinen ergonomischen Kriterien entsprach. Dieses wurde anhand eines Schemas getestet, das beschrieb, wie das Denken und Handeln auf der untersten und beinahe unbewussten operativen Ebene strukturiert ist. Er hatte es sich auf einem Zettel notiert, der direkt unter Alberts Kalkulationen hing:

T.O.T.E: In der Softwarergonomie wurde dieses Schema entwickelt um Bedienungsabläufe zu modellieren. Vertikal betrachtet ist dies eher das untere Ende unseres Bewusstseins. Von der Unfassbarkeit und Stille in die Anfassbarkeit eines Denkschemas das konkrete Operationen steuert.

1. ZUERST TESTET MAN, OB ETWAS GETAN WERDEN KANN 2. DANN TUT MAN ES 3. DANN TESTET MAN, OB ES ERFOLGREICH GETAN WURDE 4. UND KANN ZUR NÄCHSTEN OPERATION FORTSCHREITEN

Und alles beginnt wieder von vorne: Test. Operate.

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Test. Exit. Paul machte die Probe aufs Exempel. Er schob seinen Mauszeiger über die Menü-Titelleiste auf »Zuletzt geöffnete Dokumente«. Sie wurde dunkel. Sie reagierte also auf seine Mausbewegung und war damit wahrscheinlich funktionsfähig. Jetzt konnte er Klicken. Das war die Operation. Nach dem Klicken flackerte die Kopfzeile des Menüs zweimal auf und dann klappte das Menüfenster mit den zuletzt geöffneten Dokumentennamen herunter. Also war seine Ein-Klick-Operation erfolgreich verlaufen. Mit diesen beiden vor- und nachgeschalteten Tests war seine Mini-Handlungseinheit in sich abgeschlossen. Das bedeutete: Exit. Alles, aber auch wirklich alles ist nach diesem Schema aufgebaut, stellte Paul zum wiederholten Male fest: Test. Operate. Test. Exit. Er war erleichtert, hier unten arbeitete Albert`s Beratungsunternehmen wie ein Betriebssystem. Hier lag das Reich von T.O.T.E. Dieses Schema verzahnte die Gedanken und Operationen der Mitarbeiter mit den Aktionen ihrer Werkzeuge. Paul war wieder ganz der Mechaniker, der in der dunklen Enge dieses Getriebes werkelte. Hier lief es wie geschmiert. Hier war es zwar eng, aber hier konnte man Dinge machen, die funktionierten. Er schaltete den Rechner aus. Die noch verbleibende Zeit, so hatte er sich vorgenommen, würde er auf der Rampe verbringen.

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KAPITEL01  SZENE 03  EXPERIMENTE

EXPERIMENTE

Es war nun auch im nördlichen Indi-

en heiß geworden. Die Hitze begann in den Bergen gegen Mittag drückend zu werden. Alfred lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen. Er stellte sich ein zweites Mal sein Handy vor. Er wusste noch was ein Handy ist, aber die Zeichen auf dem Gerät waren verwischt. sie wurden unkenntlich, sie hatten ihre Bedeutung verloren. Die Fenster waren geöffnet, um einen Durchzug zu erzeugen. Alfred hörte das monotone und surrende Geräusch der ihn umgebenden Apparate. Der Klang kam ihm unnatürlich vor. Er lauschte den Vogelstimmen, die durch das offene Fenster drangen. Ihr Gesang war differenziert und voller Details, doch konnte er die Namen der Vögel nicht abrufen. Er kannte nur noch ihre Bilder. Ihn überkam eine Angst, noch tiefer hineinzusinken in dieses andere Bewusstsein. Noch wusste er, wer er war und sein Unterscheidungsvermögen war wach, beinahe panisch wach. Solange er seine eigene Wahrnehmung von der Wahrnehmung des Anderen unterscheiden konnte, würde er nicht die Kontrolle verlieren. Nun stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er den Behandlungsraum verlassen und hinaustreten würde. Er betrachtete die Orte durch die Augen des Anderen. Die Dinge erschienen ihm nah und vertraut. Sie waren weniger dicht. Sie waren

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fühlbarer. Dieses Phänomen stellte er bei Tieren, Blumen und Bäumen fest. Auch bei Steinen. Er beobachtete es sogar bei Werkzeugen. Bei seiner Harke, seiner Schaufel, seinem Fahrrad. Er konnte immer noch sich selbst dabei beobachten und dazu, wie er durch den Anderen die Dinge wahrnahm. Das war beruhigend. Er sah einen Weg vor sich. Es war der Weg, der durch den Wald und weiter in den Park hinaufführte. ›Kann ein Weg ein Wesen haben?‹ Ihm waren vergleichbare Phänomene aus eigenen Erfahrungen vertraut, doch nun war alles noch intensiver und hatte eine andere Färbung. Er blieb auf dem Weg. Zu bestimmten Orten konnte er Vorstellungen und Gefühle abrufen. Es gab eine Pforte, die Heimat bedeutete, ein Haus, das Unwohlsein bereitete, einen Busch, an dem etwas Bedeutsames geschehen war. Doch zu dem, was dort stattgefunden haben mochte, hatte er keinen Zugang. Und es gab immer einen Punkt, an dem ihn die Angst packte. Die Angst vor der Unumkehrbarkeit. Als Alfred in den Himmel des Anderen schaute, traten die Wesenszüge dieser anderen Wahrnehmung noch stärker hervor. Die Wirklichkeit schien wie in eine Unwirklichkeit getaucht worden zu sein. Die Wolken tanzten ihr Entstehen und Vergehen. Sie tanzten den Tanz Shivas. Und auch Vishnu war da

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KAPITEL01  SZENE 03  EXPERIMENTE

und Lakshmi, seine Gemahlin. Alfred senkte die Augen des Anderen auf den Boden. Er wandelte auf den Wegen des Anderen. Auf solchen, an denen er ihm häufig begegnet war. Er kam an einer Holzstehle vorbei, für Alfred war dies immer nur ein einfacher, verschlissener Stumpf gewesen. Doch nun sang die Stehle das heilige Lied. ›Was? Dieser Stumpf kann Ohm singen!‹ Für einen Moment war Alfred wieder ganz bei sich. Und dann sah er wieder mit den Augen des Anderen über das von ihm und Bronsky Geschaffene, über die Gebäude und die Geräte im Park hinweg. Es war nicht ihr Werk, nicht für den tief gläubigen Ramesch. Für ihn waren es Gottheiten, die dies geschaffen hatten. Selbst in diesen modernen und ihm fremden Formen waren sie noch präsent. Und dann sah Alfred sich selbst entgegenkommen. Er war genauso verschwommen, wie das vermeintlich von ihm Geschaffene. Er war von seinem eigenen Erscheinen erschrocken. Er redete viel und schnell und mit einem komischem Akzent. Und wenn er mit seinen Händeln fuchtelte, um etwas anschaulicher zu machen, dann fing alles an, vor Rameschs Augen nur noch mehr zu verwischen. Sein indischer Gärtner konnte ihn nicht richtig fassen. Jedenfalls nicht so, wie er sich selbst verstand. Und doch nickte er zu al-

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lem, was er ihm zu sagen hatte. ›So einer bist du also‹. Alfred musste grinsen. ›Ramesch...du Schauspieler!‹. Dann überließ er sich wieder Rameschs Räumen. Wenig Plan und Absicht waren da, nur ein gefühltes Gewahren. Es gab Orte, die leuchteten, die waren von einer hellen, geradezu glitzernden Energie. Und es gab Orte, die Alfred irritierten, weil sie das Licht absorbierten und dunkel und unheimlich waren. Er lag an solch einem Ort. Bronsky machte mit ihm Experimente. Für seinen Gärtner war dies ein dunkler Ort und er spürte die klopfende Angst des Anderen, wenn dieser an seiner Stelle lag. Er verließ das Laboratorium, um besser in dieses gelassene Gewahrsein gelangen zu können. Er überließ sich ganz dem subtilen Spiel webender Energien und dem sich allseits entfaltenden Wesen der Dinge. In diesem Bewusstsein schien alles wie eingesponnen in eine unsichtbare Präsenz und dann wieder verfloss diese Wirklichkeit in feine, vibrierende Linien. Dies war beängstigend und zugleich ganz wunderbar, bis etwas Merkwürdiges geschah: Das Gewebe begann dichter zu werden. Es wurde zu einem Netz, dass sich immer enger zog. Alfred fühlte sich in einen schummerigen Raum gestellt. Dort gab es eine Bühne und auf der begann sich etwas zu bewegen. Zuerst schien es wie eine sich bewegende Ausbeulung

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KAPITEL01  SZENE 05:  NÄHE UND FERNE

im verdunkelten Gewebe. Es zeigte menschliche Konturen. Es bekam Kopf, Körper und Hände. Alfred erkannte bald auch den Bauch und dann die runden, rollenden Hüften. Es wackelte zum einen Ende der Bühne, dann wackelte es zurück. Dabei schleuderte es mit jeder Drehung seine ballonartigen Brüste mal zur einen, dann zur anderen Seite. Und als ob das nicht schon genug wäre, drehte es seine Handgelenke mit gespreizten Fingern. ›Irgendwie orientalisch‹, dachte Alfred. Es trug eine blonde Perücke und dazu ganz kurze Höschen. ›Das ist ein PinUp!‹, stockte Alfred. Nur war es ganz verzeichnet, burlesk und von wabbeliger Konsistenz. ›Sieht das ordinär aus!‹ Alfred musste feststellen, dass ihn das geil machte. Und was hatte all das mit seinem Gärtner zu tun? Sah der denn Pornos? Und dann diese Geilheit? Etwas stimmte nicht. Er wurde nervös. Er wollte die Augen öffnen. Sie hatten ihm die Augen verbunden. Er schlug mit der noch freien Hand auf die Liege. Er rief mit dem gesammelten Rest seines ihm noch verbleibenden eigenen Bewusstseins: »Aufhören!« Er vernahm ein Kichern und dann nahm ihm jemand die Binde vom Kopf. Durch ein Durcheinander von Gefühlen und Gedanken konnte er Bronsky erkennen, der die Geräte abzuschalten begann. Und

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dann sah er am anderen Ende der Liege Bronskys Assistenten sitzen. Den hatte er ebenfalls verkabelt. Und dieser hatte ein Magazin mit Blondinen in der Hand. Sie hatten sich mit ihm einen Spaß erlaubt.

EXCEL UND ANDERE DERIVATE Während Paul die Arbeitswerkzeuge zu optimieren versuchte, kümmerte sich sein Vater um die grundsätzlichen und strategischen Fragen. Er saß weiter oben in einem geräumigen Büro, das im Unterschied zu den Arbeitsräumen seiner Angestellten beinahe wohnlich eingerichtet war. Den Boden bedeckte ein heller Teppich. In einiger Entfernung von seinem Schreibtisch stand ein Ensemble aus zwei Sesseln und einem Sofa aus dunklem Leder. Von dort aus konnte er über eine Terrasse hinweg auf die angrenzende Bürohäuser sehen. Albert war sechzig Jahre alt. Er war hochgewachsen, sein Gesicht war kantig und an den Wangenknochen legte sich die Haut in lange Falten. Paul musste bei diesem Anblick an Fotos denken, auf denen Kapitäne, Wind und Wetter trotzend, auf der Kommandobrücke stehen. Nur das Alfreds Kommandozentrale ein Schreibtisch war. Und als Kontrollwerkzeug und Steuereinheit standen dem Unternehmenslenker Exceltabellen zur Verfügung. Albert hatte sich gedanklich über diese Tabellen ausgebreitet. Sie stellten den geschäftlichen Verlauf

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KAPITEL01  SZENE 04:  EXCEL UND ANDERE DERIVATE

eines Unternehmens dar, dass er kürzlich erbeutet hatte. Das Unternehmen war kleiner als sein eigenes. Es wies geringere Brutto- und Nettoumsätze auf, aber die Auslastung der Mitarbeiter war besser, die Betriebskosten waren geringer und die Gewinnmargen der abgewickelten Projekte waren höher. Dieses noch junge Unternehmen bediente Geschäftsfelder, in denen seine Firma nicht Fuß fassen konnte. Es war, metaphorisch und in der Analogie zur Schiffart betrachtet, eher ein kleines Boot, aber dafür schnell und wendig. Nur fehlten diesem die großen Kanonen, oder anders gesagt, es besaß zu wenig Eigenkapital, um erfolgreich in neue Märkte zu expandieren. Und nun gab es auch noch Tabellen, die die Personalkosten, Abschreibungen und Auftragseingänge beider Unternehmen zusammenrechneten und als ein gemeinsames Konzernergebnis darstellten. Die Zusammenführung der Unternehmen hatte eine unheimliche Vermehrung von Tabellen zur Folge. Tabellen, die wiederum alle miteinander verbunden waren und die sich unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten vergleichen ließen. Was die Tabellen aber nicht verrieten, waren die Ursachen, die dazu geführt hatten, dass sein Laden nicht mehr lief. Es fehlte eine Vision. Die Geschäftstätigkeiten wurden von Routine dominiert, von Dienstleistungen und Projekten, die nur ein gutes

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Controlling benötigen. Und weil alle wussten, das Albert in »Excel« dachte, taten sie das auch. Seine Kunden errechneten die Margen, die sein Unternehmen machte. Mit ihnen musste er immer zähere Preisdiskussionen durchstehen. Auch seine Mitarbeiter konnten sich ausrechnen, wie hoch die Wertschöpfung war, die Albert mit ihnen erwirtschaftete. Albert hatte den Eindruck, dass sie nur so viel arbeiteten wie nötig war, damit es sich knapp in der Gewinnzone hielt. Albert könnte an Auslastungsprozenten herummanipulieren, er könnte interne Workshops, Weiterbildungen

und

Wettbewerbe

als

geleistete

Manntage hinzuaddieren, aber dies brachte de facto nicht mehr Gewinne ein, sondern führte in anderen Tabellen zu höheren Anlaufverlusten, Projektbudgets und zu einer Verringerung der liquiden Mittel. Auch für Paul gab es eine Tabelle. Albert hatte ausgerechnet, das die Optimierung von Programmabläufen – mindestens theoretisch – zu einer Steigerung der Arbeitseffektivität führen würde. Und was noch schlimmer war: Hinter seinen mühsam erwirtschafteten Gewinnmargen, die sich immerhin noch auf reale Leistungen und Produkte bezogen, hatte sich etwas Unheilvolles aufgetan. Spekulanten hatten in ihrer maßloser Gier und durch Scheingeschäfte die umlaufenden Geldmengen vervielfacht, ohne einen Gegen-

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KAPITEL01  SZENE 04:  EXCEL UND ANDERE DERIVATE

wert zu schaffen. Sie hatten sich an Transaktionsgewinnen bereichert und virtuelles Geld ihrerseits in ihre Tabellen geschaufelt. Es war für Albert nur noch eine Frage der Zeit, bis das ganze System mit seinen sich vervielfachenden Gewinnen und Verlusten in eine Nullsumme kollabieren würde. ›Macht all mein Controlling noch Sinn, wenn selbst meine knappen Gewinnmargen schon bald durch eine große Inflation aufgefressen werden?‹, sinnierte er. Von seinem Arbeitsplatz aus sah er über die Lampenschirme hinweg aus dem Fenster hinaus. Seine Frau hatte sie dort hineinmanövriert, um etwas mehr Gemütlichkeit zu schaffen. Manchmal lud er den einen oder anderen Mitarbeiter auf die Couch. Manchmal ging es um ein neues Projektgeschäft oder es ging um die Verlängerung von Verträgen. Dort saßen sie ihm dann als lebendig gewordene Verkörperungen von Datenreihen gegenüber. Er sprach mit solchen, die Umsätze schrieben, und mit solchen, die er am liebsten mit kleinen Beträgen abfinden wollte. Es saßen dort Schicksale und er blickte dort manchmal, fast schon zu gelassen und zu eingesunken ins weiche Leder, tiefroten Zahlen ins Gesicht. ›Die haben doch Kinder und einen großen Haushalt!‹ Zu viel Offenheit schuf unangenehme Verbindlichkeiten. Es musste eine Form gewahrt bleiben, um sich zu schüt-

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zen. Albert saß zwar weiter oben, aber da oben war es nicht gleich luftig und heiter. Er trug nur mehr und mehr Verantwortung. Es gab zwar die Möglichkeit zu höheren Entnahmen. ›Na gut...‹, dachte Albert, ›...ich kann mir was Besonderes dafür kaufen und meiner Frau eine Freude bereiten‹. Manchmal gönnten sie sich ein besonderes Erlebnis. Wenn es eine Qualität in diesem Erleben gab, dann war es das Erleben von »Niveau«. Wenn sie essen gingen, dann nicht zu billig, wenn sie die Einrichtung ihres Hauses komplettierten, dann möglichst gediegen und wertig, und wenn er mit seiner Frau tatsächlich einmal in den Urlaub fuhr, dann exklusiv und hochkomfortabel. Diese Art von niveauvollem Leben war durch den Aufwand gerechtfertigt, den er dafür betrieb. Aber es wurde durch die Sinnleere des Ganzen untergraben und es langweilte ihn insgeheim. Es gab wenig Spaß, es gab wenig echtes Abenteuer, es gab immer nur Niveau. Während er nach draußen sah, kamen ihm Erinnerungen an Alfred in den Sinn. ›Wenn der hier sein könnte, dann würde einiges anders laufen.‹ Sein Bruder war ein Jahr jünger und schon als Jugendlicher ein Hitzkopf gewesen. Im Gymnasium gehörte er zu den Besten. Dennoch brach er kurz vor

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KAPITEL01  SZENE 04:  EXCEL UND ANDERE DERIVATE

seinem Abitur die Schule ab. Er hatte eine Liaison mit seiner Deutschlehrerin. Die Geschichte kam heraus und Alfred verschwand für ein Jahr an die amerikanische Westküste. Von dort kam er mit einer Geschäftsidee und einigen alten Gitarren zurück. Nachdem ihn der Gitarrenhandel zu langweilen begann, entschied er sich - einigermaßen verspätet Musik und dann auch noch Philosophie und Literaturwissenschaft zu studieren. Er absolvierte dafür ein spätes Abitur und trieb sein Studium zunächst erfolgreich voran. Doch dann verbrachte er immer mehr Zeit mit »sehr zweifelhaften« Freunden, wie Albert fand. Und in einem Alter, in dem andere ihre Pubertät lange hinter sich gelassen hatten, sattelte Alfred von Jazz auf Rockmusik um und tingelte mit einer Band durch das Land. Nebenbei schrieb er Beiträge für Musik- und Stadtmagazine. Es erschien eine von ihm verfasste, biografisch gefärbte Erzählung über Musik und Drogen, die ihn in einschlägigen Kreisen berühmt machte. Angeblich auf der Suche nach weiteren, interessanten literarischen Stoffen begann sein Bruder die Welt zu bereisen. Auf einem dieser Trips in andere Kulturen blieb er in Marokko hängen. Seine Spur verlor sich in den engen Gassen von Marrakesh mit seinen Basaren und Opiumhöhlen. Über einen gemeinsamen Bekannten erfuhr Al-

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bert, das sein Bruder Jahre später in Kairo gelandet war. Angeblich war er nun in festen Händen. Dann wurde es still um ihn. Albert hatte unter diesen Eskapaden gelitten. Sie hatten die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf den Bruder gezogen. Doch in einem Punkt fühlte er sich vom Leben begünstigt, denn sein Bruder hatte weder Familie noch Kinder. Und er, Albert, ohne seinen Sohn würde alles, was er aufgebaut hatte, keinen Sinn machen. Durch Paul war sein Leben gerechtfertigt. Wenn Albert Alfred zu Mittag besuchte, was früher gelegentlich geschah, dann gelangte er unmittelbar in das große Wohnzimmer mit der Wohnlandschaft, in der oft irgendeine ihm noch unbekannte Frau lag. Bilder hatten sich ihm dort eingeprägt von schlanken freigelegten Waden, von zerwühlten schönen Haaren, von namenlosen Armen, die über der Sofakante hingen. ›So als hätte Alfred sich eine Gitarre ins Bett genommen‹ hatte er oft gedacht. Wenn Albert zu lange und gedankenverloren dort stehen blieb, schob ihn Alfred schnell in die Küche. Sein Bruder hatte Frauen und Spaß am Leben und er wurde in der Küche mit schwarzem Kaffee grundversorgt. Das war doch auch nur ein Derivat.

NÄHE UND FERNE

Der nur kurz aufböende Wind

brachte kaum Kühlung, denn es war war sehr heiß an

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KAPITEL01  SZENE 05:  NÄHE UND FERNE

diesem Nachmittag. Unterhalb der Rampe befand sich ein Parkplatz, wenige Autos standen dort und von fern hörte man eine Autobahn. Paul stand auf der Rampe und schaute zum Himmel. Eine große Wolke schwebte über ihn hinweg. An einer Stelle darin war ein Riss und das Licht rieselte dort sanft durch nebelige Schichten. Als die Öffnung direkt über Paul war, blicke er hinein. Das Licht flutete glitzernd herab. Am obersten Rand dieser Wolkenschlucht war der Himmel für einen Moment sichtbar, verschwand aber sogleich wieder. Dann wurde es noch einmal düster, dann wieder allmählich heller und zuletzt gleißend hell, als sich die riesige Wolke mit ihren zerklüfteten Ausläufern über ihn weg bewegte. Reiner Himmel. Unendliches Blau. Er sah der Wolke nach. Wie ein großer weißer Berg glänzte sie abseits in der Sonne. Von ihren Gipfeln lösten sich kleine Wolkentupfer. Die zwirbelten noch einige Zeit im Quartett, im Quintett, im Sextett durcheinander. Dann lösten sie sich auf. Der Himmel war weit offen und so blendend, dass Paul seinen Blick abwenden musste. Er begann zu fegen. Er hatte es sich angewöhnt, in weit ausholenden, gleichmäßigen Schwüngen den Besen über den Boden zu führen. Die Wolken zogen über ihn, der Besen ging mit den Wolken. Ein Windstoß kam auf. Ein Stück Papier stol-

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perte über die Rampe und der Schatten eines Baums verrauschte auf dem steinernen Boden. Henriette saß eine Etage höher an einem geräumigen Schreibtisch. Schon seit Wochen wertete sie in ihrem Praktikum nach einfachen, statistischen Methoden Fragebögen aus. Von ihrem Fenster aus konnte sie die Rampe einsehen. Ihr Blick folgte Pauls Bewegungen. Im Gegenlicht sah sie ihn als dunkle Silhouette, die dehnende Schatten warf. In den Strahlen, die durch ihr Fenster fluteten, konnte sie den Staub schweben sehen. Alles schien in Gelassenheit getaucht. Die gleichförmigen und zeitlupenartigen Pendelschwünge von Pauls Besen übten auf sie eine hypnotisierende Wirkung aus. Henriette fühlte sich wie von einem gläsernen Sarg umgeben, aber beim Betrachten von Paul empfand sie sich mit ihm verbunden, empfand sie den Gleichklang des Gemüts. Paul stellte den Besen an die Wand. Er blickte noch einmal in den Himmel. Es war ihm, als könnte er das Blau in sich hineinatmen, als könnte er von diesem trunken werden. Es war von einer vibrierenden Lebendigkeit, die sich aus flimmernden und glitzernden Schichten zusammensetzte. Dieser Himmel erschien erfüllt von Möglichkeit. Die Wandelbarkeit der Wolken war in ihm schon immer eingeschrieben.

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Er blickte in der Weise auf die Menschen hinab, wie sie zu ihm hinaufzusehen gedachten. Es war der Himmel der Romantiker, der Himmel der frühen Luftfahrt, der Himmel der neuen Sachlichkeit gewesen. Paul schaute in Vergangenes und in Gegenwärtiges und er schaute in das Zukünftige, das dieser in sich zu bergen schien. Unbekannte Wesenheiten wirbelten dort durcheinander, vermischten und verwandelten sich. In diesem Blau schien alles mit Leichtigkeit denkbar, schwerelos und schön. Paul hatte den großen, alten Rechnerraum für sich allein. Auf der Längsseite dieses Raumes gab es ein gegen Kälte und Lärm isolierendendes Fenster, welches bis zum Boden reichte und immer geschlossen bleiben sollte. Gleich dahinter befand sich ein Rasen, der nach wenigen Metern an die kieselsteinige Wand einer Gewerbehalle grenzte. Über das Jahr änderte der Rasen kaum seine Farbe, nur im Herbst verirrten sich ein paar Blätter dorthin. Über längere Zeitstrecken hinweg konnte es angenehm sein, in der hermetischen Stille dieses Raumes sein Gehirn arbeiten zu hören, während synchron Codezeilen über den Bildschirm wanderten. Sein Bewusstsein war dann tief eingelassen in logische Probleme und schlafend im Denken. In einer solchen Verfassung vergaß er

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manchmal gänzlich den verlassen Ort mit seinen ausrangierten Computern, die irgendwie nach uralten Programmiersprachen muffelten, nach Fortran, Cobol und Basic. Mit dieser spezifischen Abstrahlung von Dingen und Orten gingen in Paul bisweilen seltsame und subtile Erlebnisse einher. Oft fühlte er sich in vergangene Zeiten versetzt. In einigen Bereichen des Gebäudes schienen sich sogar bestimmte Gemütsverfassungen konserviert zu haben. Paul erspürte dumpfe und gedrückte Gefühlslagen und Gemütszustände von jahrelanger, pflichtuntertänigster und ängstlicher Betriebsamkeit. Es gab Räume, die vollkommen hoffnungslos und unendlich traurig waren. In einem bepflanzten Abschnitt des Flurs, der in sein leeres Großraumbüro führte, hatte sich diese Vergangenheit fast bis zur Sichtbarkeit verdichtet. Immer, wenn er diesen Ort eiligen Schrittes durchmaß, wurde ihm die Zeit gegenwärtig, in welcher dieses Gebäude einmal errichtet worden war. Die Pflanzen wuchsen dort immer noch genauso nierenförmig und linolschnittig, wie sie es in der den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts getan hatten. ›Einfach weil das mal Mode gewesen war‹, dachte Paul. Und das schien für ihn nicht nur daran zu liegen, dass dort immer noch überwiegend Gummibäume angepflanzt wurden. Albert veranstaltete, wie jeden Sommer, eine Bootsfahrt für die Belegschaft. Dazu mietete er ein altes

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Fährschiff an, dass innen einen ausgebauten Aufenthaltsraum mit eigener Gastronomie besaß.

Paul

stand am Vorderdeck. Er hatte Henriette unter den Leuten noch nicht ausmachen können. Als das Boot an Fahrt gewann, schlug ihm der Wind ins Gesicht, säuselte im Ohr und vermischte sich mit dem Rauschen des Meeres. Paul wurde durch die Wellen, die unter ihm hinwegglitten, in langen Intervallen emporgehoben, dann wieder hinabgelassen. Sein Blick war immerzu nach vorne gerichtet, so als suchte er den Ort, an dem der Wind seinen Ursprung nahm. Aber er sah nur Ferne. Hinter der Ferne war die Ferne und dahinter gab es nur Ferne. Ein Kellner streifte ihn flüchtig am linken Arm und Paul nahm sich einen Orangensaft vom Tablett. Ihm kam das Wort »Bluna« durch den Sinn. Das Wort erinnerte ihn an seine frühe Kindheit. Er sah in eine Zeit hinein, die er mit keiner Episode seines Lebens in Übereinstimmung bringen konnte. Dann tauchte das Wort »Sommerfrischler« vor seinem inneren Sinn auf. Es rief seltsame Erinnerungen hervor. Er meinte spüren zu können, was die Menschen zu früherer Zeit bei diesem Wort empfanden. Henriette kam mit ein paar belegten Broten und Getränken zu ihm herüber. Sie erzählte Paul, dass sein Vater ihr vorgeschlagen hatte, über den »Zusammenhang von Psychologie und Ergonomie« einen Vortrag zu halten. Albert hatte erfahren, dass sie nach

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ihrem Abitur Psychologie studieren wollte. Außerdem hielt er viel und ihr. Henriette wollte wissen, ob Paul ihr ein paar Tipps geben könne und da er in den letzten Tagen mit diesem T.O.T.E Schema beschäftigt war, versuchte er ihr dieses Schema zu veranschaulichen. »Versuche einmal«, sagte er zu ihr, »zu beobachten, was in dir vorgeht, während du etwas trinkst.« Henriette schaute Paul mit großen Augen an. »Das ist jetzt ein Selbsttest...«, fuhr er fort, »...mit jedem Schluck prüfst du, wie viel noch im Glas ist und ob du noch Durst hast. Dieser Vorgang geschieht so schnell, dass dir das Schema als Grundlage deines Handelns gar nicht bewusst wird«. Henriette nahm einen Schluck. Sie nahm noch einen zweiten Schluck. Sie trank wie jemand, der nach einer schweren Operation sehr vorsichtig beginnt, Flüssigkeiten zu sich zu nehmen. »Das ist schwierig«, gluckste sie in ihr Glas hinein Und nach einigem Nachdenken fügte sie hinzu: »Wenn ich immer bewusst entscheiden würde, ob ich etwas will oder nicht will, dann wäre ich doch wirklich frei?« Sie sah ihn mit einer Intensität an, die ihm im Herzen brannte.

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»Wenn ich mal Zeit habe, werde ich das üben.« Paul erklärte ihr den Hintergrund dieser Übung. Dann kamen die beiden anderen Praktikanten, die wurden von Pauls deklamierendem Tonfall angezogen. Auf diese Art von fachsimpelnder Unterhaltung verstanden sie sich ja am besten und es dauerte nicht lange, dann gingen wieder alle ihrer Wege. Die Sonne hing jetzt tief am Horizont. Paul hatte sich gegen die Reling gedreht. Er sah über die Wellen hinweg, die in seiner unmittelbaren Nähe von dem Rumpf des Bootes aufgeworfen wurden. Wenn die Sonne auf einen Wellenberg traf, erzeugte ihr Licht unzählig viele, funkelnde Sterne. Manchmal prallte eine Welle mit Wucht gegen die Planke, zischte hoch, spritzte Gischt bis an sein Gesicht, schäumte zurück und trieb mit weißen Schaumkronen nach hinten ab. Am Horizont bildete die untergehende Sonne einen Teppich aus glitzerndem Licht. Dahinter war weit entfernt der Horizont, war wieder die Ferne. Einige Wolken türmten sich vor der Abendsonne auf. ›So wie sie es schon seit Millionen von Jahren getan haben‹, ging es Paul durch den Kopf. In diesem Wolkengebirge taten sich überirdische und unermessliche Räume auf. Das Meer mit seinen trägen, aufgewühlten Wassermassen wirkte archaisch vor diesem Hintergrund. Es war einfach nur noch »das Meer«. Ein Gefühl von

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Zeitlosigkeit ergriff von ihm Besitz. In diesem Zustand verweilte er noch, als das Boot schon wieder Kurs auf den Hafen nahm.

ÄSTHETISCHER LOGOZENTRISMUS

Henriettes Vor-

trag sollte in Alberts Konferenzraum stattfinden. Dies war langer Raum, der von einem fast ebenso langen, massiven und auf Edel gemachten Tisch aus Teakholz dominiert wurde. Paul datierte Tisch und Stühle auf die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Henriette wartete, bis alle einen Sitz gefunden hatten. Dann stellte sie sich kurz und formlos vor, um sogleich mit ihrem Vortrag zu beginnen. Als Erstes stellte sie mit Strenge fest, dass die wissenschaftliche Psychologie nichts mit Alltagspsychologie zu tun habe. »Die Alltagspsychologie besteht nämlich aus unzulässigen Verallgemeinerungen. Diese sind weder überprüfbar noch werden sie über systematische Methoden gewonnen.« Dann erläuterte sie zwei grundlegende Kategorien, in die man die wissenschaftliche Psychologie unterteilen könne: »Es gibt das Verhalten, dass man von außen beobachten kann, aber auch das innere Erleben. Dies kann man nur an sich selbst wahrnehmen.«

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KAPITEL01  SZENE 06:  ÄSTHETISCHER LOGOZENTRISMUS

Paul bewunderte ihren Rücken. Der war voller Anmut und so wohlproportioniert. Nur ihr Hintern, der war so gut wie gar nicht vorhanden. Da war nur diese viel zu weite Hose. War sie vielleicht doch zu dünn? Sie hatte sich der Tafel zugewandt und schrieb dieses erste Postulat auf die Tafel. VERHALTEN WIRD AUSGELÖST DURCH REIZE. HANDELN WIRD BESTIMMT DURCH ABSICHTEN.

Paul bewunderte ihr Schriftbild. Es schien ihm, als ob ihr Bewusstsein selbst an der harmonischen Durchgestaltung jeder Wortfigur, ja selbst bis in die Schleifenbildung mancher Buchstaben hinein Anteil nehmen würde. Es war ein präzises Schriftbild, aber nicht gezwungen und streng, sondern so, als ob sie das T.O.T.E Schema auf das Schreiben angewendet hätte. Paul musste lächeln. Im Laufe ihrer Ausführungen fügte sie weitere und zuerst noch sehr allgemein gehaltene Begriffe hinzu: VERHALTEN UND HANDELN WIRD ERMÖGLICHT DURCH ORGANISMUS (= SINNE, NERVEN, HORMONSYSTEM) ALLES ZUSAMMEN BEEINFLUSST DIE PERSÖNLICHKEIT (= INTELLIGENZ, BEGABUNG, FÄHIGKEITEN)

Henriette musste sich immer mehr nach unten bücken, um noch die letzte Anmerkung an ihr Schema der menschlichen Psyche anzufügen. Ihr Pulli rutsch-

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te hoch und legte einige Zentimeter ihres Rückens frei. Dann schnellte sie nach oben und drehte sich schwungvoll zu ihrem Publikum. Ihre Haare hüpften ihr um den Nacken. Sie lächelte so hell und so frei, wie es nur ganz junge und wache Mädchen zu tun vermögen. Nachdem sie noch einige Male die Tafel mit ihren kognitiven Karten vollgeschrieben hatte, ging sie auf Rückfragen ein und erläuterte einige Begriffe ausführlicher. Dabei bewegten sich ihre Arme, Hände und Finger auf eine wunderbare Weise in der Choreografie ihres Denkens. Er liebte es, wie sie ihre Gedanken aneinanderreihte. So genau und in Ruhe und so folgerichtig, wie ihre Schrift, und so, als ob sie immer zurücktreten und dem Phänomen ihres eigenen Denkens zuschauen könnte. Paul dachte darüber nach, ob Logik an und für sich ästhetisch sei. Er grübelte darüber nach, ob Henriette nicht auch an der imanenten Schönheit ihrer Schlüsse Gefallen gefunden habe. Logik schien ihr Stilmittel zu sein. Sie hatte ihren Vortrag beendet. Sie schwieg. Sie schaute ihn an. Dies versetzte ihm einen Stich. »Für dich wäre ein lustiges und extrovertiertes Mädchen am besten«, hatte ihm einmal ein Freund gesagt. ›Völlig bedeutungslos!‹, dachte Paul, in Anbetracht der Gewissheit, dass sie füreinander bestimmt waren. Er sah in die Runde. Da gab es einige, die Henriette zu belächeln schienen. Sie dachten wohl: ›Dieses na-

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ive Ding versucht in ihrem jugendlichen Elan doch glatt, ein logisch anmutendes Begriffssystem der menschlichen Psyche zu entfalten‹. Paul half ihr dabei, den Beamer einzupacken und begleitete sie nach draußen. »Ich finde, du hast einen ausgefallenen Musikgeschmack.« »Danke« »Was machst du an diesem Wochenende?« Sie schwieg. Dann fragte sie: »Hat dein Vater nicht einen Bruder?« »Ja« »Wie gut kennst du ihn?« Sie sah ihn forschend an. Paul wunderte sich über die Frage. »Ich kenne ihn kaum.« »Um auf deine Frage zurückzukommen, dieses Wochenende werde ich zu meinen Eltern fahren. Bist du in irgendwelchen Quests?« »Nein« Dies war keine Beschäftigung, der Paul gerne nachging. Sie sah ihn wieder so forschend an, als wäre sie sich noch nicht ganz klar über etwas. Und dann spürte er ein Nachlassen ihrer Aufmerksamkeit, ein Zurückfallen und ein Nachsinnen und ein gedankliches Kreisen, das ihm verschlossen bleiben sollte. Durch ihren Kopf gingen Dinge, die sie ihm nicht erzählen mochte. Wenn ihr alles zu viel wurde, dann

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loggte sie sich ein in Foren, in denen man seine Identitäten, Verbündeten und Gegner wechseln konnte. Vielleicht war ihr ein analytischer Verstand wirklich ein besonderes Bedürfnis, aber nicht etwa aus Ehrgeiz oder schon gar nicht aus ästhetischen oder stilistischen Gründen. Mehrmals am Tag kam Paul an Hinkel´s Büro vorbei. Wenn Hinkel anwesend war, dann stand die Tür weit offen und man konnte die Unordnung schon von Weitem sehen. Er saß dort vor zwei zusammengeschobenen Arbeitstischen, die als solche nicht mehr zu erkennen waren. Dafür lagen zu viele Dinge drauf, wie Blätter, Kabel, Adapter, Festplatten und Kaffeetassen. Hinter seinem Sitzplatz befanden sich hohe Schränke, die meist offen standen, um den Zugriff auf Manuskripte und Dokumente reibungsloser zu gestalten. Die Jalousien waren stets zur Hälfte herabgelassen. Paul war der Meinung, dass es einer beträchtlichen mentalen Anstrengung bedürfen musste, sich in diesem Sammelsurium zurechtzufinden. Hinkel wühlte die Aufenthaltsorte von Dingen erst einmal aus seinem Gedächtnis hervor, bevor er begann, diese in seinem Büro eigenhändig auszugraben. Außerdem war es so, dass Hinkel froh war, wenn

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mal jemand zu ihm kam und etwas wollte. Doch galten diese Besuche niemals ihm. Wie auch. Hinkel war für seine dreißig Jahre so gut wie biografielos. Man hätte meinen können, er sei in seinem Büro aufgewachsen. Es gab nichts, was den Verdacht aufkommen ließ, dass er so etwas wie ein Privatleben habe. Er trug eine Siebzigerjahre-Pilotenbrille mit einem feinem Goldrand und wenn er mit seinen wasserblauen Augen aufschaute, sagten sie unumwunden: »Was willst du denn schon wieder? Wie muss ich dir diesmal helfen?« Doch ab und zu blitzte auch eine echte Neugierde in ihnen auf: »Was gibt es denn heute Interessantes zu berichten?« Das Problem dabei war, das es für Hinkel nichts zu berichten gab. Also erfand Paul manchmal sinnfreie Geschichten. Hinkel nahm das dankbar auf und versuchte es mal ironisch, mal sarkastisch zu kommentieren. Und so war es auch diesmal: Paul wollte die Skripte der letzten Wochen – inklusive Hinkels rot eingefügten Korrekturen – zur besseren Übersichtlichkeit in Farbe auszudrucken. »Ist dir Schwarzweiß zu langweilig?«, wollte Hinkel wissen. »Es soll ein Geschenk sein. Soll ich dir auch eins ausdrucken?« »Für mich kannst du ab jetzt alles in weiss ausdrucken. Dann kann ich mir die Korrekturen sparen.«

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»Gute Idee«, erwiderte Paul. So lief es immer. Das war bei den anderen Kollegen nicht anders. Man redete über die Arbeit und redete darüber hinweg ins Leere hinein. Und es endete dann immer in diesen abgehobenen Nonsens-Dialogen, in diesem Scheitern auf der »Meta-Diskurs-Ebene«. Das Wort hatte Paul im Deutschunterricht aufgegriffen. Es war noch eine Woche bis zum Ende des Praktikums. Dann musste Paul wieder in die Schule. Es fiel ihm in diesen letzten Tagen schwer, an seinen Skripten zu schreiben oder Fachliteratur zu lesen. Er fing damit an, in manche Texte erst einmal »hineinzuhören«. Die Lektüre legte er zur Seite, wenn ihm die Stimme, die aus ihr sprach, nicht gefiel. Wenn sie zu monoton und gleichgültig war. Wenn sie für ihn so klang, als würde jemand durch ein Abwasserrohr quaken. In diesen Tagen dachte er häufig an Henriette. Aber sie war nur selten da, sie hatte ihre Aufgaben in der Firma erledigt und blieb nun häufiger auf dem Zimmer, dass Albert ihr zur Verfügung gestellt hatte. Dort konnte sie sich besser auf die Fächer für ihr letztes Schuljahr vorbereiten. Jedesmal, wenn sie das Gebäude verließ, dann war das für Paul ein spürbarer Verlust. Er fragte Henriette, ob sie ihm ihr Vortragsmanuskript geben würde. Beim letzten Mal, als sie sich trafen, sagte er ihr, dass es für ihn schön gewe-

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sen war, mit ihr zusammen zu arbeiten und dass er sie vermissen würde. Sie bedankte sich und meinte beiläufig, dass sie sich ja vielleicht einmal sehen könnten. Aber »vielleicht« und »könnten«?, das klang ziemlich unverbindlich.

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II. FRAU BOLLMANNS KONZEPTE

Es war noch ein Jahr

bis zum Abitur und es gab noch eine Menge zu lernen. Im Kunstunterricht hatte Paul immer gute Leistungen gebracht. Seine Kunstlehrerin war Anfang dreißig, blond, hoch gewachsen und für eine zehnte Klasse zu gut aussehend. Doch es fehlte ihr an Feinheit. Ihre Stimme war laut und sie urteilte so ungeduldig-schnell und scheinbar schlüssig, dass es Paul oft schwer viel, rechtzeitig seine leisen Zweifel anzumelden. Das Wissen über Kunst hatte sie sich weitgehend angelesen. In dieser Woche kreiste der Unterricht um das Thema »Abstraktion«. Dort schien es für Frau Bollmann eine Entwicklungslinie zu geben, die sich plausibel darstellen ließ. Für sie waren die kubische Zerlegung bei Cézanne, die Befreiung von der Gegenständlichkeit bei Kandinsky und der Entwurf einer geometrischen Formensprache bei Mondrian folgerichtige Entwicklungsstufen, wodurch diese Werke ihre kunsthistorische Bedeutung erhalten hatten. Für Paul blieben all diese Bilder rätselhafte und schwer zu ergründende Phänomene. Er nahm in den Bildern Cézannes ein Bewusstsein war, dass den Dingen eine eigentümlich erdige Präsenz verlieh. Er

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empfand in den Farben Kandinskys die hymnische Gestimmtheit einer Seele, die sich im Anbeginn eines neuen Zeitalters wähnte. Er durchlebte in den Werken Mondrians eine Welt, die sich vom Dinghaften und Ornamentalen befreit und geläutert hatte. Er glaubte sogar, durch die Bilder Mondrians hindurch in sein spärlich möbliertes Atelier sehen zu können. Aber könnte er sich dann nicht auch mit Mondrians Bewusstsein verbinden? So als wäre es sein eigenes Bewusstsein? Paul sinnierte darüber nach. Doch was von dem, was er in dieser Form ahnte und erlebte, war wirklich authentisch? In einer Weise, dass es vielleicht wirklich einmal so gewesen war? Was war nur ausgedacht? Was von ihm nur projiziert? Zu dem Thema Abstraktion sollte eine praktische Übung durchgeführt werden. »Versucht doch einmal selber, einen beliebigen Gegenstand auf abstrakte Art zu erfassen. Wichtig ist dabei vor allem, dass der Prozess der schrittweisen Abs-

Komopostion IV Bei Kandinsky könnte Paul dieses Bild in seinem Kopf gehabt haben. Sein ekstatischer Klang lässt sich in viele Richtungen deuten. Etwa als Ausdruck von Kandinskys sinnästhetischem Erleben oder - subtiler- einer bestimmten Zeitqualität, die in vielen Bildern dieser Jahre spürbar ist. Und Paul hat ja diesen besonderen Sinn, der beim Anblick der Objekte in die Zeiten und die Atmosphären ihrer Entstehung reisen kann. Darüber hinaus und im Sinne der Geschichte markiert dieses Bild einen Ort zwischen Außen und Innen, zwischen Naturerleben und einem immer intensiver werdenden seelischem und abstrakterem Erleben. Die Ekstase ist das Dazwischen. Eine Ekstase der schöpferische Potentiale, die zwischen dem Nicht-mehr und Noch-nicht liegen. (Und der Verfasser behauptet: Hier hat „auch“ das Nichts die Hand des Meisters geführt. In der Metaphysik dieses Zustandes ordnet sich die Physik des Bildes zu einer Einheit, zu einem Zusammenspiel, welches sich einer klaren gestalterischen Kontrolle entzieht.)

71 www.nrw-museum.de/#/komposition-iv-613.html


traktion nachvollziehbar wird.«, hatte Frau Bollmann in die Aufgabe eingeführt. Den meisten Schülern gefiel das Thema. Die Mehrheit orientierte sich auch an den von ihr benannten Malern. Sie dachten wie ein kleiner Cézanne, ein Matisse, ein Malewitsch, ein Kandinsky oder eben ein Mondrian. Lehrbuchmäßig vollzogen sie den Weg der Vereinfachung bis hin zu Waagerechten, Senkrechten und den Grundfarben Rot, Gelb und Blau. Doch ein paar Studenten konnten Frau Bollmanns Helden der Moderne nicht mehr beeindruckten. Für sie war der von Frau Bollmanns Idealisierungen

entkleidete

Mondrian

bestenfalls

ein

einsamer Einfaltspinsel, der sich anstelle von Frauen, Rosen ins Atelier holte. ›Klar, dass die Tussies nicht auf Meister Simpel standen.‹ Sie waren mit modernen Medien aufgewachsen: Das Primat der Einfachheit, welches die Markengestaltung auffällig und merkfähig machen sollte, war ihnen ebenso bekannt wie sie längst darin geübt waren, Systemoberflächen schlicht und ikonisch zu gestalten. Ja, das ganze moderne Repertoire effektiver Simplifizierung, das durch die technologischen Möglichkeiten der Vektorisierung und Verpixelung jedem praktisch zugänglich gemacht geworden war, war ihnen bis zum Überdruss geläufig. Sie blickten die rumklügelnde

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Bollmann entgeistert an, dann überwanden sie nach und nach die lähmende Schwere des Sinnlosen und fügten sich einer nach dem anderen ihrem Schüler-Schicksal. Dabei lösten sie die gestellte Aufgabe auf eine sublime und geradezu subversive Weise »einfach«, indem sie dem Material die gestellte Aufgabe der Vereinfachung überließen. Einer von ihnen drückte die Umrisse seines Handys und seines Kopfhörers direkt aus der Farbtube. Ein anderer schnitt Schablonen aus einem Apfel. Sie konfrontierten Frau Bollmann mit Ergebnissen, die Sie aus ihrem Konzept brachten. »Aber sie hatten doch gesagt, wir sollten einfach sein.« »Doch nicht so!« »Aber warum denn? Schauen Sie mal. Den Stick erkennt man nur noch an dem kleinen Zippel da.« Pauls Freunde grinsten hämisch. ›Zippel...he, he‹. Und auch Paul machte komische Sachen. Er beschäftigte sich damit, scheinbar zusammenhangslos Striche auf das Papier zu setzen. Die bereits entgeisterte Frau Bollmann beobachtete das eine Weile, dann fragte sie besorgt: »Wie hast du dich denn entschieden vorzugehen?« Paul hatte sich nicht für eine bestimmte Methode entschieden.

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»Ich beobachte, wie Bewusstsein auf Materie trifft.« Frau Bollmann konnte das nicht mit ihrer Aufgabenstellung in Zusammenhang bringen. Sie wollte jedoch nicht unhöflich oder verletzend sein. »Was meinst du mit Bewusstsein?« »Das ist mir auch nicht klar.« »So, so...« »Warum machst du dann nicht das, was ich als Aufgabe gestellt habe?« Paul hatte lange auf den Baum am Fenster gesehen. Er hielt den Stift in der Hand, aber ihm fiel nicht ein, wie er hätte anfangen sollen. Er betrachtete den Baum eine Weile. Und umso mehr er ihn betrachtete, desto schöner wurde er. Er erschien ihm noch intensiver in seinen Farben, noch strahlender in den unendlichen Brechungen des Lichts, noch vollkommener in der zusammenrauschenden Fülle seiner Äste und Blätter. Nichts war überflüssig. Nichts war verkehrt. Der Baum war wie neu erblüht in seinem Bewusstsein, und er war getränkt von Bewusstsein. Wie sollte er in dieses Phänomen eingreifen oder es stilisieren? Wieso sollte er auf dieses Phänomen eine bestimmte Methode der Vereinfachung anwenden? Er vollzog den Sprung in das Unbekannte. Er ließ sich führen und setzte Striche, die sich seiner Absicht und Kontrolle

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entzogen. Und da war es ihm, also ob sich in den wenigen Strichen, die er auf das Blatt setze, etwas von dem Zauber seiner Begegnung mit einem Baum verfangen hätte. Dies war der Moment, als Frau Bollmann sich über ihn beugte und die besagte Frage stellte. Die kurze Auseinandersetzung mit Frau Bollmann hatte ihn aus der Zwiesprache mit dem Baum gerissen. Er zeichnete zwar weiter, fügte aber nun doch Linien hinzu, die den Baum schulmäßig und geometrisch vereinfachten. Mit den wenigen, flüchtigen Linien, die er zuvor gesetzt hatte, war die Fläche so organisiert worden, dass eine pulsierende Ausdehnung, eine bis ins Imaginäre sich aufschwingende, kolossale Weite spürbar gewesen war. Doch umso mehr der Baum nun ein paar vereinfachte und feste Konturen bekam, desto weniger beseelt erschien ihm die Zeichnung! Der Unterricht neigte sich dem Ende zu. Unruhe kam auf und die Zeichenmaterialien wurden eingepackt. Frau Bollmann fasste den Sinn der Übung noch einmal für alle zusammen und skizzierte in ein paar Worten das Thema der nächsten Stunde. Während die Schüler die Klasse verließen, nahm Paul sich vor, ihr etwas zu sagen. Er wusste nur nicht, wie er es hätte formulieren können und so sprudelte es unvermittelt aus ihm hervor:

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»Wissen sie Frau Bollmann, wenn man das Bewusstsein von allem abzieht, dann würde alles implodieren! Es würde nichts übrig bleiben. Nur ein paar tote Striche und ein paar tote Gedanken. Aber die können sich auch nicht mehr denken. Weil da kein mehr Raum ist, in dem sie denken können.« Frau Bollman blickte betroffen auf. Paul hatte seit einiger Zeit Konzentrationsschwierigkeiten, aber dass er nun auch noch so etwas von sich gab, das bereitete ihr Sorgen. Die folgenden Wochen waren ein Durcheinander von Gefühlen und Gedanken. Neue Themen tauchten auf, komplexe Zahlen wollten verstanden werden, der Zellzyklus sollte nachvollzogen werden. Chromosomen, Chromatiden und Membranen tanzten durch sein Gehirn und suchten nach ihrem Zusammenhang. Antworten mussten gefunden werden auf Fragen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Mitwirkung in politischen Prozessen oder zum eigenen Standpunkt in Bezug auf Migranten und Andersgläubige. Frau Bollmann war in der Zwischenzeit bei der Konzeptkunst angelangt, gewann wieder festen Boden unter den Füßen und bewegte sich auf theoretisch abgesichertem Terrain, während für Paul alles immer fragwürdiger wurde. Verschiedene Denkungsarten gingen in ihm ein und aus, durchmisch-

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ten oder bekriegten sich. Anschauungsgebundene, konkret-operative, formal-logische, vernunftbetonte, reflexionsbezogene, differenzierende und konvergierende, analysierende und synthetisierende Formen des Denkens stoben durcheinander. Als er im Biologieunterricht seine Zwiebel zu Schnittpräparaten zerlegte, um Mitosestadien zu studieren, schien ihr Aussehen für ihn gleichnishaft durchwaltet von einer höheren Intelligenz. Diese Intelligenz strömte durch das Sein, schimmerte über den Dingen, glitzerte auf den Blättern, strahlte durch die Wolken, freute sich an sich selbst und lachte ihn aus. Paul hatte Konzentrationsprobleme und Erschöpfungszustände. Oft war er abwesend. Zu oft, um in der Schule die geforderten Leistungen zu erbringen. Die besorgten Blicke seiner Eltern tauchten vor ihm auf. Frau Bollmann und noch andere Schreckgespenster aus dem Kollegium fingen an, ihm den Schlaf zu rauben. Manchmal erschien ihm das, was gelehrt und gefordert wurde, überaus wissenswert und vernünftig, dann wieder hohl und unbedeutend. Er blieb öfter zu Hause. Er lag auf dem Bett und starrte die Zimmerdecke an. So vergingen die Tage und der Sommer wurde heiß und drückend. Seine Eltern machten sich Sorgen. Sie sprachen mit Frau Bollmann und Frau Bollmann sprach mit Dr. Bender. Es

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wurde vereinbart, das Paul sich einmal beraten lassen sollte.

BEI DR. BENDER Dieser empfing die meisten seiner Patienten in der Schule. Dort gab es einen kleinen Besprechungsraum, der für ihn freigehalten wurde. Eigentlich hatte er es nicht mehr nötig, denn eine Forschungsstelle mit einer Lehrverpflichtung an einer nahegelegenen Universität ermöglichte ihm ein geregeltes Einkommen. Dort unterrichtete er mit Vorliebe statistische Psychologie, weil deren Ergebnisse - über alles weltanschauliche Hin und Her hinweg - den Zustand des Zweifellosen durch Empirie genossen. Die Stelle an der Schule erlaubte es ihm, seine Forschungsarbeit an der Universität auf dem Gebiet der Jugendpsychologie statistisch zu untermaueren. Für seine vierzig Jahre und, obwohl er auch schon einen deutlich sichtbaren Bauchansatz entwickelt hatte, wirkte er immer noch dynamisch und attraktiv. Dr. Bender war gerade aus der Mittagspause gekommen und hatte den Vermerk der Lehrerin über Paul überflogen. Während des Hinunterwürgen des Kantinenessens hatte er auch noch das

pädagogi-

sche Geschwafel von Frau Bollmann und der anderen Lehrer am Tisch aushalten müssen. Außerdem

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schaute ihm Frau Bollmann für seinen Geschmack einfach zu lange in die Augen. ›Frau Bollmann und ich? Wir als ein Paar? Nein Frau Bollmann! Das übersteigt meine Kräfte! Was sollte das werden, ein Zusammenschluss von Haushalten, um Einsparungspotenziale zu realisieren? Reden über fremde Kinder, bis man man dement ist?‹ Dr. Bender fand das Kantinenessen schlimm. Er fand die Lehrer schlimm. Es musste nicht alles noch schlimmer werden. Zum Glück konnte er als Raucher immer wieder einmal heraustreten und ein paar tiefe Atemzüge nehmen. ›Was für eine Erleichterung!‹, dachte er dann. Und jetzt hatte er diesen Jungen zu verarzten. Wenn er hereinkommen würde, dann würde er ihm erst einmal auf die Schulter klopfen und sagen: ›Na du armer Sinnsucher, dann lass uns mal vor die Tür treten, eine Zigarette schmauchen und über das Leben philosophieren‹. Wahrscheinlich würde Frau Bollmann morgen mit ihm über Paul sprechen wollen. ›Mit ihr eine Beziehung beginnen?‹ Er hatte es trotz all seiner massiven Wiederständen wiederholt in Erwägung gezogen. So schlimm stand es um ihn. Er musste in letzter Zeit ziemlich oft vor die Türe treten, denn immer dann, wenn die Leere zu groß wurde, die Gleichförmigkeit der Tage ihn bedrückte, seine Antriebslosigkeit ihm

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zu schaffen machte, ja alles in Hoffnungslosigkeit getaucht war, dann steigerte dies die Schmacht nach einer Zigarette. Wie sollte er diese Leere aushalten, wenn da nichts war, womit er sie füllen konnte? Das Leben war ihm die Antwort auf seine grundsätzlichen Fragen schuldig geblieben. Er hatte sich durch sein jahrelanges Bemühen ein Anrecht auf Depression und Rauchen erarbeitet. Das war etwas, womit er die Leere vernebeln konnte. Und wenn mal wieder jemand behauptete, dass Rauchen nicht gesund sei: ›Na und! Sinnleere ist schließlich kein erhaltenswerter Zustand‹. Dr. Bender war aufgestanden und hatte Paul hereingebeten. Er hatte sich vorgenommen, die Untersuchung in vierzig Minuten abzuschließen, diesen Zeitraum mit einer vollen Stunde mehr oder weniger ordentlich abzurechnen und als Mehrwert ein paar Daten für seine vitalen Forschungsinteressen mitzunehmen. Der Fall hieß Paul und sah ziemlich mitgenommen aus. Diesen Zustand galt es nun zu präzisieren. In seinem Kopf ordnete sich das begriffliche Instrumentarium, aber vielleicht würde er es gar nicht brauchen. Der erste Eindruck deutete auf eine depressive Verstimmtheit hin. Das ließ sich einigermaßen schnell abfragen. ›Gott sei dank niemand mit

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Verdacht auf ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom‹, dachte er, denn dies hätte eine komplizierte und fragwürdige Ausschlussdiagnose nach sich gezogen. Und zum Glück schien er in Paul auch keinen angstbesetzten und autoaggressiven Borderliner vor sich zu haben, denn dann hätte er richtig tief in der Verantwortung gestanden. Und das an einem Freitag kurz vor dem Feierabend. Dr. Bender hatte mit großem Enthusiasmus Psychologie studiert. Wie naiv waren die Anfänge gewesen. Freuds gründerzeitliche Vorstellung von einem ÜberIch, Ich und Es, das manchmal Dampf ablassen muss. Später befasste er sich mit tiefenpsychologischen Spekulationen über ein kollektives Es, die nicht verifizierbar waren. Und dann mit Theorien, die das Über-Ich sozialpsychologisch als verlängerte Instanz gesellschaftlicher Autoritäten und dort wirksamer Gewalten ansahen. Aber wie sollten psychische Defekte innerhalb einer Gesellschaft geheilt werden, wenn sie von genau dieser Gesellschaft selbst hervorgebracht wurden? Und wer war überhaupt dieses »Ich«? Ein überforderter Mediator, der hilflos zwischen den Impulsen des Es und den Imperativen des Über-Ich zu vermitteln versuchte? Doch dieses unfassbare »Ich« wurde

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von seinen Forscherkollegen Jahr für Jahr individual-psychologisch komplexer gedacht. Am Ende schien es Bender so, als besäße jeder Patient so viele unverwechselbare persönliche Ausprägungen seiner Ich-Instanz, dass für jede einzelne ein eigenes Lehrbuch hätte geschrieben werden müssen. Und dann diese Supervisionen! War er am Ende nicht selbst das Opfer einer Wissenschaft, die ihm keine bessere Methode an die Hand gab als einfach nur zuzuhören? Allerdings eröffnete dies seinen Patienten die Möglichkeit, endlich einmal ohne Unterlass zu reden. ›Und all das muss ich ertragen, ohne dass ich dabei ein bisschen was paffen darf?‹, dachte Bender dann. Es war, als ob er seine eigene schleichende Aushöhlung aushalten müsste. ›Mann nehme diese Leere und dann denke man an den Moment, wenn man zum ersten Mal wieder inhalieren darf. Wunderbar! Was für ein schöner Moment. Diese Freude. Diese Erleichterung. Dieser erste Zug. Selbst der stechende Schmerz auf der Zunge wirkt da noch kompensierend.‹ Wenn ihm etwas mit den Jahren bewusst geworden war, dann dies: »Alles ist denkbar!« Diese Einsicht brachte ihn in die Krise. Aber alternative Heilmethoden und körperorientierte Therapien, die ihm ein intuitiveres Vorgehen ermöglicht hät-

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KAPITEL02  SZENE 02:  BEI DR. BENDER

ten, kamen für ihn nicht in Frage. Besser wäre es gewesen, er wäre Neurologe geworden. Aber dann bot sich ihm die Gelegenheit zu empirischer Forschung und zur Statistik der Psychologie an. Dr. Bender stimmte zu, verordnete sich dieses neue Betätigungsfeld schon aus Gründen psychischer Hygiene. Endlich war er befreit von der direkten Konfrontation und projektiven Vermischung mit Patienten, für die er sowieso nicht ausreichend Empathie aufbringen konnte. Lieber behandelte er sie als statistische Fälle und auch jetzt, wo er Paul vor sich sitzen hatte, war ihm diese Vorgehensweise die Allerliebste. Er würde ihn einen Fragebogen ausfüllen lassen, dann erst mal vor die Tür gehen. ›Zeit, mal wieder eine durchzuschmauchen.‹ Der Fragebogen würde ergeben, was er sowieso schon vermutet hatte und dann würden sich aus der statistischen Auswertung die Zusammensetzung und Dosierung der medikamentösen Behandlung ergeben. Zuvor müsste er Paul aber noch ein paar Fragen stellen. Dr. Bender eröffnete das Gespräch: »Lieber Paul, ich habe hier ein Protokoll von deiner Klassenlehrerin vorliegen. Sie hat sich auch bereits mit deinen Eltern unterhalten. Du bist doch eigentlich ein ganz begabter Junge, aber in letzter Zeit scheinst du Schwierigkeiten zu haben. Hast du weni-

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ger Lust an den Dingen, die du sonst gerne tust?« Paul erzählte Dr. Bender, wie schwer es ihm fällt, sich zu konzentrieren. ›Konzentrationsschwäche kann verschiedene Ursachen haben‹, überlegte Bender. Vielleicht ging ihr eine deprimierte Verstimmtheit voraus. Was waren aber dann deren Ursachen? So etwas konnte in dem zur Verfügung stehenden Zeitrahmen nicht eruiert werden. Trotzdem wollte er einmal nachfragen, wo sein Patient selbst den Auslöser vermutete. Paul erzählte, dass ihm vieles, was ihm zuvor selbstverständlich und vertraut erschien, nun auf einmal absurd und manchmal sogar unwirklich vorkam. Während Paul sein Problem noch etwas genauer erläuterte, grübelte Dr. Bender darüber nach, was wohl in zwanzig Jahren aus ihm geworden sein würde, wenn er sich auf eine Beziehung mit der eigentlich ganz hübschen Frau Bollmann einließe. ›Würde sich die Bollmann um mich kümmern?‹, dachte er, ›Wenn ich irgendwann nicht mehr kann? Wird sie mir den Hintern wischen oder wäre es dann nicht besser, sich zu zugrunde zu qualmen? Schon aus Mitgefühl und auch gegenüber der Pflegeversicherung?‹ Dr. Bender hatte beim Grübeln angefangen, seinen Schädel auf die linke Hand zu stützen. Es war jetzt halb drei und - biorhythmisch gesehen – war das überhaupt nicht seine Zeit. Sicher war es

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KAPITEL02  SZENE 02:  BEI DR. BENDER

jetzt wohl angebracht, noch ein paar Rückfragen zu stellen. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, obwohl Paul nichts mehr zu sagen hatte. Bender bemühte sich, sich aus seiner Müdigkeit zu befreien. ›Wo war ich gerade noch gewesen? Was hat Paul als Letztes gesagt?‹ Er versuchte sich zu erinnern, dann bemerkte er: »Also..., alles gar nichts so schlimm. Man muss die Dinge nur zu nehmen wissen.« Paul schaute ihn fragend an. Es gab mal eine Zeit, da hatte Bender mit seiner ersten Freundin nach dem Sex immer noch eine geraucht. ›Aber mit Frau Bollmann...?‹ Er unterbrach diese abwegige Vorstellung. Hatte er Paul nicht gefragt, wie sich seine Lernschwächen zeigen? Sicherheitshalber stellte er die Frage noch einmal. Paul berichtete ihm ein zweites Mal von seinen Konzentrationsschwierigkeiten und dass gerade Frau Bollman zu den Lehrern gehörte, die damit überhaupt nicht umgehen könnten. ›Ach ja, Frau Bollmann‹, dachte Bender. Paul hatte den Eindruck, als würde der sich nicht sonderlich für sein Problem interessieren. Bender schien durch ihn hindurchzusehen. Als Paul mit seinen Ausführungen am Ende war, fragte dieser ihn etwas unvermittelt: »Weißt du eigentlich, ob Frau Bollmann raucht?« Paul war verwirrt.

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»Manchmal ist es wichtig zu wissen, ob jemand raucht, um ihn besser einschätzen zu können. Äh..., wo waren wir stehengeblieben?« Dieses ganze Gerede war zu viel für Bender. Er brauchte jetzt einen Kick. Das war es. Er brauchte die Kippe, um sich anzufixen, und am Abend brauchte er mindestens zwei Bier, um sich dann wieder herunterzuholen. Eine Art Selbst-Medikation mit wohlerprobten, aber nicht ganz anerkannten Mitteln. Dasselbe Prinzip, dass auch bei seinen Patienten zur Anwendung kam: Die richtige Reihung, die richtige Dosierung und alles wird gut. Aber jetzt musste alles seine Richtigkeit haben und Paul noch einen Test machen, den er ihm mit ein paar einführenden Worten über den Tisch schob: »Ich vermute einmal, die letzten Monate haben viel von dir gefordert. Es macht aber keinen Sinn, sich in eine Traumwelt zu flüchten. Ich werde dir einen kleinen Fragebogen geben. Der wird uns helfen, ein umfassenderes Stimmungsbild zu bekommen. Und dann werden wir mal sehen, wie wir dir wieder auf die Beine helfen können.« Dann dachte er: ›Zwanzig Minuten zum Austreten gewonnen. Dann noch ein paar nette Worte. Und Feierabend‹. Er kramte die nötigen Unterlagen aus seiner Schublade. Paul bekam einen Fragebogen zur

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KAPITEL02  SZENE 02:  BEI DR. BENDER

Beurteilung depressiver Symptome in die Hand gedrückt. Dort waren dreissig Fragen aufgelistet. Unter den vier Antworten sollte er die für ihn stimmigste Antwort ankreuzen. Er wurde dort nach seinem Selbstwertgefühl, nach Stimmungsqualitäten, Energieniveau, Ablenkbarkeit, Gewichtsveränderung, Appetitverlust und Gereiztheit bis hin zu körperlichem Schweregefühl und Verlangsamung befragt. Paul beeindruckte diese Systematik, mit der sich viele Daten in kurzer Zeit erfassen ließen. Als letztes Item erschien Verlangsamung auf dem Fragebogen. Darunter konnte er vier Felder ankreuzen: • DENKEN SIE IN DER FÜR SIE GEWOHNTEN GESCHWINDIGKEIT? • BEMERKEN SIE EINE VERLANGSAMUNG? • BENÖTIGEN SIE EINIGE ZEIT, UM EINFACHE FRAGEN ZU BEANTWORTEN? • BEREITET IHNEN DIES SOGAR EXTREM GROSSE MÜHE?

Nein, zu der Gruppe der Retardierten gehörte er nicht, obwohl er viele Fragen, vor allem die nach einer Zukunftserwartung und Entscheidungsfähigkeit nicht positiv beantworten konnte. Nachdem etwa zwanzig Minuten vergangen waren, in denen Dr. Bender draußen vor der Tür stand und rauchte, kam er wieder herein und überflog die Antworten, die Paul angekreuzt hatte. Er riss ein Blatt aus seinen Rezeptblock und bekritzelte es mit einer Verschreibung.

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Die beruhigenden Mittel waren für den Abend gedacht, die belebenden Mittel sollten am Morgen eingenommen werden. Zuletzt schrieb er ihm noch ein Attest, welches ihm eine Woche Freizeit bescheinigte. Die Schulglocke läutete das Ende der letzten Schulstunde und Dr. Bender schob seinen jungen Patienten - nicht ohne ihm noch ein paar wohlwollende Worte mit auf dem Weg zu geben - zur Tür hinaus.

KIFFA KOLLEGA Paul hatte begonnen, abends wegzugehen. Nur gab es in seiner kleinen Stadt nicht so viele Möglichkeiten dazu und in dem einzigen Club, in dem er sich nun häufig aufhielt, machte er Bekanntschaft mit Dennis. Dennis wohnte in Berlin. Dort spielte er als Bassist in einer Band. Seine Freundin jobbte nach ihrem Abitur in einem Kleiderladen. Telse liebte Independent. Dennis stand auf Dub. Paul fand beides gut. Er schätzte Dennis` Gleichmut und seine gelassene Sicht der Dinge. Wenn er die beruhigenden Mittel von Dr. Bender einnahm, hatte die Chemie ihn fest im Griff. Sie lähmte seine Motorik und verlangsamte ihn auf ungute und unnatürliche Weise. Dennis spürte, wie elend Paul dabei war. Einmal brachte er ihn in sein Zimmer, legte ihn auf eine Liege und verordnete ihm Ruhe. In Pauls Kopf drehten

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KAPITEL02  SZENE 03:  KIFFA KOLLEGA

sich die Selbstvorwürfe. Seine Gedanken verbanden Vergangenes mit Zukünftigem, vermischte alte Bedrückungen mit neuen Befürchtungen. Irgendwann, von Benders Pillen immer noch dumpf benebelt, schlief er ein. Am nächsten Morgen ging es ihm besser. Dennis war ein paar Mal in das Zimmer gekommen. Als Paul sich zu rekeln begann, machte er Musik an. Der Klang einer Sita breitete sich sanft und in alle Richtungen aus. In den spiralförmig kreisenden Klängen wurde sein Bewusstsein angehoben, während seine letzten Gedanken dort oben wie Wölkchen verpufften. ›Hausaufgaben...Puff‹, ›Frau Bollmann...Puff‹, ›Wo bin ich?...Puff‹. Die Musik entführte Paul nach Indien. Dort schien sich eine mythische Zeit wie um sich selbst zu drehen. Manchmal wirbelte eine Kaskade von düsteren und dringlichen Überlegungen auf: ›Meine Eltern müssen benachrichtigt werden. Ich war schon wieder nicht in der Schule!‹. Ein anderer Satz schob sich in den Raum seines inneren Gewahrseins: Nur Schritt für Schritt - das ist kein Leben, stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer... ›Das ist doch aus dem Deutschunterricht. Von wem stammt dieser Vers noch? ‹ Dennis kam mit Keksen,

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Gummibärchen und Kinderschokolade zurück. Er trug kurze Shorts und Rasterlocken baumelten ihm um die Schultern. Das sah gut aus. Auch wenn Paul Frauen kannte, die diese filzigen Zotteln nicht ausstehen konnten, weil sie meinten, dass Flöhe und Kakerlaken darin nisten, um sich dort von Staub und Fett zu ernähren. Sie frühstückten später noch zusammen, tranken mit Bob Dylan One more Cup of Coffee bevore i go, wanderten mit Hendrix throug the clouds with a circus mind thats running round und glitten mit Ringo Starr in the Octopus´s Garden in a shade. An diesem Tag musste Paul wieder zu Dr. Bender. Paul wollte um eine Verlängerung seiner Krankschreibung bitten. Das würde schwierig werden, aber Dennis erklärte sich bereit mitzukommen. Dr. Bender war kurz angebunden und nicht bereit, ihn weiter krankzuschreiben. Bender schob Paul schnell vor die Tür, wo Dennis wartete. An diesem Abend hingen sie in Dennis` Wohnung ab. Dennis war schweigsamer als sonst. Und es klappte auch sonst nicht so richtig mit der Kommunikation. Dennis ging in die Küche und Paul folgte ihm. »Heute machen wir mal beide auf Kiffa Kollega.« »Auf was?«, fragte Paul. »Ich hab Ersatz für deine Tranquilizer. Ich mach` uns

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KAPITEL02  SZENE 03:  KIFFA KOLLEGA

beiden mal ein Friedenspfeifchen.« Dennis ging an den Kühlschrank und holte ein handgearbeitetes Döschen heraus. In dem befanden sich seine Naturgewächse, so nannte er den Stoff liebevoll. Anschließend wickelte er eine gekrümmte Pfeife aus einem Tuch. Er ging sehr achtsam, ja fast zärtlich mit ihr um. »Das entspannt.« »Wieso sieht das Ding so abgefahren aus?« »Die hat ein ausgeklügeltes Kühlsystem. Genau das Richtige für dich.« Dennis demonstrierte den Gebrauch, indem er zuerst selbst ein paar Züge nahm. Dann genehmigte sich Paul einen tiefen Zug. Ihm wurde erst schwindelig, aber dann breitete sich ein warmes, wohliges Gefühl in ihm aus. Ihm dämmerte der Unterschied zu den Tabletten von Dr. Bender. Wer würde Medikamente schon so freundschaftlich behandeln wie Dennis sein Pfeifchen? Diese Naturgewächse waren nicht nur ein guter Freund. Sie waren wie ein netter Onkel Doktor. Sie hörten Musik. Genau genommen nahm sie die Musik mit auf die Reise in Zeiten und an Orte, an denen sie noch nie gewesen waren, die ihnen jedoch irgendwie ganz vertraut vorkamen. An diesem Abend entwickelten sie ihre eigenen Vorstellungen von einem grenzenlosen und impliziten Wissen.

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LOVE JAH LOVE

Paul war durch die Prüfung gefallen.

Er ging nicht nach Hause, sondern rief Dennis an. Der saß im Freibad und hörte Stücke durch, die er demnächst spielen wollte. Das Freibad war zu einem ihrer liebsten Aufenthaltsorte geworden. Es bestand aus drei Becken und einer weitläufigen Liegewiese. Das Schwimmerbecken und das auch für Nichtschwimmer geeignete Warmwasserbecken lagen auf einer Achse und bildeten eine zusammenhängende Wasserfläche, wenn man sie von den östlich gelegenen Steinplateaus aus betrachtete. Das Springerbecken lag etwas abseits. In dem flachen Warmwasser konnten die Jungen planschen und die Älteren hatten ihr Wellness-Vergnügen. Dort befanden sich auch die weißen Wasserpilze. Am rechten Beckenrand stand eine rote Wasserrutsche, die aussah wie eine Mini-Achterbahn. Wenn man abends auf den östlichen Steintreppen lag, konnte man betrachten, wie die Sonne ihren goldenen Teppich über die beiden großen Wasserflächen warf. Das war nicht viel anders als beim Sonnenuntergang am Meer zu liegen. Nur das hier noch die Wasserpilze, die

Mi-

ni-Achterbahn, die Springtürme und die hohen Pappeln ins Bild ragten. Dennis hatte es sich auf dem obersten Steinplateau bequem gemacht. Sein Oberkörper lehnte angehoben auf seinen Ellenbogen, die er hinter seinem

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KAPITEL02  SZENE 04:  LOVE JAH LOVE

Rücken angewinkelt hatte. So konnte er aus einer liegenden Position heraus das Geschehen gut beobachten. Er spürte die Anspannung in seinen Schultern, lange würde er in dieser Haltung nicht ausharren können. Aber für den Moment stellte sie einen ganz guten Kompromiss zwischen Checken und Chillen dar. Vor ihm wellte sich sein gut trainierter Bauch in seine Shorts hinein. Dahinter markierten seine vor sich hin wippenden Zehen das Ende dessen, was von seinem Körper ins Sichtfeld ragte. Sein Kopf thronte erhaben auf seinen breiten Schultern. Dieses königliche Selbstverständnis hing auch mit seinen Dreads zusammen, die mächtig seinem Kopf entströmten und prachtvoll über seine Schultern fielen. Für Dennis war das äußere Erscheinungsbild seiner Haarpracht gar nicht so entscheidend, denn wie hieß es schon bei Sugar Minots, Lyrics: It‘s not the dread upon your head / but the love inna your heart. Mit Sicherheit ließ er nicht nur aus Protest gegen die babylonische Zivilisation des weißen Mannes seine Haare so lang wachsen. Schließlich war er selbst von weißer Hautfarbe. Es ging ihm auch nicht um Auslegungen im alten Testament, nach welchen die Gläubigen vorzugsweise das Ende aller Tage in langen Zotteln abwarten sollten. Und es lag auch nicht daran, dass diese angeblich ein Speicher für Wissen und Weisheit waren, obwohl er diese Überlegung bemer-

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kenswert fand. Nein, seine Haare waren noch am ehesten Ausdruck seiner Liebe zur Musik. Dennis war ein Diener und Großmeister der Vibes, die dank seiner Begabung durch ihn strömten. Es war großartig zu erleben, wenn die Leute von seinen Rhythmen erfasst wurden, wenn allein die Musik sie high machte und sie einstimmte auf ihre wahre Mission: Peace, Love and Light to all. Humanity and Unity. Sisters and Brothers. Glory to God and Love to Jah! Er konnte Menschen schöner und glücklicher machen durch die Magie der Musik, über die er Meisterschaft erlangt hatte. Es erschien ihm intuitiv angemessen, dass ein Großmagier wie er in einer besonderen Gewandung erscheinen müsse. Und zwar in einer solchen, die der Natur selbst entstammte. Es fühlte sich richtig an. Doch sich dieses Phänomen allzu bewusst vor Augen zu führen, konnte auch bedeuten, dass man es nicht mehr lebte, sondern nur noch darstellte. Dann würde Magie zu Monstranz werden. Seinem Aussehen nach gehörte Dennis einer Glaubensgemeinschaft an, die meinte, dass sich mit der Krönung Haile Selassies zum äthiopischen Kaiser die machtvolle Wiederkunft Jesus Christus auf Erden erfüllt habe. Eine ziemlich bekiffte Idee. Aber warum nicht? Weshalb sollte Jesus Christus nicht als äthiopischer König wiedergekehrt sein? Weshalb sollte er nicht in jeder anderen nur denkbaren Form wiederkehren

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KAPITEL02  SZENE 04:  LOVE JAH LOVE

können? Was brachte die Menschen dazu, an etwas Bestimmtes zu glauben und damit alles andere auszuschließen? In jedem Beliebigen konnte sich die Prophezeiung erfüllen, wenn er ein Licht in sich anzündete. Und überhaupt, weshalb musste eine innere Gewissheit auf die Begrifflichkeiten eines bestimmten Glaubenssystems festgelegt werden, wie etwa Christus-Bewusstsein oder Buddha-Natur? Dies mochte der tiefere Grund dafür gewesen sein, weshalb Dennis größte Sympathie für seine neuen Glaubensbrüder hatte. Ihr System hatte ein so ausreichend hohes Maß an Verrücktheit, dass es gar nicht zuließ, damit die ganze Welt zu bekehren. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Er war hierhergekommen, um ein paar Stücke durchzuhören, die er demnächst selber spielen wollte. Er schaltete seinen Ipod an. Die Musik strömte durch ihn hindurch und schien durch die Füße wieder zu entweichen, die dazu rhythmisch auf und ab tippten. Für ihn waren Basslines genauso bewusstseinserweiternd wie für andere Mantras. Und sie taten gut, sie vermählten sich mit der Schwere seiner Knochen, massierten die Muskulatur seines Körpers, während die hell verhallenden Riffs der Gitarren eine schwebende, weiträumige Atmosphäre erzeugten. Er versuchte, sich ein paar Sachen zu notieren. Dann kam ein Stück von

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Linval Thompsen, das seinem Kopf so wunderbar befreite: Marijuana! I Love It my Brother Marijuana in my soul Marijuana in my heart, oh oh.. Das war wie Kiffen, aber klinisch korrekt. Und als Dennis Paul anrücken sah, da ging ihm Jonny Clark´s No Escape gerade durch und durch: Yes, the weakheart must fall Only the righteous shall stand In this congregation of Jah hola one Anything Jah say, I will always do Anything Jah say, I will always do Because I love him, ho ho Because I love him I‘ll love him, I‘ll serve him All the days of I life In the house of the Lord God Jah RasTafari I‘ll love him, I‘ll serve him All the days of I life In the house of the Lord God Jah RasTafari Oh, oh, oh, oh, yeah, oh, oh, oh, oh, yeah Ho ho, oh, ho ho, oh. Aahh aahhh Jonny Clarke

Eine der schönsten Aufnahmen von Jonny Clark´s No Escape: youtube.com/watch?v=D_FcJcPN9k4

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KAPITEL02  SZENE 05:  IMPLIZIT UND EXPLIZIT

IMPLIZIT UND EXPLIZIT Es war schon spät am Nachmittag. Aber es war immer noch hochsommerlich heiß und die Sonne glühte auf den Steinen. Das von den Schwimmern aufgewühlte Wasser warf strahlendes Licht nach allen Seiten. Wenn man die Augen ein wenig schloss, dann verschwamm das Licht zwischen den Wimpern zu funkelnden Streifen, dann war die ganze Szenerie wie eingetaucht in eine schimmernde Helligkeit. Paul lauschte auf das ständige Schlürfen des zum Beckenrand hin ablaufenden Wassers. Dies vermischte sich mit platschenden Geräuschen und freudigem Kindergeschrei, das vom großen Becken herüberwehte. Beide lagen somnambul und glücklich auf ihren Tüchern. Nach einer Weile schlug er vor, einen Abstecher zum Springerbecken zu machen. Dort standen hohe Bäume und es war schattig und kühl. Sie gingen herüber, lehnten an einer Mauer, welche das Becken von den anderen trennte, und schauten den Leuten beim Springen zu. Das Springen von den Türmen hatte für die beiden etwas Faszinierendes, besonders wenn man es verlangsamt betrachtete. Oder wenn man gekifft hatte und das letzte Bild beim Schließen der Augen einfach in sich nachwirken ließ. Von diesen Bildern des Sprungs, des Sturzes und des Eintauchens ging eine archaische Faszination aus. Leute

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sprangen von den Brettern, mal gefasst, mal ängstlich, mal routiniert. Aber immer vollzogen sie denselben sinnbildlichen Akt. Während Dennis die Augen geschlossen hielt, kam ihm ein Gedanke: »DER

SPRUNG AN SICH.

Ja darüber sollte man mal eine

philosophische Abhandlung schreiben.« »Nein, ÜBER DAS SPRINGEN ÜBERHAUPT«, verbesserte Paul. »Das ist doch dasselbe wie an sich, oder?« »Es geht doch mehr um das Springen als Ganzes, als um den einzelnen Sprung an und für sich.«, erwiderte Paul, aber Dennis wollte nicht weiter unterscheiden: »Hattest du auch mal Philosophie in der Schule?« »Ja« »Lass uns ein philosophisches Werk über GRENZERFAHRUNG

FALLEN ALS

verfassen.«

Paul überlegte eine ganze Weile, dann meinte er: »Ich promoviere lieber über

DAS SPRINGEN ALS DIALEKTI-

SCHE EPISTEMILOGIE ZWISSCHEN SELBST-ENTWURF UND SELBST -BEZUG.«

»Schreib doch einfach über

FALL UND KNALL,

dann wird

es ein Bestseller.«, sagte Dennis amüsiert. »Aber das klingt nicht tiefgründig genug.« Das Thema hatte sie beide gepackt. Sie versuchten noch eine Zeit lang, den philosophischen Gehalt, der

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KAPITEL02  SZENE 05:  IMPLIZIT UND EXPLIZIT

in diesem Moment des Absprungs verborgen schien, in Worte zu fassen:

KÖRPER ALS BESTIMUNG ZUM ABGRUND.

SPRUNG IN DAS ANDERE. GEWORFEN-SEIN UND GETRAGEN-WERDEN ALS GRUNDKONSTANTEN MENSCHLICHER EXISTENZ.

Sie reaktivierten ganze Partituren phänomenologischer, strukturalistischer und existenzialistischer Reflexion. Dennis hatte nach einiger Zeit genug. »Man, das muss ich gar nicht mehr lesen. Ich weiß, was da drin stehen würde.« »Oder du bildest dir das nur ein.«, entgegnete Paul. »Nein, das würde mich langweilen zu lesen. Das kommt vom kiffen. Das Zeug ist so weise.« »Ne..., ich glaube, das ganze Wissen ist schon in uns. Wir müssen es nur explizieren.« Dennis nickte. »Ja, ja. Alles schon da. Warum sollte ich etwas mühselig in Worte fassen, wenn ich es eh schon weiß?« »Damit es auch die anderen wissen.« »Aber die wissen es doch auch schon. Der Weise schweigt und lässt die Anderen an seinem Schweigen teilhaben.«, beendete Dennis die Unterhaltung. Paul schwieg. Das war das Problem. Sprache war das Problem. In diesem Schweigen kam Paul etwas in den Sinn. ›Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.‹

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Diese Formulierung hing weit über ihren philosophischen Anstrengungen. Er hatte sie irgendwo mal gelesen, nun war sie wieder da. Dennis war in der Zwischenzeit etwas anderes aufgefallen. »Wo sind denn hier die Weiber? Ich sehe keine Weiber.« Springen war nicht die Sache von schönen Frauen. Die zogen lieber ihre Runden im Schwimmerbecken. Außerdem war ihnen das ständige Hoch und Runter an den Sprungtürmen zu einer monotonen und lästigen Darstellung geworden. Als Dennis und Paul zurückgekehrt waren, lagen ihre Handtücher im Schatten. Sie nahmen ihre Sachen, sondierten die Lage nach attraktiv und unattraktiv und legten sich an einen sonnigen Platz, um zu dösen, bis es später Nachmittag war. Ein paar Wolken hingen halbverweht am Himmel. Auf ihnen spielten nun die schon milderen Farben. In den Becken waren nur noch wenige Menschen. Das Wasser hatte sich beruhigt. Auf den kleinen und sich kräuselnden Wellen hatte sich ein glitzernder Teppich ausgebreitet, der sich perspektivisch bis zu ihnen fortzusetzen schien. Die Mädchen, die in ihrem Sichtfeld lagen, fingen langsam an sich anzukleiden. Im Gegenlicht nahmen ihre schlanken Umrisse für ein paar Augenblicke ihre Aufmerksamkeit gefangen.

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KAPITEL02  SZENE 05:  IMPLIZIT UND EXPLIZIT

Dennis holte seinen Ipod aus den Shorts. Er hatte für Paul einen Adapter mitgenommen, an dem sich zwei Kopfhörer anschließen ließen. Er kramte sein Döschen aus der Tasche und musterte die in der Nähe anwesenden Badegäste. »Alles in Ordnung.« Sie nahmen ein paar Züge. Die Musik würde den Rest besorgen. Sie hörten King Tubby, Prince Far, Jabba You und das wunderbare Truth and Rights von Johnny Osborne: Render your arms and not your garments The truth is there for who have eyes to see All charity has no place in this judgement Remember the words fo prophecy Children, run come the truth and right Da war es wieder: Implizites Wissen. Er-

Jonny Osborne

lebbare - jedoch unaussprechbare – Wahrheiten. Aufbruch als Lebensgefühl. Revolution als Daseinskonstante. Gemeinschaft als Lebenssinn. Dann kamen Dub-Stücke. Die katapultierten sie an Orte, die so kolossal waren, dass dort Götter zu wandeln schienen. Orte, an

Truth and Rights läutete zu Beginn der Achtziger Johnny Osbornes Comeback ein. Auf Youtupe kann man es nur in einer späteren Fassung hören.

denen Leben und Wahrheit miteinander tanzten. Es war, als würde die Musik in eine andere Dimension von Raum und Zeit hineinragen. Welten wurden aus

youtube.com/watch?v=rzrhRbqcjrM

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der Musik geboren, blieben für eine gefühlte Ewigkeit stehen, um dann langsam in abklingenden Echos zu verhallen. Aus den Räumen, die sich gewaltig auftaten, lachte das Sein, schien alles in einer Freude eingewoben, die ursachenlos war. Es gab Wendungen ins Konkrete. In Orte hinein, die lokalisierbar waren. Es war so, als ob sie zeitlich und räumlich dort anlandeten. Clubs, in denen diese Musik einmal entstanden war. Schemenhaft liefen Menschen vorbei, streifte sie ein Lachen, das es so einmal gegeben haben musste, streifte sie die Inspiration, die wie ein Segen darüber lag. In diesem Segen war reine Präsenz. In diesem Segen, der durch die Musik zu ihnen drang und der ihnen alles öffnete, waren sie mit den Göttern per du. Paul blickte zu Dennis. Dennis drehte an seiner Kippe. Sie waren mit den Göttern per du und Dennis drehte doof an seiner Kippe. Paul musste lachen. »Absurd. Absurd!« Dennis wendete seinen Blick den Bäumen zu. Paul folgte seinen Blicken. Er wusste in diesem Moment, was Dennis fühlte. Er sah in dieselbe Großartigkeit hinein. Ja, alles war klar. Da war alles drinnen. »All inclusive!«, sagte Dennis, als ob er die Gedanken von Paul gelesen hätte.

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KAPITEL02  SZENE 06:  DOPPELTE AUFKLÄRUNG

Die hohen Platanen waren eingewoben in einen Raum von stehender Energie. Sie tasteten mit ihren Zweigen zum Licht in ewiger Anbetung. Und da war er. Er füllte den Raum mit sich selbst als Raum aus. Ein Wind streifte ihn mit Zärtlichkeit und fegte Dennis den Tabak vom Blättchen. »Gut so..., man...«, kam es Paul. Er sah sich diese komische diesseitige Parallelwelt an, in der Dennis seinen Tabak nicht mehr richtig in den Griff bekam, und musste immer noch lachen. Das wollte jetzt nicht mehr aufhören. »Hey...« Dennis wollte noch was sagen, aber das war jetzt ganz unnötig und auch viel zu anstrengend. Er ließ sich nach hinten fallen, nahm ein paar tiefe Atemzüge und sog das alles mit geschlossenen Augen noch einmal in sich ein.

DOPPELTE AUFKLÄRUNG

Bronsky stand noch im

Morgenmantel, als der Anruf kam. Er war gerade dabei, ein paar Orangen auszupressen. Die Frau hatte ihn vor der Dämmerung verlassen. Er war froh, mit sich allein zu sein, auch um alles im Rückgang noch einmal zu durchdenken und zu genießen. ›Ist es nicht unglaublich, welche Wunder die Natur vollbringen kann‹, fing Bronsky an zu philosophieren, ›sie hatte

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es auf wunderbare Weise vermocht, all ihren Liebreiz im Weib zu Verdichtung und ästhetischer Vollendung zu bringen‹. Er hatte sich zu ihren Füßen hingerollt. Dann hatte er sich langsam an ihrem Bein hinaufgeschoben. Hautnah hatte er begutachtet, wie ihre stramme und schmale Wade zu beiden Seiten wie durch zwei Seile gehalten wurde, die sich über eine leichte Kehlung spannten. Mit begierigen Blicken war er zu ihren festen und fülligeren Oberschenkeln hochgekrochen. Er hatte seinen Kopf an die dralle Rundung ihres Hinterns geschmiegt. Dann hatte er ausgiebig ihren perfekten Po betrachtet. Er hatte ihn in die Hand genommen und langsam auseinandergeschoben, um seine Zunge in das Dunkel hinabzulassen. Er hatte ihre Oberschenkel gespreizt, um noch weiter hinabzurutschen, erwartungsvoll lauschend, bis sie einen ersten stöhnenden Laut von sich geben würde. Über die verschiedenen Schichten ihres Energiekörpers hatte die hübsche Yogini ihn aufklären wollen und nun hatte er sich schleckend durch ihre feinstofflichen und dann grobstofflichen Schichten hindurchgearbeitet, bis er an dem Punkt angelangt war, an dem er genau die Form der Aufklärung betreiben konnte, die ihm die liebste war. Bronsky hatte das Auspressen der Orangen unterbrochen und die Augen geschlossen. Er versuchte

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KAPITEL02  SZENE 06:  DOPPELTE AUFKLÄRUNG

noch einmal, in diese gespannte Dunkelheit einzutauchen. Da drang sein Handy schrill und unerbittlich in die Stille ein. Zu dieser Uhrzeit konnte es sich nur um einen dringenden Anruf des Investors handeln. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass es nun an ihm war, aufgeklärt zu werden. Er ließ das Telefon ein paarmal klingeln. Er stellte sich vor, wie dieser am anderen Ende der Leitung zunehmend in Rage geraten würde. Nur, weil er nicht sofort für ihn da war. Er und Alfred bezeichneten ihn manchmal als „Den Investor“ , manchmal auch als „Den Milliardär“. Sein echter Name sollte nie genannt werden. »Ihr könnt mir auch irgendeinen anderen Namen geben«, hatte er einmal gesagt. Das war zu besseren Zeiten. Da hatten sie sich auf »Goldie« geeinigt. Bronsky ging zum Telefon und stellte sich darauf ein, dass er nun eine längere Zeit würde zuhören müssen. »Are you feeling well?« »Yes« »Ok. I don´t think you should do so.« »Ok? What´s up?« Für einen Moment war es still. »Do you want to fuck me?« »What?« »Do you want to fuck me!«

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Irgendetwas musste vorgefallen sein. »If you want to fuck me! I! will! fuck! you...!« Bronsky vermutete, dass das geschehen war, was er so oft und insgeheim befürchtet hatte. Und dieses ungute Gefühl sollte sich bestätigen. Sie hatten Goldies Wohnung durchsucht. Sie waren in seine Büroräume eingedrungen und sie hatten alles auseinandergenommen. Es dauerte einige Minuten, bis Bronsky diesen Sachverhalt dem Schwall plötzlicher, wüster Beschimpfungen entnommen hatte. Diese Neuigkeiten waren, obwohl erwartet, für ihn schockierend. Er machte sich Vorwürfe. Das Unternehmen war zu riskant gewesen. Bronsky war davon ausgegangen, dass das dem Investor klar gewesen sein musste. Er hatte vermutet, dass es zwischen ihnen ein gemeinsames und stillschweigendes Einverständnis gegeben hätte. Jetzt dämmerte ihm, dass er sich darin getäuscht hatte, vielleicht sogar täuschen wollte. Bronsky hatte Goldie überschätzt. ›Der ist ja doch so geldgeil, wie andere drogenabhängig sind‹, sagte er zu sich. Goldie hatte die Gefahr, die mit dem Deal verbunden war, vor lauter Gier einfach verdrängt. Nach und nach hatte Bronsky begonnen, ihn auch dafür zu verachten. Goldie hatte zu viel Geld in die Hand bekommen. Tausendmal mehr, als er für sich würde ausgeben können.

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KAPITEL02  SZENE 06:  DOPPELTE AUFKLÄRUNG

Solange Leute wie er ihr Geld nur virtuell vervielfachten, waren die Folgen nicht sofort spürbar. Aber sobald sie dieses Geld in konkrete und idealistische Projekte steckten, dann korrumpieren sie auch diese unmittelbar. ›Die scheißen alles mit Geld voll und dann wundern sie sich, warum da nur Scheiße bei rauskommt.‹ Bronsky versuchte, dem Gebrüll aus dem Hörer schweigend seine versammelte Verachtung entgegenzuhalten. Niemand braucht Goldies. Niemand braucht entartete Hamster, die nichts anderes tun, als diese modernste Form der Pest zu verbreiten. Doch Goldie war eben mehr als nur ein kleiner, harmloser Hamster. Und nun redete dieser „hamstererus spekulatius malus” dermaßen laut auf ihn ein, dass Bronsky sein Handy einen halben Meter vom Ohr weghalten musste. Er wollte ein genaues Datum haben, ab dem die Anlagen funktionieren würden. Er wollte nun überhaupt für alles ganz genaue Zahlen und Belege. Doch wie sollte Bronsky irgendetwas belegen? Sie hatten mit verschiedenen Strahlungsstärken experimentiert. Leute waren ohnmächtig geworden. Schlimmer noch. Es gab kaum validierte Erfahrungen. Es würde vielleicht noch Monate dauern, bis er sich mit den Dosierungen sicher war. Bronsky hatte außerdem angefangen, noch ganz andere Experimente durchzuführen. Er hatte Alfred

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hineingezogen. Der Investor hatte seit zwei Monaten kein Geld mehr überwiesen und jetzt diese Drohungen. Bronsky hätte am liebsten die Koffer gepackt und wäre abgereist. Aber dafür hätte er all seine Spuren beseitigen müssen. Das war nicht möglich. Goldie ging es genauso. Der hätte das Ganze sicher am liebsten ungeschehen gemacht. Eine Riesenscheiße. Und nun drehte er auch noch durch. Bronsky wollte antworten, aber das ging nicht. Er wurde immerzu irgendetwas gefragt. Er konnte mit ihm kein vernünftiges Wort wechseln. Gegenüber diesem »Spekulatius perversus perfidibus« war Alfreds Bruder ein harmloser mittelständischer Erbsenzähler. Gegenüber diesem zynischen Vertreter des Großkapitals waren selbst Bronskys exzessive Ausschweifungen nur eine naive Form der Selbstbefriedigung. Er wusste, er würde nach diesem Gespräch lange duschen müssen, um den Rotz wegzubekommen. »Listen to me...Listen to me...you don´t unterstand anything. I tell you! I tell you what you have to do! You have to call the information officer of this country. You have to go to the government of india and explain what you are doing.« »I...« Bronsky hatte keine Chance zur Intervention. »Listen to me. I beg you! Darling! If you don´t do, I fuck you. I kill you. Sincerely. Honestly. I do!«

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KAPITEL02  SZENE 06:  DOPPELTE AUFKLÄRUNG

Bronsky begann langsam zu begreifen. Es gab für diesen nur noch die Flucht nach vorn. Der Typ wollte alles offenlegen und der Welt zeigen, dass hier vorbildliche und humanitäre Projekte gemacht wurden. Und natürlich wird er dann nie gewusst haben, dass ein paar Dinge nicht legal waren. Bronsky wäre immer der Schuldige. Er hatte vor kurzem noch Alfred abservieren wollen. Aber der hatte sich verändert. Die letzten Tests hatten auch Alfred gezeigt, dass er zu hohe Erwartungen gehabt hatte. Er hatte für die geplante Öffnungsfeier seine Kräfte aufgebraucht. Jetzt war er erschöpft und niedergeschlagen. Alfred war nie klar gewesen, dass der Milliardär in andere Vorstellungen investiert hatte. Es sollte ein exklusives und elitäres Wellness-Resort mit Glücklichkeitsgarantie werden. Für alle Goldies dieser Welt. Bronsky hatte dem Milliardär erzählt, dass dies möglich sei. Er hatte Alfred aber von diesen Zielsetzungen nichts erzählt und ihn sein Ding machen lassen. Schließlich brauchte er ihn ja auch. Jetzt war das alles nicht mehr zu retten. Und Goldie hatte angefangen, ihm immer konkretere Anweisungen zu geben. Er hatte begonnen, ihn zu einem reinen Befehlsempfänger zu degradieren. Er würde jetzt Kontrolleure schicken, die alles überwachten. Er sollte noch heute alle nötigen Telefonate

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durchführen. Da hätte sich Bronsky gleich eine Kugel geben können. Und dieses geldgeile »malus monopulis monsterus« hörte einfach nicht auf, ihm ins Ohr zu vögeln. Den einzigen Laut, den Bronsky dazu von sich geben durfte, war: »Yes, I...do.« Nach einer Viertelstunde der Dauerbeschallung war Bronsky apathisch geworden. Andererseits war es keine gute Idee, diese selbstzerstörerischen Anweisungen mit einem gleichmütigem Einverständnis abzunicken. Es war keine gute Idee, klein beizugeben und zu hoffen, dass dieses Gebrüll damit schneller verstummen würde. Bronskys Kieferknochen schmerzten. Er hatte sein Zähne zu stark aufeinandergepresst. Jetzt kam ihm eine Idee. Bronsky war aufgestanden und in sein angrenzendes, kleines Labor gegangen. Dort befand sich die Liege für seine Probanden. Bronsky justierte, während er das Handy zwischen Schulter und Kinn geklemmt hielt, die Sender. Sie arbeiteten präzise, aber ihre Leistung reichte nur für eine Person. Er warf die Rechner an. Er öffnete eine Datei, in welcher er den Bewusstseinszustand von einem von Alfreds Saddhus zu finden hoffte. Bronsky legte sich auf das Sofa. Er wartete. Da war erst mal nichts. Nichts als Stille. Und in die Tiefe dieses stillen Raumes drang ganz dumpf Goldies Geschimpfe. Es

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KAPITEL02  SZENE 06:  DOPPELTE AUFKLÄRUNG

klang, als würde ein Kofferradio im Wasser weiter dröhnen. ›Was für ein Geplapper ist das denn?‹ Bronsky musste kichern. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war für einen Moment verstummt. »Are you listen to me?« »Yes, yes, talk, talk...hihi« Das Gebrüll machte keinen Eindruck mehr auf ihn. »What the fuck are you doing?« »I am listen to you. But tell me, what is the meaning of to be dead?« Der Millionär gab keinen Mucks mehr von sich. »What...???« Dann brüllte er: »You!!! are dead!, fucking dead!« »Ok, i understand. But, what does it mean to be dead?« Wieder war es für einen Augenblick still. Dann hörte er einen gellenden Schrei der Verzweiflung. »What the fuck are you talking?! See you tomorrow. Be prepared. I kill you! Fucker!« Den letzten Satz konnte Bronsky kaum verstehen, so sehr hatte sich die Blubberstimme verzerrt. Bronsky hatte sich während der letzten Minuten des Telefonats rücklings auf der Liege ausgestreckt. Mit der einen Hand hielt er das Handy in sicherer Entfernung von seinem Ohr weg, mit der anderen hantierte er etwas ungeschickt und ohne genau hinzusehen an

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dem Rechner herum, um das Programm zu stoppen. Dabei musste etwas durcheinandergekommen sein. Er hatte versehentlich eine weitere Datei ausgewählt und das war ausgerechnet eine Bewusstseinsprobe von Ramesh, Alfreds indischem Gärtner. Die Stimme des Milliardärs war auf einmal fruchterregend und geradezu gewalttätig geworden. Bronsky fühlte sich wie ein in Panik geratenes Karnickel. Er hatte Todesangst. In diesem veränderten Zustand wollte er immerzu hilflos darum betteln, dass man ihm nichts antäte. Doch er war noch Bronsky genug, um nicht ganz die Kontrolle zu verlieren. Doch dann wimmerte er in den Hörer: »Sir! Sir! Please!« Seine Stimmte hatte einen indischen und etwas eunuchenhaften Akzent bekommen. Wieder wurde es stumm auf der anderen Seite. »Bronsky?« »Sir!« »Who! the! fuck! are! you!?« »I am Ramesh...the gardener« »Bronsky???« Bronsky überlegte. Wo war denn eigentlich er geblieben, wenn er doch nun zugleich Ramesch der Gärtner war? Da kam ihm eine Idee. »He lays under his desk! Please! Sir! help me! He lays dead under his desk. Come and see! Come and see!«

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KAPITEL02  SZENE 07:  ZWEITER ANLAUF

»Are you kidding!? I kill you both!« Die kreischende Stimme war in ein verzweifeltes, wütendes Schluchzen übergegangen. »I fuck you...both of you! Bloddy Bastards!« Goldie hatte vor lauter Wut und Verzweiflung zu schluchzen begonnen. Und er musste kurz darauf aufgelegt oder sein Handy gegen die Wand geschmettert haben. Er war weg. Es würde das letzte Mal gewesen sein, dass Bronsky mit ihm gesprochen hatte.

ZWEITER ANLAUF In

all den Wochen und Monaten

hatte er sie nicht vergessen können. So, wie ein Hintergrundbild auf dem Bildschirm wieder sichtbar wird, wenn man alle Fenster und Programme auf seinem Rechner schließt, so tauchte Henriette immer auf, wenn er mit sich allein war. Eines Tages, als er antriebslos im Bett lag, vibrierte zweimal sein Telefon. »Bereite mich auf die mündlichen Prüfungen vor. Sonst ist hier nicht viel los. Wie geht es Dir?« Paul war innerlich zum Jubeln zumute. Er überflog die drei Zeilen einige Male, verfiel dann aber ins Grübeln. ›Nicht viel los? Ist es ihr langweilig? Denkt sie nur deshalb an mich?‹, zweifelte er. Sie bereitete sich auf ihre Prüfungen vor. Und dennoch schrieb sie ihm. Sollte er sie anrufen? Was konnte er sagen? Nein, besser schreiben. Aber was schreiben? Paul starrte auf sein Handy. Da standen Zeilen von ihr.

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Eindeutig drei Zeilen. Immerhin. ›Jetzt nicht irgendwas reintippen, was ich später bereue. Aber wenn ich zu viel nachdenke, klingt es vielleicht gekünstelt? Lieber spontan sein, aber wie?‹ Während er hin und her überlegte, hatte die sms das innere Band zwischen ihnen zum Schwingen gebracht. Dort bildete sich eine klare Absicht. Es musste ihm gelingen, mit ihr ein Treffen zu vereinbaren. Paul fing an, in sein Handy zu tippen: »Mir geht es gut.« ›Nein.‹ »Mir geht es ganz gut.« ›Zu banal.‹ »Mir könnte es besser gehen.« Die Textzeilen wanderten vor, wanderten zurück, verschwanden ganz und begannen wieder von vorne. Wäre es nicht besser zu schreiben, wie er sich wirklich fühlte? »Mir würde es besser gehen, wenn ich dich sehen könnte.« ›Viel zu aufdringlich!‹, dachte er. »Freue mich von Dir zu hören« ›Viel zu banal!‹, stellte er fest. Außerdem fand er Freude am Ende einer Nachricht verbindlicher, also: »Würde mich sehr freuen dich wiederzusehen.«

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KAPITEL02  SZENE 07:  ZWEITER ANLAUF

›Ist das zu forsch? Und dann auch noch ein »sehr« dabei. Und das bei Henriette!‹ Pauls Finger waren feucht vom vielen Tippen. In seinem Kopf hatten sich die vielen Gedanken und Gefühle zu einem formlosen Einerlei zusammengeschoben. Paul atmete durch und gewann Abstand von der Angst, die sich in ihm aufgebaut hatte. Der Druck in seinem Schädel ließ nach, als ob jemand einen Schraubstock lockern würde. Er spürte, wie der Atem seinen Brustkorb anhob. Bei jedem Ausatmen sank er tiefer in sich hinein, fiel die Anstrengung von ihm ab. ›Einfach nur da sein‹. Dieses Dasein schien aus unendlich vielen Aufmerksamkeitspunkten zu bestehen und die hatten etwas ertastet, was ihm bisher entgangen war. ›Dennis wollte doch am Sonntag wieder nach Berlin zurück fahren?. Das liegt auf dem Weg!‹ Das war es, was ihm gefehlt hatte. Er würde einen konkreten Vorschlag unterbreiten. Und es gab sogar einen Anlass dafür. Paul war so wach, als hätte er ein Nickerchen gemacht. Er tippte in sein Handy neu: »Bin übermorgen in deiner Nähe. Würde dich gern wiedersehen.« Prompt kam zurück: »Übermorgen kann ich ab 16 Uhr« »Super«, tippte Paul, ohne weiter nachzudenken. »Gut«, war Henriettes lakonische Antwort.

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AUF DEM WEG ZUM KAFFE TRINKEN

Dennis hatte

sich bereit erklärt, für Paul den kleinen Umweg in Kauf zu nehmen. Sie fuhren am späten Vormittag los. Der alte Golf war überladen. Paul musste es sich zwischen Kisten und Koffern auf dem Rücksitz bequem machen. Dennis und Telse saßen vorne. Sie fuhren aus der Stadt raus, durchquerten Doppelhausreihen, erreichten dann den äußeren Stadtring mit seinen Supermärkten, Autohäusern und Gewerbehallen. Nachdem sie dort das schrottige Durcheinander aus Plattenbauten, Betonhallen und architektonisch verkorksten Eigenheimen hinter sich gelassen hatten, fuhren sie ins offenere Land. Telse hatte eine Cola und die guten De Beukela ausgepackt. Sie genossen die sich schnell ändernde landschaftliche Aussicht, den Fahrtwind und den stakkatohaften Wechsel von Licht und Schatten, wenn sie durch Baumalleen fuhren. Sie kamen an kleinen Ortschaften vorbei. Es waren keine schönen Erlebnisse. Einige Orte lagen im Würgegriff von Autohäusern, andere waren in ihrem Ortskern zerstört worden. Die Verödung und Verwahrlosung der Orte, die Verrohung der Wahrnehmung, die sie zugleich zum Ausdruck brachte, schlug ihnen aufs Gemüt. Als sie wieder durch eine von diesen trostlosen und seltsamerweise immer noch bewohnten Ortschaften fuhren, drückte sich Dennis an

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KAPITEL02  SZENE 07:  AUF DEM WEG ZUM KAFFE TRINKEN

das Lenkrad, nahm den Fuß vom Gas und machte auf erstaunt: »Was ist denn hier los!?« Ganz langsam, fast pietätvoll, so als müssten sie ein Notstandsgebiet durchqueren, rollten sie durch den Ort. Telse meinte: »Wie kann man auch eine Schnellstraße mitten durch die Ortschaft ziehen. Da muss man doch einen Knall bekommen.« »Hätten die hier rechtzeitig Dope verteilt, wäre das nicht passiert.« Sie hielten vor einem Haus. Es stand in einer Reihe von ähnlich verpieften Häusern, die den Weg zur Ortsmitte flankierten. Rauhputzfassaden. Fensterlöcher. Ziegeltapeten. Plastiktüren. Glanzdächer. Alles in allem überdimensionierte Hundehütten. Angeschickte Ideenlosigkeit. Niederdrückende Trostlosigkeit. Sie schauten vom Auto aus in einen Garten hinein. »Saubere Arbeit. Alles niedergemäht, alles platt gemacht!«, stellte Dennis fest. »Und du meinst, Kiffen würde denen helfen?« Telse sah in fragend an. »Klar, der Typ, dem das hier gehört, würde morgens in den Garten kommen und denken: Wieso habe ich all meinen Blümchen die Köpfchen abgeschlagen!« »Super, dann geh` doch mal hin und verkauf ihm dein Dope.«

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Dennis grübelte. »Was soll ich denn sagen?« »Sag ihm doch: Nimm´s nicht nur für dich Kumpel, nimm´s für den Garten.« »Ich muss hier keinen bekehren.« Dennis gab Gas und ließ die Ortschaft hinter ihnen. Sie fuhren durch hohe Baumallen, kamen an Feldern und Waldgebieten vorbei. »Alles schön! Nein wirklich.« Telse musterte ihn kritisch. »Jaja, mit mir ist alles ok.« Dennis tat wie Papa am Steuer und lenkte das Auto fröhlich pfeifend durch die eigenheimversaute Landschaft. Nach einiger Zeit sah er Paul durch den Rückspiegel neugierig an. »Sag mal Paul, was hast du vor mit deiner Bekannten? In dieser Gegend?« Paul hatte keinen Plan. Was sollte er also sagen. »Wir haben uns zum Kaffetrinken verabredet.« Dennis sah Paul fragend an. »Kaffetrinken? Du meinst erst einmal Kaffetrinken? Ich fahr dich doch nicht hierher, damit du hier deinen Kaffee trinken kannst!« ›Ja, verdammt, das ist alles so seltsam‹, ging es Paul durch den Kopf. Er wollte sie wiedersehen. Er hatte gar nicht daran gedacht sie rumzukriegen. Henriette war doch anders. Immer noch hing das breite Grinsen von Dennis im Rückspiegel.

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KAPITEL02  SZENE 07:  AUF DEM WEG ZUM KAFFE TRINKEN

»Kaffetrinken! Hehehe. Ist es das erste Mal für dich Paul? Das erste Mal, dass du dich mit einer Frau zum Kaffetrinken verabredest?« Dabei zog er seine Augenbrauen nach oben und grinste leicht idiotisch. »Vielleicht will er darüber nicht reden. Wie war es für dich das erste Mal?«, lenkte Telse ein. »Peinlich«, antwortete Dennis. »Sie war auf dem Klo. Ich stand in ihrem Zimmer. Ich musste einen lassen. Wenn sie zurückkommt, stinkt`s, dachte ich. Also bin ich ins Wohnzimmer. Als ich im Wohnzimmer war, wurde mir klar, dass sie gleich aus dem Klo kommen könnte« »Furzen dauert doch nicht lange?«, bemerkte Paul in der Hoffnung, er könnte bei dem Thema auch ein bisschen punkten. »Ja, aber der bleibt doch in der Hose stecken«, erwiderte Dennis aufklärerisch. »Also habe die Hose runter und dann einen gelassen.« »Das ist nicht peinlich«, meinte Telse. »Doch, der Fleck an der Wand war peinlich. Ausgerechnet am Telefon. Darauf bin ich dann mal schnell weg.« Dennis machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Bin ich froh, das ich dich jetzt habe, Telse.« »Danke für das Kompliment.« »Meine Komplimente sind die besten.«, grinste Dennis zu Paul herüber.

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»Mir ist mal was Ähnliches passiert...«, fing Telse an zu erzählen. »Bei dem Typ, bei dem ich das erste Mal übernachtete, war das Klo verstopft. Er war zur Arbeit gegangen. Ich war allein in der Wohnung. Also habe ich eine Plastiktüte genommen und da rein gemacht.« »Du meinst geschissen?«, fragte Dennis. »Ja, hineingeschissen. Das Problem war..., ich hab die Tüte auf dem Tisch liegen gelassen.« »Das ist allerdings sehr sehr peinlich.«, meinte Paul. Dennis sah Telse plötzlich entsetzt an. »Kenne ich den Typ?« »Nein« »Gott sei Dank!« Er schaute durch den Rückspiegel. »Also..., alles halb so schlimm. Du brauchst nur die richtige Technik. Vorausgesetzt du hast keine kleine Schwester...« Er blickte Telse an. »Vor deiner Zeit. Da habe ich die Weiber auf mein Zimmer geladen und ihnen südamerikanisches Liedgut vorgespielt. Es hat wirklich immer geklappt!« »Schwein!«, antwortete Telse. »Was kann ich dafür, dass ihr so drauf seid. Meine Schwester war sauer, wenn sie mich das Zeug spielen hörte. Einmal kam sie rein und meinte: Kannst

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KAPITEL02  SZENE 07:  AUF DEM WEG ZUM KAFFE TRINKEN

du bitte damit aufhören!« »Aber warum? Es ist weder spät noch bin ich laut...« Da schnauzt sie mich an: »Das anschließende Gestöhne von deinen Tussies geht mir echt höllisch auf den Wecker!« Telse lachte. »Deine Schwester ist mir sympathisch.« »Ich habe sie früh aufgeklärt.« Dennis blickte in den Rückspiegel. »Aufklärung ist wichtig! Aber der Paul möchte ja nur in Ruhe dort seinen Kaffee trinken.« Paul kam es vor, als wäre das ganze Gespräch nur für ihn inszeniert worden. Ja, wieso fuhr er überhaupt dort hin? Sein Plan reichte auch nur bis dahin, dass er Henriette gerne wiedersehen wollte. Er mochte ihre Nähe, mochte ihre Art. Da war noch mehr. Aber das war schwer zu bennen. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob es Liebe war. Vielleicht war es etwas anderes? Er dachte über Dennis und Telse nach. »Telse ist eine tolle Frau und sie ist extrem sexy«, so hatte Dennis das mal ausgedrückt. Die beiden hatten dieselben Ansichten, pflegten denselben Lebensstil. Genauso gut könnte eine andere Frau neben ihm sitzen. Mit einer ähnlich geilen Figur und ähnlichen Ansichten. Dennis würde sich mit ihr genauso gut verstehen. Paul bekam Angst zu versagen.

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ZWISCHEN DICHTUNG UND WAHRHEIT Sie

machten

eine Pause und Dennis entschied sich für ein Nickerchen auf einer nahe gelegenen Wiese. Telse schlug Paul vor, ein wenig über die Felder zu streifen. Sie wanderten an Gärten mit Streuobstwiesen vorbei. Es gab die verschiedensten, meist verwilderten Heckenbepflanzungen, mit Hainbuchen, Flieder- und Brombeersträuchern. ›Eine Vielfalt wie in einem botanischen Garten‹, dachte Paul. In einige Gärten konnte man hineinschauen und Blumenstauden und Beete bewundern. Der Weg führte sie in das offene Feld. Sie gelangten an einen brach liegenden Acker, auf dem vereinzelt ein paar knorrige Apfel- und Pflaumenbäume standen. Dahinter sah man das Dorf nun in einige Ferne. Rote Backsteinhäuser. Auf der Rückseite zu den Feldern waren die Fassaden noch nicht renoviert worden. Einige Fenster besaßen sogar noch die alten Fensterläden. Vor einigen Häusern stapelte sich das Brennholz, mit dem hier immer noch die Öfen beheizt wurden. Paul schien es, als würde er durch eine andere Zeit wandern und das Wort »Heimat« kam ihm in den Sinn. Sie schritten an Feldern mit Sonnenblumen entlang, die beschwert von ihrer Frucht und auch schon etwas müde nach oben schauten. Dann zog eine hohe Wand aus Maisstauden an ihnen vorbei. Telse brach einen Kolben ab und entblätterte ihn, während sie langsam weiter streiften. Ihre

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KAPITEL02  SZENE 08:  ZWISCHEN DICHTUNG UND WAHRHEIT

schmalen Finger zogen immer neue Schichten herunter, die sich in vollendeter Eleganz um den Maiskolben geschmiegt hatten. »Schau mal...«, sagte sie, »...das sieht doch schöner aus als eine Schleife.« Sie strich mit ihrer Hand über den zarten, weichen Flaum am Ende des Kolbens. »Sieht aus wie eine kleine Fontäne.« Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Acker mit niedrigen, durcheinander wuchernden Gewächsen. »Hier wachsen Zuckerrüben«, meinte Paul. »Nee, das sind Runkeln.« »Runkeln? Klingt wie Ausschlag.« »Deswegen werden sie nur an Tiere verfüttert.«, gab Telse lächelnd zurück. »Woher weißt du das?« »Als ich klein war, haben wir auf dem Bauernhof meiner Großeltern unsere Ferien verbracht. Die haben vieles selber angepflanzt. Wenn ich dann doch mal was im Supermarkt gekauft hatte, konnte ich die Verpackung rausschmecken.« Paul betrachtete sie. Er meinte, das Ländliche in ihr erkennen zu können. Sie trug ein gelbes Sommerkleid. Ihre Haare fielen ihr in Wellen über die Schulter. Sie konnte Plastikverpackungen rausschmecken. Irgendwie gefiel ihm das. Er schaute an

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ihr vorbei in die Landschaft, die friedlich in der Mittagssonne döste. Weiter vorne standen ein paar imposante Bäume, deren Blätter silbern im Licht glitzerte. Hafer neigte sich im Wind. Wiesenblumen wuchsen am Wegesrand. Durch all das ging diese junge Frau im hellen Kleid. Ein Bild, das ihm vorkam wie eine alte, eine uralte Erinnerung. Er ging gleichen Schrittes an ihrer Seite. So, als wollte er teilhaben an dieser namenlosen Erinnerung. »Kennst du die?« Sie zeigte auf ein paar kleine weiße Blumen zu seinen Füßen. »Das sind Ackerwinden.« »Ich kenne nur Gänseblümchen.« Sie lachte. ›Sie ist schön, ländlich-schön‹, dachte Paul. Sie schien Gefallen daran gefunden zu haben, ihn in die hiesige Botanik einzuführen. Paul lernte, wie Kornblumen, Geiskraut und Scharfgaben aussehen. Und während sie ihm alles erklärte, glitten ihre feingliedrigen Hände durch die hohe Wiese und blieben an der einen oder anderen Blume hängen. Die langen Haare fielen ihr vornüber. Er sah ihren Nacken, sah ihren gertenschlanken Körper, sah ihn sich nach unten beugen, sah ihn zurückschnellen, sah ihr Haar voll und schwer zusammenschlagen. Er spürte ihren Übermut, ihre Heiterkeit. Telse wendete sich

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KAPITEL02  SZENE 08:  ZWISCHEN DICHTUNG UND WAHRHEIT

ihm zu, blieb stehen, lächelte ihn an, strich ihm etwas aus dem Haar. Es war Sommer. Hochsommer. Die Landschaft brütete in der mittäglichen Hitze. Ein Schwalbenpaar schoss über ihre Köpfe hinweg. Weit oben schwammen ein paar Wolken in weicher Helle. Geruch von Acker, Obst und Wiesenblumen. Leises Summen überall. Eine Frau strich ihm über das Haar. Er sah in die Ferne und ein Satz kam ihm in den Sinn: Schwer von Segen ist die Flur Ausgerechnet jetzt kam ihm dieser Vers in den Sinn, schob sich wie eine überflüssige Zusammenfassung vor das Geschehen. Sie stand vor ihm. ›Wie geht doch noch die nächste Zeile?‹ Er sah die geraden Brauen, die dunklen Augen, die feine Nase, die schmunzelnden Lippen, sah die schwankenden Schatten, die ihre Locken warfen. Zeitlose Erinnerungen stiegen in ihm auf. Und der Himmel mit seinem flirrenden Blau auf dem ein paar Wolken wie hellen Tupfer standen, gab altmeisterlich den Hintergrund ab. Dieser assistierte zu einem Antlitz, das durch die Zeiten immer gleich geblieben war. Sie wandte sich langsam wieder dem Gehen zu, hielt jedoch mit ihm Schritt. Er war der Empfänger dieser Wunder und Zeichen. Er könnte, ja er müsste sie in den Arm nehmen. Er spürte, wie eine Unschuld darin lag, sich dieser ar-

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chaischen Anziehung, diesem unwillkürlichen Geschehen zwischen zwei Geschlechtern hinzugeben. ›Aber wie geht noch mal das Gedicht? Wie ist die erste Zeile?‹ Klingt im Wind ein Wiegenlied Sonne warm herniedersieht ›Soll ich es ihr aufsagen?‹ Dazu musste er sich an alle Verszeilen erinnern. Ihm ging dieses Gedicht nicht mehr aus dem Kopf. Seine Ähren senkt das Korn Rote Beere schwillt am Dorn Schwer von Segen ist die Flur ›Armer Paul...? Nein... ‹ Junge Frau, was sinnst du nur. Da war der Augenblick vorüber. ›Und außerdem, Telse ist die Freundin von Dennis und Dennis wartet am Auto.‹ »Wie spät ist es?«, fragte Paul. Sie hatte ihn bereits an die Hand genommen, als er zögerlich stehengeblieben war. Er spürte ihre heiße Hand in der seinen liegen. Die zog ihn auf die gegenüberliegende Seite hin zu einer Wiese mit Brombersträuchern.

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KAPITEL02  SZENE 08:  ZWISCHEN DICHTUNG UND WAHRHEIT

»Müssen wir nicht bald zurück Telse?«, hörte er sich sagen. Sie zog ihn weiter. »Ja, gleich...« ›Wieso tut sie das? Weshalb sagt sie mir nicht, was sie will? Was hat das zu bedeuten? Vielleicht ist sie sauer wegen Dennis` Machogehabe? Eine Revanche? Ausgerechnet mit mir?‹ Er stolperte hinterher und mitten in eine kaskadierende Flut von Bildern hinein. Er sah ihren lustig verdrehten Arm, sah die flatternden Haare, sah das Kleid, das sich um ihre Hüften spannte, sah wie der Saum ihre Waden freilegte, sah ihren federndem Schritt durch die Wiese eilen. Wieder schien für Momente alles klar. ›Telse gehört Dennis so wenig wie irgendeinem Anderen!‹ Freiheit und Unschuld waren in diesem Einsehen. Sie blieb vor den Sträuchern stehen. Er hätte ihr in die Arme fallen können, doch dachte er immer noch: ›Telse ist Dennis` Freundin.‹ Paul rutschte in den Strauch. Sie half ihm auf. Es war dieses Zusammenfallen von Zeiten, das ihm längst verlorenen Verszeilen zu Kopf steigen ließ. Die hohen Himbeerwände Trennten dich und mich Dieser Moment schien wie angehalten, er weitete

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sich in die Zeit. Ein kollektives Bewusstsein sah in eine stehende Zeit hinein. Eine Frau stand vor ihm. Ihre Hand streifte die schattigen Blätter, griff durch das kühle Dunkel, das immer schon so war, hob sich in das goldene Licht, das immer schon so durch das zitternde Laub träufelte. Ein Käfer stolperte in das tiefer gelegene Blattwerk. Doch im Laubwerk unsere Hände Fanden von selber sich Er stand und sah, wie der Geist der Jahrhunderte allem, was soeben geschah, einen unaussprechlichen und fernverklärten Zauber verliehen hatte. ›Doch... wo sind die Beeren?‹ Die Gegenwart trat nun drastischer hervor. ›Hier gibt es keine Beeren!‹ Ein zweimaliges Hupen durchdrang die Idylle, durchdrang schneidend und unmissverständlich die letzten Zeilen, die vor seinem Bewusstsein hingen. Die Hecke konnt´es nicht wehren Wie hoch sie auch immer stund Ich reiche dir die Beeren Und du reichest mir deinen Mund Er hätte es sagen können. Er hatte es sagen wollen. Sie stand vor ihm, legte ihm ihre schlanken Arme gestreckt auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen.

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KAPITEL02  SZENE 09:  INTERLEKTUELLE ANSCHAUUNG

»Das war schön. Aber mach mal locker Paul. Kaffetrinken ist doch nicht das Höchste der Gefühle.« ›Die sind ein echtes Team‹, ging es ihm durch den Kopf. Er sah ihr verlegen in die Augen. Er hätte ihr doch beinahe etwas ziemlich Peinliches gesagt. Sie trotteten auf einer Abkürzung eilig zurück.

INTELLEKTUELLE ANSCHAUUNG Sie

hielten in einer

kleinen Ortschaft. Telse hatte eine Eisdiele ausgemacht. Dennis wollte sie dahin begleiten. Paul blieb in der Nähe des Autos zurück und ließ sich auf einer Bank nieder. Diese stand an einer wenig befahrenen Kreuzung am hinteren Ende einer alten Kirche. Er betrachtete die bunten Gläser im Kirchenfenster. Die erzählten spiegelverkehrt die alten Geschichten von Kreuzigung und Auferstehung. Er wollte hier ein wenig verweilen, die Beschaulichkeit des Ortes und die erbauliche Nähe des Gotteshauses genießen. Doch fühle er schon bald eine Ernüchterung, spürte eine beklemmende Ödnis, die er schon während der Fahrt hatte ertragen müssen. Es war ihm nicht klar, woher dieser Eindruck kam. Denn hier war doch alles irgendwie »normal«. Er nahm sich vor, die Gründe für seine Niedergeschlagenheit genauer zu benennen. Er nahm sich vor, das implizit Gewordene zu »explizieren«. Dabei wolle er sich ganz auf seine Wahrnehmung verlassen. Kein Vorurteil und keine Voreingenommenheit sollten ihn behindern.

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Seine Beobachtung begann bei der Kirchturmmauer. Vor der Mauer befand sich ein Rasen. Der Rasen war eingezäunt. An den Zaun grenzte ein schmaler Gehweg, dann kamen parkende Autos, dann eine enge Straße, dann wieder ein Gehweg. Eine Reihung kleiner, länglicher Segmente. ›Die Straße mit ihren Autos und Bürgersteigen ist vielleicht einmal ein mit Feldsteinen gepflasterter Platz gewesen? Und vielleicht ging dieser früher in Felder und Wiesen über? Muss das nicht großzügiger und freier gewirkt haben?‹, überlegte Paul. Er hatte den Eindruck, dass nun alles verengt und ganz voneinander getrennt worden war. Er betrachtete die Häuser, die auf der gegenüberliegenden Seite standen. Sie waren zweistöckig. Sie waren grob verputzt und dann grün, gelb und blau angemalt worden. Die Fenster hatten auffallend breite, sprossenlose Rahmungen erhalten. Auf der Straße zu seiner linken Seite erkannte er ein Haus, das sich noch in seinem ursprünglichen Zustand zu befinden schien. Paul betrachtete das Fachwerk, die unregelmäßige Mauerstruktur, die gebrannten Ziegel, die abblätternden Fensterleisten, die verwitternden Gesimse. Die Stufen führten in das Haus hinein und endeten an einer doppelflügigen Holztür. Dadurch entstand eine Vertiefung im Gemäuer, welche zusammen

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KAPITEL02  SZENE 09:  INTERLEKTUELLE ANSCHAUUNG

mit der Tür wie ein kleines Portal an-

Friedrich Schelling, 1775-1854

mutete. Er wendete seinen Blick wieder den Häusern zu, die er soeben betrachtet hatte. Die Vertiefungen waren zugemauert worden. Stattdessen wiederholte sich nun ebenerdig eine immer gleiche

Tür

aus

undurchsichtigem

Pressglas prothesenartig von Gebäude zu Gebäude. Er blickte wieder auf das alte Haus, dann noch einmal auf die modernisierten Häuser. Ihr Binnengefüge, ihre Giebel und Gesimse waren abgeschlagen und überputzt worden. War ihm nicht gerade aufgefallen, dass durch die Teilung der Flächen, durch Zäune, Gehwege und Autos alles enger geworden war? Müsste der Verzicht auf jegliche Gliederung in den modernisierten Hausfassaden dann nicht umgekehrt eine großzügigere Wirkung hervorrufen? Er schaute noch einmal und er schaute noch eingehender hin. Er schaute auf die Bezugslosigkeit und fehlende Proportionen, er schaute auf dumpfe Gleichgültigkeit und ästhetische Verwahrlosung.

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Die Idee einer intelektuellen Ansschauung lässt sich bis auf Plato zurückverfolgen. Dort meint sie vor allem das unmittelbare und intuitive Erfassen des Wesen einer Sache ohne vermittelnde Begrifflichkeit. Als innere Anschauung und die Fähigkeit auch das Göttliche im Geiste zu erfassen ist sie mit der mystischen Schau und Kontemplation (Plotin u.a.) verwandt. In der deutschen Philosophie finden sich unterschiedliche Auslegungen ausgehend von Kant, über Hegel, Fichte und Schelling, wobei vor allem Schelling an die platonische Idee der Wesenschau anknüpft, zugleich aber ihre identitätstiftende Bedeutung als Medium von Selbsterkenntnis hervorhebt: »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige anzuschauen; diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben«. Aus Friedrich Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus.


Wieder wendete er sich dem alten Haus zu. In der feinen Untergliederung der Hausfront nahm er das Zusammenspiel der Formen und Materialien nun noch intensiver wahr. Jedes Segment war Teil einer Gesamtheit, die dadurch differenziert und variantenreich zum Ausdruck kam. Die nun fehlende Feinstruktur hatte die Gebäude in ihrer Gesamtheit ehemals größer und eindrucksvoller wirken lassen. Jetzt sahen sie nur noch aus wie doppelgeschossige Garagen, deren Eingangsbereiche Erinnerungen an Kellertüren hervorrief. Jetzt trat ihm auch die Motivation, die dieser aufdringlichen Farbgebung zugrunde lag, immer deutlicher vor Augen. Sie sollte die verlorene Individualität wiederherstellen. Doch machte sie die Wohnblöcke nur aufdringlich laut, dissonant und egozentrisch. Paul sah auf das gelbe Haus. Hinter einem Fenster meinte er schemenhaft den Kopf einer Frau erkennen zu können. Die alte Frau beobachtete ihn. Ihre adrig gewordene Hand lag auf einer verschlissenen Armlehne. Die andere Hand war ihr in den Schoß gefallen. Sie schaute ihn an. Ganz weit draußen saß er und war noch unendlich jung. Es kam nicht oft vor, dass dort jemand saß und dann auch noch jemand, den sie zuvor nie gesehen hatte. Die Aussicht war immer gleich. Es waren immer gleiche Tage. In regelmäßigen Abständen kam eine Haushaltshilfe vorbei. Die machte den Fernseher an. Die putzte und kochte. Und dann

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KAPITEL02  SZENE 09:  INTERLEKTUELLE ANSCHAUUNG

machte sie den Fernseher wieder aus. Dann war es Zeit für sie, ins Bett zu gehen. Dann wurde es dunkel und die Nacht war dumpf. Manchmal hatte sie Schmerzen. Heute war es gut. Die Hand, die vor ihr lag, war ihr fremd geworden. Sie war steinern und tot. In den letzten Jahren hatte sie viele intensive Erinnerungen. Und jetzt, wo sie aus dem Fenster sah, waren sie wieder da. Manchmal wurde sie von der Haushaltshilfe hinausgeschoben. Das war schön, weil sie dann erleben konnte, wie die Tage wärmer oder kälter wurden. Dann schloss sie die Augen und es kam Erleichterung aus dem, was doch schon so lange vergangen war. Wenn sie die Augen öffnete, dann sah sie vieles, was sie nicht mehr begreifen konnte. Und doch hatte alles seine Richtigkeit. Und sie durfte diese Veränderungen noch miterleben. Sie hätte diesen Ort verlassen können. Sie war geblieben. Die Häuser hatten einen neuen Anstrich bekommen. Die neuen Fenster schützten sie vor der Straße, die laut und unwirtlich geworden war. Die Fenster waren wie eine gläserne Mauer. In ihrem abgedunkeltem Raum war es still, zum Ersticken still. In diese Stille drang manchmal der Fernseher des Nachbarn und manchmal sein Stöhnen. Es war gut, dass sie ihn noch hören konnte, denn dann war sie nicht ganz allein. In ihr waren nicht mehr viele Fragen und wenn keiner da war, dann saß sie am Fenster und schaute in die Richtung, in der die Parkbank

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stand, auf der Paul jetzt saß. Manchmal saßen dort die, die schon tot waren und dann redete sie mit ihnen. Nun saß da jemand, den sie noch nie gesehen hatte. Das war ganz ungewöhnlich und vielleicht war er gekommen, um sie abzuholen? Sie wusste, dass dies nur ein Gedanke war. Die Gleichförmigkeit ihres Lebens war das einzige, was ihr hier noch vertraut war. Und, dass ihr das Vertraute einmal so fremd werden würde und unheimlich? Das hatte sie nicht erwartet. Nur manchmal kam sie noch jemand von früher besuchen und dann versuchte sie etwas zu sagen. Danach waren wieder alle Tage gleich. Jetzt, wo sie den jungen Mann da sitzen sah, dachte sie wieder einmal daran, wie gleich ihr alles geworden war. Der junge Mann schien sich für diesen Ort zu interessieren. Sie hatte den Eindruck, als würde er durch ihr Fenster schauen, als würde er sie sehen. Er erinnerte sie an jemanden, den sie vor langer Zeit gekannt hatte. Ein altes Gefühl erfüllte ihr Herz. Es war ihr, als ob sie einmal glücklich gewesen wäre. Die alte Frau war unruhig geworden. Sie versuchte, ihre Kräfte zu sammeln und dann dachte sie daran aufzustehen. Sie wollte aus diesem dumpfen Traum, der ihr Leben geworden war, hinaustreten. Seit Paul auf dieser Bank saß, war niemand vorbei gekommen. ›Kein Mensch setzt sich vor sein Haus. Kein Kind spielt auf der Straße. Hier werden nur Au-

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tos geparkt‹, dachte er. Das musste er

Edmund Husserl, 1859-1938

aus seinen Betrachtungen streichen, denn wie ein Ethnologe wollte er ganz Beobachter sein und nur das rein Sichtbare beschreiben. Er fing noch einmal von vorne an. Er sah auf den gemähten Rasen, die geteerte Straße, die angemalten Häuser, die verwitterte Kirche. Jetzt sah er die Dinge noch intensiver vor dem Hintergrund, wie sie einmal ausgesehen haben mussten und in welchem Verhältnis sie dabei zueinander gestanden hatten. Das verputzte Mauerwerk der Häuser hatte vor der Renovierung mit dem Gemäuer der Kirche harmoniert. Überall hatte es Formwiederholungen und Formkorrespondenzen gegeben. Jedoch waren es weniger

In Edmund Husserl´s Phänomenologie wird die »intelektuelle Anschauung« zu einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode mit umfangreichen Methodenapparat weiterentwickelt. Wichtig ist dabei die Grundhaltung den Dingen bzw. »Phänomenen« unvoreingenommen und vorurteilslos zu begegnen. Nur so können sie sich in ihren unendlichen Facetten entfalten, wobei ihre wesenhaften und apriorischen Strukturen sich in dieser wiederholten Annäherung als das sich Gleichbleibende, als »Invarianten« allmählich sichtbar werden Dadurch, das Paul sich bei seiner Betrachtung der Dinge aller Vorverurteilungen enthalten möchte, begibt er sich in die Tradition »phänomenologischer Enthaltsamkeit«.

die formalen und farblichen Spiegelungen, die für das Bild einer Einheit und dörflichen Gemeinschaft entscheidend gewesen waren. Er begriff, wie die Kirche auf einem ehemals offenen und weiten Platz in einem klareren Verhältnis zu den umliegenden Gebäuden gestanden hatte. Er konnte nachvollziehen, dass sie als zentrales Hauptgebäude gedacht war und dass die umliegenden Häuser sich in einer austarierten Ordnung um sie herum grup-

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piert hatten. Es hatte hier eine Gemeinschaft gegeben, die in ihrem Rhythmus gelebt und das für sie richtige Maß gefunden hatte. Hier war ein bestimmtes geistiges und seelisches Leben möglich gewesen, das mit Natur und Umwelt im Einklang gestanden hatte. Die Frau hatte sich unter Schmerzen erhoben. Immer wieder wollten ihre Beine nachgeben, wollten die Schwere des alten Leibes zurück in den Sessel drücken. Dann stand sie eine Weile. Sie hatte ganz vergessen, warum sie aufgestanden war. Dann fiel es ihr wieder ein. Mit der einen Hand griff sie in die Richtung, wo sie ihren Stock vermutete. Dann wagte sie einen ersten Schritt, dann einen weiteren. In ganz kleinen Schritten machte sie sich auf den Weg. Es waren fast unüberwindliche Hürden zu nehmen. Sie schlürfte über den Teppichboden. Wenn sie ihre Wohnung verlassen haben würde, musste sie noch durch das Treppenhaus und dort war der Boden glatt und hart. Ein Sturz konnte ihren Tod bedeuten. Sie tippelte weiter und ihr Herz hatte heftig zu klopfen begonnen. Mit der Entscheidung, ihre Wohnung aus freien Stücken zu verlassen und hinauszutreten, war in ihr ein fast vergessenes Erleben erwacht. Sie wollte heraus aus dieser moderigen Enge in das Lichte und Offene. Sie fühlte eine Entschlossenheit, die sie

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voranzog wie ein Seil. Sie fühlte sich wie ein Kind, das unbeirrbar seine ersten Gehversuche macht. Sie durfte jetzt nicht mehr daran denken, wer sie war. Während des Schauens hatte Paul eine Anspannung ergriffen, die seinen Körper zittern ließ. Wie ein Pferdeflüsterer erfasste er kontemplativ den symbolischen Gehalt der Bilder, sah die Sinnbildlichkeit im Sichtbaren. Er sah auf die sprossenlosen Isofenster. Die ließen die Gebäude aussehen, als hätte man ihnen die Augen ausgeschlagen. Er sah in Augenhöhlen hinein. Vor ihrem Dunkel hingen Gardinen. Einige dieser Gardinen wurden drapiert, andere besaßen Rüschen. Und auf der Fensterbank stand manchmal eine Orchidee, ein Kaktus oder eine traurig aussehende Porzellanfigur. Die Frau hatte es unterdessen bis zu der Haustür geschafft. Sie musste warten, bis sie wieder genug Kraft gesammelt hatte, um die Tür zu öffnen. Dann drückte sie mit ihrer zittrigen Hand den eisernen Griff nach unten, schob mit einer gewaltigen Anstrengung die Tür eng an sich vorbei, setze den Stock auf den Gehweg und zwängte sich nach draußen. Die Tür schnappte hinter ihr langsam zu. ›Geschafft!‹ Mit ihrem bebendem Körper lehnte sie an der Wand. Sie hielt ihre Augen einen Moment geschlossen. Ihr Körper wollte hinabsinken, aber sie stemmte sich dage-

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gen, drückte sich noch stärker an die Wand. Draußen war es heiß. Das Licht schimmerte rot durch die geschlossenen Lieder. Der Wind strich ihr über das Haar. Sie empfand es mit Dankbarkeit. So stand sie eine Weile, dann öffnete sie die Augen und staunte. Sie hatte sich ganz woanders befunden. Sie war zu der jungen Frau geworden, die sie einmal gewesen war. Sie hatte vor dem Haus gestanden, in dem sie einmal gewohnt hatte, in derselben Stadt. Was Paul dort sah, erschien ihm unwirklich. Eine Greisin lehnte an der Wand. Ihr graues und krauses Haar war ihr in das Gesicht gefallen. Sie lehnte dort wie eine Frau, die auf einen Geliebten wartet. Er ahnte, dass sie einmal schön gewesen sein musste. Er konnte ihr Wesen spüren, das er gemocht hätte. Sie wäre sein Typ gewesen. Er schaute eine Weile zu ihr herüber. Sie hielt die Augen geschlossen. Als sie sie endlich öffnete, erblickte sie den jungen Mann, der immer noch auf der Bank saß, doch sie würde es nicht mehr über die Straße schaffen. Sie hatte ihre unwirtliche Behausung verlassen und nun sah sie die dunklen Fensterlöcher und die kahlen Wände und es war ihr, als sei sie in dieses Unwirtliche auch hier draußen wieder eingetreten, als wäre es überall. Da klebte eine große Werbefläche an der gegenüberliegenden Straßenseite, die sie nicht verstand, und

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ein Auto raste erbarmungslos schnell an ihr vorüber. Sie spürte dieselbe kalte Gleichgültigkeit, mit der sie auf das Klo gebracht und mit der sie in das Bett gelegt wurde. Das, was angefangen hatte, ihr Leben zu verwalten, hatte auch diesem Ort ein neues Gesicht gegeben. Da war nichts mehr zu begreifen. Da war nur eine Empfindung von Fremdheit und Leere. Die Straße war für sie unüberquerbar geworden und die Tür hinter ihr war mit einem kurzen, klackernden Geräusch endgültig zugefallen. Sie schaute den Mann an. Der gut aussehende Mann schaute sie an. Sie begriff nicht mehr. Da war nur noch ein Staunen und in diesem wurde ihr die Welt licht. Sie war wie ein Kind, das etwas Neues betritt. Mehrere Leute standen nun an der Bank. Sie dachte noch einmal, dass sie nun doch hinübergehen müsste, aber sie war schon zu sehr im Licht, als dass sie hätte wissen können, was mit ihr wirklich geschah. Paul hatte sich wieder in seine Überlegungen vertieft. Er dachte darüber nach, weshalb ausgerechnet in dieser zusammengewürfelten Welt so vieles begann, in Gleichnissen zu reden und ›ist dann nicht auch das größte Durcheinander möglicherweise eine neue und noch nicht ganz explizierte Form der Ordnung?‹. In diesem Moment musste er noch einmal zu der Frau hinüberschauen. Er bekam einen Schreck, denn es war, selbst noch aus dieser Entfernung gesehen,

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Ramana Maharshi,

etwas Seltsames in ihrem auf ihn starr gerichteten Blick. Es schien ihm, als ob sie ihn kennen würde und als ob etwas in ihm sie kennen würde. Es war aber auch so, als ob sie irre wäre. Dann hörte er die Stimme von Dennis unmittelbar hinter sich. »Hey Spanner! Ist `ne komische Gegend hier.« »Ja, ist `ne komische Gegend.« Dennis schaute sich um, sah dann zu Paul. »Lass uns abhauen. Hier ist ja mitten in Babylon!« Er drängte zum Aufbruch. Paul wollte noch mal zu der Frau schauen, aber da waren sie schon im Gehen Telse meinte später zu Paul: »Hast du die Alte gesehen?« »Die war seltsam.« »Vielleicht hätten wir ihr helfen sollen?«

Ramana Maharshi hatte von Edmund Husserl wahrscheinlich weder gehört noch gelesen. Aber sein Weg der Selbsterforschung war von Husserls Methoden der phänomenologischen Reduktion gar nicht so verschieden. Auch ihm ging es darum unter Absehung von allem, was bisher darüber gesagt wurde, zu dem Wesen einer Sache zu gelangen. In seinem Fall war der Gegenstand der Befragung das eigene Selbst. Wenn man die Frage nach dem »Wer bin ich« stellt, so wird man durch das Durchspielen aller möglichen Annahmen zu keiner Antwort gelangen. Die radikale Ausklammerung allen Wägens ist gekoppelt mit einer entschiedenen Wendung nach innen und der Frage, wo der Ursprung allen Denkens sitzt. Maharshi sieht diesen Ursprung in der Annahme von einem personalen Ich. Dieses Ich ist die Bedingung für Denken. Erst wenn man dieses Ich als ein Konstrukt durchschaut, gelangt man zur Einsicht des eigenen Wesens. »Wenn die Welt, also das Sichtbare, verschwunden ist, ergibt sich die Erkenntnis des Selbst, welches das Sehende ist.« Die intellektuelle Anschauung wird wieder zum »sehenderen Sehen«,zur mystischen Schau der Einheit. Diese Methode wurde von ihm auf nur wenigen Seiten in zusammengefasst. akroasis.oktave.ch/ramana/ SRM_1.pdf

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Seit dem Zeitpunkt, als er ihre sms empfangen hatte, war diese Nachricht nie mehr ganz von den anderen Ereignissen überdeckt worden. Ein Teil von ihm war immer mit ihr beschäftigt. Selbst als er mit Telse über die Felder zog, war sie anwesend. So als würde sie ihn bei all seinem Tun begleiteten und beobachten. Als er mit Telse zum Auto zurückkehrte, befand er sich mit Henriette in einem inneren Zwiegespräch. Paul entschuldigte sich für seine unlauteren Absichten und gelobte Besserung. Als er auf der Parkbank saß und seine Beobachtungen anstellte, fragte er sie gelegentlich nach ihrer Meinung und stellte sich vor, wie sie ihm in vielen Punkten recht geben würde. So gut meinte er sie schon zu kennen und so sehr wünschte er sich, auch von ihr erkannt zu werden. Paul wollte nicht direkt vor ihrem Haus abgesetzt werden. Er wollte mitten in der kleinen Ortschaft aussteigen und die letzten Meter zu Fuß zurücklegen. Sie hatte alles vorbereitet. Für sie war es seltsam ihn zu empfangen. Allein, dass er dafür anreisen musste, gab diesem Treffen nach ihrem Empfinden eine eigentümlich große Bedeutung. Es würde etwas zwischen ihnen geschehen. Sie wusste dies in dem Moment, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Da standen für einen Augenblick ihre Gedanken still. Dieser erste Anblick hatte sich in ihr Gedächtnis ein-

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gebrannt. Und nicht nur, weil sie ihm eine Nachricht zu übergeben hatte. Irgendwie empfand sie sich an diesem Nachmittag wie eine Figur auf einem Spiele-Server. Die trug ein zusammengeklicktes, komisches Kleid und hielt einen Brief in der Hand, der nur für ihn bestimmt war, und dieser Brief würde ihm ein Tor zu einer anderen Welt öffnen. Sie sah ihn, in ihren imaginären Spiellandschaften, in Riesenschritten auf sie zueilen. Doch wenn er klingeln würde, dann stünde der reale Paul vor der Haustür ihrer Eltern. In dieser Welt der festen Körper würde es dann zu einer echten Begegnung zwischen ihnen kommen. Reale Begegnungen waren eine ziemlich träge und hartnäckige Angelegenheit. In der Realität wirkte die Schwerkraft auf eine so unglaublich vielschichtige und anstrengende Weise. Ja, selbst Kaffetrinken konnte ein sehr viel Energie beanspruchender, ermüdend langsamer und unnötig komplexer Vorgang sein, der sich leider nicht einfach mit einem kurzen Tastendruck überspringen ließ.

FALSCH RUM IST AUCH RICHTIG Paul sah das Haus langsam auf sich zukommen. Es war nicht ganz so gepflegt, wie die benachbarten Häuser, und anstelle von Gardinen waren Jalousien an den Fenstern an-

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gebracht worden. Als sein Finger schon auf der Klingel lag, zögerte er für einen kurzen Augenblick, denn es war eins »Point of no Return«, den er gerade dabei war, mit seinem Fingerdruck zu überschreiten. Kaum, dass er aber den Klingelknopf losgelassen hatte, öffnete sich schon die Tür. Henriette trug etwas, das so aussah wie ein Kimono. Darum war ein großer Gürtel gewickelt. Darüber hatte sie eine Strickjacke an. Sie hatte ihre Haare nicht zusammengebunden. ›Vielleicht ist sie privat ganz anders‹, dachte Paul. Er hatte sich keine Worte zurecht gelegt. »Schön, dass wir uns wiedersehen«, kam es aus ihm heraus. »Freu mich auch.« Henriette führte ihn durch das Wohnzimmer ihrer Eltern. Paul musterte beim Durchlaufen die Einrichtung. Es schien ihm für diese Gegend außergewöhnlich modern eingerichtet zu sein. Ihre Eltern waren sicher weniger konservativ und bieder als seine Eltern. Er wusste, dass ihr Vater Ingenieur war und ihre Mutter als Lehrerin arbeitete. Henriette erwähnte beiläufig, dass ihre Mutter eine Freundin besuchen gegangen war. Auch ihr Vater würde heute länger auf der Arbeit bleiben. Paul war erleichtert. Er wollte keinen Eltern begegnen. Henriette hatte auf der Terrasse im Garten alles vorbereitet. Da stand ein klei-

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ner runder Tisch. Kaffee war gekocht und in eine Thermoskanne abgefüllt worden. Kuchen war aufgedeckt. Alles war perfekt und auch etwas omaesk. Natürlich war er hier nur zum Kaffeekränzchen vorbeigekommen. Das war im Übrigen auch erst mal völlig in Ordnung so. Paul begann bald darüber zu erzählen, wie es ihm in der letzten Zeit ergangen war. Neugierig folgte sie seinen Ausführungen. Von ihren Augen, die alles wissen wollten, aber nichts ablehnten oder befürworteten, ging ein seltsamer Sog aus. Paul ließ seine Sätze in das Dunkel ihrer Augen wandern. So als wüsste er, dass sie auf dem Grunde ihres Wesens gut aufgehoben wären. Er versuchte in Worte zu fassen, was ihn bedrückte. Und während er dies tat, formte sich aus seinen Sätzen ein umfassenderer Sinn, an dem er selber, sich zugleich zuhörend, Anteil nahm. Ihm fielen all die subtilen Verstrickung auf, in welchen die gefangen zu sein schienen, die ihm in den letzten Wochen und Montaten begegnet waren. Da war sein Vater, dessen Bewusstsein sich in einer Matrix sich gegenseitig verrechnender Zahlen verfangen hatte. Da war Hinkel, der in der Lage war, Ausschnitte des Wirklichen in Modelle zu fassen, und der sich dabei selbst abhanden gekommen war. Da war seine hübsche Kunstlehrerin, die ihre Studenten mit

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seltsamen Konzepten und Konstrukten traktierte. Und da war Dr. Bender, der so viele Theorien über die menschliche Psyche kannte, aber keine s o richtig anwenden konnte. Und schließlich waren da die Schulbücher, die ihn mit einem Wissen überhäuften, das ihm keine Antwort auf die Fragen gab, die für ihn mit der Zeit immer grundsätzlicher geworden waren. Paul war wütend auf all diese Ablenkungen, die ihn davon abhielten zu verstehen, wer er »wirklich« war. Wenn er dies begreifen könnte, so glaubte er, dann würden sich vielleicht alle seine Probleme von selber lösen. »Ich habe jetzt vielleicht etwas viel geredet?«, wandte Paul sich entschuldigend zu Henriette. »Nein, ich kann das alles nachvollziehen.« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, zögerte aber. Paul spürte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. »Und, wolltest du noch was sagen?« »Später« Sie sah ihn lange an. Mit Henriette war es anders als bei Telse. Bei Henriette ging so viel von ihren dunklen Augen aus. In ihnen schien sich ihr Wesen zu verdichten. Ihm war bewusst geworden, wie schön sie eigentlich war. Ihre Lippen hatten einen wunderbaren feinen, ironisch fragenden Schwung. Wenn nur ihre Wangen etwas voller wären, und es

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fehlten ihr eben diese paar Kilo, wie Paul immer wieder fand. Henriette hatte in der Zwischenzeit für beide noch einmal Kaffee eingegossen. »Schau mal!« Sie nahm die Tasse vom Mund, stellte sie ab, rührte mit dem Löffel verkehrt herum in der Tasse, nahm ihn heraus, tat so, als würde sie einen Zuckerwürfel hineinwerfen. »Das hab ich von dir.« Paul musste grinsen. »T.O.T.E?« »Nein... E.T.O.T. Wenn man etwas beherrscht, dann kann man es umdrehen.« »Bemerkenswert«, meinte Paul. »Es macht frei. Darf ich eine rauchen?« Henriette kramte ein Pfeifchen hervor. »Ich tue das ausschließlich vor Freunden. Du bist also unzufrieden mit deinem jetzigen Leben?« Mit der Pfeife kam sie ihm wie ein Analytiker vor. »Ich habe auch eine Methode. Mit der kann man etwas herausfinden, indem man nur ein paar Fragen stellt.« »Na, dann...« Henriette brachte sich in Position. Sie schien sich auf ihre erste Frage zu konzentrieren: »Gibt es jemanden, mit dem du besonders unzufrieden bist?«

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Nach einer kurzen inneren Revision blieb Paul bei Dr. Bender hängen. Den mochte er wirklich nicht. »Ok, ich weiß jemanden, Dr. Bender.« »Gut, was ärgert dich an diesem Typ?« Paul suchte nach einer Antwort. »Er ist arrogant. Er ist selbstherrlich und hört nicht zu. Ich hatte ihn aufgesucht, weil ich einmal Hilfe brauchte, aber der blöde Sack hat mich noch hilfloser gemacht.« »Ok Paul, nehmen wir mal an, es stimmt was du sagst. Wie sollte Dr. Bender sich ändern, damit du mit ihm zufriedener bist?« Es fiel Paul gar nicht so leicht, dies auf Anhieb zu benennen. Anscheinend hatte er darüber noch nicht so genau nachgedacht. »Dr. Bender müsste die Probleme seiner Patienten ernster nehmen und sich besser in sie hineinversetzen.« Während er das sagte, hatte er das Bild von einem Mann vor sich, der sich unangenehm nah zu ihm nach vorne beugte. »Also, du wärst glücklich, wenn er dich besser verstehen würde?« «Ja, sicher!« Paul blickte innerlich diesem Ja hinterher. Wollte er denn von Dr. Bender verstanden werden? Dafür war er ihm doch viel zu unsympathisch gewesen.

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Henriette schien seine aufkommenden Zweifel zu bemerken und so schob sie gleich die nächste Frage hinterher: »Bist du dir ganz sicher, dass dem so ist? Kannst du dies mit hundertprozentiger Sicherheit sagen?« Paul ärgerte das. Was bildete sie sich ein? Glaubte sie ihm nicht? Aber konnte er sich wirklich hundertprozentig sicher sein, dass Dr. Bender es nicht gut mit ihm meinte? Nein. Das konnte er nicht. Diese Einsicht gefiel ihm nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Henriette seine Urteile als Vorurteile entlarvte. »Also...gefühlt sind es hundert Prozent.« Es war schon spät am Nachmittag. Die Bäume warfen lange Schatten über den Rasen und einer war bis zu Henriette hinaufgekrochen. Ihre Augen schienen jetzt noch dunkler als sonst zu sein. Paul überlegte, ob ihre fehlenden zehn Kilo ein echter Hinderungsgrund für eine Beziehung wären. ›Welches Gewicht besitzen zehn fehlende Kilo in diesem übertragenen Sinne?‹ Es war nur ein Gedanke. Denn, wenn er sie betrachtete, dann war doch alles schön an ihr. Sie war schmal. Es machte sie nur noch ausdrucksvoller und es änderte gar nichts an der Zuneigung, die er für sie empfand.

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Henriette hatte bemerkt, das Paul in seinen Gedanken abgeschweift war und so fasste sie noch mal zusammen: »Du kannst also nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Dr. Bender dir nicht helfen will. Gut. Wie geht es dir, wenn du das dennoch glaubst, was du über ihn denkst.« Paul wurde aus seiner Betrachtung Henriettes gerissen. ›Es geht ja immer noch um diesen Dr. Bender. Dass ich ausgerechnet ihn für dieses Spiel vorgeschlagen hatte...‹ Paul fühlte in sich hinein, um herauszufinden, was die negativen Gedanken über den Psychiater mit ihm machten. »Ich fühle mich ohnmächtig, ausgenutzt und missbraucht!« Ja, so war es! Dr. Bender war immer noch dieses Arschloch für ihn, von dem er allerdings nicht mehr mit Sicherheit behaupten konnte, das er wirklich eines war. Paul musste grinsen. Henriette grinste mit. »Was ist?« »Ich finde, er ist trotzdem ein Arschloch!« Henriette grinste noch breiter. Offensichtlich hatte sie zu hören bekommen, was sie erwartete. »Na gut. Dr. Bender ist also das Arschloch aus Prinzip. Und jetzt stell dir einmal vor, wie es dir ohne diesen Gedanken gehen würde?«

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Diese Vorstellung erzeugte in ihm ein Gefühl, als hätte ihn jemand eingerenkt oder als würde die negative Anspannung unmittelbar nachlassen. »Es geht mir gut«, meinte Paul. Dann fügte er noch hinzu: »Ein Arschloch weniger auf der Welt. Da fühlt man sich gleich besser!« »Nein...«, entgegnete Henriette. »Nur ein negativer Gedanke weniger in deinem Kopf.« Da war leider was dran. Was hatte er überhaupt gegen Dr. Bender? ›Der Typ macht nur seinen Job. Wahrscheinlich hat er jeden Tag viele ähnliche Fälle, für die er schlecht bezahlt wird.‹ Unter anderen Umständen würde er ihn eventuell sogar sympathisch finden. Diese Überlegungen behielt Paul für sich. Henriette war immer noch nicht an dem Ende ihrer Untersuchung angelangt. Sie hatte noch eine weitere Frage an ihn: »Drehe jetzt das Ganze mal um und wende deinen ersten Gedanken auf dich selber an. Also, was hältst du von dem Satz: Ich bin arrogant und selbstherrlich und habe Dr. Bender deprimiert.« Paul war gereizt. Sollte er ihr Gefrage ins Lächerliche ziehen? Er versuchte es: »Ja, na klar! Ich bin der Psychopath! Ich habe den armen Mann genervt mit meinen Problemen und habe

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ihn deprimiert, weil er mir nicht helfen konnte.« Dummerweise bemerkte er, dass da im Grunde auch irgendetwas dran sein konnte. »Also Henriette, was willst du mir damit sagen? Bin ich hier hergekommen, damit du aus mir einen Psychopathen machst...?« Paul hatte einen roten Kopf bekommen. »Selbstverständlich...«, fuhr er aufgeregt fort, »ist es so gewesen, das Dr. Bender mir aufopfernd helfen wollte und dass er alles unternommen hat, um mich zu verstehen. Er hat mir sogar ein paar Fragebögen in die Hand gedrückt, in denen ich selbst notieren durfte, wie es mir ging. Er hat sich ungemein zurückhaltend und nachsichtig mir gegenüber verhalten.« »Perfekt!«, gab Henriette zurück. »Du hast die zweite Umkehrung sogar von selbst vollzogen. Du hast das Gegenteil von dem ausgesprochen, was du zuvor über ihn gesagt hattest. Aber das heißt nicht, das dies nun richtiger ist. Es bedeutet nur, das du so oder auch anders über Dr. Bender denken kannst. Es sind einfach nur deine Gedanken.« Paul lächelte. Wenn das Treffen mit Dr. Bender nicht stattgefunden hätte, dann hätte er auch dieses Gespräch mit Henriette nicht führen können.

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Katie Byron Vielleicht hat es der ein oder andere schon bemerkt. Die Technik die Henriette anwendet ist auch unter dem Begriff »The Work« bekannt. Dies ist ein Prozess, den Katie Byron entwickelt hat und mit dem sie sich von ihre jahrelangen tiefen Depressionen befreien konnte. Dabei geht es ihr darum sich von negativen Überzeugungen zu befreien und anzunehmen was ist. Man könnt auch sagen es ist manchmal besser nicht eine Meinung über etwas zu besitzen,.

www.thework.com/downloads/little_book/German_LB.pdf


»Ja, alles wird schon seine Richtigkeit haben.« Beide schwiegen und sahen sich an. Ihm war klar, was ihn mit Henriette verband. Er musste sie nicht fragen, was in ihr vorging. Er spürte, dass sich in ihr und ihm dieselbe Schweigsamkeit auszubreiten begann. Zum frühen Abend hatte sich der Wind gelegt. Die hohen Bäume rauschten fern und leise, wenn ein sanfter Luftzug durch ihre Wipfel ging. Wenn dann doch noch einmal ein Wind aufkam, dann war es, als würde durch alles derselbe Atem gehen, als würde ein unsichtbares Wesen seine Flügel heben und ein wenig Wind fächern, um dann gleich wieder in sich zusammenzusinken. Während Paul in die Schönheit des Gartens hineinsah, dachte er an die Personen, denen er zuletzt begegnet war. Sie waren in sich gefangen. Sie konnten ihm keine Antworten geben und keinen Weg weisen. Aber war das nicht auch nur seine Meinung? Mit Henriette konnte er schweigen. Und dieses Schweigen besaß Feinheit und Tiefe. Dann sagte er: »Im Grunde ist mir das klar.« Paul sah zu ihr hinüber und Henriette lächelte wie jemand, der glücklich ist. »Ist das der Grund, weshalb wir uns begegnet sind?«

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Die Frage sollte ins Schwarze treffen doch erzeugte sie eine unerwartete Reaktion. Henriette war auf einmal ernst geworden. Pauls Bemerkungen erinnerten sie an das, was sie ihm noch zu sagen hatte. Es erschien ihr unvermeidlich, dass sie dabei auch etwas über sich erzählen musste. Wie würde er sonst verstehen, das ausgerechnet sie von Alfred beauftragt wurde? Henriette besaß eine sonderbare Begabung, die Alfred, der sich auf so etwas verstand, schnell aufgefallen war, als er ihre Eltern besucht hatte. Sie hatte Zugang zu einer anderen Dimension des Wirklichen. Manchmal konnte sie Stimmen hören, ohne das jemand sichtbar war, und manchmal war auch jemand sichtbar, den aber nur sie sehen konnte. Und dann konnte es auch so sein, dass sie die Anwesenheit von Jemandem spürte, ohne dass dieser sichtbar war oder mit ihr sprechen wollte. Vielleicht war dies eine der Ursachen, weshalb sie so wenig Bezug zu ihrem eigenen Körper hatte. Er schien ihr austauschbar. Möglicherweise würde sie ihn gar nicht benötigen. Anstatt sich mit diesem einen Körper zu identifizieren, zog sie es vor, verschiedene Gestalten in virtuellen Welten anzunehmen. Das Spielen erlaubte ihr den Wechsel von Identitäten, hinter denen man sich doch irgendwie gleich blieb. Sie hatte den mythologi-

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schen Glanz und den märchenhaften Zauber, der auf den glitzernden und schimmernden Landschaften dieser Welten lag, immer gemocht. Nur war ihr in der letzten Zeit auch die Künstlichkeit dieser Spiele zunehmend deutlicher geworden. Sie hatte es geliebt Elfen, Gnomen, Magiern und Rittern zu begegnen. Nur merkte sie mit der Zeit immer deutlicher, dass diese uralten Archetypen instrumentalisiert worden waren, um den seelenlosen Renderings mehr Bedeutung und Tiefe zu geben. Seid sie diese Träume hatte, machte ihr diese Künstlichkeit sogar Angst. Und auch in dieser Nacht waren ihre Träume von Düsternis und Hoffnungslosigkeit getränkt gewesen. Sie hatte Hände, die auf einmal aussahen wie riesige Greifzangen. Und als sie die anderen Figuren berühren wollte, lösten diese sich auf. Sie wurden zu abstrakten Polygonen, substanzlos und durchsichtig. Sie fühlte sich in einer kollisionsfreien und hermetischen Welt gefangen. Sie hatte eine schreckliche Angst bekommen und war daraufhin erwacht. Auch am Tag war die Angst noch da. Sie spürte, während sie Paul gegenübersaß, wieder diese unsichtbare Wand. Sie stellte ihm Fragen durch diese Wand hindurch. Sie wollte unbedingt etwas über seine Wirklichkeit erfahren. Vielleicht begehrte er ihren Körper. Doch er war ganz

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bestimmt nicht der Prinz, der sie aus ihrem gläsernen Sarg befreien konnte. Paul wollte wissen, ob er etwas falsch gemacht hatte. Sie antwortete, dass sie nur für einen Augenblick abwesend gewesen wäre. Dann dachte sie, dass sie ihm doch einiges sagen könnte. Dieser Gedanke brachte einige Erleichterung. Es würde ihr schwerfallen. Sie war es nicht gewohnt, anderen etwas über sich zu erzählen. Er hatte ihren Körper eingehender betrachtet. Sie hatte es bemerkt. Eigentlich war alles offensichtlich. Ihr Körper drückte ganz eindeutig ihr Problem aus. Sie war in dieser Welt, in der Schwerkraft und physische Reize wirkten, zwar vorhanden, aber physische Bedürfnisse interessierten sie nicht. Paul blickte in den Garten. Sie sah seinen Blicken nach. Sie schwiegen. Er hätte ihr Bruder sein können, so vertraut kam er ihr vor. Paul wollte wissen, weshalb sie immer so logisch sei. »Alles ist logisch«, antwortete Henriette. Da wusste sie, dass sie das Rad ins Rollen gebracht hatte. Sie musste etwas über sich erzählen. »Stell dir vor, du landest auf einem fremden Planeten. Du musst lernen dich anzupassen. An die Art und Weise, wie die Lebewesen dort gewohnt sind, ihre Probleme zu lösen. Du stellst fest, dass dein Überle-

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ben gesichert ist, wenn du dich nach ihren Vorstellungen vernünftig verhältst. Du hast zwar längst erkannt, das dort absolut gar nichts vernünftig abläuft, aber du willst nicht auffallen. Du willst nicht, dass die anderen merken, dass du von einem anderen Planeten kommst. Also versuchst du, so gut es geht, nach ihren Spielregeln zu leben. Du beherrschst am Ende die Spielregeln besser als sie selbst, denn du wendest sie bewusst an! Das ist eine Überlebensstrategie.« Paul war überfordert. »Also erst einmal... du kommst von einem anderen Planeten?« »Das ist so...« Henriette suchte nach einem Beispiel. Weshalb sollte sie nicht gleich von hinten beginnen, um dann dort anzukommen, wo andere normalerweise anfangen? »Oder nimm` einmal an, du liegst im Bett und auf einmal spürst du, das du nicht alleine bist. Etwas liegt neben dir. Du spürst, das es dich ansprechen will. Du konzentrierst dich. Allmählich nimmst du Alter, Geschlecht und Absichten war. Allmählich kannst du tatsächlich etwas sehen. Manchmal war es mir sogar so, als würde dein Onkel neben mir liegen.« Paul hatte die Frage, von welchem Planeten Henriette denn kommen würde, in Anbetracht dieser noch unglaublicheren Ausführungen prompt vergessen.

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»Mein Onkel kommt dich besuchen?« Henriette versuchte das, was sie mit diesem Beispiel grundsätzlich ausdrücken wollte, noch einmal allgemeiner zu fassen: »Nein, so ist es auch wieder nicht. Er war immer schon ein guter Freund meines Vaters und so haben wir uns auch kennengelernt. Aber, ich konnte schon früh Dinge sehen, die andere nicht sahen, Stimmen hören, die andere nicht hörten, und ich musste akzeptieren, dass es etwas gibt, an das meine Familie und meine Freunde niemals glauben würden. Ich habe ihnen deshalb nie davon etwas erzählt.« Es entstand eine Pause. Sie sah ihn an. Es war für sie eine Erleichterung, das alles auszusprechen. »Und was ist nun mit meinem Onkel?« Henriette musterte Paul. »Kennst du ihn überhaupt? Er war damals öfter bei uns zu Besuch und kennt mich noch aus Zeiten, als ich ein kleines Mädchen war. Er hat nun mit mir Kontakt aufgenommen... vor allem..., weil er mit DIR Kontakt aufnehmen wollte.« Henriette spürte, dass sie zurückhaltender agieren musste. Wenn sie ihm alles erzählte, würde sie ihn so sehr verunsichern, das er ihr gar nichts mehr glauben würde. Da war auch wieder diese Angst, Paul könnte sie für verrückt halten. Sie unterhielten sich noch eine Weile. Henriette brachte ihm etwas zu

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essen. Sie machte Musik an und dann, als hätte Henriette gespürt, dass Paul ein wenig Erholung brauchte und weil auch für sie alles so ungewohnt war, verschwand sie für einige Zeit in der Küche. Die Pflanzen leuchteten in satten Farben. Die schimmernde Atmosphäre, die durch das Helldunkel von Licht und Schatten erzeugt worden war, war nun einer intensiven und plastischen Seinshaftigkeit gewichen. Paul sann darüber nach, ob der Begriff Dinghaftigkeit genauso angemessen gewesen wäre. Doch die Dinge erschienen ihm hier anders als etwa bei seinem Praktikum. Dort wirkten Stühle, Rechner, Wände und selbst die gegenüberliegenden Gebäude dinghaft. Ihn beschäftigte die Frage, was er denn überhaupt mit »Seinshaftigkeit« meinte, dieser Begriff hatte sich ihm so unmittelbar aufgedrängt. Er blickte auf die Hausfassade, die rückseitig zum Garten lag. Die sah nicht viel besser aus als die Hausfassaden in der kleinen Ortschaft, die so bedrückend auf ihn gewirkt hatten. Lag es an der Stimmung? Lag es am Licht, das nun alles in versöhnlichen und warmen Farben malte? Doch es war da. Vielleicht umso intensiver, je länger er schaute. Es war nicht an etwas Bestimmtem festzumachen. Es war überall. Dies war der Augen-

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blick, in dem sich etwas öffnete: Paul konnte in die nicht manifeste Potenzialität hineinsehen. Er sah in ein Sein hinein, in der all das Divergente und Dissonante, das die Zivilisationen hervorgebracht hatte, zugleich wie in ein flüssiges, weltumspannendes Bewusstsein eingetaucht zu sein schien. Paul fragte sich: ›Können all diese Dinge...können Mega-Perls, Plattenbauten, Ufo-Lampen, Mars-Riegel, oder was auch immer, in eine höhere Ordnung fortexistieren? Als Ideen in einem reinen Ideenhimmel? Als Schöpfungen eines ekstatischen Schöpfungswillens? Dort schien es eine andere Dimension von Möglichkeit, Denkbarkeit und Freiheit zu geben‹. Er atmete diesen ambrosischen Hauch, diese wundersame Ahnung einer anderen und weitaus intensiveren Existenz. Doch schon im nächsten Augenblick war all das ganz unwirklich geworden. Paul hatte sich mit Henriette auch über ihre Pläne für die Zeit nach dem Abitur unterhalten. In ihr war der Entschluss gereift, nach dem Abitur Psychologie zu studieren. Sie wollte sich von Dr. Bender beraten lassen. Paul hatte ihr seine Praxisanschrift gegeben. ›Wahrscheinlich ist Dr. Bender ja doch ganz in Ordnung.‹ Aber er hatte ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, Bender und Henriette zusammenzubringen.

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Henriette hatte ihre Intuition gegenüber den übersinnlichen Wirklichkeiten geschärft, so wie sie ihren Intellekt gegenüber der materiellen Wirklichkeit geschärft hatte. Es gibt Menschen, die meinen, das sie ihren Intellekt nicht mehr richtig benutzen könnten, wenn sie sich zu sehr auf ihre Intuition verließen. Genau das Gegenteil schien bei Henriette der Fall zu sein. Sie hatte gemerkt, das sich diese beiden Fähigkeiten ideal ergänzten. Sie hatten beide über eine Wissenschaft spekuliert, die diese Phänomene einmal wird erklären können. Und sie hatten gespürt, dass sie in etwas aufgehoben waren, das durch alles gleichermaßen hindurchging. Es war immer da. Es strömte aus der Stille. Es war in den Bäumen. Es war im Himmel. Es war zwischen ihnen. Es erzeugte ein Gefühl von starker Zuneigung in Paul und das tat es auch bei Henriette. Das Herz schien ein Organ zu sein, das dafür geschaffen war, mit dieser Intensität in Resonanz zu gehen. Henriette kam aus der Küche zurück. Sie hatten am Nachmittag schon so lange beisammen gesessen, dass sie vorschlug, ihm noch den angrenzenden Wald zu zeigen. Sie gingen durch eine Tür, die sich am Ende des Gartens befand und die nur notdürftig von einem alten Fahrradschloss zusammengehalten wurde. Paul hatte den Eindruck, als wäre er durch ei-

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ne magische Pforte in Henriettes Spiele und Märchenwelt eingetreten. Sie wanderten über den wippenden Boden eines Kiefernwaldes. In den Wipfeln glimmten dunkelrot die letzten Strahlen der Sonne. Wieder schien für Paul ein uralter Zauber über den Gräsern, Sträuchern, Büschen und Bäumen zu liegen. Nur war er jetzt noch deutlicher als bei dem Spaziergang mit Telse. Wie zwei Königskinder durchschritten sie den Wald. Sie gingen ganz dicht beieinander, so als wollten sie gleich ihre Hände halten. Sie zeigte ihm eine Stelle, von der sie über eine Wiese auf einen bewaldeten Hügel sehen konnten. Aber nun drängte auch schon die Zeit. In einer Stunde, vielleicht auch schon früher, müsste Paul losbrechen, wenn er den Bus noch bekommen wollte, der ihn zu der nächsten größeren Ortschaft bringe würde. Von dort aus nähme er dann den Nachtzug zurück. Sie gingen deshalb zurück und setzen sich ein letztes mal in den Garten. Henriette suchte für ihn die Verbindungen heraus. Sie hatten noch eine Viertelstunde Zeit. Sie schwiegen. Hier im Garten, der an den Wald angrenzte, in dem sie gerade gelaufen waren, war die Stille wie zum greifen. Alles ruhte nun. Die Eiche, unter der sie gesessen hatten, ruhte. Die Kiefern hinter der Gartenmauer ruhten. Alle Blumen auf der Wiese ruhten.

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Kein Hauch bewegte die Blätter. Die Stille war so dicht, das Paul erst beim zweiten Hinhören Geräusche vernahm. Irgendwo fuhr ein Auto über die Landstraße. Irgendwo wurde eine Tür zugeschlagen. Ein Vogel zwitscherte einmal, zweimal vor sich hin, um dann auch zu verstummen. Paul sah über die dunklen Silhouetten der Kiefern hinweg. Er sah zum Himmel auf. Dort verglühten die letzten Farben. Er sah in die fernen Wolkenwelten. Die schimmerten noch mattrosa und pfirsichfarben. Und auch dort war eine tiefe, friedvolle Stille eingekehrt. Wolken ruhten wie große, schweigsame Schiffe. Vor ihm saß Henriette. Während er noch nach oben sah, spürte er ihre Blicke in diesen letzten Minuten auf sich ruhen. Er spürte die Präsenz in ihren Blicken. Es war dieselbe Präsenz, mit welcher er in den Garten sah und dann wieder sie ansah. Er fühlte weniger seine personale Identität, als vielmehr sich selbst als sehendes Bewusstsein. Dieses Sehen trug seinen Namen. Aber genauso gut hätte es auch Henriette heißen können. Sie saß da und schaute ihn an. Sie schaute ihn mit derselben identitätslosen Intensität an, wie er sie. Er konnte diese Intensität im Herzen spüren. Er würde sie heute küssen. Sie erhoben sich. Henriette musste ihm jetzt noch den Brief übergeben. Sie wusste nicht, wie sie es sa-

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gen sollte. Sie standen sich gegenüber. Er musste sich in diesem Augenblick wohl gedacht haben: ›Jetzt oder nie‹. Er küsste sie. Er spürte, wie sich in ihr etwas versteifte. Es gab keinen Wiederstand, aber auch keine Erwiderung. Es war zum Verzweifeln. Etwas in ihr war abwesend. Es war wunderschön. Er spürte die Wärme ihres Körper, vernahm ihren rasenden Herzschlag und ihren Duft, berührte ihre feuchten, zaghaften, neugierig fragenden Lippen. Irgendetwas verbot ihm leidenschaftlicher zu werden. Er hing mit seiner ganzen Seele an diesem Kuss. Ihre und seine Seele verbanden sich, waren in der ungeheuren Intensität dieses Augenblicks eine Einheit. Er würde sie immer lieben. Grundlos. Einfach so. Weil sie so ist, wie sie ist. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, stand der Kuss zwischen ihnen. Er warf so viele Fragen auf. Es würde auf diese Fragen keine Antworten geben und nichts würde auf dieses Ereignis folgen. Er hatte es geahnt. Er musste jetzt sowieso gehen. Sie hielt ihn noch einmal zurück und gab ihm diesen Brief. »Wir haben nicht mehr darüber geredet. Vielleicht erklärt sich einiges von selbst, wenn du ihn liest.« Der Brief war ungeöffnet. Es war keine Zeit mehr, ihn in ihrer Gegenwart aufzubrechen und es passte auch nicht. Er lief in die Nacht hinaus.

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Es war nach zwölf. Solange hatte er gebraucht, um in diesem Abteil zu landen. Erst am frühen Morgen würde der Zug seine Fahrt fortsetzen. Der Brief lag geöffnet auf dem kleinen Klapptisch am Fenster. Es war eine Einladung. Sein verschollener Onkel Alfred schrieb ihm, das er öfter an ihn gedacht hätte. Er wüsste, wie es ihm geht und er war der Meinung, dass ihm eine Veränderung gut tun würde. Allerdings sollte er nichts davon seiner Mutter und vor allem nicht seinem Vater erzählen. Auf dem Brief stand eine Adresse und eine Telefonnummer. Allerdings mit dem Vermerk, dass er telefonisch nicht gut erreichbar sei und Paul am besten eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen sollte. Er würde ihm antworten. Der Brief schien zu bestätigen, was seine Familie vermutete. Aber weshalb sollte er nicht einen Verrückten besuchen, wenn er doch mit ihm verwandt war? Und was hieß schon verrückt? Allerdings schien sich sein Onkel, wie der kryptischen Adresse zu entnehmen war, an einem weit abgelegenen und exotischen Ort aufzuhalten. Henriette hatte nicht viel von ihm erzählt. Immerhin stand sie mit diesem irgendwie in Verbindung. Und was hatte er schon zu verlieren? Sein Abitur würde er dieses Jahr nicht mehr

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schaffen. Weshalb sollte er sich also sinnlos quälen, wenn er sowieso alles noch einmal wiederholen musste? Paul hatte die Lehnen der einen Sitzreihe in seinem Abteil nach oben geklappt und sich flach ausgestreckt. Er starrte zur Decke. Ihm gefiel der Ort. Er würde diese Nacht auf einem Abstellgleis in Deutschland verbringen. Das war ein passendes Zuhause. Er war losgefahren, aber noch nicht angekommen. Die Intensität der Begegnung wirkte nach. Er fühlte sich offen und ein Gefühl von Freiheit war in ihm. Es war in Ordnung, das er hier herumlag. Es gab nichts zu befürchten oder auszusetzen. Es war nicht nur ein befreiendes, sondern ein geradezu musikalisches und dichterisches Gefühl. Ein Gefühl, aus dem etwas Neues entstehen konnte.

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III. BAD IN DER MENGE Er hatte sich noch vor zwei Tagen in einer anderen Wirklichkeit aufgehalten. Er hatte am Flughafen in Zürich auf den Verbindungsflug nach Dehli gewartet und über die Perfektion gestaunt, mit der dort alles zusammenpasste. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Die Warteräume waren leer, klimatisiert und sauber gewesen. Er hatte sich beschützt und aufgehoben gefühlt in diesen hoch technisierten und modern eingerichteten Räumen. Aber all das wurde in sein Gegenteil verkehrt, als er in Dehli ankam. Schon als er aus dem Flugzeug ausstieg, war die Luft erfüllt von Gerüchen. Die Hitze, die bis in die Nacht anhielt, schlug ihm ins Gesicht. In den heruntergekommenen Gängen, die in die Haupthalle führten, stieg ihm der Moder von feuchten Teppichböden in die Nase. Die keimfreie und zivilisierte Welt, in der er sich in Sicherheit gefühlt hatte, lag nun weit zurück. Zürich war festgefügt und wertebeständig. In Dehli hatte er den Eindruck, in einem riesigen, sich ständig verändernden Termitenhügel angekommen zu sein. Arbeiter rissen in der Gepäckhalle brettartige Wände nieder und zogen an anderer Stelle notdürftig getünchte Fassaden hoch. Und dies geschah mitten in der Nacht! Viel zu viele

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Menschen schienen ihm dort mit nur einer einzigen Aufgabe beschäftigt zu ein. Zwei Inder hielten eine Leiter, drei gaben Anweisungen und zwölf schauten einfach nur zu, während einer die Decke strich. Ihm wurde ein Passierschein in den Ausweis gelegt, den er zwei weiteren Kontrolleuren noch einmal vorzeigen musste. Als er die Baustelle verlassen hatte, kam ihm selbst dieser Flughafen noch wie ein Schutzwall vor, eine letzte Quarantänezone, aus welcher er endgültig in ein anderes Dasein entlassen wurde. Eine Auto-Riksha brachte ihn zur Main Station. Der Taxifahrer kurvte durch die vollen Straßen, als hätte er seinen Führerschein auf dem Jahrmarkt gekauft. Es gab in dieser gewaltigen Metropole keine Verkehrszeichen, Vorfahrtsregeln oder Fahrspuren. Es gab nur Ströme von Menschen, Fahrrädern und motorisierten Vehikeln aller Art, durch die er in schlängelnden Bewegungen hindurchzufahren versuchte. Paul fühlte sich wie eingetaucht in einen Organismus, der zu den Klängen von tausend Hupen mit sich selbst einen Tanz aufführte. Wenn das allseits offene Fahrzeug in dem stockenden Verkehr für kurze Augenblicke stehen blieb, saßen für Sekunden fremde Menschen neben ihm, wie auf einer verlängerten Bank. Er sah in unbekannte Gesichter. Die Unbekannten starrten zurück, um dann wieder im

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Gewühl zu verschwinden. Diese ständigen Begegnungen, diese unmittelbare Nähe zu den Anderen war berauschend und beängstigend zugleich. In dem Nachtzug, der ihn an diesem Morgen nach Haridwar gebracht hatte, war es ihm nicht anders ergangen. Es roch nach verschwitzten Körpern und nach Urin. Er teilte ein offenes Abteil mit einer fünfköpfigen Familie. Zum Glück waren die Fenster unverglast. Durch die alten gusseisernen Ventilatoren, die wie Seeigel an den gewölbten Decken hingen, vermischten sich die Ausdünstungen seiner Mitreisenden mit den Wohlgerüchen ländlicher Gebiete und dem Gestank nichtfunktionierender, städtischer Kanalisationen, der durch den lauen Fahrtwind nach innen drang. Und jetzt, in Haridwar angekommen, war er unter noch mehr Menschen. Ein junger Mönch mit Wollmütze lief neben ihm her. Er fragte Paul, woher er kam und dann drückte er ihm einen Aufkleber in die Hand, auf dem »keep smiling« stand. Als er wieder aufsah, war der Mönch verschwunden. Ein kleiner, runder Familienvater klopfte ihm auf die Schulter und bat ihn, sich zusammen mit seiner Frau und seinen sechs Kindern fotografieren zu lassen. Ein hagerer Mann mit pomadig gescheiteltem Haar und weißem Hemd trat ihm in den Weg und wollte ihm ein Ticket für die Kurtaxe verkaufen. Unzählige weitere

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Kontrolleure wollten von ihm dieselben Gebühren einziehen. Er fiel auf. Er merkte, dass er hier der einzige Ausländer war. Erst als er zuließ, dass ihm einer einen roten Punkt zwischen die Brauen malte, hatte er seine Ruhe. Inder aus allen Regionen und Glaubensrichtungen strömten ihm entgegen: Verzottelte und nackte Shiva-Anhänger mit weißen Bemalungen, in Orange gewandete Krishna Jünger mit kleinen Zöpfen, hellhäutige Sikhs aus Punjab mit blauen Turbanen und dunkelhäutige Priester aus Tamil Nadu in schwarzen Kutten. Dazwischen mischte sich die Landbevölkerung. Männer und Frauen in farbenfrohen, traditionellen Trachten. Es war ein Karneval indischer Kulturen, der sich auf den Brücken und Wegen vor Haridwar drängte. Die Stadt lag noch vor ihm. Aber schon hier war es laut und bunt. Es roch nach Weihrauch, Sandelholz und Gewürzen. Rauchschwaden von unzähligen Opferfeuern stiegen vor der Stadtkulisse auf. Die setzte sich aus vielen, dicht aneinandergepressten Bauten zusammen, die zum Teil so ungestalt wie zerdrückte Schuhkartons aussahen. Heiligtümer mit spitzen Kuppeln standen in der Nähe des Flusses und noch viel mehr kleinere Holztempel reihten sich unmittelbar am Ufer auf. Treppen führten von dort ins Wasser und überall tummelten sich Menschen, kleideten sich aus, kleideten sich an,

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gingen ins Wasser, tauchten ein in den heiligen Strom oder drängten aus ihm hinaus. Paul überließ sich dem Treiben und Strömen der Massen. So gelangte er an die Ufer des Ganges. Er war müde. Diese Nacht hatte er nicht geschlafen. Er fühlte sich einsam und verloren, aber dieses Gefühl war wie zugedeckt von den vielen Eindrücken, die ihn umgaben. An einer Treppe, die an einer Brücke lag und direkt zum Wasser führte, bot sich ihm ein schattiger Platz. Er setzte sich auf die Stufen und tauchte seine Fußspitzen in die Flut. In Haridwar verbanden sich die Gebirgsflüsse, die aus dem Himalaya kamen, zu dem einen großen Strom. Das Wasser war hier noch sauber und kalt. Die Strömung war stärker als in den tiefer gelegenen Gebieten, in denen der Ganges breit und gemächlich vor sich hin mäanderte. Wo er saß, war es fast zu gefährlich, um hineinzugehen. Hier waren zum Glück weniger Menschen. Vor ihm hielten sich ein paar Kinder an Ketten fest, um nicht mit den aufgewühlten Wassermassen mitgerissen zu werden. Sie suchten frierend nach Geldstücken, die dort hineingeworfen worden waren, oder sie versuchten ein paar von den bunten Tüchern zu erwischen, die an ihnen vorbeischnellten. Das laute Gewässer drängte alle anderen Geräusche in den Hintergrund. Das war gut so. Nur ein beständiges

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Klopfen drang an sein Ohr. Paul drehte sich um und sah einige Meter entfernt einen blinden Greis am Boden sitzen. Der Greis schlug zwei Eisenstangen gegeneinander. Gelegentlich legte er eine Pause ein, um sich zu erholen. Dann hob sein rhythmisches Klopfen wieder an. Dieser regelmäßige, monotone Klang verband sich mit den zischelnden und sprudelnden Geräuschen der Wassermassen, die an ihm vorbei strömten. Wenn er die Augen schloss, gab es für ihn nur noch diesen einen treibenden und berauschenden Rhythmus. Ging es dem Blinden ebenso? War sein Bewusstsein ebenso angefüllt von dieser hypnotischen Wassermusik? Er drehte sich noch einmal zu ihm hin, um ihn genauer zu betrachten. Er saß zusammengkrümt, war ausgemergelt und durch die fehlenden Augen ganz gesichtslos geworden. Ab und zu setzte sich ein neugieriger Inder in sein Sichtfeld. Wenn Pauls Blick ihn unwillkürlich streifte, verstand er dies als Aufforderung ihn anzusprechen. Paul übte sich darin, die Intentionen seiner wechselnden Sitznachbarn intuitiv zu erspüren. Wenn er auch ohne direkt hinzuschauen, die Absicht ausmachte, dass man ihn anreden, ausfragen oder anbetteln wollte, dann schloss er die Augen oder blickte wie gedankenverloren über den Strom. Kinder setzten sich so dicht neben ihn, dass er sie gar nicht igno-

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rieren konnte. Jedoch, um so abwesender er wurde, desto mehr wurde er in Ruhe gelassen. So verbrachte er Stunde um Stunde an diesem Fluss. Selbst am Mittag war es dort noch kühl und das aufgewühlte Wasser erzeugte eine angenehm feuchte Brise. Er erholte sich allmählich von den Strapazen der Reise. Erst am Abend würde er abgeholt werden. Alfred hatte ihm geschrieben, dass er sich am Stadtrand am Bharat Mata-Tempel einfinden sollte. Noch hatte er keine Lust, vorzeitig in die Stadt aufzubrechen. Dort würde er wieder von allen Seiten bedrängt werden und das unentwegte Hupen würde nicht abbrechen. Er blieb sitzen, und es war schön hier zu sitzen. Das Klopfen hatte nicht aufgehört. Das Rauschen hatte nicht aufgehört. Er blicke über den Ganges hinweg und betrachtete das Treiben auf den gegenüberliegenden Ghats. Immer mehr Menschen drängten sich dort. Viele standen bis zum Bauch in den Fluten. Sie wuschen sich, klopften, scheuerten und spülten ihre Kleider. Sie füllten Kanister ab, gaben mit erhobenen Armen Lobpreisungen von sich oder beteten in aller Stille. In den kleinen Tempeln, die auf ihren hölzernen Stehlen aus dem Wasser ragten, wurden allem Anschein nach Rituale abgehalten. Man versammelte sich dort und opferte den Göttern. Priester schwenk-

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ten Räucherstäbchen und Öllampen, Altäre wurden mit Girlanden geschmückt, Feuer angezündet, flackernde Kerzen auf kleinen Schälchen unter Stoßgebeten und Gesängen in das Wasser gelassen. Viele hatten monatelange Strapazen auf sich genommen, um endlich hier anzukommen. Jetzt ging es Paul allmählich besser und er konnte an diesem Geschehen teilnehmen. Er musste sich eben daran gewöhnen, dass es hier keine Separee, keine einsamen Tische, keine Privatsphäre gab. Er betrachtete die Menschen um sich herum und dachte: ›Ein tolles Schauspiel!‹ Die Rhythmen, in denen sich die Massen wiegten, nahmen immer mehr von ihm Besitz. Er vernahm die freudige Aufregung, die in der Luft war. Er ging innerlich mit, wenn die Menschen mit Hingabe und Verzückung in die Fluten tauchten. Seine Müdigkeit, seine angstvollen Gedanken und alten Gewohnheiten lagen zwar immer noch wie Blei in seinen Knochen, aber er gab sich einen Ruck und stand mühsam auf. Sicher würde man ihn wieder belästigen, und er war auch noch nicht geübt darin, sich hier frei und unbeschwert zu bewegen. Er ging über die große Brücke, um auf die andere Seite zu gelangen. Er schlug einen Weg ein, der von Heiligtümern mit weißen, orangefarbenen und goldenen Kuppeln gesäumt wurde und der direkt an die Ghats

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führte. Trommeln wurden geschlagen, Freude und Aufregung wehten ihn an, Begeisterung erfüllte ihn. Er traute sich bis an das Ufer. ›Was habe ich mit all dem hier zu tun?‹, fiel ihn der Zweifel an. Da kam er sich wie ein Idiot vor. Doch dann überließ er sich wieder den Kräften, die hier wirkten. Er streifte seinen Rucksack von der Schulter, zog seine Klamotten aus. Testete Strömung und Wassertemperatur. Wieder fühlte er sich wie ein Idiot. ›Dass ich immer alles prüfen muss!‹ Dann wagte er sich hinein. Nun stand er im Wasser, ›wie ein Vollidiot!‹, hörte er sich zu sich selbst sagen, ›ist aber doch egal, was die denken‹ Ein paar Inder lachten über ihn und machten Gesten, dass er auch seinen Kopf ins Wasser tunken sollte. ›Gesagt getan‹, dachte Paul. Er spritzte sich ab, tauchte ein paar mal unter und schüttelte sich vor Freude. Allerdings auch, weil das Wasser so kalt war. Er war von Dankbarkeit erfüllt. ›Völlig ohne Grund‹, wie er befand. Aber Dankbarkeit war da. Etwas hatte sich geöffnet. Er hätte kaum sagen können, was das war. Er ging in die Knie und verschwand bis über den Kopf im Wasser. Beim Auftauchen musste er lachen. ›Wahrscheinlich weil ich zum Idioten geworden bin.‹ Auch darüber musste er lachen. Nachdem er den Fluten entstiegen war, setze er sich auf die Stufen, die weiter oberhalb lagen. Dies-

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mal sprach niemand ihn an. Ganz entfernt konnte er das Klopfen hören, wenn der Wind vom anderen Ufer herüberwehte. ›Er wird sicher irgendwo auch eine Stelle zum Schlafen haben‹, dachte Paul, ›...und irgendwer wird ihm vielleicht etwas Reis geben‹. Das ferne Klopfen, dass sich so wunderbar mit dem Rauschen des Ganges verbunden hatte, vermischte sich mit den Trommeln und Gesängen, die aus den Tempeln drangen, vermischte sich mit dem Stimmengewirr der Pilger, die am Ganges badeten, vermischte sich mit dem Geschrei von Vögeln und Affen, die überall auf den Dächern hockten. ›Vielleicht gibt es in seinem Kopf keine Bilder, die ihm seine Behinderung vor Augen führen, und keine innere Stimme, die sich darüber beklagt?‹ Paul stellte sich vor, was es für den blinden Greis bedeuten würde, wenn man ihm seinen Ort und sein Instrument nehmen und ihn dafür in eine saubere Wohnung stecken würde. ›Wäre das nicht sein Tod?‹ Er fühlte, wie der Greis und auch die anderen Pilger Teil »eines« Lebensstroms zu sein schienen. Die Menschen tauchten ein in diesen Strom. Sie gaben sich an etwas hin, dass größer und umfassender war als sie selbst. Mit Schrecken musste er an die Obdachlosen in seiner Heimat denken. Was den Armen hier blieb, das war ein Grundgefühl von im Leben sein. Keiner der Bettelmönche suchte

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die vermeintliche und vergängliche Sicherheit des Wohlstands. Keiner der wahrhaft Pilgernden hätte es vorgezogen, die Nächte in einem Fünf Sterne Hotel in Zürich zu verbringen. Er hätte sich spätestens in der zweiten Nacht wie herausgeschnitten gefühlt aus einem lebendigen, gemeinschaftlichen Körper, dessen ganz selbstverständlicher Teil er zuvor gewesen war. Paul wollte die Armut nicht beschönigen. Er selber hätte alle seine Privilegien behalten wollen, wenn man ihn danach gefragt hätte. Es war auch nicht so, dass er all dies ausdrücklich gedacht hatte, aber diese wagen Einsichten tauchten mit der Veränderung seiner Selbstwahrnehmung in ihm auf. In seinem Bewusstsein hatte sich ein Raum geöffnet für die anderen und damit auch die Möglichkeit, mit den anderen zu sein. Vielleicht war das ja auch eine Erklärung dafür, weshalb sich sein Rikshafahrer in Dehli so kollisionsfrei durch das Verkehrs-Chaos bewegen konnte? Ein Steinchen flog durch die Luft. Es landete vor seinen Füßen. Ein weiteres schlug direkt neben ihm auf. Paul wagte es zuerst nicht sich umzudrehen. Dann würde jemand mit ihm reden oder etwas von ihm haben wollen. Wieder flog ein Steinchen durch die Luft und traf ihn am Kopf. Er drehte sich um und war erstaunt. In seinem Schädel versuchte eine Routine die wichtigsten Daten sekundenschnell zu erfas-

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sen: ›Sie ist älter und größer. Sie ist allein. Sie sieht freundlich aus. Sie wirft Steine nach mir.‹ »Bist du schon länger hier?«, fragte sie. ›...und sie spricht deutsch!‹, dachte Paul. Die Frau kam auf ihn zu, gab ihm die Hand und stellte sich als Hannah vor. »Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?« Sie erzählte ihm, dass ihre Freundin in der Stadt nach einer Unterkunft suche und dass sie beide direkt von Varanasi hoch nach Haridwar gekommen waren. Einen Monat waren sie schon unterwegs und zwei Monate hätten sie noch Zeit. Dann müssten sie wieder nach Deutschland zurück. Sie hätten erst einmal genug von dem authentischen Indien mit seinen nackten, bettelnden Saddhus, spartanischen Absteigen und Garküchen. Wenn es klappte, dann würden sie über Dehli direkt nach Goa weiterreisen. Dann fügte sie erklärend hinzu: »Das ist üblich hier, dass man erzählt, woher man kommt und wohin man will. Ist das neu für dich? Du siehst jedenfalls so aus.« Paul erzählte ihr, dass ihn ein Taxi in die Berge mitnehmen würde. Er wisse nicht genau, wohin. Das alles hier sei tatsächlich neu für ihn. Er wisse noch nicht einmal, was Garküchen sind. Sie erklärte ihm, welche zwei Arten von Gastronomie es in Indien gab.

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Solche, die eine Tiefkühltruhe besitzen und solche, die alles frisch zubereiten müssen. »Wenn sie eine Tiefkühltruhe haben, dann kopieren sie sich irgendwelche Menüs aus dem Internet, kochen es und lagern es solange in der Tiefkühltruhe, bis ein Ausländer kommt und das essen möchte.« Sie machte eine kurze Pause, um zu schauen, ob bei Paul der Groschen fiel. »Das Problem ist, dass es hier immer wieder Stromausfälle gibt. Also halte dich an die Garküchen. Die findest du überall. Da sind zwar Käfer im Essen, aber es ist alles frisch zubereitet.« »OK, habe verstanden.« Hannah sah ihn prüfend an. »Ich brauche einen Begleiter. Ich hab mir schon ein Kopftuch umgebunden, damit die mich in Ruhe lassen. Erst lächeln sie unschuldig und debil und dann grapschen sie dich an ... aber hallo! sag ich ..., ich bin doch keine Puppe!« Hannah zog eine Sonnenbrille aus ihrer Tasche. »Wie alt bist du?« Paul nannte sein Alter. Er war vor kurzem achtzehn Jahre alt geworden. »Fast so alt wie ich. Setz die mal auf. Die macht dich älter, das kann nicht schaden.«

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Hannah kramte weiter in ihrer Umhängetasche, blickte dabei kurz zu ihm herüber. »Sieht umwerfend aus. So nehme ich dich. Ich hab einen Freund in Deutschland.« »Gut, dass ich das weiß. Und ich bin seit einiger Zeit unglücklich verliebt.« »Na, dann kann ja nichts schiefgehen.« Sie zog derweil ein Handy hervor. »Versuche schon die ganze Zeit, meine Freundin zu erreichen. Anscheinend hat sie was gefunden und sich schlafen gelegt. Manchmal vergisst sie, dass sie nicht allein unterwegs ist.« Hannah war aufgestanden und klopfte ihr Kleid zurecht. Sie trug ein grünes, für indische Verhältnisse zu aufreizendes Sommerkleid, darüber hatte sie ein indisches Tuch geworfen. Sie zog ihre Schuhe aus. Anscheinend war ihr der kleine Größenunterschied aufgefallen. Dann zog sie ihn zu sich nach oben. »Du zeigst mir jetzt mal, was man hier so machen kann.« Paul sah sich orientierungslos um. »Baden gehen?« »Willst du, dass ich mich ausziehe? Bist du denn irre? Lass uns mal lieber rüber zum Tempel gehen.«

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Sie führte ihn zu einem größeren Platz. In der Mitte stand ein alter Tempel aus Stein. Vor dem Eingang mussten sie ihre Schuhe abgeben. Im Inneren des Tempels kreisten Inder um einen Altar, auf dem steinerne Götter in einem Meer aus Blumen saßen. Einige gingen zum Altar, legten dort Girlanden ab, zündeten Kerzen und Räucherstäbchen an. An den Wänden hingen vergilbte Fotos von Indern, die anscheinend den Status der Heiligkeit erlangt hatten. Etwas abseits gelegen entdeckten sie einen Tisch, an dem verschiedene Devotionalien erhältlich waren. Hannah nahm Paul an die Hand. Sie schien sich über ihn zu amüsieren. Sie führte ihn an den Devotionalientisch. »Wenn du willst, kannst du Shiva opfern.« Paul nahm zwei von den Girlanden. Ein Inder verlangte zwanzig Rupien. Hannah deutete auf Paul, der die Rechnung begleichen sollte. Danach erzählte sie ihm ein wenig über die Praktiken und Bräuche in diesem Tempel. Hinter dem Altar gab es eine kleine Steinkammer, in die sich Menschen hineindrängten. Beide reihten sich ein und mussten sich kurz darauf bücken, um durch die kleine Öffnung zu gelangen. Während sie das taten, fasste Hannah für Paul das Wichtigste zusammen. »Dies hier ist ein heiliger Bezirk. Er wird nur zu be-

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stimmten Uhrzeiten geöffnet. Die Hinduisten glauben, dass die Götter in Steine einkehren können. In der Mitte steht so ein langer Stein. Weißt du was das ist...? Das ist sein eigener Penis, in den er gelegentlich einkehrt.« Paul war an der Reihe. Er gab dem hastig agierenden Priester seine Girlanden ab. Sie wurden an einen kleinen Jungen weitergereicht und von diesem an eine Götterfigur gehängt. Der Priester schwenkte derweil ein Gefäß mit dampfendem Öl, übergoss damit Shiva´s Lingam und murmelte Mantren. Es war eine aufgeregte und zugleich andächtige Stimmung in dieser kleinen Kammer. So als würde man einer Geburt beiwohnen. »Ihr Gott ist nur für den kurzen Zeitraum der geöffneten Kammer anwesend.«, hatte Hannah Paul noch zugeflüstert. Die Eintretenden schauten ergriffen, falteten die Hände, murmelten Gebete. Sie mussten sich beeilen, weil schon die Nächsten nachdrängten. Als sie heraustraten, glühten die weiß und orange gestreiften Kuppeln in der vorabendlichen Sonne. Sie warf ein weiches Licht über die Ghats und der Ganges glänzte golden in ihrem Widerschein. Am Ausgang lagerten Saddhus. Sie verlangten nach Almosen, und als Paul einem von ihnen ein paar Rupies in die

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Hand drückte, wurde er von mehreren umringt. Sie bedrängten ihn wie eine Horde hungriger Ziegen. Das hatte er nicht erwartet. Hannah griff ihm unter den Arm und führte ihn zurück in die Tempelanlage. Von dort nahmen sie den gegenüberliegenden Ausgang. »Daran must du dich gewöhnen.«, sagte sie. Paul fühlte sich schlecht. Er war vor Leuten abgehauen, die von ihm nur ein paar Rupies haben wollten, weil sie Hunger hatten. »Es gibt solche und solche. Ich weiß nicht, ob die alle wirklich hungrig sind. Einige kiffen den ganzen Tag. Das muss man sich erst mal leisten können.« Sie hatte ihn wieder losgelassen. Paul merkte, wie ein leises Gefühl von Einsamkeit in ihm hochkroch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich aus den Augen verlieren würden. Denn in einer Stunde musste er an der verabredeten Stelle sein. Sie lief ihm nun voraus und kramte in ihrer Tasche. Anscheinend erwartete sie, dass er ihr hinterherlief. »Was machen wir jetzt?«, fragte Paul beinahe verzweifelt. »Das, was du wirklich wirklich willst.«, gab sie zurück. »Dann lass uns wieder an den Händen halten.« Hannah drehte sich verdutzt um.

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»Wie viel Zeit hast du noch?« »Eine knappe Stunde« Sie hängte sich wieder in seinen Arm ein. »Meine Freundin ist immer noch nicht erreichbar. Dann lass uns noch ein wenig abseits am Ufer langgehen. Dort gibt es Saddhus, die anders sind als die, die hier in der Stadt rumlungern.« Sie erzählte ihm, dass zu dieser Uhrzeit an den Ufern, die direkt vor der Stadt lagen, eine große Zeremonie zu Ehren des Ganges abgehalten wurde. Priester schwenkten dort brennende Armleuchter hin und her. Musik wurde gespielt. Es wurde gesungen und gebetet und zum Schluss Opfergaben in das Wasser gelassen. »Dabei finden sich auch einige Ausländer ein. Die machen auf Inder, sitzen im Schneidersitz, bis ihnen der Arsch juckt, während sie Fotos für Facebook oder Tumblr schießen.« »Ich habe auch wie ein Inder im Ganges gebadet.« »Das sah aber gut aus.« Sie gingen eine kleine Weile Arm in Arm am Ufer entlang. ›Wie einfach es ist, mit jemandem zusammen zu sein, ohne mit ihm wirklich zusammenzusein‹, sinnierte Paul. Er spürte, wie sich ihre Körper beim Gehen aneinander schmiegten, wie sie sich bemühten, sich im selben Rhythmus fortzubewegen.

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Hannahs Gedanken mussten um dasselbe Thema gekreist haben. »Bist du noch Jungfrau?« Diese Frage hatte er nicht erwartet. »Ja« »Das habe ich mir gedacht...aber Pornos guckst du dir schon mal an...oder?« Paul wurde verlegen. Er wollte nicht antworten. »Das ist nicht schlimm. Du bist mir trotzdem sympathisch. Besser als ein Casanova, der sich mit mir über Religion unterhalten will.« Er hatte keine Ahnung, weshalb sie ihn danach gefragt hatte, aber die erotische Spannung war verflogen. Sie zeigte auf ein paar Tücher, die in einiger Entfernung an einem Abhang zum Trocknen aufgehängt worden waren. »Dort will ich hin.« Den Rest des Weges gingen sie schweigend nebeneinander her. ›Was wäre, wenn Henriette jetzt neben mir laufen würde?‹, ging es Paul durch den Kopf. Sie hatten sich nach ihrem Treffen Emails geschrieben. Henriette erzählte freimütiger über ihre Erlebnisse in der Schule und über die Prüfungen, die sie noch zu absolvieren hatte. Sie erzählte auch von ihrer Begegnung mit Dr. Bender. Paul hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas verschwieg. Dann weihte sie ihn aber

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in ihre Pläne ein. Sie wollte in Marburg mit einem Psychologiestudium beginnen. Warum ausgerechnet in Marburg? Dann wurden ihre Emails seltener und unpersönlicher. Und zuletzt, als er ihr davon berichtete, dass er sich nun endlich doch und heimlich entschieden hatte, nach Indien zu reisen, da bekam er keine Antwort mehr. Erst als er nachfragte, ob sie seine letzte Nachricht bekommen hätte, da entschuldigte sie sich, weil sie zu viel tun gehabt hätte und sie wünschte ihm eine gute Reise. Das klang wie Abschied. Paul hatte sich vorgenommen, ihr von Indien aus via Internet zu berichten. Sollte er ihr auch schreiben, was er heute erlebt hatte? Dass er eine interessante Frau kennengelernt hatte, um die ihn alle Inder beneideten? Wahrscheinlich würde sie ihm auch dazu nur »Alles Gute« wünschen. Das wäre dann ein viel endgültigerer Abschied von all den Hoffnungen, die er sich in Bezug auf Henriette machte. Lag es etwa daran, dass er sein Abitur abgebrochen hatte, während sie nun schon fleißig Psychologie studierte? Als sie über einen schmalen Aufstieg, der sich in vielen Kurven nach oben schlängelte, an der angezeigten Stelle angekommen waren, nahm sie ein älterer Mann zwischen den aufgehängten Tüchern freundlich winkend in Empfang. Er kannte sogar ihren Namen. Hannah erzählte Paul, dass sie ihn erst

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gestern kennengelernt hatte, als sie hier mit ihrer Freundin entlangspaziert war. Der Saddhu schien sich über den Besuch aufrichtig zu freuen. Er breitete eine Decke aus und bot beiden Tee an. Während er den Tee auf einer kleinen Feuerstelle vorbereite, klingelte das Telefon in Hannahs Tasche. »Endlich!«, seufzte sie und verschwand im Gebüsch, um dort ungestört zu telefonieren. Der Saddhu fragte Paul nach seinem Namen und woher er käme. Er erinnerte Paul ein wenig an Dennis, zumindest die zotteligen Haare. Der Saddhu hatte eine feingliedrige, sehnige Gestalt. Die Art, wie er seine Vorbereitungen traf, wie er geschmeidig und mit jugendlicher Anmut trotz seines Alters das Feuer entfachte und verschiedene Gewürze zusammenmischte, beeindruckten Paul. Hannah telefonierte währendessen immer noch. Anscheinend ließ sie sich nun in aller Ausführlichkeit berichten, was ihre Freundin in der Zwischenzeit erlebt hatte. Paul wurde unruhig. Er musste in einer halben Stunde an der verabredeten Stelle sein. ›Ist es nicht unhöflich von ihr, einfach so zu verschwinden?‹ Der Saddhu setzte sich zu ihm, strich sich seine langen Haare glatt und lächelte. Paul fragte ihn, seit wann er hier wohnte und was er die ganze Zeit über so machen würde. »I am travelling...for many many years, just obser-

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ving, looking..., try to understand...« Seine Augen schweiften in die Ferne. »But it is not easy.... People searching for many things. It is not easy to find the right way. You are living in airconditioning rooms. There you are searching the real world. Too much material, too much material. There...you searching the real world...« Aus ihm drang ein schepperndes Lachen. Er schenkte Paul Tee ein. Hannah telefonierte immer noch und der Saddhu bemerkte seinen Ärger. »Is ok, is ok« Der Mann schüttele den Kopf und lachte. In den Pausen seines Erzählens konnte man Hannah telefonieren hören. Gesprächsfetzen drangen zu ihnen herüber. »Hast du nicht aufgepasst?...Verdammt...« Während dessen redete der Saddhu davon, dass er sich für die Eigenarten verschiedenen Nationalitäten interessierten würde. Er fragte Paul darüber aus, wie er in Deutschland lebte. Dann erzählte er, dass in den letzten Jahren immer mehr Ausländer nach Haridwar kämen. »Now...many persons are comming here. They are learning little yoga and meditation. After..., they want to go back to their country. They made one school. You have to pay something. You have to take lessons.

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Then they tell you. This is a very famous man. He told this: He told that.« Paul versuchte zu verstehen, von welchen berühmten Männern der Saddhu sprach. »But when you go inside..., you see bullshit.« Wahrscheinlich meinte er nicht seine indischen Kollegen, sondern Pauls Landsleute. Ihn ärgerte diese Äußerung. Noch mehr ärgerte ihn, dass Hannah es vorzog, mit ihrer Freundin zu telefonieren. Dabei war er auch noch drauf und dran, sein Taxi zu verpassen. Paul zeigte auf seine Uhr. Er versuchte sich zu erklären. »Is ok, is ok. Take time«, erwiderte der Mann. »How much time do you have?«. »Five Minutes« »Five Minutes?« Der Saddhu lachte aus vollem Halse. Paul musste auch lachen. Beide wischten sich die Tränen aus den Augen. »Ok, ok..., I understand« Der Saddhu sammelte sich wieder, lächelte und wollte wieder zu sprechen anfangen. Irgendetwas wollte er ihm noch mit auf den Weg geben. Er blickte auf den Fluss hinunter. »The river cannot be stopped. He works for none. He never worked for anybody. It is a mystery!«

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Er machte eine kurze Pause, so als müsse er selber erst realisieren, was er soeben gesagt hatte. »Creator makes creation only. He never makes any religions! Who is the creator of the Ganges? Who is the creator of the ocean? Who ist the creator of the mountain? Who is the creator of the deserts? So many things, so many, many, many things. All over the world« Er sah Paul unvermittelt an. »Who is the creator?« Paul wusste nicht, ob er antworten und was er antworten sollte. Dann antwortete der Saddhu. »Best teacher is nature, nature is the best! teacher of the human. Nature is creating everything!« Er fügte mit einem leichten Scheppern seiner Lungenflügel hinzu: »It takes time to understand« Paul hatte erwartet, dass er ihm etwas über die zeitlosen Lehren des Hinduismus erzählen würde. Der Saddhu nickte vor sich hin, so als hätten ihn seine eigenen Worte überzeugt. Die Stille wurde ein paarmal von Hannahs Stimme unterbrochen, die dissonant aus dem Gestrüpp drang. In dem Nicken kam ihm noch eine Einsicht, die danach drängte, Paul mitgeteilt zu werden. »We have forgotten the rules. Love of the nature! Love is important. If you love anything, you can not

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hurt. You can´t destroy, when feeling love. Respect is there. Harmony is there, Peace is there. And everywhere, where ever you go, you will enjoy your happyness, inner happyness, divine happyness, so...« Und es war offensichtlich, das damit seine Rede an ihr natürliches Ende kam: »...you must have a love inside« Paul war beeindruckt von der Einfachheit seiner Worte. Wieder drang das Telefonat zu ihnen herüber: »Nein..., Ja..., Nein..., die sprechen hier über irgendetwas mit Love, Respect and Happyness. Nein..., keine bekifften Rapper. Wir sind hier in Indien.« Der Saddhu klatschte zweimal laut in die Hände und rief: »Hannah, Hannah, come!, come!, Time to go!« Hannah sprang aus dem Busch hervor, sah den Saddhu und den sauer dreinschauenden Paul, entschuldigte sich, und erklärte, dass ihre Freundin in Schwierigkeiten steckte. Sie verbeugte sich etwas zu demonstrativ und mit gefalteten Händen. »Shanti, Shanti« Dann wendete sie sich dem Saddhu zu: »We will try to get a riksha..., but it is allways a big pleasure to be here« Und zu Paul gewendet: »Wir müssen den Abhang hoch. Dort ist eine Straße.«

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›Hier passieren Dinge schneller als zu Hause‹, musste Paul kurz darauf in der Riksha sitzend feststellen. Er schaute zu ihr rüber. Sie saß aufrecht, so dass ihr Busen beinahe auf Augenhöhe lag. Dieser registrierte wie ein Seismograf jede Unebenheit der Straße. Anders als bei Henriette präsentierte sich dieser in aller nur denkbaren Konkretion: mächtig, rund und zum Greifen nah. Er musste an eine Szene in dem Film »Das große Fressen« denken: Mastroianni stopfte mit der einen Hand eine Keule in sich hinein. Er blickte zur Seite. Er sah die Möpse seiner Nachbarin. Er griff nach ihnen, als wären es zwei Kartoffelknödel. ›Oder waren es Kartoffelklöpse? Knödel, Klopse oder Möpse...?‹ Paul fragte sich, ob sie seine Gedanken lesen könnte. ›Vielleicht gehen ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung?‹ Sie betrachtete ihn. Er hätte sich jetzt nicht gewundert, wenn sie so etwas gesagt hätte wie: soll ich dir die Unschuld nehmen? Es hätte bei ihr ganz selbstverständlich geklungen. So wie: kannst du mir die Zigaretten reichen? Sie schmunzelte. Dann sagte sie. »Wo musst du abgesetzt werden?« Paul kramte den Zettel aus der Geldbörse, die er sich um den Hals gehängt hatte. Vor ihr sah das besonders lächerlich aus. ›Nur noch wenige Minuten‹, dachte er. Sie erreichten die angegebene Stelle. Er

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saß direkt vor ihren Brüsten und nun musste er aussteigen. Was sollte er sagen? Lass uns gemeinsam weiterreisen? Paul sagte stattdessen: »Es war schön mit dir.« Hannah nahm ihn kurz in den Arm. »Fand ich auch. Wir kennen uns gerade mal zwei Stunden und hatten schon unsere erste Krise.« Sie umarmte ihn noch einmal fest. »Und danke, dass du mich beschützt hast. Wenn du mal nicht weiter weißt...« Sie schrieb ihm ihre indische Nummer auf einen Zettel. Paul holte auch einen Zettel hervor, schrieb seine Emailadresse drauf. Dann stieg er aus. Sie drehte sich, als die Riksha schon losgefahren war, noch einmal und winkte ihm zu.

DIE ANKUNFT Das Taxi hatte ihn an der verabredeten Stelle abgesetzt. Dort stand ein Pfahl mit einer verblichenen Flagge. Von dort führte ein halb zugewachsener, aber breiter Weg in einen Wald hinein. Es war noch früh. Das Taxi war die Nacht durchgefahren. Hier sollte er warten, bis ihn jemand abholen würde. Wenn der Wind auf dieser Höhe nicht durch die Wipfel der umstehenden Bäume rauschte, war es eigentümlich still. Paul sah sich um. Vor ihm lag der Himalaja. Gewaltig ragte das schneebedeckte Gebirge in

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das himmlische Blau. Hymnisch gestimmt schien alles um ihn herum. Eine Intensität und Sattheit in den Farben strahlte die unterhalb des Gebirges liegende Berglandschaft aus. So als hätte ein endloser Regen das hochsommerliche Trübsein und die Mattigkeit von den Bäumen gewaschen. Wälder mit pinienartigen und zedernartigen Bäumen wanden sich an Steilhängen hoch. Weiter unten war die Landschaft milder und lieblicher gestimmt. Unzählige Blumen bedeckten die weitläufigen Wiesen. Doch nicht der Reichtum war es, der ihn so freudig stimmte. Nicht der wunderbare Kontrast zwischen dem erhabenen Ernst der Berge und dem Liebreiz der Täler. Es war die Klarheit, die alles durchdrang. Das versetzte ihm geradezu einen Schlag. Sie löschte alles Nebensächliche aus, machte ihn selbst ganz wach, offen und klar. Paul setzte sich auf einen Feldstein. Er betrachtete einen Baum, an dessen schwankenden Ästen kleine Blüten hingen. In der Ferne hörte er Glocken. Aber er war hier nicht in der Schweiz oder in Österreich, auch wenn ihm dieser Klang so heimatlich vorkam. Er hörte das näherkommende Geräusch eines Dieselmotors. Nach ein paar Minuten trat ein Traktor aus dem Dunkel des Waldes. Oben auf saß ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren. Die leicht ergrauten Haare hatte er zur Seite gescheitelt und anliegend.

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Zu den Seiten vielen sie halblang, beinahe ungepflegt und in zerzausten Locken über die Ohren. Er hatte dunkelbraune Augen, die durch die matten Brillengläser etwas entrückt wirkten. Er breitete seine Arme aus, stieg ab und ging auf Paul zu: »Es ist so schön, seinen Neffen zu treffen!« Er nahm Paul zaghaft in die Arme, als wüsste er nicht, ob diese Geste angemessen sei. Nachdem er Paul auf den Traktor geholfen hatte, stiefelte er um denselben herum und inspizierte Reifen und Motor. Auf Paul machte dies den Eindruck, als wäre das Fahrzeug lange Ausflüge nicht mehr gewohnt. Dann stieg der Mann, der sein Onkel war, auch auf und sah Paul unvermittelt an. Seine Zerstreutheit war verschwunden. Seine Augen blickten durchdringend und machten den Eindruck, alles sehen zu können. Paul musste an die Geschichte mit Henriette denken. Und dass er mit ihr irgendwie telepathisch verbunden sein sollte. Die Erinnerung an sie versetzte ihm einen Stich. Sie war nun so weit weg! Doch vielleicht konnte er über Alfred mit ihr Kontakt aufnehmen. Alfred warf den Motor an und redete Verschiedenes vor sich hin: »Fahrzeuge müssten heute nicht mehr so laut sein. Doch wo Zivilisation ist, da muss immer Krach gemacht werden. Besonders in Indien. In Zukunft wird

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Geräuscharmut ein absolut entscheidendes Kriterium für Lebensqualität sein. Leise Autos, leise Fortbewegung überhaupt...« Sie fuhren über einen breit angelegten Weg. ›Erstaunlich für einen so abgelegenen Ort‹, dachte Paul. Alfreds schütteres Haar flatterte im Wind. Paul musste an den Baron Münchhausen denken. ›Vielleicht ist er genauso ein Fantast, Visionär und Irrer? Ich hoffe, ich muss die Zeit nicht ganz allein mit ihm verbringen.‹ Zumindest deutete der breite Weg auf etwas anderes. Er wusste nicht, was noch passieren würde. Er fühlte sich frei und auch die Klarheit war immer noch da. In den glitzernden Himmel waren hellwarme Wolken eingewebt. Zu seiner rechten Seite blicke er auf bewaldete Abhänge. »Hier sieht es ein bisschen aus wie zu Hause!«, bemerkte Paul. Alfred grinste zu ihm rüber. An einigen Berghängen wuchs roter Rhododendron. Hier waren es richtige Bäume mit knorrigen Ästen, die mit Blüten übersät in der Sonne glühten. Sie kamen an einer umgekippten Planierraupe vorbei. »Was sucht denn die hier?«, wollte Paul wissen. »Die kommt aus einer anderen Zeit. Wir leben jetzt hier in der postvisionären Ära.«

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Paul überlegte, was sein Onkel mit »postvisionär« meinte. Dieser fügte hinzu: »Postmonetär trifft es besser.« Sie gelangten an ein Plateau. Vor ihnen stand ein Holztor, über das sich ein hoher, weißer Bogen wölbte, an dem ein Schild mit indischen Lettern hing. Am Waldrand zur Linken lag ein Bagger wie ein Denkmal aus anderen und vielleicht besseren Zeiten in der Böschung. Irgendwer hatte ihn ebenfalls weiß gestrichen. Auf der Baggerspitze flatterten Gebetsfahnen. Alfred parkte auf einer Wiese neben dem Toreingang. Auf dieser hätten noch hundert weitere Traktoren parken können. Doch stand da nur ein Auto unbekannten Fabrikats und ein Kleinbus. Der Weg wurde hinter dem Tor schmaler. Einige uralte und vom Wind zerzauste Nadelbäume wuchsen auf einem Hügel, der sich hinter dem Tor terrassenartig nach oben schichtete. Alfred hatte Pauls Gepäck auf seinen Rücken gehievt. Er wies ihn an ihm zu folgen. Paul erinnerte sich an den Abend, als er mit Henriette durch das Gartentor in eine andere und verzauberte Welt eingetreten war. Doch würde ihm hier etwas geschehen, würde niemand davon erfahren. Sein Onkel stapfte voran. ›Ein seltsamer Typ‹, dachte Paul. Er lief nicht mehr ganz gerade und auch schon etwas

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vornübergebeugt. ›Er hätte ein normales Leben führen können. Ein ordentlicher Beruf. Frau und Kinder. Wie kann er hier überhaupt alt werden?‹ Der Weg machte eine Linkskurve. Sie gelangten an einen großen Platz, in dessen Mitte ein gewaltiger Baum stand. »Das ist eine Pappelfeige. Die Buddhisten verehren ihn, er ist etwas Besonderes für sie. Wir haben den Platz genau um diesen Baum herum angelegt. Er ist mit unseren Eichen vergleichbar.« Unter den Baum verstreuten sich Tische und Stühle. Dazu gesellten sich ein verschlissenes Ledersofa und eine Hollywoodschaukel. Am linken Ende des Sofas stand ein kleiner Tisch. Bei genauerem Hinsehen erkannte Paul in dem Tisch einen Sarotti Mohr, der als stummer Diener ein Tablett in die Höhe hielt. Darauf befanden sich Aschenbecher, Kerzen und Bücher. Schräg hinter dem Baum stand ein Bauwagen, dessen Holzplanken orange angemalt worden waren. An seinem Dach ragte ein Ofenrohr heraus. Noch weiter abseits lag altes Gerät, das irgendetwas mit Landwirtschaft zu tun gehabt haben musste. Am hinteren Rand des lang gestreckten Plateaus sah Paul ein großes Zelt. Es stand auf hohen Holzstehlen, die sich zu beiden Seiten wie Säulen aneinanderreihten. Am oberen Ende der Holzstehlen war ein flaches

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Dach aufgespannt worden und die Planen hingen seitlich auf halber Höhe. An der Frontseite war die Plane auf ein Drittel herabgelassen worden und in der Mitte der Plane befand sich eine große, kreisrunde Öffnung. Sie gab dem Zelt ein Aussehen, als wäre es ein provisorisch errichtetes, romanisches Kirchenschiff. Das Innere des Zeltes lag im Schatten. Im Halbdunkel konnte er Decken und Kissen erkennen. Ein paar Leute schienen dort zu schlafen. »In der Frühe treffen sich hier die Leute, um zu meditieren. Die kommen meistens von da unten.« Aus dem Dunkel des Zeltes tauchte ein jüngerer Mann auf. Er schien Alfred aus der Ferne zu mustern. Dann rief er ihm zu. »Mach die Leute nicht verrückt.« Alfred wies mit dem Finger auf eine offene Stelle im Gebüsch. »Das ist »Depp«. Der kommt auch von da unten.« Offensichtlich gehörte der junge Mann nicht zu seinem allerengsten Freundeskreis. Sie überquerten den Platz. Alfred schwieg in sich hinein. Der Ort, an dem er schon lange nicht mehr vorbeigegangen war, weckte alte Erinnerungen in Alfred. Damals wurde überall gebaut. Hatte er nicht sein ganzes Leben darauf hingearbeitet, um einmal an etwas Derartigem teilzuhaben! Dann kam das plötzliche Ende. Das steckte immer noch in seinen Kno-

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chen. Das war wie eine Lähmung. Er musste an die Andersartigkeit der Leute denken, die nun da unten wohnten und die viel jünger waren als er. Er spürte den harten Widerstand der Erde unter seinen Füßen, spürte den steilen Anstieg, den Blick seines Neffen im Nacken. Ein Mann seines Jahrgangs. Alleinstehend. Kein festes Einkommen. Er stieg schweigend weiter, dann machte er eine Verschnaufpause und blickte über die Anhöhen hinweg. Die Berge tauchten ihre schneeweißen Gipfel in den Himmel. Er sah in das strahlendste Weiß, in das reinste Blau. Da war sie wieder. Die Klarheit. Die Gewissheit. Doch wie sollte er das jemals Paul erklären können? ›Wenn man im Alter nicht aufschwemmt, fängt man an zu verknöchern‹, ging es Paul durch den Kopf. Die Hosen schlackerten seinem Onkel um die dünnen Beine. Seine Haare waren strohig und verfilzt, als würde sich niemand mehr um sie kümmern. Trotz ihrer Verwahrlosung hatten sie auch einen irgendwie melodischen und dichterischen Schwung. Der Mann, der erstaunlicherweise sein Onkel war, zeigte mit der Hand auf ein links auftauchendes Gebäude. »So wurde hier immer schon gebaut.« Das Gebäude besaß dicke Steinwände. Es hatte ein Vordach aus Holz. Alfred ging auf das Gebäude zu. Es stand auf einem schmalen Plateau, auf dem ein

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paar Gartenmöbel aus Plastik standen. Etwas weiter hinten waren Saris aufgehängt worden. In dem Gebäude war ein hoher und überrascht klingender Laut zu hören. Kurz darauf trat eine junge Frau aus dem Haus. »Hallo Herr Hess. Ooooh!...ich freue mich!« Sie lief auf Pauls Onkel zu und gab ihm voller Überschwang die Hand. »Das ist schööön. Ach...ich freue mich!« Ihre Aussprache hatte einen portugiesischen Akzent, ihre Stimme war melodisch und singend. Sie sah lächelnd zu Paul herüber. »Oh...Sie haben einen Freund mitgebracht? Entschuldigen Sie meine Sprache. Ich bin etwas aus der Übung. Was machen Sie hier? Entschuldigen Sie, dass ich frage.« Für einen Moment wirkte sie verstört und so, als würde sie sich wegen ihrer Neugierde einen Vorwurf machen. Alfred meinte: »Das ist mein Neffe.« »Oh!...Ihr Neffe. Ich wusste nicht, das Sie einen Neffen haben Herr Hess...das haben Sie mir nicht gesagt!« »Sie müssen sich nicht entschuldigen.«, erwiderte Alfred nachsichtig. »Nein, nein, das konnte ich ja gar nicht wissen.«

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Sie lachte erleichtert. »Ach entschuldigen Sie...ich hatte Sie nicht gefragt, ob Sie etwas trinken möchten. Meine Schwester ist auch da!« Darauf wendete sie sich Paul zu. »Wir sind zu zweit hier...wissen Sie.« »Wir wollten nur Guten Tag sagen.«, versuchte sie Alfred zu beruhigen. Sie hatte aber schon die Thermoskanne aufgeschraubt und fing an für jeden einen Becher zu füllen. »Nur ein bisschen..., Herr Hess.« Ihre jüngere Schwester kam nach ein paar Minuten aus dem Haus. Sie wirkte in sich gekehrt und sagte kaum ein Wort. Paul erfuhr, dass ihre jüngere Schwester Gabrielle und sie selbst Mariella hießen und dass sie aus Brasilien kamen. Ihre Großeltern waren wohlhabend, sodass sie es sich leisten konnten, für ein paar Monate durch die Welt zu reisen. Mariella hatte Deutsch in Brasilien gelernt. Sie wollte ins Ausland oder einfach in die Welt hinaus. Aber sie hatte keinen Plan. Eine Verkettung von verschiedenen Umständen hatte sie hierher geführt und nun verbrachte sie schon einige Wochen mit ihrer Schwester an diesem abgelegenem Ort. »Sie glauben nicht, wie schön es hier ist. Ich wollte hier etwas malen. Sehen Sie...«

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Sie hob ein paar Blätter auf, die verstreut auf der Wiese lagen. »Sehen sie! Ich versuche schon die ganze Zeit diese Landschaft zu malen. Es ist wirklich sehr, sehr schwer.« Sie wirkte niedergeschlagen. »Ja, das ist sicher nicht einfach.«, erwiderte Paul. »Ooooh ja! Das können Sie mir glauben!« Ihre Traurigkeit war auf einmal wieder verschwunden. Sie freute sich darüber, dass Paul ihr aus der Seele gesprochen hatte. »Ooooh...sehen Sie, sehen Sie...« fuhr Mariella fort. »Sehen sie diese Schmetterlinge. Es ist unmöglich für mich, die zu malen. Sie sind einfach zu schön!« Sie hatten es sich an einem Abhang, an dessen sanfter Neigung man gut liegen konnte, bequem gemacht. Von dort konnten Sie über eine dicht bewaldete Ebene blicken. Die über den Hügel hinwegziehenden

Winde

führten

unzählige

gelbe

Schmetterlinge mit sich. Mit einem Mal wurden die Schmetterlinge von einer Luftwelle emporgehoben, und dann wieder sanft heruntergelassen. Direkt vor ihnen stand ein hoher Baum, dessen Blattwerk silbern im Licht schimmerte. Alfred meinte, dass dies ein Bergeukalyptus sei. Und überhaupt würde man

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hier viele Pflanzen finden, die man auch aus eigenen Breitengraden kennt. Mariella saß etwas weiter unten. Sie schien in Gedanken versunken zu sein. Dann wandte sie sich zu Alfred, den sie immer wieder zu förmlich und respektvoll mit seinem Nachnahmen ansprach. »Ich weiß nicht Herr Hess. Was soll ich machen? Es ist so schön hier! Aber was soll ich machen?« Sie hatte wieder diesen verzweifelten Ausdruck im Gesicht. Paul überlegte, ob sie von Natur aus dazu neigte, allen Vorkommnissen einen übertriebenen und theatralischen Ausdruck zu geben. Alfred hatte sich schräg hinter ihr niedergelassen. Er lehnte am Abhang und hatte sich auf beide Ellenbogen gestützt. »Was hast du vor? Musst du nach Brasilien zurück?« »Ja, Herr Hess. Aber ich will nicht! Hier kann ich auch nicht bleiben!« Sie starrte verloren in die Landschaft. Ihre Schwester sah betroffen zu ihr herüber. ›Vielleicht ist sie mitgekommen, um auf ihre ältere Schwester aufzupassen?‹, dachte Paul. Alfred brachte seinen Oberkörper in eine aufrechte Lage, dann legte er seine beiden Hände auf ihre Schultern. Er sagte nichts. Es verging eine Viertelstunde. Dann fing Mariella an zu weinen. Sie weinte leise in sich hinein. Alfred sagte weiterhin kein Wort, aber er begann fast unmerklich ihre

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Schultern zu massieren. Und auch ihm rann später eine Träne über das Gesicht. Das war ein seltsamer Anblick für Paul. Zwei Verzweifelte, die soeben noch guter Dinge gewesen waren. Paul spürte, wie ein Gefühl der Verlorenheit nun auch in ihm aufstieg. Alfred betrachtete seine Hände, die auf ihren Schultern lagen. Es waren die Hände eines bejahrten Mannes, die das Leben gegerbt und knorrig gemacht hatte. Unter der trockenen und schweren Masse seiner Handflächen tastete er nach ihrem warmen und jungen Körper. Ihre Muskeln waren am Nacken straff gespannt, doch als er seine Hände tiefer sinken ließ, konnte er die unzähligen, feinen Bewegungen erspüren, mit denen diese ihren Oberkörper ausbalancierten. In ihm war kein Verlangen. Und auch sie drehte sich nicht einmal nach ihm um. Alfred hielt die Augen geschlossen. Er war nun mehr auf sich konzentriert. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er atmetete bis tief in den Bauch hinein. Es schien, als ob sie beide einen Raum teilen würden. Er öffnete die Augen, dann schloss er sie wieder. Ein Meer von Lichtpunkten verblasste in der sich in ihm ausbreitenden Dunkelheit. Er vernahm, wie der Wind sanft in den Bäumen rauschte. Wieder öffnete er die Augen. Sein Blick folgte dem Auf und Ab eines Schmetterlings, der sich vom Wind getragen ins Tal gleiten

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ließ. Er schloss die Augen und erspürte den melodischen Nachklang des segelnden Schmetterlings. Als er die Augen ein weiteres Mal öffnete, sah er ein paar Baumsilhouetten dunkel in das gleißende Licht der schneebedeckten Berge ragen. Er durchmaß den Raum, glitt über die Bäume hinweg und verweilte für einen Augenblick in den ewigen und menschenfernen Schneewelten. Als er die Augen schloss, waren Helligkeit und Weite in ihm. Kein Gedanke war da, nur ein Atmen der Welt. Seine Handflächen waren heiß und pulsierten. Sein Atem ging mit ihrem Atem. Er spürte die Angst und Verzweiflung, die auf ihrem Herzen lagen, wie eine zentnerschwere Last in seinem eigenen Herzen. Er konnte mit seinem inneren Sinn ihre Großeltern wahrnehmen. Sie waren fürsorgend gewesen. Doch da waren kein Vater und keine Mutter, da waren kein Mann und keine Frau in ihrer Kindheit. Nur zwei alte Leute, die in den Zustand der Geschlechtslosigkeit übergegangen waren. Sie fühlte sich vom Leben abgeschnitten. Das Leben war wie etwas, das sie zu fürchten hatte, und ihre übertriebene Höflichkeit war von Angst gespeist. Dann sank er tiefer in ihren Schmerz. Er atmete jetzt sehr langsam und wie in Trance. Ihr Schmerz war zu seinem Schmerz geworden, doch sein Schmerz hatte andere Ursachen:

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Er hatte nirgends Wurzeln geschlagen und war heimatlos geblieben. Sein Bruder hatte behauptet, es würde an seinem Charakter liegen, aber so war es nicht. Immer war etwas in ihm abwesend und teilnahmslos geblieben. Er hatte keine Befriedigung in Tätigkeiten und an Dingen gefunden. Er war müde geworden und sehnte sich nach einem Ort, der nichts mehr von ihm forderte und in dem er behütet und sicher vor sinnentleerten Ansprüchen »sein« konnte. Er hatte es sich ausgemalt, wie es wäre, wenn er sich in eine abgelegene Waldhütte zurückziehen würde. Aber gab es diese Rückzugsorte überhaupt noch? War in seinem Land nicht jeder Wald domestiziert und nicht jede Hütte registriert worden? Er stellte sich ein Leben hinter Klostermauern vor. Würde er dort seine Ruhe finden? Er wusste von Yogis, die sich für Jahre in Höhlen zurückgezogen hatten und er hatte von Höhlen gehört, die zu Wallfahrtsorten geworden waren, weil ihre Insassen dort den Zustand der Erleuchtung erreicht hatten. Aber es musste doch auch Unterschlüpfe geben, die nicht so bekannt waren? So kam er, geleitet von derartigen Überlegungen und Recherchen auf diese Gegend. Hier sollte es unzählige, natürliche Felsenhöhlen geben. Sie wurden von Aussteigern, von Eremiten, Saddhus und Swamis bewohnt. Selbst, wenn er hier seine Tage allein verbrin-

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gen würde, so würde er sich doch in der unsichtbaren Gesellschaft dieser Gleichgesinnten befinden. Dies hatte ihm damals Mut gemacht aufzubrechen. Nun saß er hier und hielt seine Hände über eine ihm fast unbekannte, junge Frau. Er hatte gemerkt, dass er in seine eigene Geschichte abgeglitten war, es mussten schon einige Minuten vergangen sein. Er konzentrierte sich wieder auf seine Hände, auf ihren Körper, auf ihr Wesen und das Gemeinsame zwischen ihnen. Wenn er sich tiefer in sie sinken ließ, spürte er wieder »ihren« Schmerz, als wäre es sein eigener. Er spürte dieselbe Verlassenheit und Verlorenheit. In diesem inwendigen Ort gab es keine lineare Zeit und keinen definierbaren Raum. Da war nur dieses eine geteilte Leid. Alfred nahm einen tiefen Atemzug. Er war wie grenzenlos ausgebreitet und wie ein Meer aus feiner Energie, die leise in seinen Ohren summte. So wie er die Schwere in ihrem Herzen fühlte, so würde er sie jetzt in dieser Energie baden. Er erinnerte sich an ein Erlebnis, dass schon lange zurück lag. Er hatte im Halbdunkel gesessen, seine Hände hielt er vor seinem Gesicht gefaltet. Dann überkam ihn ein Strömen. Er wuchtete seinen Oberkörper wie von dieser Macht geführt nach vorne und zurück. Immer und immer wieder. Er sah gebannt

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auf seine gefalteten Hände. Sie waren geschaffen worden, um zusammenzuführen, um zu helfen, um zu heilen. Es gab keine andere Aufgabe, die jemals richtiger oder sinnvoller für ihn und seine Hände gewesen wäre! Eine gewaltige Kraft ging jetzt durch ihn durch. Er wurde von einer tiefen Dankbarkeit und Demut ergriffen. Seine Hände standen unter Strom und Mariella fing an, in sich hinein zu schluchzen. Ihre Traurigkeit war wie eingeschlossen gewesen. Jetzt war sie für sie fühlbarer geworden und ihr schien, als würde sich in ihr etwas lösen. Und dann rann auch eine Träne ihm über die Wange. Alfred konnte ganze Tage in diesem Zustand verbringen. Inniger und friedvoller, als es ihm jetzt noch möglich war. Über ein Jahr lang hatte er mit einem Saddhu in dessen Behausung verbracht. Doch zuvor fing alles schwierig an. Er hatte sich ein kleines Steinhaus gemietet, dass zuvor von Schäfern genutzt worden war. Er musste immer wieder Lebensmittel in das abgelegene Häuschen schleppen. Gelegentlich saß er vor seinem bescheidenen Domizil und schwieg, kiffte oder werkelte irgendetwas vor sich hin. Das war wohl das Blödeste, was er jemals in seinem Leben gemacht hatte. Er war doch kein gesuch-

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ter Verbrecher. Es war doch noch nicht so weit, wie in dem Stück der Doors »This is the end / Beautiful Friend / This is the end...« Es war nur eine riesengroße Dummheit und dann war es auch wieder großartig, so ganz einfach nur mit sich allein zu sein. Müllsäcke stapelten sich vor seiner Tür. Rein rechnerisch hätte er noch ein paar Jahre so weiter hausen können. Irgendetwas musste passieren. Ein Saddhu stocherte eines Tages mit einem Ast in seinen Mülltüten herum. Er konnte sein Kauderwelsch kaum verstehen. Der Saddhu suchte nach nützlichen Behältnissen. Er stellte Alfred ein paar Fragen. Dann erzählte er Alfred in gebrochenem Englisch, dass er bei ihm willkommen wäre und dass er für ein paar Tage bleiben könnte. Sein Unterschlupf war geräumig. Es war ein Felsvorsprung, der sich zum Berg hin wie eine Kuppel wölbte und einen großen, offenen Hohlraum entstehen ließ. Es gab eine Feuerstelle, jede Menge Töpfe und Tassen, Tee und einige haltbare Lebensmittel. Alfred ging nach Wochen zurück, um seinen Wohnort aufzulösen. Wenn er sich schon entschieden hatte, der sogenannten Zivil isation den Rücken zu kehren, dann musste er dies konsequenter tun als bisher. Ein Saddhu, der ihm auch noch anbot, für eine Zeit bei ihm zu bleiben, war da die richtige Gelegenheit.

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In den ersten Nächten war ihm kalt und oft hatte er Hunger. Mit der Zeit legten sich seine Ansprüche. Er hatte manchmal Schuldgefühle. Er machte sich Vorwürfe und Sorgen. Aber auch das legte sich. Es gab unvergessliche Augenblicke: Wenn sie noch vor Sonnenaufgang eine Wasserstelle aufsuchten, um sich dort zu waschen. Wenn sie Mantren sangen und dabei so froh-verrückt waren. Oder wenn sie am Abend die schneebedeckten Gipfel betrachteten, auf denen die letzten Strahlen der Sonne verglimmten. Und es kamen Tage, an denen die Landschaft durchsichtig wurde, an denen eine allgegenwärtige und unausschöpfliche Leere seine Heimat geworden war. Lange blieb er so bei seinem Meister. Selten sprachen sie miteinander. Es schien, als hätte er gefunden, wonach er immer gesucht hatte. Doch dann fühlte er nach einiger Zeit eine Unruhe in sich aufsteigen. Irgendetwas in ihm war noch nicht bereit, in dieser Höhle bis an das Ende seiner Tage zu bleiben. Der Yogi hatte es bemerkt. Alfred hatte ein neues Ziel für sich ausgemacht. Eine Idee begann in ihm zu arbeiten, die ihn aus diesem Refugium wieder hinauslockte. Er wollte das, was er erfahren hatte, nicht allein für sich behalten. Er hatte das Versteck nicht vergessen, in der seine Eintrittskarte in die Zivilisation immer noch liegen

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KAPITEL03  SZENE 02:  DIE ANKUNFT

musste. Er hatte sie nahe eines Wasserfalls in eine Steinritze

geschoben. Danach fuhr er nach Dehli

und hob Geld ab. Sein Erspartes würde für einige Zeit reichen, zumal er gelernt hatte, mit sehr wenig Dingen auszukommen. Er pilgerte zu den Orten, die ihm der Saddhu genannt hatte und machte neue Bekanntschaften. Er traf Bronsky in einer German Bakery. Sie kamen darüber ins Gespräch, ob das häufige Vorkommen von Fliegen und Kakerlaken in indischen Gerichten bei der Bevölkerung nicht auch einen wesentlichen Beitrag zu ihrer ausreichenden Versorgung mit Spurenelementen leistete. Bronsky meinte dies sogar berechnen zu können. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil er ihr nie erzählen wollte, worin seine Arbeit bestand und wohin er seine ausgedehnten Dienstreisen machte. Es stand alles unter Geheimhaltung, deshalb wollte er auch Alfred nichts davon erzählen. »Nur soviel, das will ich Dir verraten. Ich hatte keine Lust mehr. Wenn die gewusst hätten, dass ich so drauf bin, wäre ich nicht mehr am Leben.« Sie trafen sich regelmäßiger. Bronsky hatte Urlaub genommen und auch er hatte sich keinen Plan gemacht. Vielleicht hatte er vor, die ganze Zeit in dieser German Bakery zu verbringen. Es machte ihm ganz

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offensichtlich nichts aus, ganz einfach nichts zu tun. Aber er schätze Alfred als Gesprächspartner. Vielleicht lag es daran, dass er so lange in einer Höhle gehaust hatte und vielleicht gab es da gewisse Parallelen zu Bronskys Arbeit an streng geheim gehaltenen Orten. Allmählich rückte Bronsky mit konkreteren Informationen heraus. Ihn faszinierte, dass er sich mit Fragen des Bewusstsein beschäftigte. Dies war auch sein Arbeitsgebiet. Bronsky war an der Entwicklung von Geräten beteiligt, mit denen auf das Bewusstsein anderer Menschen ein erheblicher Einfluss ausgeübt werden konnte. Geräte, die auch in den von der amerikanischen Regierung immer noch geheim gehaltenen Montauk und Philadelphia Experiment zum Einsatz gekommen waren. Dann hatte Bronsky den Investor kennengelernt. Er hatte ihm weisgemacht, dass sich seine Investitionen lohnen würden. Er könnte in Zukunft »Reisen mit Glücklichkeitsgarantie« anbieten. Dies wäre alles nur eine Frage der »richtigen Bestrahlung«. Gewinn machen war allerdings nicht das vordringlichste Interesse von Bronsky und am wenigsten entsprach dies Alfreds eigentlichen Motiven. Er war wieder in Gedanken abgeschweift. Seine Hände lagen schwer auf Mariellas Schultern. Er spürte in sich einen Impuls, der Schwerkraft nachzugeben und sie ihren Rücken hinabgleiten zu lassen. Bis kurz unter die Schulterblätter, dann würde er sie

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KAPITEL03  SZENE 02:  DIE ANKUNFT

sanft unter ihre Oberarme schieben. Wenn er sie dann noch etwas weiter nach vorne drücken würde, könnte er ihre Brüste ertasten. Es würde ganz unvermeidlich eine Spannung zwischen ihnen entstehen und er ahnte, dass er soweit gehen könnte, wenn sie jetzt alleine wären. Diese Option war eine Sekunde lang in seinem Bewusstsein. Er würde sie nicht ergreifen, aber sie gab ihm das Gefühl, eine Wahl zu haben. Er musste wieder an Bronsky denken. An die Verlockungen! An Bronskys wenig anziehendes Äußeres. An die Möglichkeiten, die sich ihm boten und an die Risiken, die damit verbunden waren. Das Nachdenken hatte ihn abgelenkt. Er schloss die Augen und konzentrierte sich wieder auf seine Hände. Er spürte in sich hinein, dann in ihren Körper. Er übte mit seinen Händen einen leichten Druck auf ihren Körper aus. Er öffnete die Augen. Und ohne ein Urteil zu fällen, ließ er hinein was er sah: die im Licht schwankenden Blätter, die hinabsegelnden Schmetterlinge, die in den Himmel ragenden Berge. Er war ganz in diesem Sehen und er war, wie die Blätter, die Schmetterlinge und die Berge. Er war der Raum und das Medium, in dem sich die Heilung ereignete. Helle und die Leichtigkeit waren in ihnen, wie etwas, in dem sie sich ausruhen und in dem sie wie Kinder spielen konnten. Wenn er heilte, dann blieb anschließend noch lange eine Heiterkeit in ihm, ein Abglanz

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dieser geteilten Innigkeit und Schönheit, die von irgendwoher kam. Und in diesem Moment war da wieder diese Vision: Er sah stählerne Riesen, die sich wie Götter im Himmel drehten. Apollonisch schön. Diesen Apparaten entströmten ungeahnte Kräfte. Sie verteilten gesegnetes Wasser über eine sich transformierende Welt. Kollektiver Shift! Levitation der Menschheit und aller Dinge! Doch manchmal, so dachte er, würde er gerne eine Pistole auf diese Bilder halten und dann würde er abdrücken! Die Bilder hatten ihn immer aus der Bahn geworfen. Sie hatten ihm eine Welt gezeigt, die es nicht gab und damit hielten sie ihn davon ab, sich im Alltag zurecht zu finden. Das Unwirkliche und das Überwirkliche waren oft nicht auseinanderzuhalten. Es war zum Verzweifeln. Mariella hatte sich entspannt in Alfreds Arm sinken lassen. Beide schwiegen. Paul sah verlegen rüber. Dann erhob sich Alfred mühselig. Er schaute zu Paul. Ihm war auf einmal elend zumute. Er hatte seinen Neffen hierher gebracht. Nun musste er sich um ihn kümmern. Ausgerechnet jetzt, wo alles in sich zusammengebrochen war.

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

IN FORMEN FIEBERN Sie

waren in einen Nebenweg

eingebogen. Nun ging es in steilen Serpentinen nach oben. Alfred hatte angefangen, während des Aufstiegs über diesen Ort zu berichten. Er erinnerte sich an die Zeiten, als sich hier ein paar Dutzend Menschen aufgehalten hatten. Es waren Freunde von Freunden gewesen, ein Netzwerk von Gleichgesinnten. Meistens hatte er sie im nahe gelegenen Tal abgeholt, um zu sehen, ob er ihnen vertrauen konnte. Sie hatten den Besuchern nie viel erzählt, aber das ein oder andere ihres Vorhabens sickerte dann doch durch. Alfred und Bronsky wollten wissen, wie die Leute reagierten. Sie experimentierten mit verschiedenen Graden der Bestrahlung. Die Leute spürten, dass hier etwas Besonderes vor sich ging. Es gab großartige Momente. Es war eine gute Zeit. Er blickte auf eine Ansammlung von Steinhütten, die seitlich von ihnen lag. Sie gehörten zu einem kleinen Dorf. Nun standen sie wieder leer und sie sahen noch verlassener aus, als sie es je gewesen waren. Es schmerzte ihn sehr, von Vergangenem zu reden. »Hier war schonmal mehr los. Auf Komfort hat hier niemand Wert gelegt...« Er erzählte, dass es jetzt sein Job wäre, sich um die Vermietung und manchmal auch um die Verpflegung der nur noch wenigen Besucher zu kümmern.

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Dies wäre für ihn seit Monaten die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Einmal blieb er unvermittelt stehen und hob die Arme in die Luft. »Ist es nicht schön hier!« Paul kraxelte zu Alfred hinauf. Bei seinem keuchenden Onkel angekommen, ließ er seinen Blick über die Landschaft streifen. Der Weg mit seinen vielen losen Steinen hatte seine Aufmerksamkeit beansprucht. Nun konnte er das ganze Panorama überblicken. Da war wieder diese betörende Klarheit. So, als hätte er sich über seine Augen gewischt wie über verschmutzte Brillengläser. Die Berge schienen nähergekommen zu sein. Sie waren auf eine so intensive Art und Weise da, als wären sie ein Teil von ihm. Ihre Spitzen hatten sie in diesen flirrenden, kobaltfarbenen Himmel getaucht, als wollten sie darin ertrinken. Sein Onkel fing an, sich zu schütteln. Dabei gab er merkwürdige Laute von sich: »Uaahh...,huaahh...gibt es was Schöneres?« ›Ein echter Freak!‹, dachte Paul, ›aber lange werde ich das nicht aushalten!‹. Sein Onkel war ein Penner, der kaputte Hütten vermietete und kleine Mädchen zum Weinen brachte. Er war zu lange allein gewesen und er hatte ihm immer noch nicht erzählt, wieso er Paul eingeladen hatte. »Hör doch bitte auf... das ist grad schwer auszuhalten.«,

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

grummelte Paul. Alfred sah Paul überrascht an. »Ich dachte, auch du würdest das spüren.« Er wandte sich ab und trottete den Weg schweigsam weiter. Ab und zu rief er: »Gott sei Dank! Gott sei´s gedankt!« Dabei hob er seine Arme nach oben. »Wir kommen jetzt in den inneren Kreis. Ich hoffe mal, dass Bronsky keinen Unfug macht.« »Wer?«, fragte Paul. »Den wirst du noch kennenlernen. Möglicherweise.« Alfred stieg schweigend auf dem kurvigen Pfad nach oben. Paul schritt widerwillig und mit Abstand hinterher. Doch etwas Seltsames war geschehen: Es schien Paul, also ob hier oben das Wilde milder und die Natur mehr wie ein Garten war. Es war, als hätte er eine Wirklichkeit verlassen und als wäre er in eine andere dafür eingetreten. Die Landschaft erschien entrückter und doch war alles überdeutlich und nah. Er vernahm ein leises Summen in seinem Ohr. Und wenn er die Hand ausstreckte - er tat dies unwillkürlich, um diese Veränderung zu erspüren - da britzelte etwas sanft auf seiner Haut. Er dachte an Brause und dann kamen eigentümliche Ahnungen in ihn. Es schien, als könnte er das Wesen von Erfrischungsgetränken zu allen Zeiten und an allen Orten mit einem

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Mal erfassen. In dieser sehr feinen und schnell schwingenden Energie schienen Dinge und Erinnerungen wie zu ihrer ideellen Schönheit verklärt und für immer aufgehoben. ›Vielleicht ist es gefährlich weiter zu gehen?‹, grübelte Paul. Er war in einen Bereich eingetreten, in dem sich seltsame Dinge ereignen konnten. »Noch ein paar Meter... dann sind wir da.«, keuchte Alfred. Sie gelangten auf eine Ebene, die dichter bewaldet war. Wüsste Paul es nicht besser, so hätte er annehmen können, dass er in einem europäischen Gebirgswald gelandet war. Die Sonne flutete durch die nadeligen Bäume und erzeugte helle, diagonal aufgespannte Fäden. Es roch nach Tannen, nach Harz und nach Moosen. Sie kraxelten weiter auf verschlungenen Pfaden. Alfred lief jeweils ein paar Meter vorweg. In Begleitung konnte es Alfred passieren, dass er die Gegend mehr durch die Augen der Anderen wahrnahm. Dann erschienen ihm die Dinge, die sie hier gemacht hatten, befremdlich und wie in einem Wahn entstanden. Sie steuerten auf ein Haus zu. Für Alfred war es weniger ein Haus als vielmehr die Idee eines Hauses. Sie hatten an diesem Ort viel und radikal experimentiert. Alles war erlaubt, wenn das Pro-

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

jekt dadurch Fortschritte machte. Sie hatten sich gefragt, wie eine ideale Architektur aussehen müsste. Alfred hatte einen Text von Heidegger aus seiner Studienzeit aufgetan. Eine Abhandlung darüber, dass das Sein in seinem Sein in der Antike durch das geschickte Zusammenspiel von tragenden und lastenden Elementen zur Anwesenheit gebracht werden konnte. Splenn schlug die Verwendung von Säulen vor - eigentlich eine Todsünde der modernen Architektur. Sie hatten mit Massen experimentiert. Ihre Materialität, Festigkeit und Schwere herausgearbeitet. Und jetzt, da er auf das Gebäude mit seinen selbstbewusst sich in die Höhe streckenden Säulen sah, konnte er erleben, wie diese männliche Bauplastik auf elementare Weise die Grundprinzipien antiker Bauphilosophie zum Ausdruck brachte. Und Spleen war dafür ein geniales Medium gewesen. Die Vorstellungsbilder von Bronskys Assistenten waren zwar plastisch, aber fehlerhaft. Ihm fehlte das Verständnis für die Proportionen und die Details. Er hatte keinen ästhetischen Sinn. Doch durch Spleen lebten die antiken Bilder in ihrem altem Glanz wieder auf. »Nirgendwo Schnickschnack«, bemerkte Alfred. »Wer hier wohnt, kann sich der erhabenen Wirkung nicht entziehen«, rief er zu Paul herüber.

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Er dachte an die Erhabenheit im klassischen Sinne, nach welcher in einem Entwurf immer auch ein Widerstreit entgegengesetzter Kräfte und zugleich deren Ausgleich sichtbar gemacht werden sollte. »Ein Tempel für Götter oder für solche, die das mal werden möchten.« Doch war da auch ein resignativer Gedanke: ›Wie habe ich diesen Anachronismus zulassen können?‹ Andere und weit zurückliegende Erinnerungen stiegen in ihm auf. Studentenzeiten und Nächte, in denen sie zusammensaßen, viel redeten und sich neue Maximen machten: ›Substantivierungen vermeiden. In Kleinbuchstaben denken. Differenzen sehen. Subversiv werden. Alles drehen und gegen sich wenden!‹. Dieses Denken erschien ihm doch immer weit moderner und vor allem fortschrittlicher als ein solches, das in alten Grundsätzen und Prinzipien steckenblieb. Das Überkommenes auf ein Podest hob und hinter Säulen konservierte. Und nun ausgerechnet wieder Säulen! Wie Trotz kam es aus ihn: »Sind sie nicht ganz großartig!« Und mit einem wissenden Grinsen fügte er hinzu: »Hier wird noch mit dem Hammer philosophiert.« Paul schaute auf seinen Onkel, der sich vor dem Gebäude wie ein Entrückter gebärdete. Dann schaute er noch einmal auf den mächtigen Baukörper, der seltsam schimmerte. So, als wäre er mehr in den

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

Himmel gemalt als gebaut worden. Alfred war indessen gestikulierend weitergezogen. Sie gelangten an einen gusseisernen Zaun. Paul war ihm zögerlich gefolgt und betrachtete das Gebäude mit ungläubigen Blicken. Alfred, der Pauls Zweifel bemerkt hatte, meinte: »Fass doch einmal die Klinke an.« Die Klinke fühlte sich kühl und rau an. Paul spürte die vielen Unebenheiten und Dellen des jahrelangen Gebrauchs. Und als er sie losließ, hatte die oxidierte Oberfläche einen feinen und trockenen Staub in seiner Innenhand hinterlassen. »Sie ist wirklich so alt wie sie aussieht.« Hinter der Pforte befand sich ein Garten mit Beeten und Stauden. Ein schmaler und von Blumen gesäumter Weg führte zu einer hohen, zweiflügeligen Tür. Die Vorderseite des Gebäudes wurde durch vier Halbsäulen gleichmäßig gegliedert. In den drei dazwischen liegenden Bereichen befand sich in der Mitte eine Tür und zu den Seiten zwei Fenster, die mit einem romanischen Bogen abschlossen. Das Gebäude besaß ein gleichschenkliges und hervor kragendes Dach, das auf hölzernen Giebeln ruhte. In der Mitte befand sich ein halbrundes Fenster, dass den romanischen Halbkreis wiederholte. Wie eine Sonne fächerten sich in dem Fenster die Sprossen auf.

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Alfred sog die Sinnbildlichkeit und den Zauber der Fassade in sich ein, ihr Anblick bedeutete ihm Segen und Geborgenheit. Frühbürgerliche Idyllen. Romantische Kindheit. Ofenwärme und Postkutschenzeit. Er blickte auf das Gebäude, als würde er in Vergangenes blicken. Auf Dörfer und Landschaften, die es so nicht mehr gab. In Ideenwelten, die vielleicht sogar einmal Lebenswelten waren. »Vaterland!«, gab er von sich. Paul bekam einen Schreck. »Vaterland!«, hallte es durch das nordindische Hochgebirge. »Lass uns schauen, ob wir Rotkäppchen finden und ob uns der böse Wolf entgegenkommt.« Paul war nicht weit davon entfernt zu glauben, dass dort wirklich Rotkäppchen wohnte. Er zögerte jedoch, dort hineinzutreten. Zu unwirklich kam ihm alles vor. Alfred war nach vorne gestürmt wie jemand, der lange auf Wanderschaft gewesen war, der endlich wieder in das Elternhaus, bei seinen Ahnen und in der Heimat angekommen war. Als Paul das Innere des Gebäudes betrat, kam ihm Alfred entgegen. »Der Dichter ist ausgeflogen.« Paul sah sich beeindruckt in dem Gemäuer um. Der Raum, in dem er sich befand, ragte einige Meter in die Höhe. Die vordere Wand wurde durch eine

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

doppelflügelige Eingangstür dominiert. Die beiden Längsseiten besaßen schlichter gestaltete Türen, die aber in Proportion und Größe mit der hohen Eingangstür korrespondierten. In der Mitte des Raumes befand sich ein langer Tisch, an dessen beiden Seiten bis zu zwanzig Personen hätten sitzen können. Auf dem massiven Tisch stand ein Kandelaber. Paul stellte sich vor, wie es wäre, wenn man alle Türen öffnen würde. Dann würde man zu drei Seiten wunderbar in den Garten sehen können, der das Haus umgab. Linksseitig stand ein Schreibtisch. Dem Aussehen nach mochte dieser weit mehr als hundert Jahre alt sein. Alfred hatte bemerkt, dass Paul der Schreibtisch aufgefallen war. Fachmännisch führte er aus: »So etwas findest du heute nicht mehr. Vielleicht noch in Weimar. In Goethes Arbeitszimmer. Dickes Sägefunier. Kirschholz auf Mahagoni gebeizt. Mit den Jahren hat ihn das Sonnenlicht ausgeblichen. Die spitzen Beine mit den kannelierten Abschlüssen sind Louis Seize. Aber aufgrund der schlichten und strengen Gesamtkomposition ist er dem frühen Klassizismus zuzurechnen. Ich schätze Siebzehnhundertneunzig. Spleen hat ihn sich hierher bringen lassen.« Dann zeigte er auf eine Lampe. »Jielde. Französische Industrielampe. Original aus den Zwanzigerjahren. Der Herr, der hier zu Gast ist, lässt sich nicht lumpen.«

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Alfred deutete auf die Wand des Eingangsbereichs. Dort tauchten die vier Säulen als flaches Relief wieder auf. Zwischen den romanisch geformten Fenstern und den angedeuteten Säulen wurden mit feinen Linien Sockel, Pilaster und Portale modelliert. Diese rahmenden und gliedernden Linien verbanden sich zu größeren Gebilden, die in einem wunderbar ausgewogenen Verhältnis zu der übrigen Wandgliederung standen. »Was war das für ein Kampf, bis all dies in einem harmonischem Maßverhältnis zueinander stand.« Alfred deutete auf weitere Details. Einige waren aufgrund der filigranen und kalkweißen Ausführung kaum zu erkennen. »Palladio´s und Schinkels Proportionslehren. Im Grunde derselbe Geist: Einer Wand Größe verleihen. Den Himmel in den Stein ziehen. Die Idee ist da! Der Geist ist da!« Er erinnerte sich an die vielen Diskussionen und Streitereien. Die Architekten aus Pondisherry, die weiter unten ihren Nebenwohnsitz naturgerecht in Steinhöhlen hinein gezimmert hatten, wollten diesen Anachronismus nicht mehr begreifen. Sie warfen Alfred und seinem Architekten vor, den klassizistischen Villenstil mit der tempelartigen Bauweise von Familiengrüften

des

ausgehenden

neunzehnten

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

Jahrhunderts auf das Allergeschmackloseste verbunden zu haben. Aber die konnten gut reden, sie hatten sich vor vielen Jahren in Pondisherry hübsche Häuser im französischen Stil gebaut und brauchten nun einen Ausgleich zu ihrer kandierten Selbstverwirklungsarchitektur. Die hatten sich von allen Stilisierungen frei gemacht und bevorzugten das einfache Leben, veganes Essen, Lehmbauten, direkte Demokratie und gewaltfreie Kommunikation. Die waren für Alfred die typischen und darin auch wieder ganz lächerlichen Vertreter einer ökosozialen Vernunft. »Sorry, aber es ist ein wenig zu fade bei euch. Macht das mal ohne mich«, hatte Alfred »denen da unten« klar gemacht. Doch dann war da eine Gruppe von vielleicht etwa dreissigjährigen Leuten zu den Architekten gestoßen. Etwas war hinzugekommen, für das er noch kein klares Gefühl hatte. Diese jungen Leute teilten auf eine ihm unbekannte Weise ihre Ideen, bauten ihre Gedanken aufeinander auf, arbeiteten wie »ein« multiperspektivisches Bewusstsein an »einer« gemeinsamen Lösung. Und dieses Kollektiv strahlte Agilität und Überlegenheit aus. Vor allem einer von denen schien ihn mit aller Kraft und zutiefst zu verachten. Musste er ihn nicht als eine Gefahr empfinden? Dieser betrachtete Alfred als eine Art Re-

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likt. Einmal meinte er mit freundlich arroganter Herablassung zu ihm: »Nimm` es nicht persönlich, aber die Welt ist zu kompliziert geworden für dich. Als Einhirn ist man machtlos, wenn es darum geht, komplexe Probleme zu lösen. Damit meine ich vor allem Probleme des Zusammenlebens in zeitgemäßen Gemeinschaften.« Er hatte ihm klarmachen wollen, dass sein Projekt nicht funktionieren konnte, weil er zu sehr an seinen eigenen Ideen klebte. »Und wenn du scheiterst, dann mach dir klar, scheiterst du immer nur an dir selbst.«, hatte er ihm unumwunden mitgeteilt. Seitdem waren diese schneidenden Sätze in ihm. ›Bin ich nicht immer selbstloser in allem geworden?‹ Und nun war dieser Depp, wie Alfred Dev abfällig nannte, mit der Bemerkung „Mach die Leute nicht irre“ am Zelt aufgetaucht, ausgerechnet als er begonnen hatte, Paul in diesen Ort einzuführen. Alfred ließ seinen Blick über das Gebäude schweifen. Die Wände waren aus massivem Stein. ›Hat dieser Typ nicht recht? Ist das Ganze nicht ein steingewordener

Eigensinn,

während

die

da

unten

ameisenhaft immer intelligentere und nachhaltigere Wohnformen entwickeln? Und dann das viele Geld! Das unselige! Geld.‹ Alfred schaute lange auf die Fassade, so als suche er in ihr eine Antwort. Dann fragte

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

er sich: ›Doch ist nicht »der Geist« auch da?‹ Der Geist, den er heraufbeschwören wollte? ›Der »alte« Geist!‹ Alfred spürte ihn mit all seinen Sinnen. Als sei er durch die Form bereits herbeigerufen worden. Es war ihnen gelungen, den europäischen Formgedanken auf seine ursprünglichsten formalen Setzungen und Ideen zurückzuführen. Alfred stand regungslos. Er starrte die Wand an. Er nahm die Witterung der Ideen auf, die sich in dieser klassizistischen Fassade eingeschrieben hatten. Zu den Ideen, die sich auch in der gegenüberliegenden,

viel

schlichteren

Wand eingebildet hatten: Leidenschaftlicher Purismus. Purster Minimalismus. Lust an der klaren Linie. Liebe zur Einfachheit. Moderne und Antike standen sich hier gegenüber. Das mischte sich in seinem Bewusstsein zu einem rein ätherischen Erleben zusammen. Die Zeiten überlagerten sich: Das achtzehnte Jahrhundert und das frühe zwanzigste Jahrhundert. Und selbst die ideologischen Diskussionen der sechziger Jahre waren wieder da. ›Ja... sie wehen mich an! So fein und so subtil!‹

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Von einer mehr profaneren - wie der Schweizer Typografie in den sechziger Jahren- wird „das Nichts” in der der leeren Fläche, im Weiß-oder Umraum thematisiert. Es ist die nicht sofort ersichtliche Gegenform zum Buchstaben, Bild oder Zeichen. Durch die Berücksichtigung des materiellen Grundes wird die Gestaltungsarbeit „bewusster”, behält aber die Bodenhaftung.


Für Alfred stellt der Minimalismus eine wichtige Ergänzung zu den von Spleen propagierten klassischen Formkanon mit seiner differenzierten Gestaltungen und Gliederungen dar. Und vom Standpunkt eines »Bewusstseinszustandes ohne Bewusstseinsgegenstand« findet man in dem zenartigen, in diesem jeden Formfetischismus überwindende „archaisch-sakralen Minimalismus” Annäherungen an eine von allem Akzidentiellem befreiten substanzielle Welt in der man den Geist zur Ruhe bringen kann. Beispiele in diesem Sinne sind der Ulmer Hocker von Max Bill oder noch eher; die Architektur von Tadao Anno in der das Licht selbst die Gestaltung übernimmt.

Vor einer schlichten Wand- in der Art wie bei Tadao Ando- sitzen Alfred und Paul und betrachten die wohlproportionierten Andeutungen einer Wandgliederung. Diese könnte zwar wesentlich einfacher, aber nicht unähnlich von der sein, die Schinkel im Prinz Albrecht Palais entworfen hat.

Church of lIghts - Tadao Ando

228 www.mooponto.com/2012/09/19/church-of-the-light-tadao-ando-architect-associates/ www.bildindex.de (Friedrich Schinkel, Prinz Albrecht Palais)


CHRUCH OF LIGHT ODER DIE IDEE VON DER EXISTENZ ALS ESSENZ

Ulmer Hocker von Max Bill

229 http://de.wikipedia.org/wiki/Ulmer_Hocker


Paul hatte währenddessen begonnen, Steine an die Fassade zu werfen, als wollte er prüfen, ob sie wirklich existierte. Er wusste nicht, ob es an seiner mangelnden Sehkraft lag oder ob da etwas nicht stimmte. Einige Steine, die sehr hoch hinauf geflogen waren, schienen zu verschwinden.

Dann

be-

Auch moderne Schnittstellen beziehen ihre erhabene Wirkung einem Geist, der dem Weniger verpflichtet ist. Eine Haltung, welche seit den sechziger Jahren über Dieter Rams bis zu Steve Jobs nach Cupertino reicht. Und ich möchte ein einem außerphysikalischem Sinne anmerken: Das Weniger ist manchmal mehr, denn es deutet mit seiner Ästhetik des Verschwindens auf das Meer des Nichts.

trachtete er seinen Onkel. ›Morgen werde ich von wieder abfahren‹, sagte er zu sich. Alfred begann aus der Erstarrung zu erwachen. Er wendete sich zu Paul. »Wenn etwas sehr hochschwingt, dann löst es sich auf. Es kann gar nicht anders. Es muss sich auflösen.« »Das mag schon sein, aber ich habe genug davon!«, entgegnete Paul. Doch spürte auch er eine gewisse Faszination, die von Alfred und von diesen flimmernden Gebäuden ausging. Alfred versuchte sich zu sammeln. Er musste vermittelnder vorgehen. Er musste eine sinnvollere Form des Dialogs finden, sonst würde er seinen Neffen verlieren, noch bevor dieser richtig angekom-

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KAPITEL03  SZENE 03:  IN FORMEN FIEBERN

men war. Er trug doch Verantwortung. Auch dann, wenn er manchmal wie in Wolken schwebte, wenn Gedanken nur noch wie Schwaden vor einem reineren Himmel hingen, wenn die Dinge sich auflösten, wenn sie begannen, im Licht ihrer Ideen zu erstrahlen. Pauls Ablehnung hatte ihn zurückgeholt. Ihm war klar geworden, dass er seinen Neffen überforderte. Der musste den Eindruck haben, dass sein Onkel abseits der Gesellschaft eigensinnig oder verrückt geworden war. Er spürte, wie er mit den Füßen allmählich wieder auf festerem Boden zu stehen kam. Er erinnerte sich, wie er sich auf diesen Berg hochgekämpft hatte, wie er immer wieder stehen bleiben und keuchen musste. Er war alt. Er war einsam. Er war gescheitert. So musste sein Neffe wohl über ihn denken. Ein weiteres Gebäude tauchte auf der ihrer Route auf. Der Wald hatte sich gelichtet und das Gebäude selbst stand in einem offenen Feld. Auf einer Wiese hatte man einen Birkenhain angelegt. Alfred machte sich diesmal keine große Mühe, Paul in die Besonderheiten der Architektur einzuführen. Paul hatte den Eindruck, dass der Baukörper durch die großen Fenster offener und freundlich wirkte. Es gab eine Veranda auf der Höhe des ersten Stocks und gläserne Vorbau-

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ten, die einen Wintergarten vermuten ließen. Das Haus wirkte moderner, transparenter und leichter als die, welche sie gerade gesehen hatten. Alfred warf Paul ein paar Begriffe zu. Sie sollten helfen, das Ganze besser einordnen zu können. Er sprach von Proportionen und Winkelbeziehungen, die nicht unähnlich denen waren, die Gropius in seiner Wohnsiedlung in Dessau verwendet hatte. Nur wäre dieser Bau nicht ganz so nüchtern ausgefallen. Die Verstrebungen der Fenster würden sich noch am geometrischen Jugendstil orientieren, an Entwürfen von Peter Behrens und Adolf Loos. »Wir hatten das Thema damit erledigt. Aus und vorbei.« Alfred machte eine resignierte Bewegung. »Studien..., so ging es nicht weiter.« Er fügte noch hinzu: «Immerhin gut, das hier zu haben. Ein geistiger Anker mitten in Indien.« Sie passierten ein Gebäude. Wieder fiel der Name Bronsky. Dieser würde dort mondän residieren. Paul hätte sich nicht gewundert, wenn jetzt ein Zeppelin über ihm aufgetaucht wäre oder ein Ufo. Es schien ihm, als wären diese Gebäude mit einer ähnlichen Intention errichtet worden, mit welcher Schamanen bestimmte Objekte an bestimmten Stellen niederle-

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KAPITEL03  SZENE 04:  DAS FELD

gen, um einen erweiterten Möglichkeitsraum zu erzeugen. Er stand hier allerdings vor einem Henne-Ei Problem. Er war sich nicht sicher, was zuerst da war: Der Möglichkeitsraum oder die Dinge, durch die dieser Raum erst möglich wurde?

DAS FELD Auf der freien Fläche war für Paul das Summen deutlicher geworden. Jetzt, da sie aus dem Wald herausgetreten waren und unter dem freien Himmel standen, schien es von allen Seiten auf ihn einzudringen. Es erinnerte ihn an das Summen von Geräten, die unter einer hohen Spannung stehen. Ihm kam der Gedanke, ob die ihn umgebende Welt in diesem Summen selbst ihren Ursprung haben könnte. Es war ihm, als würden sich innere und äußere Bilder mischen, als würden Vorstellungen auf mysteriöse Weise Wirklichkeiten erzeugen. Das mächtige Gebirgsmassiv ragte in die Höhe und tief in das flirrende Blau hinein. Die hochgewuchtete Materie schien nach oben wie aufgelöst. In diesen Aufschwung der steinernen Masse ins Schwerelose und Fernverklärte schaute er in Bilder, die hell und selig waren. Vor allem ein Bild hing so zwischen innen und außen und war ergreifend. Er sah sich wie auf einer hellen Bahn, die ihn in die Ferne mitnahm. Er hätte

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all das mit einem Zweifel wegwischen können, doch ließ er es geschehen. Vor seinen Augen erschien in einiger Entfernung ein noch seltsameres Gebäude. Dieses bestand aus einer runden Grundform, die zu mehreren Seiten durch spitz zulaufende und verglaste Vorsprünge unterbrochen wurde. In der Nähe des Gebäudes ragten funkelnd metallene Rohre wie mächtige Antennen in die Höhe. An der Frontseite besaß das Gebäude eine offene und hölzerne Vorhalle. Die elementare Geometrie des Gebäudes war imposant und beeindruckend und zugleich wirkte sie wie eingewoben in das Summen und Strömen des Ortes, das er die ganze Zeit über spürte. Alfred tauchte neben ihm auf. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Es passte nicht zu ihm. Es passte noch weniger zu diesem Ort. So übel riechend hatte Paul Zigarettengeruch noch nie wahrgenommen. Sein Onkel schaute auf die Zigarette, die er proletenhaft zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt hatte. »Manchmal ist mir das hier zu intensiv. Da muss ich eine rauchen. Willst du wissen, was das hier ist?« Er zeigte auf das Gebäude. »Ja, das würde ich gerne wissen. Ich würde vor allem gerne wissen, ob das real ist.«

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KAPITEL03  SZENE 04:  DAS FELD

Alfred beschäftigte sich mit seiner Zigarette. Er nahm einen Zug, prustete dann aber den Rauch mit einer Hustenattacke wieder aus sich heraus. »Realität ist eine äußerst relative Angelegenheit.« Er drückte die Zigarette auf der Erde aus und schob den Stummel anschließend in seine Hosentasche. »Ganz schön eklig oder?« Er betrachtete nun ebenfalls das Gebäude. »Du musst dir etwas klar machen, um das hier zu verstehen. Es gibt keine getrennten Dinge.« Sie waren an einen Weg gekommen, der direkt in das vor ihnen liegende Gebäude zu führen schien. Der Weg war breit genug, so dass sie nebeneinander laufen konnten. Alfred erzählte ihm, dass sich die meisten Menschen als feste und getrennte physikalische Körper betrachten würden. Diese Art von »In der Welt sein« hätte das Denken, Wahrnehmen und Handeln von Generation geprägt. »Wenn du dich von den Anderen als getrennt betrachtest, dann fühlt sich die Welt kalt und feindselig an. Was haben die Menschen da gemacht?« »Sie sind zusammengerückt?«, meinte Paul leicht überfordert. »Ja, ein bisschen mehr soziale Wärme...na gut...und körperliche Wärme auch. Genau. Wie die Stachelschweine im Winter.«

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Alfred machte eine kurze Pause und setzte dann noch mal von vorne an. »Stell dir den Raum als ein Feld vor. Wenn du etwas in ihm zum Schwingen bringst, kann sich etwas bis in die Sichtbarkeit hinein manifestieren.« »Aha«, bemerkte Paul ironisch. »Ja, das ist schwer zu verstehen. Es ist ein unsichtbares und hochkomplexes Geschehen, das wir nicht konkret begreifen können. Aber wir können es formen, mit klarer Anschauung und fester Absicht«. »Na sowieso«, erwiderte Paul schon sichtbar genervt. »Es gibt Gegenden, da kannst du nichts ausrichten mit deinen Visionen. Du bist gefangen im kollektiven Manifest der Anderen. Wir haben hier ein Schwingungsfeld geschaffen, in der sich alles seines Scheinbaren bewusst ist. Alles ist erwacht in einen Zustand von Spiegelung und Selbstreflexion.« »Na...jetzt ist mir alles klar!«, trötete Paul laut hervor, »Deswegen bist du auch so sonderbar!« Paul wollte dem nicht mehr folgen. Von irgendwoher kam ein Lachen. Es war wie ein lautmalerisches Echo des von Paul zuletzt Gesagten: »Ha, ha, ha!«

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KAPITEL03  SZENE 04:  DAS FELD

Paul schaute unwillkürlich in die Richtung. Er erhaschte einen Blick von etwas, das hinter einem Gebüsch hin und her hüpfte. Er hatte eine nach vorne stoppelig aufgeplusterte, weiße Perücke auf, dessen große Locken ihm über seine Wayfarer baumelten. Paul konnte ein paar Wortfetzen vernehmen. »Glaube keinem Schwarmgeist...vor allem...keinem Idealisten!« »Was war das?« Alfred schaute in dieselbe Richtung. »Pieschke! Wo ist er hin?« Alfred wollte fortfahren. Auch wenn der philosophierende Okuhila weiterhin in der Ferne gegen Alfred zu wettern schien. »Also... Du kannst mich ja ruhig für verrückt erklären. Alles hier geht in Resonanz mit deinen Impulsen, deiner Schöpferkraft, allerdings auch mit deinen Neurosen. Darin liegt die Gefahr!« »War diese Erscheinung jetzt etwa nur eine Neurose von mir?«, frage Paul ungläubig. »Nein, das war Pieschke.« »Ist der echt?« »Ja, der ist echt.« »Ah ja..., Gefahr...natürlich. Das habe ich schon gemerkt. Wie komme ich denn hier raus? Ich will nach Haus!«

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Pauls Antworten hatten einen albernen Tonfall bekommen. Er wollte den Ausführungen von Alfred einfach nicht mehr folgen. »Du kannst hier schneller euphorisch, du kannst hier schneller panisch werden. Das Messer, das du hier führst, führst du gegen dich selbst.« »Ich will einfach nur normal bleiben.« »Was ist normal?« »Das habe ich bis eben gewusst...dachte ich.« Paul schwieg ein, zwei Sekunden, dann fiel ihm ein: »Der hatte eine Perücke auf!« »Im Andenken an Voltaire, vermute ich.« »Wieso Voltaire?« Der Okuhila musste das vernommen haben. Man konnte ihn aus der Ferne hören. »Überhaupt ist das Französische dem Deutschen in allen Punkten überlegen.« »Der hört jetzt nicht auf.«, stellte Alfred resigniert fest. »Diese Vergröberung des Geschmacks bei den Deutschen...ich sage nur Currywurst. Und nun auch noch Körner und Breie! Sie können immer nur von dem einen in das andere Extrem. Ihnen fehlt jedes Gefühl für Maß.« »Wir müssen weg von hier!«

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KAPITEL03  SZENE 04:  DAS FELD

Paul hatte es nun wirklich mit der Angst zu tun bekommen. Es war einfach zuviel. Alfred nahm Paul in den Arm. »Atme tief durch. Ich halte jetzt auch den Mund. Sieh, wie schön es hier sonst ist.« Paul atmete tief durch. Er beruhigte sich, auch wenn in der Ferne immer noch dieser seltsame Mensch irgend ein Zeug vor sich hin polterte: Die Körnerfresser und Zahnlosen seien das endgültige Ende alter und vornehmer Kulturen. Und dieses neue Europa sei schuld an dem Niedergang der Griechen. Sie hätten die griechische Kultur des Müßiggangs nie verstanden, denn diese Form der Muße bereitete Christen immer noch ein schlechtes Gewissen. Wo die Menschen keine Zeit mehr haben, sei jede Kultur verloren. Es müsse nur jemand kommen und behaupten, er habe keine Zeit, damit er eine eindeutige Diagnose stellen könne... Die letzten Sätze trug der Wind zu ihnen hinüber, sodass Paul den genauen Wortlaut hören konnte. »...Demenz im Endstadium! Er hat vielleicht noch vierzig Jahre zu leben. Das hat er einfach vergessen. Das weiß er schon nicht mehr! Ich bin hierher geflohen vor den Irren, die ihrer Zeit verlustig gegangen sind, weil sie immer irgendetwas meinen tun zu müssen!«

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»Also der hält sich schon mal nicht für irre!«, meinte Paul und musste dabei lachen. Es war ein Lachen der Verzweiflung. Aber es wirkte erleichternd. Alfred hatte sich mit Paul an den Wegrand gesetzt. Dann hatten sie sich beide nach hinten kippen lassen und betrachteten die Wolken. Alfred fragte: »Wenn du in den Himmel siehst, siehst du da noch etwas Anderes?« »Nur Wolken«, entgegnete Paul. »Und schaust du noch etwas anderes als Wolken an?« »Nein« »Sehen ist das eigentliche Verstehen. Deswegen steckt in dem Wort Wahrnehmen auch das Wort Wahrheit. Einsicht kommt von Ein-sehen. Er-kennen kommt von etwas durch Sehen erkennen, etwas wieder erkennen.« »Sehen ist auch nur eine Ansammlung von Gedanken und Vorurteilen?«, erwiderte Paul. »Ich meine eine andere Art von Sehen.« Paul schwieg dazu. Der dozierende Okuhila gab einen gellenden Schrei von sich. Paul drehte sich unvermittelt in die Richtung. Er traute seinen Sinnen nicht, denn etwas sehr Merkwürdiges war dort in Erscheinung getreten. Es hatte weißblond toupierte Haare und senkrechte Ballonbrüste an rundlich wulstigen Körperformen, die auf spitz zulaufenden Beinen standen.

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KAPITEL03  SZENE 04:  DAS FELD

›So etwas kann die Natur nicht erschaffen haben!‹, sage er zu sich selbst. Und als könnte der fliehende Okuhila seine Gedanken lesen, hörte man ihn aus der Ferne: »Ich war immer für Naturwissenschaft gewesen. Jetzt habe ich den Beleg, dass sie ein Irrweg gewesen ist.« Dieses Wesen war eine Kreuzung von etwas, das man nicht mischen durfte. Dabei sollte und wollte es wohl schön sein. Das steigerte seine perverse Hässlichkeit. Doch noch grausamer war der Anblick, als es für einen Moment zu ihm hinüberblickte. Es hatte kaum ein Gesicht. Denn dieses war wie nicht zu Ende gedacht, nicht fertig geworden. Dort, wo ein Antlitz hätte sein müssen, gab es nur eine Unschärfe. Und so plötzlich wie es aufgetaucht war, hatte es sich auch wieder aufgelöst. Auch Alfred hatte sich erschrocken. Er rief wütend aus: »Bronsky!«, und dann kam ihm der Gedanke: ›Er geht zu weit!‹ »Das ist Bronsky?« »Nein, das war nicht Bronsky. Das war eine Täuschung.« Dabei dachte Alfred: ›Das ist doch dieselbe Ausgeburt schlechten Geschmacks, die ich selber schon einmal bei dem Experiment ertragen musste.‹ Affirmativ wiederholte er:

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»Nur eine Täuschung! So etwas kann hier passieren.« Paul atmete tief durch. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig. Er spürte Alfreds festeren Griff an seiner Schulter, so als wollte er ihn beschwören, nicht noch einmal in Panik zu geraten. Paul ließ seinen Kopf nach hinten fallen, nahm einen tiefen Atemzug und schloss ein wenig die Augen. Durch die halb geschlossenen Augen beobachtete er, wie Licht und Schatten der gleitenden Wolken in schlierenden Gebilden ineinanderflossen. Dann sank er tiefer, genoss die Abwesenheit konkreter Gebilde und die Auflösung des Gedachten. Da war nur noch das Schauen selbst, das wie eingelassen war in eine feine unsichtbare Energie. Und auch die Angst war bald verschwunden. Es schien für Paul dieselbe Energie zu sein, die er auch an seinen Fingerspitzen gespürt hatte. Sie war leicht und hell und wie als ob da Engel wären, die mit ihm spielen wollten. Und eigentlich war da nichts und auch er selbst war kaum mehr da. Nach einer halben Stunde standen sie auf. Paul war zu einem Entschluss gekommen. Diese Ruhe und Gelassenheit sollte ihm nicht mehr ganz genommen werden. Gefaßter, ja neutraler und freier von Vorurteilen wollte er nun den Überraschungen entgegentreten, die hier noch auf ihn warteten.

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KAPITEL03  SZENE 05:  AM AKKUMULATOR

AM AKKUMULATOR

Sie wanderten die Serpentinen

nach oben. Jedes Mal, wenn sich das Gebäude hinter einem Baum oder einem Felsvorsprung zeigte, war es ein Stück größer geworden. Mit der letzten Umrundung war es bis auf einige dutzend Meter herangerückt. Glücklicherweise, denn selbst hier oben war es heiß geworden. Mal hoben Zirpen zu ihrem Gesang an, mal rauschten die Bäume wieder etwas lauter. Wenn es still war, hörte Paul das feine Summen. Er blickte auf das strahlende Gebirge, den trunkenen Himmel. Er war für Augenblicke wie betäubt von diesem Andrang aus Licht und Unendlichkeit. Er schwankte. Es war dieselbe singende und alles durchdringende, rauschende Klarheit, die ihn schon am Morgen überrascht hatte. Alfred lief Paul ein paar Meter voraus. Er drehte sich unvermittelt um und gab voller Inbrunst und beinahe gellend von sich: »Ich werde hier nicht mehr weggehen. Ich werde nicht mehr in diese sogenannte moderne Zivilisation reisen! Ich werde mich nicht mehr in diesen Irrsinn begeben! Du denkst vielleicht, ich bin ebenso verrückt wie dieser Pieschke. Ich kann den armen Mann verstehen. Ich reise nirgends mehr hin. Ich würde zu viele Verrückte sehen, die beginnen, in ihrem Angst erzeugten Vakuum durchzudrehen. Angst, Angst, Angst! Das ist ihre Triebkraft. Und was verbirgt sich

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hinter dieser Angst? Trennung. Isolation! Ego! Ich gegen den Rest der Welt! Das ist das Trauma! Tausend Jahre Trauma! Der ganze Fortschritt, nur um dieses Trauma zu überwinden. Ich weiß, ich übertreibe. Ich fahre einen Traktor. Ich habe ein Handy. Wie auch immer. Es geht mir hier um das grundsätzlich Verkehrte. Und wie kannst du dieses kollektive Trauma überwinden? Du musst das Getrenntsein überwinden!« Er war stehen geblieben und wartete, bis Paul zu ihm hinaufgestiegen war. Er streckte seine beiden Arme aus und spreizte die Finger. »Spürst du das Feld, in dem du dich bewegst? Du kannst es hören, wenn du willst. Du bist ein Teil von dieser Energie. Sie ist nicht messbar, aber sie ist evident! Erfahrung ist unendlich und viel komplexer als Messung. Wir haben verlernt, unseren Erfahrungen zu vertrauen. Wie soll ich dir etwas erklären, wenn du es nicht erfahren möchtest?« ›Schön ruhig bleiben!‹, sagte Paul zu sich. Hier hatte er zum ersten Mal die Gelegenheit, sich in Gelassenheit zu üben. Wenn die Anderen durchdrehten, kam es vor allem darauf an, sich nicht von ihnen anstecken zu lassen. So wollte er auch nicht sofort reagieren, sondern seine Antwort erst mal in Ruhe überdenken. Er erinnerte sich an die feinen

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KAPITEL03  SZENE 06:  ENERGIEPULSATIONEN IM BEWUSSTSEINSÄTHER

und kräuselnden Bewegungen auf seinen Fingerkuppen, an das Summen im Ohr, an die seltsame Inwendigkeit der Bilder. Es schien ihm, als ob sich all das Feste und Sichere auflösen wollte. All das machte ihm zwar immer noch Angst, aber es war auch eine interessante Erfahrung. In gewisser Weise musste er Alfred sogar Recht geben. »Sei bereit zu sehen, dass die Dinge anders sind als du denkst. Dann wirst du sie erleben!« »Ja, ja, das tue ich. Kein Problem.«, gab er zurück. ›Alles ganz easy!‹, sagte er zu sich. Alfred schaute irritiert zu Paul herüber. Soviel Abgeklärtheit hatte er nicht erwartet. Dann drehte er Paul den Rücken zu und kraxelte die letzten Meter zu dem Gebäude hinauf. Sie gelangten an eine ausgebaute Treppe. Die Stufen führten zu einer flachen Ebene, die mit hölzernen Verstrebungen überdacht war. Getragen wurde das Dach von dicken, säulenartigen Holzstämmen. Sie durchschritten diesen nach Kiefern duftenden, weitläufigen Vorbau und kamen an eine große Tür. Alfred zeigte auf die Wand, die unmittelbar vor Ihnen stand. »Diese Wände können Energie ins Innere des Gebäudes leiten. Sie absorbieren die Energie. Ich sage nur: »Wilhelm Reich«. Der Name reicht. Wir erhöhen jetzt den telepathischen Anteil unserer Kommunikation.«

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Kurz nachdem Alfred dies gesagt hatte, konnte man ein lautes Knistern und Klopfen vernehmen, als hätte jemand eine Musikanlage angeschaltet und dann gegen ein Mikrofon geklopft. Und tatsächlich, nach einigen Sekunden hörten sie dieselbe Stimme, die sie zuvor hinter Bäumen und Büschen verfolgt hatte. »Was heißt denn »telepathisch?« Doch nur, dass ich mein Gebabbel nicht beweisen kann. Und was heißt denn »unsere« Kommunikation?«

Hier redet doch

immer nur einer! Ich bin nicht imstande, irgendeine Größe anzuerkennen, welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist.« Alfred schaute verblüfft. »Wer hat dir das Megafon gegeben?« »Ah, sie können mich verstehen, Herr Hesse? Ich hatte befürchtet, zu hoch, zu gewaltig ist das, was ich hier zu sagen habe.« Alfred drehte sich mit einem verzweifelten Blick zu Paul. »Die Show zieht er ab, weil ich heute mal einen Gast dabei habe.« Kurz darauf dröhnte es von oben: »Ich jedenfalls kann sie kaum verstehen. Zu klein, zu unbedeutend, zu eselhaft ist, was sie von sich geben.« »Sie haben mich doch gerade ganz gut gehört?«, ent-

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KAPITEL03  SZENE 05:  AM AKKUMULATOR

gegnete Alfred. »Viel mehr als gehört. Ich habe sie gewittert! Ich habe ihre unlauteren Gedanken gerochen, bevor sie überhaupt angefangen haben zu reden. Vermutlich besitze ich die feinste Nase, die jemals ein Mensch besessen hat. Ich rieche Unredlichkeit hundert Meter gegen den Wind.« Dann fügte der Fremde in einem predigenden Tonfall hinzu: »Viel krankhaftes Volk gibt es jetzt unter euch, welche dichten und gottsüchtig sind, wütend hasst ihr den Erkennenden und die jüngste meiner Tugenden, welche da heißt: Redlichkeit!« Dann wendete sich die Stimme mit Nachdruck an Alfred: »Ihre Unredlichkeit verbreitet einen süßlichen Duft. Schwache Naturen mag dies betören. Ich würde es mir nie verzeihen, in ihren Dunstkreis einzutreten. Meine Instinktnatur würde rebellieren. Verstehen sie jetzt, weshalb ich es vorziehe, über ein Megafon mit ihnen zu kommunizieren?« »Wo bist du denn überhaupt?« Alfred versuchte, durch die Holzplanken zu lugen. Er lauschte gespannt in die eintretende Stille. Dann polterte es nicht weit entfernt über ihm aus dem Megafon heraus:

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»Ich bin dort, wo vielleicht noch nie ein Mensch gewesen ist. In Gesellschaft auserwähltester Einsichten. Sie fliegen mir zu, sie umschwärmen mich, sie werden angezogen von meinem Geist. Und ich sage dir, das ist nicht die Kost, die ein Schwarmgeist wie du gut vertragen kann. Hundert Jahre von Hygiene gegen sich selbst, von Disziplin und Wahrhaftigkeit würden nicht ausreichen, um auch nur annähernd zu ermessen, was es bedeutet, mit sich im Reinen zu sein.« Das Trampeln war nun unmittelbar über Ihnen zu hören. Für einen Augenblick war es still. Dann donnerte es erneut und direkt über den beiden von oben hinab: »Was dir am meisten abgeht, ist der Trieb nach Helle und Heiterkeit, nach Nüchternheit und Genauigkeit beim

Feststellen

von

Sachverhalten.

Wilhelm

Reich...? Was der behauptet hat, ist widerlegt. Und zwar durch Messungen! In jedem Geigerzähler steckt mehr Wahrhaftigkeit.« Alfred blaffte nun ebenso laut zurück: »Ich habe doch nie behauptet, dass diese Energie gemessen werden kann, außer durch einen selbst.« Zu Paul gewendet, fügte Alfred mit leiser und aufgeregter Stimme hinzu: »Er sitzt auf dem Vordach. Von dort kommt er nicht

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KAPITEL03  SZENE 05:  AM AKKUMULATOR

weiter. Im Gebäude haben wir Ruhe.« Das musste der Philosoph vernommen haben. »Keinesfalls! Ich sitze nie. Ich springe gemsengleich von Einsicht zu Einsicht, erhasche das Tiefste, was ein Mensch denken kann, wie im Flug, denn... Mit den Vöglein lernt ich fliegen!« Das Holzdach erzitterte erneut unter dem dumpfen Gepolter seiner schweren Schritte. »Dies vor allem gehört zu meiner Reinlichkeit im Denken. Ich habe nie etwas zurückgehalten, was gegen meine Gedanken gedacht werden konnte. Jeden Tag habe ich einen Feldzug gegen mich selbst geführt. Man hatte mir vom Glück der Erkenntnis vorgeflötet. Jetzt, wo ich die Seligkeit des Unglücks der Erkenntnis kenne, bin ich da in Sorge? Keineswegs! Mich gelüstet nach mehr Enttäuschung, nach Entschleierung, nach Wahrhaftigkeit! Dies ist mir ein aphrodisischer Trieb, meine... »Passio Nova«!« Alfred sah mit einem gequälten Grinsen zu Paul herüber und bemerkte unter vorgehaltener Hand: »»Passio Nova« Volli...«, da wurde er schon unterbrochen. »Eine tiefe Abscheu befällt mich vor allem, was glauben machen will, vor allem was schwärmt! Zu so etwas wie Mitgefühl bin ich zum Glück nicht mehr imstande...«

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Die Szene kam Paul allen seinen festen Absichten zum Trotz,

furchterregend vor. Alfred deutete an,

dass er ihm alles erklären würde. Im Augenblick war er vordringlich damit beschäftigt, so schnell wie möglich mit ihm in das Gebäude zu gelangen. »Hoffentlich fängt er nicht mit seinem plärrenden Gesang an.« Die Schritte waren wieder näher gekommen. »Hey Hesse, du bist doch Hesse...?« »Was ist...?« »Dass Goethe in Frankfurt aufgewachsen ist und dennoch Kosmopolit wurde, das ist vielleicht der stärkste Beweis für sein Genie. Ich habe mich nie darüber irren können, weshalb gerade bei euch die höchsten Häuser zu finden sind. Man muss dafür nicht einmal Psychologe sein. Jedenfalls nicht von dem Kaliber wie ich es bin. Nur Flachköpfe bauen hoch, um über sich selbst hinaus zu kommen!« Es gab einen kurzen Aufschrei. Der Brüllaffe hatte sich flachgelegt, unter Fluchen wieder erhoben und nun winselte er in weinerlichem Ton. »Bitte, Herr Hesse, zumindest in diesem Punkt sind wir uns einig? Oder?« Die Planken knarrten über ihren Köpfen und die Silhouette eines menschlichen Schattens huschte über die beiden hinweg. Alfred rief zu ihm hoch:

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KAPITEL03  SZENE 05:  AM AKKUMULATOR

»Wir sind uns einig. Wenn du mich jetzt in Ruhe lassen könntest. Ich habe Besuch.« Für einen Augenblick war es still. »Besuch? Dann möchte ich deinem Besuch noch etwas mit auf den Weg geben. Dass ihr mich Recht versteht, nicht aus Nächstenliebe, sondern aus einem Bedürfnis nach Teilhabe an meinem Geschick, an meiner Größe.« Wieder war es ein paar Sekunden still. Der Seltsame schien sich auf etwas zu konzentrieren, dann deklamierte er: »In diesem Lande reist man jetzt nicht gut. Und hast du Geist, sei doppelt auf der Hut. Man lockt und liebt dich, bis man dich zerreißt. Schwarmgeister sind´s, da fehlt es stets an Geist!« Alfred sah sauer aus. Doch dann fing er an zu applaudieren. »Na großartig. »Lockt und liebt dich.« Was für ein dämliches und melodramatisches Bild. Und dann »zerreißt«, als ob hier schon irgendjemand zerrissen wurde. Zuletzt noch »doppelt auf der Hut«. Dann seien sie mal »doppelt auf der Hut«. Wie sieht denn so etwas aus? Ich will mir nicht ausmalen, wie albern und lächerlich das aussehen muss! Dieser Spruch ist das Armseligste und das Bemitleidenswerteste, was ich seit langem gehört habe!«

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Wieder wurde es still. Seltsam tonlos und ohne Megafon rieselte es von oben auf die beiden nieder: »Mir scheint es doch so zu sein, dass allein durch mein Dasein sich alles sofort empört, was schlechtes Blut in sich trägt.« Der Fremde musste zur Säule erstarrt sein. So still war es darauf geworden.

ENERGIEPULSATIONEN IM BEWUSSTSEINSÄTHER Alfred war bedrückt, als er mit Paul den Raum betrat. Pieschke hatte auch ihn aus dem Konzept gebracht und in ihm ein ungutes Gefühl hinterlassen, doch wollte er den abgerissenen Gesprächsfaden unbedingt wieder aufnehmen. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Wilhelm Reich! Er hatte herausgefunden, dass es erfahrbare Phänomene im Hinblick auf Lebensenergie gibt. Er nannte diese Lebensenergie Orgon. Du kannst diese Energie spüren. Du kannst sie sogar sehen. Es sind feinste Bewegungen in der Luft. Kleine tanzende und kreisende Punkte. Reich nannte sie Kreiselwellen.« Paul hatte kaum hingehört. Der Raum hatte seine Aufmerksamkeit gefangen genommen. Es war ein großer, runder Raum, über dem sich eine hohe Decke wölbte. Alfred führte Paul zu einem der sechs spitz zulaufenden und glasüberdachten Seitenräume.

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KAPITEL03  SZENE 06:  ENERGIEPULSATIONEN IM BEWUSSTSEINSÄTHER

»Wenn du das Gebäude von oben betrachten würdest, dann könntest du in seinem Grundriss einen Davidstern erkennen. Noch richtiger wäre es, du würdest darin die Darstellung einer »Mer Ka Ba« erkennen. Nur kann ich dir jetzt nicht so schnell erklären, was damit gemeint ist.« Beide schauten nach oben. Alfred meinte, dass in diesem lichtdurchfluteten Seitengebäude besonders viele Kreiselwellen zu sehen seien. Und als Paul beim Hinaufschauen nichts Bestimmtes fokussierte, da schien es ihm, als würden tatsächlich vor dem milchig durchscheinenden Himmel unzählige, winzi-

Der Begriff Merkaba kommt aus dem Altägyptischen und Hebreischen und bedeutet so viel wie Lichtfahrzeug In meditativen Praktiken ist damit die Aktivierung von zwei gegenläufigen platonischen Tetraedern gemeint, die Teil unseres energetischen Feldes sind. Schwer vorstellbar oder? Aber es gibt Menschen, denen die Aktivierung ihrer Merkaba gelungen zu sein scheint. Das Internet ist voll von Angeboten dies selber zu erlernen.

ge Glitzerpunkte umeinander tanzen. Während Alfred an einer Wand eine kleine Tür geöffnet hatte, erkundete Paul das Innere des Gebäudes. Alfred schloss die Tür an der Wandverkleidung wieder und ging zu Paul. Er erklärte, dass dem Gebilde auf dem Boden alte und als heilig erachtete geometrische Berechnungen zugrunde lagen. An der Decke erblickte Paul ein Muster, dass sich aus sich wiederholenden Kreisformen zusammensetzte. Die Kreise überlagerten sich und die Schnittflächen sahen aus wie Blütenblätter. Alfred bezeichnete das da-

253 www.mehrlebensfreu.de/cms/service/presse-videos www.vimeo.com/6721901 (Nassim Haramein)


durch entstandene florale Muster als »Blume des Lebens«. An bestimmten Stellen auf dem Boden sah Paul Markierungen, die nach Alfreds Aussage wichtige Planetenkonstellationen darstellten. Dadurch, so meinte Alfred, würde dieser Ort mit dem Kosmos in Resonanz gehen. Vor allem würde dadurch der Eindruck entstehen, dass man sich in einer weitaus größeren Dimension befand, sobald man das Gebäude betrat. Das Erstaunlichste an dem Raum aber war, das alles miteinander in Beziehung stand. Aus der Blume des Lebens ließen sich die geometrischen Formationen auf dem Boden ableiten, die wiederum die mathematischen Maßverhältnisse der Planetenkonstellationen sichtbar machten, die wiederum nur eine makrokosmische Analogie innerer Verfassungen darstellten, die man sogar nachempfinden konnte, wenn man sich mit den Füßen darauf stellte. »Dieser Raum entspricht auch der Art und Weise, wie ich zu denken begonnen habe. Ich fing an einem bestimmten Punkt an, entdeckte immer wieder neue Zusammenhänge, Spiegelungen und ähnliche Gesetzmäßigkeiten. Es ist inzwischen eigentlich kein Denken mehr. Es ist eine Art »Schauen«, eine Zusammenschau der Dinge.« Paul verfolgte Alfreds Ausführungen mit gespannter Aufmerksamkeit, doch spürte er auch, wie sein

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KAPITEL03  SZENE 06:  ENERGIEPULSATIONEN IM BEWUSSTSEINSÄTHER

Herz zu klopfen begonnen hatte. So als wollte er eine Panik unterdrücken, die sein Körper längst registriert hatte. Ihm gingen Sätze durch den Kopf wie: ›In diesem Lande reist man jetzt nicht gut.‹ und

›Vorsicht

vor

gefährlichen

Schwarmgeistern.‹ Er vernahm jetzt ein dumpfes Grollen, das von der rückliegenden Wand kam. Nach wenigen Sekunden hörte er ein zischendes Geräusch. Das Wasser strömte in ein rundes Becken, das sich in der Mitte des Raumes befand. Sie gingen hinab an den Rand des Beckens. Das von oben einfallende Licht wurde durch die wild zirkulierenden Wasser-

DIe Blume des Lebens besteht in ihrer vollständigen Form aus neunzehn ineinander geschobenen Kreisen. Sie ist in vielen Kulturen als schützendes und energetisierendes Zeichen und Mandala bekannt. Aus ihrer Struktur lassen sich die beiden gegenläufigen Tetraeder der Mer ka ba, der Baum des Lebens, der Metratron Würfel, die platonsichen Körper und noch viele weitere Zeichen herauskonstruieren.. Auf die zugrunde liegende Geometrie beziehen sich auch verschiedene Kirchen- und Tempelbauten.

strudel reflektiert und von dort aus an die Wände geworfen. »Sieht fantastisch aus!«, meinte Paul. Durch die rasenden Reflexionen wurde der Eindruck verstärkt, dass man sich in der Mitte eines sich drehenden Universums befand, in das man endgültig hineingelangte, wenn man den Mut aufbrachte, in das Becken zu steigen. Sein Onkel stand ein paar Stufen tiefer und fasste mit der Hand in das wirbelnde Wasser. Er zog die Hand wieder hinaus und winkelte seinen Oberarm an.

255 http://stevenblack.wordpress.com/2013/02/08/genesisund-heilige-geometrie/


»Siehst du, wie lebendig es ist? Dein Körper besitzt genug Intelligenz, um den Unterschied zu schmecken. Auch ein Hund würde dieses Wasser vorziehen. Viktor Schauberger hatte zu derartigen Phänomenen Forschungen angestellt. Du kannst zwischen Reich und Schauberger viele Ähnlichkeiten entdecken.« Dann führte er entschlossen weiter aus: »Schauberger beschrieb dieselben Phänomene wie Wilhelm Reich. Reich sprach von »natürlichen Energiepulsationen«. Schauberger sprach von »lebensnahen und naturrichtigen Energien«. Er hatte Forellen beobachtet und sich gefragt, wie es ihnen gelingt, ohne Anstrengung gegen den Strom zu schwimmen. Er hatte gesehen, wie sie die dem Wasser innewohnenden Auftriebskräfte nutzten. Er nannte diese Levitationskräfte. Es ist nur ein kleiner Schritt zu Levitationsflugkreiseln oder zu den immer noch geheim gehaltenen Technologien der Energiegewinnung. Es ist letztendlich dieselbe Energie, die auch der geniale Nikola Tesla nutzen wollte. In vielen Fällen benötigst du nur eine geringe Menge an Anschubenergie, um diese unerschöpfliche Ressource zu nutzen. Egal, ob du das mit Schaubergers Repulsine, Reichs Akkumulator oder Teslas Spulen machst.« Er hatte sich in Begeisterung geredet, doch auf einmal hielt er inne. Dann sprach er leise weiter:

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KAPITEL03  SZENE 06:  ENERGIEPULSATIONEN IM BEWUSSTSEINSÄTHER

»Tesla war es gelungen, eine kostenlose und umweltgerechte Form der Energieversorgung zu entwickeln. Doch seine profitgierigen Widersacher hatten ihn daran gehindert, seine Ideen zu veröffentlichen!« Das Wasser rauschte, das Licht kreiste in wild durcheinander schwingenden Schlieren im Raum. Es war ein tolles Schauspiel, doch Alfreds Gesichtsausdruck hatte sich geändert. Er war nachdenklich geworden. »Ich bin Yogis begegnet, die diese Energien nutzen konnten. Sie konnten ohne Nahrung auskommen. Sie konnten heilen. Sie konnten materialisieren.« Alfred machte ein Gesicht, als wäre eine alte und schlimme Erinnerung in ihm aufgestiegen. »Dieser Zustand verlangt von dir, dass du in der absoluten Hingabe bist. Jede Selbstbezüglichkeit stört. Jede Eigensucht zerstört. Demut ist deine einzige Rettung!« Paul empfand eine unerklärliche Aufregung und dachte: ›Worauf will er hinaus? Was ist schiefgelaufen?‹ Alfred war zu dem Schalterkasten gegangen. Die wilden Kreise im Becken verlangsamten, die Lichtwellen an der Wand beruhigten sich. Sie schwankten in immer größeren Intervallen und schaukelten alsbald nur noch sanft vor sich hin. Alfred führte Paul zum Ausgang.

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Die Blume des Lebens wird von vielen alten Kulturen als Grundlage allen Lebens betrachtet. Ihre geoemetrische Herleitung steht gleichnishaft für die Entstehung der Welt. Und von allen Gestaltungen ist sie diejenige, die sich am unmittelbarsten dem Nichts entfaltet: Oder aus dem Nullpunktfeld, oder aus der großen Leere. Wenn man alle geometrischen Ableitungen und Zusammenhänge zusammen nimmt und die Form mancher Kornkreise mit hinein (deren Entstehung sich gewissenhafte Wissenschaftler nicht mehr mit menschlichem Einwirken erklären können und die wiederum in vielen Fällen auf diesen »heiligen« Geometrien beruhen), dann muss man staunen über die „Wunder der Natur“, wie dies ein Forscher einmal politisch-wissenschaftlich korrekt ausdrückte. Für Alfred stellt der Rückgriff auf diese besonderen Geometrien den Versuch dar, den Ort in eine höhere Ordnung hinein zu stellen, in der es nicht nur um die Erkentniss der Zusammhänge geht, sondern auch um die Erfahrung ihrer psychisch-physischen Wirkmächtigkeit.

Drunvalo Melchizedek Viele Quellen zu diesem Themenkreises (Geometrie, Kornkreise etc.) beziehen sich auf die Forschungen von Drunvalo Melchizedek, der viele Zusammenhänge in seinen Büchern seit den neunziger Jahren aufgezeigt hat. Ähnlich wie Ken Wilber gehört er zu den Vertretern einer »integralen und ganzheitlichen Wissenschaft«, die allerdings als solche von denen, die sie offiziell vertreten, ignoriert wird.

258 www.youtube.com/watch?v=pIIH9W-xEyc www.youtube.com/watch?v=3FjwHJraivc


CHRUCH OF LIGHT ODER DIE IDEE VON DER EXISTENZ ALS ESSENZ

Der Akkumulator, so wie beschrieben, kรถnnte durchaus die Form eines Kornkreises haben. Zumindestens kommen einige Kornkreise der gedachten Form sehr nahe.

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»Wir hatten die Rückkopplungseffekte unterschätzt, den unauflösbaren Zusammenhang von Beobachter und Beobachtung.« Aus dem Mann, der so viel von Energie gesprochen hatte, schien alle Kraft entschwunden zu sein. Sein Gesicht war fahl geworden, sein Körper kraftlos und in seinen Augen sah Paul zum ersten Mal so etwas wie Angst. »Und wissen wir, dass wir die Guten sind? Sind wir frei von Egoismus und dem Streben nach Ruhm?« Alfred blickte sich wie ein Fremder in dem Raum um, in dem seine Visionen verwirklicht worden waren. »Wir konnten die Wirkungen nicht genau berechnen. Wir konnten die Ergebnisse nicht messen. Wir konnten nur unsere Absichten hinterfragen. Geld war im Spiel. Geltungssucht. Gewinnstreben.« Er schwieg, während sie sich langsam zum Ausgang bewegten. Alfred hatte wieder diese schrecklichen Bilder vor sich gesehen und Fragen kreisten in seinem Kopf. ›Hat Bronsky überdosiert oder ist es nur ein unbekannter Koppelungseffekt innerhalb unterschiedlicher Dosierungen?‹ Menschen waren umgekommen und das war vertuscht worden. Das Geschehen an diesem Ort, an dem alles so großartig begonnen hatte, war damals an einen Wendepunkt gekommen.

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KAPITEL03  SZENE 07:  DER FORM SO SATT

DER FORM SO SATT Alfred drehte sich der Kopf, nachdem sie wieder ins Freie getreten waren. Er dachte an den gewaltigen Aufwand, dachte an die seltenen und wertvollen Materialien, an die komplexen Berechnungen, die Fibonacci Reihen und platonischen Körper. Er dachte daran, dass sie sich an Erdmeridianen und Kraftlinien orientiert hatten, dass sie die Wasser des Hochgebirges verwirbelt, magnetisiert und informiert hatten. Und zuletzt gedachte er der Formen selbst: ›Durch sie erst werden die Ideen sinnlich. Sie sind das Korrelat zu intellektueller Anschauung und höherer Vernunft.‹ Er war aus der Tür getreten und hatte sich nach ein paar Metern in der Vorhalle auf den Boden gelegt. Er blickte erschöpft nach oben. Da war nicht viel mehr als eine Reihung von Balken, zwischen denen das Blattwerk in der Sonne schimmerte. Und dahinter dieses allumfassende Blau. ›Immerhin, die Sonne schafft noch einigen Zauber‹, dachte er. Aber das Innere des Gebäudes war ihm wie zu einem Albtraum geworden. Nicht nur wegen der tragischen Ereignisse. Die perfektionistische Vereinigung esoterischer Gestaltungsprinzipien hatte dieses Gebäude auch eng und eklektizistisch gemacht. Er spürte die ganze niederschlagende Vergeblichkeit seiner auf Transzendenz abzielenden und einsamen Bemühungen. ›Wären wir doch nur

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bei dem geblieben, was ganz unbedenklich ist: Weihrauch oder Weihwasser. Aber nein! Wir wollten das Unmögliche! Wir wollten einen Bewusstseinserweiterungsapparat, eine Weltverbesserungsmaschine bauen.‹ Alfred versuchte, seinen Schädel zu massieren, indem er ihn auf den Planken erst zur einen und dann zur anderen Seite drehte. ›Hybris, Wahn, Vermessenheit!‹ schimpfte es in ihm. Er schaute durch die Planken. Der Himmel darüber erschien ihm so weit und frei in seiner Gestaltlosigkeit. ›Die Natur ist vollkommen. Weshalb sich anstrengen, wenn alles schon vollkommen ist?‹ Irgendetwas hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er versuchte zu verstehen. Er haderte mit sich und suchte nach den Ursachen für sein Leid. ›Ich leide an Formanhaftung, an Formwichserei!‹ So viele Dinge konnte er hinter sich lassen. Nur eben nicht diesen Willen, selbst etwas Formvollendetes zu schaffen. Und es waren nicht nur die geschaffenen Formen. Er hing auch an all den anderen natürlichen, kreatürlichen und weiblichen Formen. Sein Neffe hatte sich neben ihm niedergelassen. Alfred sah zu ihm herüber. »Aus einem Ästheten wird nie ein Asket. Du verstehst, was ich meine?« »Nein, ich verstehe nicht.«

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KAPITEL03  SZENE 07:  DER FORM SO SATT

Paul hatte sich ebenfalls auf den Rücken gelegt und seine Gliedmaßen von sich gestreckt. Auch er lag einfach nur da und betrachtete, wie der Himmel streifenweise und von Blattwerk durchrankt hinter dem Holzdach sichtbar wurde. Er drehte sich zu seinem Onkel und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich gehe mal davon aus, dass auch hier einiges nicht ganz real ist. Oder?« Alfred schmunzelte. »Realer als du dir vorstellen kannst. Das hier ist wirklich echt.« Alfred nickte ein paar Mal, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann fügte er hinzu: »Hier ist es wie in einem Samadhitank. Nur ohne Salzwasserlake.« Paul atmete tief und langsam ein. Diese effektive Technik der Tiefenentspannung hatte er sich hier erstaunlich schnell angeeignet. Er atmete den Wind, den Himmel, die Berge. Er wendete sich zu Alfred. »Du siehst schon etwas entspannter aus.« »Mir geht es gut.« Paul war es, als hätte er den Satz nur in seinem Kopf gehört. Dann schaute er wieder in den flirrenden Himmel, der sich über dem Dach aufspannte. Er erinnerte sich daran, dass ihm der Himmel schon einmal so erschienen war: So erfüllt! Er hob einen

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Unterarm nach oben und spreizte die Finger. Er spürte ein Kribbeln an den Fingerspitzen. Es fühlte sich an, als sei er mit feinen Energiefädena verbunden, als wären seine Fingerkuppen Antennen, mit denen er das Wirkliche hinter dem Wirklichen ertasten konnte. In ihm stiegen Erinnerungen aus seiner Kindheit auf. Ausgerechnet Daniel Düsentrieb. Der war auf einmal wieder da. ›Der konnte so wunderbar durch den Äther fliegen!‹ Paul blinzelte ins Blau. Oben schienen die neuesten Erfindungen und die mehr vergeistigten Nachkommen von Düsentrieb, schienen flügelnde Wesenheiten mit propellerartigen Gebilden zwischen bunten Orgonpunkten ihre Runden zu ziehen. »Der Himmel ist voll von unterschiedlichstem Zeugs!« Alfred nickte. »Entitäten. Monadische Formationen.« »Ach ja«, erwiderte Paul. »Aber du weißt, was ich meine?« »Das kommt und geht. Mach dir nichts draus.« »Es ist jedenfalls sehr schön.« »Das ist es.« Die milden Winde streiften gleichmäßig über Pauls Körper. Und als er die Augen schloss, schienen alle Probleme in diesen Winden zu verschwinden. Das gedämpfte und späte Licht malte in warmen und

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KAPITEL03  SZENE 08:  FRIEDLICH UND FRIEDERICH

sanften Farben. Er hatte so viel gesehen und gehört, dass es ihm unmöglich schien, darüber irgendetwas nachzudenken.

FRIEDLICH UND FRIEDERICH Die Holzplanken begannen zu vibrieren und ein rollendes Geräusch wurde in der Ferne vernehmbar. Als Paul aufblickte, konnte er am Horizont zwei Gestalten ausmachen. Eine Person schob eine andere in einem Rollstuhl. Die gehende Person war von kräftiger Statur und mittleren Alters. Die sitzende Person war von grazilem Körperbau und schien so um die dreissig zu sein. Der ältere Mann hatte lange, glatte Haare, die er hinter dem Nacken etwas zusammengeschoben hatte. Er trug eine Brille mit dicken, leicht getönten Gläsern und einen schnauzerartigen Oberlippenbart. Es war nicht schwer zu erkennen, dass es sich bei diesem um diese »philosophierende Perücke« handeln musste. Nur dass er selbige nun nicht mehr trug. Bei der sitzenden Person fielen Paul die Augen auf. Sie waren wasserblau und sie leuchteten. Alfred war aufgestanden. Paul folgte ihm. Der Bärtige ergriff zuerst das Wort und stellte sich vor: »Der fröhliche Wissenschaftler.« Dabei schob er seinen Blazer zur Seite, so dass man Gleichnamiges auf seinem T-Shirt lesen konnte.

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»Ich bin zudem der erste Europäer, überhaupt der erste Mensch, der diese Bezeichnung wirklich verdient. Wobei für mich das, was die meisten unter »Mensch« verstehen, längst als überwunden gilt«. Außerdem, so erzählte der Bärtige, wäre er Freigeist und Immoralist, manchmal auch der Gekreuzigte, Dionysos oder das Schicksal schlechthin. »Man lebt vor mir, man lebt nach mir. Ich habe die Geschichte in zwei Hälften geteilt. Ich glaube, jetzt ahnen sie, um wen es sich in meinem Fall handelt.« Dann zeigte er auf den Jüngling im Rollstuhl. »Scardanelli. Ich bin aus diesem Namen nie schlau geworden. Ich nenne ihn Holger Spleen.« »Danke«, erwiderte der Sitzende. »Dann bist du für mich Friederich Pieschke.« »Meinetwegen« Der Bärtige machte einen Schritt nach vorne, streckte seine Hand nach Paul aus und stellte sich als Pieschke vor. Paul ergriff die Hand und bekam einen Schreck. Es war ihm, als wäre für einen Augenblick eine andere Person aus einer Verkleidung hervorgetreten. »Aber dann Dr. Pieschke bitte! Das beste wäre, wenn Sie uns einfach nur Friedlich und Friederich nennen.« Der Sitzende deutete auf den Stehenden: »Friederich der Tolle«

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»Einverstanden«, antwortete dieser und deutete auf den Sitzenden: »Friedlich der Holde« Es war dieselbe Stimme, die vom Dach herunter geblökt hatte. Nur war sie diesmal leise, beinahe sanft, aber nicht weniger spöttisch. Friederich Pieschke wandte sich zu Alfred. »Sie sind erschöpft. Das waren Frauen, vermute ich.« Er fasste sich an die Brust und deklamierte: »Sein Kopf war einst reich vor diesem Zeitvertreibe. Zum Teufel ging sein Geist? Nein! Nein! Zum Weibe!«. Alfred versuchte, dem Bärtigen einen Tritt zu versetzen. Der sprang jedoch schnell zur Seite und rief: »Ich fordere nicht viel! Als Immoralist! Aber vom Höheren zu reden und dabei den Trieben zu erliegen, das nenn` ich unanständig. Auch unanständig gegen sich selbst.« Der Mann im Rollstuhl schwieg, verfolgte aber gespannt die Unterredung. Die seltsame Atmosphäre, die jedes Geschehen noch zu verstärken schien, hatte sich gewandelt. Auch Paul hatte den Stimmungswechsel bemerkt. Und was hatten die Andeutungen des Immerfröhlichen zu bedeuten? Und was hatte ausgerechnet Alfred mit Frauen zu schaffen? »Lass uns die letzten Strahlen der Abendsonne genie-

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ßen.«, meinte Pieschke zu Spleen. Dabei drehte er Alfred und Paul den Rücken zu und wanderte zum Rand der weitläufigen Plattform. Alfred sah den beiden noch eine kurze Weile hinterher. Alfred begann in seinen Taschen zu wühlen. Nebenbei bemerkte er: »Aussteigen war mal. Das ist meine Generation. Du bist hier hergekommen, um wieder einzusteigen.« Er war immer noch ein wenig nervös. Er kramte einen verknüllten Beutel mit Tabak hervor und fing an, sich ein Zigarette zu drehen. Er steckte sich die Selbstgedrehte in den Mund und zündete sie an. Er nahm einen Zug, beugte sich nach vorn und prustete den Rauch nun schon zum zweiten Mal sofort wieder heraus. »Man, stinkt die fürchterlich.« »Weshalb stinkt die so extrem?«, fragte Paul. »Glaub mir, es liegt nicht an der Zigarette. Das ist das Verrückte hier. Und so ist es mit den Leuten, die hier herkommen. Es kann sein, dass sie vorher als normal galten. Hier aber wird das Problem sichtbar. Hier kommen die Probleme ans Licht. Die Atmosphäre hier wirkt wie ein Abführmittel, wie ein Brandbeschleuniger.« »Und was kommt bei denen da raus?«

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Paul zeigte in die Richtung, in die Pieschke und Spleen verschwunden waren. Alfred schwieg. Dann antwortete er: »Stell dir vor, du wärest in einem katholische Internat aufgewachsen. Was kommt raus?« »Katholizismus« »Genau« »Oder du wärest im Westen groß geworden. An was glaubt die materielle Welt?« »Also kommt bei denen, komm bei uns allen Kapitalismus raus?« Alfred musste feststellen, dass sein Vergleich zu vereinfachend gewesen war. »Also zum einen geht es sicher um den Ausverkauf der Ideologien. Alles muss raus. Aber eben alles. Auch die mehr subtilen Konditionierungen und alle Vorurteile. Und bei diesen beiden haben wir einen ganz besonderen Fall...« Alfred dachte nach. Wie sollte er das Besondere nur benennen. Zumal er selbst von diesem Besonderen betroffen war. »Das ist jetzt wirklich schwer.« Wieder schwieg er. »Weist du...ich kann Besetzungen an den Haaren erkennen.« »Besetzungen?«

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»Ja, die Vereinnahmung eines Geistes durch einen anderen Geist. Die Frisuren von Pieschke und Spleen sehen doch etwas altmodisch aus?« »Die Perücke war noch altmodischer.« »Gut, aber jetzt weißt du, was ich meine.« Alfred schaute zu Pieschke und Spleen hinüber, die mittlerweile

Besuch bekommen hatten. Viel-

leicht sollte er es mit einer Geschichte versuchen. »Die beiden hatten sich in Indien kennen gelernt. Pieschke hatte mitgehört, wie Spleen einem Swami erzählt hatte, dass sie auch in Deutschland einen Guru gehabt hätten. Sein Name wäre Hölderlin gewesen. Der Brahmane hatte gelacht und war gegangen. Pieschke kam aus seinem Versteck gekrochen und hatte Spleen darüber aufgeklärt, dass Gurus etwas längst Überwundenes wären, spätestens seit Nietzsche die Weltbühne betreten hätte. So trafen sich in Pieschke und Spleen – einhundert bis zweihundert Jahre später - Nietzsche und Hölderlin. Und trotz ihrer unterschiedlichen Meinungen und ihrer unterschiedlichen Besessenheit hatten sie sich angefreundet.« »Ja, das ist interessant.« Paul versuchte gleichmütig zu bleiben. »So weit ich weiß...«, führte Alfred weiter aus, »hat Pieschke über Nietzsche promoviert.« »Pieschke«, fing er an zu spekulieren, »war von Nietz-

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sche so sehr fasziniert, das er sich schicksalhaft mit ihm verbunden gefühlt hatte. Er fing an, die Dinge aus Nietzsches Sicht zu sehen. Und das käme bei der Lektüre Nietzsches gar nicht so selten vor.« Und nach einer kurzen Weile setzte er hinzu: »Es kann dir passieren, dass du dich von Nietzsches Aphorismen regelrecht berauscht fühlst. Du erliegst der gleichen Selbstverzauberung durch Gedanken, der Nietzsche selbst erlegen war. Was die ganze Sache schlimmer macht: Wenn du dich mit dem Schicksal seiner Vereinsamung zu identifizieren beginnst, wenn du die Einsamkeit als eine Auszeichnung ansiehst, weil die Anderen dich nicht mehr verstehen können. Dann beginnt der Dämon der Selbstüberheblichkeit, der Dämon der Selbstverblendung von dir Besitz zu ergreifen.« Paul wollte seinem Onkel diese Ausführungen zur Person Pieschke nicht abnehmen. Schließlich war es deutlich gewesen, dass Pieschke ein paar schlüpfrige Verdächtigungen gegen Alfred erhoben hatte. Da war es naheliegend, den Gegner zu diffamieren. ›Aber vielleicht werden hier tatsächlich Neurosen angetriggert? Möglich, dass dies sogar der einzige Weg ist, um frei zu werden?‹, mutmaßte er. Alfred hatte Paul mit einer Eindringlichkeit beobachtet, als könnte er seine Gedanken lesen. Nach einem Moment des Schweigens schien es, als wollte er

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an seine Ausführungen im Akkumulator noch einmal anknüpfen. »Erinnerst du dich an die kleinen Markierungen auf dem Boden? Sie wurden dort als Stellvertreter für bestimmte Planeten angebracht. So etwas gibt es auch für Menschen. Auch diese Methode funktioniert darüber, dass wir stellvertretend die Position der Leute einnehmen, deren emotionale Verstrickung lebendig gemacht werden soll. Wir fühlen so, wie die gestellten Personen damals gefühlt hatten. Worauf ich hinaus will ist, dass die Energie und das Wesen eines anderen Menschen für dich wirklich real werden kann. So wie für Pieschke Nietzsche real geworden ist. Er ist für ihn manchmal so sehr Nietzsche, wie Nietzsche wirklich Nietzsche gewesen ist!« »Aber wer war dann der Dämon?«, wollte Paul überfordert wissen. »Damit stellst du die Frage nach dem, wer Nietzsche noch! war.« Paul drehte sich der Kopf. In seinem Hirn ging er alle Möglichkeiten durch. Pieschke war nicht Pieschke, sondern war vorher jemand anderes. Dann wurde er zu Pieschke, weil er von der Vorstellung ergriffen wurde, Nietzsche zu sein. Aber eigentlich hatte ihn ein Dämon ergriffen. Derselbe, von dem vielleicht Nietzsche besessen war. ›Und was ist überhaupt ein Dämon?‹ Paul war verwirrt. Er schaute Alfred an. Der hatte diesen Irrsinn von sich gegeben. Und es

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war, als ob derselbe nun auf Alfred zurückschwappen würde. Da war kein Alfred, sondern nur eine Verdichtung von sich überlagernden und schnell wechselnden Figuren. Eine Zusammenballung von Energie, welche Gesten und Grimassen aussandte, die Paul nur noch mühsam als Alfred identifizieren konnte. »Halt!«, wollte er noch in diesem Moment tiefsten Erschreckens ausrufen. Ein Schwindel hatte ihn ergriffen. Er schloss die Augen. Für einen Moment schien alles wie weggeblasen, aber dann spürte er sich wieder, dann seine erhobene Hand und dann die Finger seiner Hand. Er öffnete die Augen und auch Alfred schien wieder normal geworden zu sein.

DENN ES KOMMT DIE ZEIT Wenn sein Bewusstsein still wurde, wenn sich in ihm der Raum weitete und Ruhe einkehrte, dann kam es ihm so vor, als würde zugleich Vergangenes und Zukünftiges gegenwärtig sein. Spleen hatte ein Gespür für Orte entwickelt, an denen er in diesem Zustand verweilen konnte. Unter anderem war dies der Park Sanssouci, der sich westlich von Potsdam weitläufig erstreckt. Er hatte noch vor einigen Jahren ganze Nachmittage in diesem Park verbracht. Oft saß er da auf der Terrasse des römischen Bades und blickte über einen kleinen Weiher hinweg. Hinter dem Weiher, der von ein paar mächtigen Bäumen umrandet wurde, konnte er das

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von Schinkel im römischen Stil entworfene Landhaus Charlottenhof gut erkennen. Von der Terrasse aus führte eine Treppe zum Ruheraum des römischen Bades. Dieser kleinen in Blau gehaltenen Halle waren vier dorische Säulen vorgelagert. Alles in allem befand sich Spleen in einer idealischen Landschaft, was Architektur und Park anbetraf. Und wenn sich sein Blick von all diesen wohlgeratenen Details löste und sich seine Wahrnehmung wie durch seinen Körper diffus und radial auszubreiten begann, dann konnte er die harmonische Gestimmtheit und die besondere Atmosphäre des Ortes sogar fühlen. Auch wurde an diesem Ort im achtzehnten Jahrhundert Geschichte geschrieben, deren weltgeschichtliche Bedeutung und alte Ausstrahlungskraft für ihn noch gegenwärtig war. Sein Blick wandte sich wieder dem Konkreten zu. Hier standen sie noch, die romantisierten und idealisierten Bilder einer antiken Welt. Bilder, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert das Gemüt von Künstlern und Denkern erfüllt hatten. Und hier blickte er geradewegs auf Schinkel! Aber war dieser nicht zum Ende seines Lebens depressiv geworden? Vielleicht, weil er am besten wusste, dass all dies nur gebaute Kulisse war? Und hatte nicht auch er selbst Architektur studiert? Sollte ihm diese Fassadenarchitektur nicht zutiefst zuwider sein? Er, der die Sakralbauten des »Modern Way of Life«, die Wohnhäuser

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von Richard Neutra oder die neuen Tempel urbaner Stadtkultur und die Hochhäuser von Rem Koolhaas durchaus zu schätzen gelernt hatte. Er ahnte und befürchtete, dass es da einen Zusammenhang mit seiner immer wiederkehrenden Beinschwäche gab, die keinen medizinischen Befund aufwies. Denn was hatte dieser überschaubare und einfache Formkanon griechischer Architektur schon den gewaltigen, polyästhetischen und hochfunktionalen Wohnmaschinen eines Rem Koolhaas entgegenzusetzen? Welche physiognomischen Rückschlüsse ließen sich daraus ziehen, dass er sich den Anforderungen der Gegenwart und der Komplexität der Moderne nicht stellen wollte? Das hatte ihm Pieschke schon oft vorgeworfen. Doch hatte dieser ebenfalls eine Schwäche für Heldentum und Antike. Für Pieschke waren die Griechen allerdings Pessimisten, die noch genug Instinkt besaßen, den Schein auch noch als Schein zu schätzen, um nicht am Leben zu verzweifeln. Ganz anders als die schwächlichen Europäer. Und eben auch Schinkel, der wohl daran verzweifelte, dass die scheinbar antiken Bauformen nur seine eigenen Erfindungen waren. ›Doch eine Erfahrung...‹, sagte Spleen zu sich, ›lasse ich mir nicht nehmen, wenn ich die Augen schließe, wenn da nicht viel mehr ist als ein lichter, stiller Raum und wenn ich mir daraus ein Bild ersinne, das diesem Zustand gegenständlich

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Ansicht der römischen Bäder von 1834, August Soller

Auch wenn Hölderlin den Park Sanscouci nie aufgesucht haben wird (zu der Zeit seiner Entstehung war er bereits dem Wahnsinn verfallen), so ist dieser doch -auch- für die Sehnsucht Spleens ganz wie geschaffen. Hier haben sich die alten räumlichen Gefüge, die idealen Verhältnisse von Architektur und Natur erhalten, so dass an diesem Ort die Zeit von der Gegenwart bis in die deutsche Romantik und Klassik, noch bis in ein geträumtes Arkadien zu reichen scheint. Und um sich in diesem Zusammenhang an dem begrifflichen Instrumentarium der Metaphysik zu bedienen. Hier spürt man noch Transzendenz: Das Überschreiten der Kulturlandschaft auf das hin, wie sie gedacht war, was ihre zugrundeliegenden Ideen sind. Und dabei sind die Ideen einer beseelten Natur, oder die der Einheit von Kultur und Natur noch die offensichtlichsten.

276 www.smb-digital.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=1504169 www.bildindex.de (Friedrich Schinkel, Römische Bäder, Aufnahme 908695)


PARK SANSCOUSSI ODER DIE IDEE VOM SCHEIN DES NICHT GANZ MANIFESTEM

HIer ungefähr sitzt Spleen und schaut über den Weier auf Schloss Charlottenhof

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In den Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich die medialen Texturen in den Abbildungen geändert. Auch Bäume, Licht und Wolken ändern sich im Abgebildetem, doch scheint sich auf beiden Seiten »der geistige Raum« zu erhalten.


am nächsten kommt, dann sehe ich eine helle, steinerne Wand, auf die eine hohe und vorzugsweise antike Säule ihren metaphysischen Schatten wirft‹. Pieschke hatte Spleen an das westliche Ende der Plattform gerollt und dann unWeshalb nur hatte meine damalige Kunstlehrerin uns eine Schwarzweißvorlage des Bildes »Mystery and Melancholy of a Street« zum Ausmalen gegeben? Erstaunlich war, dass auch bei unterschiedlichen Farbgebungen die träumerisch- melancholische Bildwirkung dieselbe blieb. Beim Versuch dies zu erklären, bleibt mir nur die Spekulation. Ich denke mich, denke uns als Entität, die nach der Existenz auch die Nichtexistenz durchwandert. Und wenn sich dort etwas nach den Auslöschungen bewahren sollte, dann sind es so elementare Formen wie die Arkaden oder Säulen, die essentiell sind für die alten Ordnungen, Räume und Plätze vergangener Zeiten, durch die sich unsere Seele ins Zeitlose dehnt. Diese Archetypen sind es,die in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben sind und die für Spleen ihre metaphysischen Schatten werfen in dessen Dunkelheit die Mysterien versunken liegen.

mittelbar vor einem Busch stehen lassen, um sich in Ruhe mit Mariella zu unterhalten, die auch hier hoch gekommen war. Spleen überblickte einen kleinen Teil des Tals und hinter dicken Ästen schimmerte ein Zipfel des großen Zeltes hervor. Er hätte sich mit Mühe selbst zu einer unverstellten Aussicht hinrollen können. Doch ließ er es bleiben. Wahrscheinlich, so dachte Spleen, hatte ihn Pieschke mit Absicht an den Busch geschoben und noch dazu in eine Position, in welcher er dem Gespräch mit Mariella bestenfalls akustisch beiwohnen konnte. Seine verschiedenen Spitznamen, mit denen er gerufen wurde, gehörten auch zu Pieschkes Gemeinheiten.

»Friedlich Spleen» sollte

das Epigonenhafte und Missratene seiner Existenz zum Ausdruck bringen.

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Doch gab es für Spleen in diesem Punkt keinen Zweifel. Seinem Hölderlin gelang die Sprache des Eigentlichen. Von dieser reinen Quelle dichterischer Inspiration her gefühlt und betrachtet, erschien Spleen selbst der Park Sanssouci noch als etwas Abgeleitetes. Er gedachte eines Sinnspruches seines großen Vorbilds: Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen, richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf Währenddessen redete im Hintergrund Pieschke auf Mariella ein, die ihm höflich zuhörte. Privateres schien er ihr nun in das Ohr zu flüstern. Das konnte Spleen daran bemerken, dass seine Stimme sich zu einem feines Gesäusel gewandelt hatte. Andere Themen schienen für viele Ohren gedacht. In einem solchen Fall bekam seine Stimme einen aufdringlichen und deklamierenden Ton. Es waren bereits einige Leute nach oben gekommen, um den Sonnenuntergang mitzuerleben. Eine Gruppe von Musikern war erschienen. Spleen grüßte einen kleinen Mann, der sich mit seinen dicken Locken einen Kopf größer gemacht hatte. Er grüßte seinen glatzköpfigen, dünnen und hakennasigen Begleiter. Es war nicht gerade vorteilhaft für beide, wenn sie nah beieinander standen.

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Pieschke hatte unterdessen angefangen, von der Überwindung seiner vielleicht schlimmsten Krankheit überhaupt zu sprechen, dem »Idealismus«. Durch diese Unwissenheit in physiologicis, durch diesen verfluchten Idealismus, erklärte er sich alle Fehlgriffe, alle großen Instinkt-Abirrungen und falschen Bescheidenheiten in seinem Leben. Und es sei ja augenscheinlich, wohin eine krankhafte Aspiration zu vermeintlich hohen und idealen Dingen hinführen konnte. Dabei hatte er demonstrativ zu Spleen hinübergeschaut. Es folgten lange Abhandlungen über die richtige Wahl von Klima und Ort, etwa dass er ein trockenes Klima und die reine Luft höherer Lagen bevorzuge. »Wie überhaupt alle großen Naturen!« Diese Anmerkung schallte laut bis zu Spleen. Pieschke führte dazu weiter aus, dass wer die Luft seiner Gedanken zu atmen wüsste, der wüsste auch, dass es die Luft der Höhe sei. »Eine starke Luft, an der sich kleine oder verweichlichte! Geister oft erkälten.« Spleen war sich sicher, dass dies auf ihn gemünzt sein sollte. Pieschkes Stimme hatte einen angespannten und etwas dissonanten Ton angenommen, der nichts Gutes verhieß. Spleen mühte sich damit ab, seinen Rollstuhl weiter wegzurollen, denn er befürchtete weitere Gemeinheiten. Doch noch von Wei-

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tem hörte er Pieschkes aufgedrehte Stimme: »Das deutsche Klima allein ist ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmutigen. Eine kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmäßiges, etwas »Deutsches« zu machen.« Er erklärte die Herkunft des deutschen Geistes überhaupt aus betrübten Eingeweiden. »Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig!« Und zuletzt konnte Spleen aus noch weiterer Entfernung hören, dass Pieschke aus tiefstem Instinkt allem, was deutsch ist, fremd sei, so dass

In der gebauten Weite und südländischen Klimatik von De Chiricos traumwirklichen Orten scheint es möglich, dass ich sich Hölderlin und Nietzsche in ihren Gesinnungen begegnen könnten. (Auch wenn die Farben der »Piazza d´Italia« für beide auf Dauer etwas zu warm gemalt sein könnten). Ich stelle mir einen Nietzsche vor, der dort oben auf der Piazza sitzt, wie damals in San Marco um entrückt seine Gedanken in das Gefieder der Tauben dichten. Zuletzt könnten noch Max Beckmann und sein dichtender Zeitgenosse Gottfried Benn wahlweise als Mystagogen oder Modernisten vom Rande des Bildes diesen Raum betreten.

schon die Nähe eines Deutschen seine Verdauung verzögere. Spleen hatte sich indessen an einen stilleren Ort begeben. Vor ihm ragte ein Sechstausender in die Höhe, dessen abgeflachte Spitze sich blendend ins Firmament schob. Irgendwo zwischen ihm und der menschenfernen Schneelandschaft musste ein Dimensionswechsel

stattgefunden

haben.

Lange

schaute er auf die strahlende Gebirgswand. Dabei erinnerte er sich eines hölderlinischen Satzes:

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Der schneeige Gipfel übergießt die Erde mit reinestem Wasser. Schwer verlässt wer Nahe am Ursprung wohnet den Ort Er ließ weitere Zeilen durch seinen Geist ziehen und griff, da er sich nicht an alle Gedichte vollständig erinnern konnte, zu einem verschlissenen Gedichtband, den er immer bei sich trug. Er las in Zeilen hinein, wie: Wird da, wo sich im Schönen Das Göttliche verhüllt, Noch oft das tiefe Sehnen Der Liebe dir gestillt Er schloss die Augen. Der hoch gestimmte Ton von Hölderlins Dichtung lies vor seinem inneren Sinn Bilder eines seelenvollen und gotterfüllten Daseins aufleuchten. Er blätterte weiter und las in »Hyperion´s Schicksalslied« hinein: Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien! Spleen schaute auf den Berg. Der Berg schaute in stiller Klarheit zurück. Schauten da nicht auch die Götter? Doch erinnerte sich Spleen, dass dieses Ge-

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dicht, auf das Schicksal der Menschen bezogen, resignativ endete: Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn ›Dies trift doch aber nicht auf solche Naturen zu, welche sich berufen fühlen, aus einer idealeren Welt zu schöpfen?‹, gab er im Stillen zurück. Und so blätterte er beflissen weiter, um nach einer Bestätigung zu suchen, die er in dem Gedicht »Germanien« auch bald fand: Oh trinke Morgenlüfte, Bis dass du offen bist, Und nenne, was vor Augen dir ist Nicht länger darf Geheimnis mehr Das Ungesprochene bleiben Dies war seine Mission! Und niemand außer Hölderlin konnte dies so wundervoll in Worte fassen. So wie in dem Gedicht »Mein Eigentum«: Zu mächtig ach! Ihr himmlischen Höhen zieht Ihr mich empor, bei Stürmen, am heiteren Tag Fühl ich verzehrend euch im Busen Wechseln, ihr wandelnden Götterkräfte Spleen hielt die Augen geschlossen und spürte den

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KAPITEL03  SZENE 10:  DIE GROSSE GESUNDHEIT

Kräften nach, die Hölderlin bis an die Grenze des Erwachens zu heben schienen. Und dieser ahnte, dass dies einmal eine kollektive Erfahrungsgewissheit werden würde: O Hoffnung bald, bald singen die Haine nicht Der Götter Lob allein, denn es kommt die Zeit, Daß aus der Menschen Munde sich Die Seele, die göttliche, neuverkündet. Begeisterung erfüllte Spleen. Er hatte wieder Zuversicht und Zutrauen für seine Sache geschöpft. Er war nach der Betrachtung des Berges und der Rekapitulation einiger Gedichtzeilen davon überzeugt, dass er richtig empfand und keineswegs weltfremden Einbildungen erlag, denn: ›Denn es kommt die Zeit!‹ Vor ihm lag, dem Zeitlichen enthoben, das fernhin strahlende Gebirge, das grenzenlose Blau. Darin schien all dies von Alters her eingeschrieben und längst prophezeit. Doch manchmal waren ihm diese Ahnungen und inneren Bilder nicht genug. Er wollte Belege. Er fand diese an verschiedenen Stellen seines zerflederten Buches, besonders aber in dem Gedicht »Germanien«, das er soeben schon einmal kurz überflogen hatte: Die Schatten derer, so gewesen sind, und Die Alten, so die Erde neu besuchen Denn die da kommen sollen, drängen uns,

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Und länger säumt von Göttermenschen Die heilige Schar nicht mehr im blauen Himmel Das waren Bilder, die schon in einen anderen Raum zu ragen schienen, in denen das Schicksal der Erde vorbestimmt wurde von denen, die hier bald selber wieder weilen würden: »Wenn die Zeit gekommen ist«. Spleen blätterte, nach den Stellen suchend, welche als Beginn dieser Transformation den Ort angaben, an dem er sich - mehr oder weniger - selbst befand. Eine entsprechende Passage hatte er in dem Gedicht »Am Quell der Donau« angestrichen: so kam das Wort aus Osten zu uns. Und an Parnassos Felsen und am Kithäron hör’ ich, O Asia, das Echo von dir Und hieß es nicht »Wir singen vom Indus her« an einer anderen Stelle? All dies hatte er dem Swami erzählen wollen. In Hölderlin war der Geist zu zeitloser Wesensschau erwacht. In ihm waren Zeit und Raum so sehr gelichtet und geweitet, dass sie den im alltäglichen Kram verhafteten Verstand zu sprengen drohten. Sein Hölderlin war heimatlos geworden in seinem Heimatland. Und wie ein Saddhu war er auf Wanderschaft gegangen, um durch Dichtung sein Gottesbewusstsein ohne Dogmen zu verbreiten.

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Der Inder hatte sich lachend aus dem Staub gemacht und ein böser Pieschke war schimpfend aus seinem Versteck gesprungen. Spleen überlegte noch eine ganz Weile hin und her. Er hatte in seiner Begeisterung Alfred eingeredet, Gebäude im Stil der Antike, vor allem auch der »hölderlinischen Antike« zu errichten. Er hatte seine lebhafte Vorstellungskraft zur Verfügung gestellt. Aber hatte er sich da nicht - ähnlich wie Schinkel- zu sehr in kronkete Vorstellungen verstiegen? In bestimmten Klischees einer Antike, die es vielleicht so nie gegeben hat? Und auch Pieschke war ein besonderer Kanal gewesen. Alfred hatte Pieschke Nietzsches Texte vom ewigen Mittag und von reinen, weiten, freigeistigen Himmeln lesen lassen. Dann hatten sie seine inneren Bilder durch einen Frequenzverstärker geschickt und in die Welt geworfen. Himmlischer wurde da der Himmel. Sonnenhafter wurde die Sonne. ›Waren dies nicht auch wunderbare Experimente?‹, überlegte Spleen. Das waren doch die Gründe, weshalb sie so lange hier geblieben waren. Spleens Gemüt hatte sich während des Suchens und Nachschlagens verdüstert. Er war müde geworden. Seine Beine versagten, als er sich aus dem Rollstuhl heben wollte. Zu viel hatte er gegrübelt und an Weltanschauungen gebastelt, die keiner mit ihm teil-

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te. Auf eine seltsame Weise fühlte er sich auch darin seinem Dichter nah. Hatte dieser nicht seine Bilder von einem idealen Griechenland, von einer neuen Mythologie und besseren Menschheit zu deutlich gemalt? Ihm war, als ob dieser geniale Geist durch Raum und Zeit einen Schatten auf ihn geworfen hätte. Als ob Hölderlins Anspannung, Enttäuschung und schlussendliche Erschöpfung nun auch die seine geworden waren. Er wollte sich frei machen von der Besetzung. Da kam ihm ein eigentümlicher Gedanke: ›Wenn wir doch so durch Raum und Zeit verbunden sind, dann möchte ich auch einmal umgekehrt ihn durch mich befreien, indem ich zu den lautersten Quellen seiner Inspiration zurückfinde!‹. So kam ihm plötzlich der Impuls, nach dem zu suchen, was ihm bei der Lektüre seines Dichters immer am meisten Kraft und Begeisterung gegeben hatte. Er blätterte und blätterte und dann fand er es! Es war seine Nähe zu den Göttern und zur Natur. Da ich ein Knabe war, Rettet‘ ein Gott mich oft Vom Geschrei und der Ruthe der Menschen, Da spielt‘ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains,

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Und die Lüftchen des Himmels Spielten mit mir Dies zu Lesen war Befreiung! Alle Zweifel waren weggewischt. Spleen fühlte sich stark und machte Anstalten, zu den Anderen zu rollen.

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Da ich ein Knabe war Da ich ein Knabe war, Rettet‘ ein Gott mich oft Vom Geschrei und der Ruthe der Menschen, Da spielt‘ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains, Und die Lüftchen des Himmels Spielten mit mir. Und wie du das Herz Der Pflanzen erfreust, Wenn sie entgegen dir Die zarten Arme streken, So hast du mein Herz erfreut Vater Helios! und, wie Endymion, War ich dein Liebling, Heilige Luna! Oh all ihr treuen Freundlichen Götter! Daß ihr wüßtet, Wie euch meine Seele geliebt! Zwar damals rief ich noch nicht Euch mit Nahmen, auch ihr Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen Als kennten sie sich. Doch kannt‘ ich euch besser, Als ich je die Menschen gekannt, Ich verstand die Stille des Aethers Der Menschen Worte verstand ich nie. Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains Und lieben lernt‘ ich Unter den Blumen. Im Arme der Götter wuchs ich groß.

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DIE GROSSE GESUNDHEIT Nachdem Alfred und Paul eine halbe Stunde so gelegen hatten, bekamen sie Besuch. Es war einer Amerikanerin mittleren Alters, die in Indien sesshaft geworden war, um in Rishikesh einen kleinen Ashram zu leiten. Sie wurde von einem alten Mann begleitet, der aufgrund seiner langen grauen Haare und seines ebenso langen, spitz zulaufenden Bartes wie ein Druide aussah. Dem Gespräch war zu entnehmen, dass sie Alfreds Projekt, so weit es in ihren Kräften stand, unterstützen wollte. Sie machte Scherze und munterte Alfred auf. Paul war froh, dass sie gekommen war, denn es tat gut zu wissen, dass sich hier jemand auch um ihn kümmerte, der zudem auch noch ganz normal zu sein schien. Alle hatten sich entschlossen, den Hügel aufzusuchen, zu dem Spleen und Pieschke vorhin abgewandert waren, denn seitlich des Hügels lag eine Wiese, die zu dieser Tageszeit noch von der Sonne beschienen war. Ein paar Platanen umsäumten das hintere Ende der Wiese, dahinter begann der Berg steil anzusteigen. Seine Hänge wurden von dem schon seitlich einfallenden Licht gestreift. Das höhere Buschwerk schimmerte golden aus der sich am Boden ausbreitenden Dunkelheit hervor. Paul konnte am Himmel zwar keine bunten Kreiselwellen mehr sehen, aber

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die ganze Luft schien wie beseelt von einer flirrenden Lebendigkeit. Das Gelände füllte sich mit weiteren Gestalten. Aus einer Gruppe jüngerer Leute hatte einer angefangen, auf einer Trommel zu spielen. Angelockt von der schönen Sicht und vielleicht auch von der Musik, kamen Bewohner von dem »Unterdorf«, wie der Ort, in dem die Pondisherrys lebten, bisweilen auch genannt wurde, nach oben gekraxelt. Ein rundlich und lustig aussehender Mann in dunkelrotem Gewand tauchte vor Paul auf. Er hatte sich einen Bauchladen mit süßem Gebäck umgeschnallt. Er erzählte Paul, dass er aus Amsterdam kam und dort einmal ein kleines Theater geleitet hatte. Ein Anderer fiel auf, weil er sich einen viel zu kleinen Cowboyhut aufgesetzt hatte. In der einen Hand hielt er ein Büschel Federn. Es schien ihm wichtig zu sein, dieses immer auf der Höhe der Brust zu halten. Mit der anderen Hand schwenkte er einen qualmenden Blätterstrauch hin und her. Er schwarwenzelte um die Anwesenden herum und räucherte sie ein. Als er Paul erblickte, ging er auf ihn zu, um diese Prozedur auch an ihm zu vollziehen. Paul blickte ihn überrascht an. Da fing er an, von sich zu erzählen. Seiner Rede konnte Paul entnehmen, dass er mit den verschiedensten Ritualen aufgewachsen war, weil seine Eltern in der Nähe ei-

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nes Indianerreservats gewohnt hatten. Und er vollzog nun eines dieser Rituale hier, um den Ort zu reinigen und zu energetisieren, obwohl das hier gar nicht mehr so nötig wäre. Zwei Saddhus traten, angelockt von den Trommeln, aus der Dunkelheit der umliegenden Wälder. Eine ältere Frau mit langen Zotteln zog rasselnd ihre Runden. Dann erschien Bronsky. Er war in Begleitung von einigen gut aussehenden Frauen. Er trug eine elegant geschnittene Hose und ein weißes Hemd. In seiner Brusttasche steckten Stifte. Er hatte zwei seiner Begleiterinnen in den Arm genommen und ging zu Alfred. Sie begrüßten sich. Paul schaute zu Pieschke. Der redete immer noch auf Mariella ein und strapazierte ihre scheinbar unendliche Geduld. Bronsky hatte an der Außenwand des Akkumulators eine Tür aufgeschlossen. Nachdem er ein paar sackartige Objekte unsanft herausbefördert hatte, fing er an, diese mit Hilfe einer Pressluftflasche aufzublasen. Die Säcke verwandelten sich in weiße Sitzquader, deren angemessenere Verwendung es gewesen wäre, die Lounge eines Nachtclubs zu möblieren. ›Noch ein Irrer‹, dachte Paul. Bronsky hatte Alfred einen der Sessel zugeschoben. Jedoch war dieser seiner Einladung nicht gefolgt und so machte es sich Hakennase auf dem Sessel bequem. Im Ensemble

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mit Bronsky und seinen Damen sah das unfreiwillig komisch aus. Bronsky rückte die übrigen Sessel von Hakennase weg, sodass sich alles wieder angemessen gruppierte. ›Sie ist so schön!‹ Pieschke hatte sich in Rage geredet. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Mariellas physische Präsenz und ihr einnehmendes Wesen riefen bei ihm eine alte Geschichte ins Gedächtnis: Nietzsche hatte ein Bordell aufgesucht. Als die halb nackten Damen ihn bedrängten, war er davongestürzt. Er hatte sich an ein nahegelegenes Klavier geflüchtet, um sich dort ekstatisch den Wogen der Musik zu übergeben. ›Dies wird mir nicht passieren‹, sagte Pieschke zu sich. Zudem war Mariella klein und zierlich, sodass er sogar auf sie hinabsehen konnte, was er denn auch ohne Unterlass tat. ›Sie ist ganz Körper! Körper in seiner sinnlichsten, natürlichsten, »unschuldigsten« Weise!‹ Pieschke vermutete, dass sie aus Argentinien kam, denn in ihrem Land hatte das Christentum wohl noch keinen so derart gewaltigen Schaden angerichtet. Er schaute ihr tief in die Augen, dann schweiften seine Blicke über ihren Körper, der bebend war und warm und voller pulsierendem Leben. ›Wie gerne würde ich mich in ihre strahlende Unschuld hinein erlösen!‹ Pieschke

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verstand sich nicht nur als Philosoph. Er war nach seinem Verständnis auch Lebensphilosoph. Und um mit diesem sprühenden Leben irgendwie mitzuhalten, steigerte er sich in das Thema der richtigen Lebensführung hinein. »Es sind die kleinen Dinge, wie Klima und Ernährung, die über alle Begriffe hinaus am wichtigsten sind ...« Dann fügte er schmeichelnd hinzu: »...hinzugenommen die kleinen Ekstasen, die ich durch sie erleben darf.« Mariella lächelte höflich. Sie versuchte seinen Ausschweifungen zu folgen. Sie war an seinen Überlegungen interessiert, aber nicht an seiner Person, schon gar nicht an seinem Körper. Pieschke spürte das und er fühlte sich gekränkt. Mehr noch: Er fühlte sich geschwächt. Er wurde direkter. »Sie sind schön..., so schön, dass mir gar nichts anderes einfällt, als immerzu zu bemerken, wie schön sie sind...« Er schenkte ihr ein anerkennendes, langes und eindringliches Lächeln. »...fruchtbar schön!« Er hatte sich mit Absicht versprochen. Sie hatte es nicht kapiert. Für einen Moment fühlte er Überlegenheit, doch das war eine Empfindung, die vor ih-

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rem Körper nicht wirklich Bestand hatte. Gegenüber dieser jungen, blühenden Schönheit waren seine Ausführungen - wie etwa über die Vorteile einer gesunden Lebensweise - nur ein matter Versuch, sich etwas besser und gesünder aussehen zu lassen. Er wollte doch vor allem eins sein, und das schien sie nicht wahrzunehmen: Ein attraktiver Körper! Ein vitaler Mann! Das Trommeln war treibender geworden. Jemand spielte auf der Gitarre. Sie hatte angefangen, sich in diesem Rhythmus zu wiegen. Sie machte minimale, gleichförmige aber zugleich ganz wunderbar bezaubernde und anmutige Bewegungen. Erst zu der einen, dann zu der anderen Seite. ›Sie bringt mich zum Wahnsinn!‹ Er tippelte unbeholfen mit. Mal zur einen, dann zur anderen Seite. Ihre Körper kreuzten sich immer und immer wieder. Sie sah ihm in die Augen. ›Das ist so unfassbar intensiv. Man hat das Leben nicht begriffen, wenn man den Rausch des Lebendigen nicht zu spüren weiß.‹ Pieschke verzückte jedes noch so unscheinbare Detail. Die feine und vorsätzliche Versteifung ihres grazilen Unterleibs, die kaum merkliche Hemmung ihres Schrittes. ›Apollonisch schön! Und dann diese Kraft, die sie wie von selber schiebt. Dionysisch!‹

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Mariella sah ihm in die Augen. ›Sie erkennt mein Innerstes! Ich könnte endlich einmal schweigen!‹ Doch hatte die Rede längst von ihm Besitz ergriffen. Sie war selbstläufig geworden: »Um mich zu verstehen, müssen man eine physiologische Voraussetzung begreifen: Sie ist das, was ich die »Große Gesundheit« nenne. Es ist eine zähere, verwegenere und lustigere Gesundheit als alle Gesundheiten, die bisher da waren!« Pieschke schob sich mit deutlich gehobenem Oberköper an ihr vorbei. Dies sollte das Gesagte untermauern. Sogar seine Unterarme hatte er ein wenig angehoben. Ein dämonisches Grinsen stieg ihm ins Gesicht. »Durch die größten Entbehrungen, die verhängnisvollsten Irrtümer bin ich gegangen. Ich sage nur: Idealismus!!!...« Dabei deutete er mit einer schnellen, abfälligen Kopfbewegung zu Spleen rüber, der in ihrer Nähe aufgetaucht war. »...um annähernd einen Eindruck davon zu bekommen, wie es mir ergangen ist. Der Schmerz gilt mir seither nicht mehr als Einwand gegen das Leben. Erst durch die tiefste Krankheit gelang mir die Umkehr all meiner falschen Gewohnheiten!«

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Sie versuchte zu verstehen. Sie sah ihn fragend an. Er redete manchmal etwas umständlich, aber sie hatte von seinem Problem gehört. Pieschke war nun vollständig erregt, zugleich fühlte er sich in diesem Aufruhr wie entrückt. Er durfte den Kontakt nicht abreißen lassen. Er musste weiterreden. Er sprach von der großen Dankbarkeit, die ihn erfüllt hatte. »Meine Krankheit löste mich langsam heraus, ersparte mir jeden gewalttätigen Bruch. Sie beschenkte mich mit der Nötigung zum Müßiggang, zum Warten und Geduldigsein..., aber das heißt ja: Denken!« Er zwinkerte mit den Augen und sein Mund grinste über das ganze Gesicht. Ihr hübsches Antlitz tauchte lächelnd mal links, dann wieder rechts aus dem Reigen bunter Bilder auf. Es gab Aussetzer in seiner Wahrnehmung. Über sein aufgedrehtes und grimassierendes Gesicht musste Mariella lachen. Für sie war es nicht so wichtig, was er da redete. Er wurde immer komischer und hoffentlich blieb er harmlos. Pieschke hatte angefangen, mit wilder Entschiedenheit nach links und rechts zu schreiten. Mit seinem gestreckten Arm suchte er nach ihren Schultern. Er wollte führen. Er wollte mehr Mann sein, als sie ihm erlaubte. Er war, wie er an ihren Reaktionen be-

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merkte, nun doch zu sehr »Clown« geworden. Sie durfte sich jetzt nicht von ihm abwenden. »Um so zu sein wie ich, muss man viele Gesundheiten durchlebt haben. Ich habe sie nicht gezählt...« Welche Gesundheiten meinte er? Er war sich nicht mehr sicher. Waren es die seinen? Er sprach doch zweifelsohne aus erster Hand? Die Rede quoll aus ihm heraus, als folgte sie ihren eigenen Gesetzen. Was hier noch Pieschke war, das suchte Halt in ihren Augen, vergewisserte sich seiner Präsenz in ihren Blicken. Die Stimme, die aus ihm drängte, nahm einen pathetischen und deklamierenden Tonfall an. Er trompetete ihr ins Gesicht: »Alles glänzt mir neu und neuer. Denn dein Auge blickt mich an ...ganz! ungeheuer!...« Er war laut geworden. Er war verunsichert. Aber da war sie wieder: Die »Große Gesundheit«! Ewiger Mittag! Dionysos! Ein gewaltiger Anstieg von Kraft und Freude! Meilenweit entfernt fühlte er sich von jeder Bücherwürmerei in

Nach neuen Meeren

engen Stuben. Er raunte

Dorthin - w i l l ich; und ich traue

ihr

bedeutungsvoll

ins

Ohr: »Meine Augen allein machten ein Ende mit diesem übermäßigen Lesen, ich

mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, ins Blaue treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit -: Nur d e i n Auge - ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit

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las jahrelang nichts mehr - die größte Wohltat, die ich mir je erwiesen habe!« Ihre Blicke waren fragender und ängstlicher geworden. Das verstörte ihn. Und waren denn »seine« eigenen Augen wirklich so schlecht? Hatte er jemals einen an unerträglichen Qualen leidenden Körper besessen? Warum musste er so lautstark seine Stimme erheben? Er war doch nicht Nietzsche? ›Ich werde nicht flüchten. Ich werde hier brav weiter tanzen!‹ Und er fragte sich: ›Wie stand es wirklich um Nietzsches »Große Gesundheit«? Wie groß konnte diese gewesen sein, wenn der Mensch, der sie erlangt hatte, doch eigentlich sein Leben lang in einer elenden körperlichen Verfassung geblieben war? Waren seine Gesundheiten nicht mehr als minimale Besserungsschrittchen, kleinste Erleichterungen innerhalb einer schon früh einsetzenden, nervlichen Erkrankung?‹ Pieschke wehrte diesen Zweifel ab. Denn da war noch Nietzsches Leidenschaft für bisher unbekannte Fragestellungen, ein neu erwachter Glaube an ein Morgen und Übermorgen, ein plötzliches Gefühl und Vorgefühl von Zukunft, von ungeahnten Kräften, von Freiheiten und Möglichkeiten, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren! Ja, so wird es gewesen sein. Es wäre ihm sonst nicht möglich gewesen,

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seine »Fröhliche Wissenschaft« so wunderbar pathetisch einzuleiten: »Der du mit dem Flammenspeere meiner Seele Eis zerteilst! « Er warf diese Zeile voller

Der du mit dem Flammenspeere

Inbrunst aus sich heraus.

Der du mit dem Flammenspeere

Da war es wieder: Dieses

Meiner Seele Eis zertheilt,

brausende

und

berau-

schende Gefühl des Auf-

Dass sie brausend nun zum Meere Ihrer höchsten Hoffnung eilt: Heller stets und stets gesunder,

bruchs ins Unerhörte und

Frei im liebevollsten Muss: –

Unbekannte. Dieser Ur-

Also preist sie deine Wunder,

laut der Moderne, aus

Schönster Januarius!

dem diese ihren Anfang nahm! Da war sie wieder: Nietzsches Genialität und sein instinktives Prophetentum, welches Hölderlins Ahnungen von einer neuen Antike bei weitem überragte! Er wollte Spleen einen verächtlichen Blick rüberwerfen, doch er stolperte über Mariellas entsetztes Gesicht. Was hatte er da ausgerufen? Was hatte das mit ihr zu tun? War er denn völlig irrsinnig geworden? Schweiß begann ihm von der Stirn zu tropfen. Tanz und Erregung strengten ihn an. Er spürte Erschöpfung. Und als wollte er dies nicht wahrhaben, deklamierte er noch lauter: »Du machst mich hell du stets Gesunder! Also preis

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ich deine Wunder!« »Du bist ein bisschen irre?«, bemerkte Mariella vorsichtig. »Nein!...«, rief Pieschke entrüstet. »Ich bin fröhlich durch Wissenschaft! Ich bin frei von Idealen! Ich erfreue mich einer geradezu ide!al!en! Gesundheit!« Es war wie ein kaltes Fieber. Sein Körper zitterte und entglitt seiner Kontrolle. Er stolperte in ihre Richtung. Sie hatte eine Hand nach ihm ausgestreckt. Ihre Fingerspitzen krallten sich in seinen Oberarm. Es war, als ob er einen kleinen Stromschlag versetzt bekommen hätte. ›Die Intensität deiner Berührung macht mich schaudern.‹ »Sie macht mich lachen!«, grölte er unnatürlich und viel zu laut. Zugleich versuchte er, sich wie ein Zitteraal ihrem unfreiwilligem Griff zu entwinden. »Doch gehe ich daraus noch gehäuteter, noch kitzliger hervor. Mit einer zarten Zunge für alle guten Dinge, hmmm...« Er öffnete den Mund, schlackerte mit der Zunge und dann röchelte er ihr ins Gesicht: »...und mit noch viel lustigeren Sinnen!« Sie verstand ihn nicht, doch was sie sah und was er sagte, wirkte obszön. Sie hielt beide Hände gegen

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ihn gestreckt. So konnte er sich nicht mehr so nah an ihr vorbeischieben. ›Soll ich das jetzt lustig finden?‹, fragte er sich. ›Sie versteht doch gar nichts. Sie ist im Grunde ganz unverständig und gemein. Und nun schiebt sie mich mit ihrem gestreckten Arm auch noch idiotisch hin und her!‹ Sie sah ihm nicht mehr in die Augen. Ihre Blicke zerstreuten sich suchend in der Gegend. Durch ihn stoben die verschiedensten Gedanken. ›Sucht sie einen Anderen? Das ist nicht die »Unschuld des Seins«. Das ist nur ein berechnendes Weibchen!‹ Er hatte sich mit einer schnellen Seitwärtsbewegung aus seiner Zwangslage gelöst. Sie war einen Schritt zurückgewichen. Er sah sie wütend an. Er wunderte sich. »Weibchen«? Dass er nun ausgerechnet wieder »sein« Wort verwendete? Sein Synonym für Geschlechterkampf, weibliche Gemeinheit und Niedertracht. Pieschke fühlte sich omnipotent durch »sein« Genie, glaubte »seinen« eigenen Ausführungen über die Unschuld des Seins, lebte »seine« Gesundheit und »seinen« Rausch. Aber: ›Weibchen? Was für ein dummes Wort!‹ Da war da auf einmal wieder dieser andere Nietzsche: Ein alternder Junggeselle, der in seiner Not zu Nutten lief, der vor diesen die Flucht ergriff, der nie mit einer Frau zusammengewesen war. Was hatte dieser denn vom Weib verstanden? Was hatte dieser große Fürsprecher des Lebens überhaupt vom Leben

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verstanden? Und Pieschke frage sich: ›Was habe ich von Weib und Leben verstanden?‹ Sie hatte sich von ihm entfernt. Er war in einem Schwindel von sich drehenden Gedanken geraten. In eine Leere wurde all das gerissen. Vielleicht, weil er darüber hinweg wollte, langte er noch einmal nach ihr aus, riss sie gewaltsam zu sich. Sie war zu tode erschreckt. Fest hielt er sie an sich gedrückt. Durch ihren heißen, pochenden Leib wollte er sich endlich, endlich von seinem Irrewerden erlösen.

UND PIESCHKE TANZTE Er

hatte sie schnell wieder

losgelassen, war in der nächsten Sekunde einsichtig geworden. ›Ist gut.‹, hatte sie zu ihm gesagt. Dann war sie aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Er stand eine Weile benommen da. Das Trommeln hatte aufgehört. Das Licht war über die Bergspitzen hinaus in die Wolken abgewandert. Die schwebten wie lang gestreckte goldene Inseln vor den allmählich erlöschenden Farben. Eine Frau hatte währenddes ein paar mal zum Singen angehoben. Bronsky gab Anweisungen zum Aufbau der Musikanlage. Es knackste und knisterte. Die hohen Boxen ragten zu beiden Seiten wie Götzen in die sich langsam hinabsenkende Dunkelheit. Einige hatten einen hohlen Stamm nach vorne gerollt. Sie probten auf ihm mit Stöcken. Eine Gruppe von Musikern fing an, ihre Instrumente zu stimmen. Die

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meisten, die um ihn standen, unterhielten sich. Pieschke ließ seine Arme baumeln und wartete: ›Es wäre gut, wenn die Musik bald wieder beginnen würde‹. Denn eines war noch notwendiger als alle Physiognomie: Wenn die Anspannung seines Denkens zu stark wurde, wenn es danach drängte, sich von sich selbst zu erlösen, dann gab es nur noch eines: Tanz! Musik! Es fiel ihm dann schwer, in der Sprache zu bleiben, gerade weil es ihm im Grunde so sehr nach Überwindung der Sprache, nach ihrer sukzessiven Musikwerdung verlangte. Spleen hatte sich mit seinem Rollwagen am Rande der Wiese positioniert. Pieschke blickte auf die traurige Gestalt. Er fühlte sich mit ihm auf eine Weise verbunden, für die er sich noch keine Erklärung abgegeben hatte, doch fragte er sich: ›Geht es denn Spleen nicht auch um die Musikwerdung der Sprache, um die immer intensivere Einbindung sprachrhythmischer und tonaler Motive, um die Umwandlung der Rede in ein Raunen, um die Verkündung von etwas, für das es keine Worte mehr gibt? Dithyrambus oder Distichon? Wo liegt da schon ein Unterschied?‹ Er fühlte sich mit seinem Antipoden in diesem Punkt tief und schicksalhaft verbunden. Waren Hölderlin und Nietzsche nicht zutiefst tragische Figuren? An den Worten hängenbleibend. Formschaffend bis zum Zusammenbruch. Und waren sie beide nicht

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genau wie ihre Vorbilder geworden: Ebenso tragische Figuren und hochgradig unerlöst? ›Sein ist Klang! Musikorgiastisch erst ist das Leben gerechtfertigt. Erst dann ist es mit sich selbst im Einklang!‹ Wie sein Vorbild, so brauchte auch Pieschke bisweilen die denkerische Anspannung, um sich bis an »diese Grenze« zu bringen, wo »der Sprung« dahin gelingen konnte. Er dachte, bis es in den Gliedern zuckte, bis die Schauder seinen Körper durchschüttelten, bis es kein Halten mehr gab. Und die Musik hatte für Pieschke in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht: Sie hatte neue Rhythmen in sich eingebildet, die rauschhafter machten. Sie war noch mehr als im neunzehnten Jahrhundert zu einem Ausdruck dieser gesteigerten Wirklichkeit geworden. Und nun wartete er. Warte und wartete in dieser sehnsuchtsvollen Anspannung, dass sie ihm endlich Erlösung gab! Im Hintergrund fing ein Synthesizer an zu wummern. Dieser Sound war für ihn wie ein Erinnern an die Tage seiner Jugend, an durchtanzte Nächte, an all die Kalkbrenners und Schaffhausers. Allein die Namen waren Programm. Es war der Sound eines Landes, das gern musikalische Forschung betrieb, das Soundlines betrachtete, wie andere Versuchsanordnungen. Das war ein sehr deutscher Geist, der da so monochrom, entschieden und sachlich vor sich hin wummerte. ›Ja, das passt

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jetzt. Ganz großartig‹ Pieschke wurde erregt. ›Ganz in der Tradition von Kraftwerk und Neubauten, nur kammermusikalisch gestimmt, schlicht und leise.‹ Wum. Wum. Wum. Ein Bass hatte eingesetzt. Stöcke gingen im gleichmäßigen Takt auf einen Baumstamm nieder. Wum Wum Wum Da Bum Da Bum Da Bum. ›Ja...ja!‹ Pieschke spürte, wie die ersten Wellen dieser neuerlichen Erregung in seine Glieder fuhren. ›Marschmusik... aber wie auf Zehenspitzen gespielt‹ Er hatte angefangen, sich in diesem Rhythmus zu wiegen. ›Ja...gut so! Großartig. Computer-DreiklangDimensionen, Wabernde Quantenfelder, Tanz der Elektronen, vertonte Wissenschaft. Was brauche ich da noch Weiber!‹ Genau der richtige Auftakt für den fröhlichen Wissenschaftler in ihm. Er richtete sich langsam auf. Seine Arme baumelten nach links, nach rechts. Immer noch etwas hospitalisiert oder wie bei einem Affen, den man zu lange weggesperrt hatte. Auch die Anderen hatten begonnen, sich in den sich beschleunigenden Klängen zu wiegen und zu winden. Der Dicke drehte jetzt ohne Bauchladen seine Kreise. Hakennase hüpfte aufgeregt durch die Menge. Der Druide warf sich mit allen Gliedern stram-

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pelnd dazwischen. Pieschke war erstaunt. Das hatte er dem alten Mann nicht zugetraut. Bronskys Damen hatten sich an die Tanzfläche gestellt und wiegten ihre Hüften. Trommeln wurden geschlagen, Rasseln wurden geschüttelt. Der Rhythmus wurde treibender. ›Großartig! Es geht auch ohne Weiber!‹ Die Musik wandelte sich. Aus dem Synthesizer war fast unbemerkt ein indisches Harmonium geworden. Für einige Zeit kam die Musik aus der Anlage, dann wurde sie wieder von den Anwesenden gespielt, diesich, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, immer mit den passendsten Darbietungen einfanden. Und niemand schien an diesen musikalischen Metamorphosen einen größeren Gefallen zu finden als Pieschke, der Selbstenthäuter und Selbstüberwinder – wenn auch aus zweiter Hand - par excellence! Pieschke fühlte sich im Bunde mit gewaltigen Kräften. Diese tanzten durch ihn, tanzen mit ihm. Und nicht nur das: Er tanzte auch die Energien, die ihn durchs Leben trieben: Die Verachtung gegenüber denen, die an primitive Vorstellungen von Gut und Böse glaubten. Die Wut auf die, die ihn nie verstanden hatten. Den Übermut, der ihn überkam, wenn er an die Freiheiten dachte, die er errungen hatte. Er tanzte die Höhe, die er erreicht hatte, in welcher ihm alles leicht, wogend und tönend wurde.

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Und er tanzte auch die Musik, in der ihm alles Welle und Verwandlung wurde, in der ihm endlich diese Welt in ihrem reinen Werden, in der Vollkommenheit ihres immerfort währenden Werdens endlich, endlich, endlich wesentlich geworden war. Er hatte die Arme nach oben geworfen. Er tanzte mit der Spastik von jemandem, der ergriffen war, aber immer noch begreifen wollte. Wesenheiten wandelten sich ein. Jetzt war er der Narr, der auf einem hohen Seil tanzte. Dann war er der Übermensch, der aus dem Boden zu unendlichen Höhen wuchs. Ihm war etwas schwindelig geworden. ›Ich bin Supermann! Ich bin Weihnachtsmann. Ich bring euch Gaben, von denen ihr bisher selbst zu träumen noch nicht einmal in der Lage wart!‹ Er suchte nach Mariella. Er wollte ihr sein Grinsen zuwerfen. ›Ich brauch` dich nicht. Ich bin mir selbst genug, mehr als genug.‹ Pieschke drehte sich im Kreis. Alle sollten teilhaben an diesem übermenschlich gewordenen Grinsen. ›Ich mach` mir meinen Sex im Kopf, den allerbesten Sex. Ich bin überhaupt der erste Mensch, der keinen Unterleib mehr braucht, um sich sexuell zu befriedigen ...‹ In ihm kroch eine Übelkeit nach oben. ›Und zu allem Überfluss erfreue ich mich auch noch einer geradezu gigantischen Gesundheit. Seht, wie ich mich freue! Ihr dürft meiner Freude zusehen. Ich

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verschenke sie euch. Es ist mir eine Freude!!!‹ Pieschke grinste, ohne noch sehen zu können, wen er da angrinste. Zu schnell drehte er sich auch schon im Kreis. Pieschke war Alfred aufgefallen. Für einen Moment war es still um Alfred. Für diesen Moment war er wie ein allwissendes Auge. Alles bekam er mit, alles verstand er. Pieschke brauchte Hilfe. Ein Frau schaute Alfred an. Aus derselben Stille. Sie tauschten sich aus. Dann wurde es wieder lauter um sie herum. Pieschkes Bewegungen hatten eine eigentümliche Spastik bekommen. Ein Gefühl der Vergeblichkeit und Verzweiflung machte sich in ihm breit und eine immer schlimmer werdende Übelkeit. Er stockte. Da fiel ihn die Angst und der »Geist der Schwere« an: ›Hier leben alle ihr Leben, ihr seltsames Leben. Wie Marionetten werden sie hier mal hin, dann her gehampelt. Und sind doch schon so gut wie tod. Doch tanzen sie noch. Doch kann ich nicht mehr. Mich holt der Tod.‹ Er war erschöpft. Die Übelkeit drückte ihn nieder. Das ganze Gewicht seines Körpers, den er wie schwerelos für Stunden nach oben gewuchtet hatte, lastete ermattet auf zitternden und ganz schwachen Beinen. ›Mir geht es elend. Die Anderen bemerken es nicht einmal! Sie haben vor der Erbärmlichkeit meiner Kreatur die Flucht ergriffen!‹ Er atmete schwer. Der

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Schwindel war so groß, sein Herz so pochend, dass er Angst bekam, es würde gleich versagen. Es wäre besser, wenn er sich setzen würde. Ganz langsam sackte er, um nicht umzukippen, auf seine Knie. Die rasend gewordene Musik wollte nicht mehr aufhöhren. Es war wie in einem Albtraum, wie in der Hölle. Und alle tanzten wild um seine schweigsam gewordene Mitte. ›Sie werden mich niedertrampeln, wenn sie nicht bald auf mich achten!‹ Auf den Knien zog er sich mühsam aus dem Inferno. Sein Herz schmerzte und die Übelkeit zwang ihn, sich zu übergeben. In seinem Kopf jedoch war es stumpf und still geworden. Nur ab und zu stieg ein Gedanke auf. Und dieser kreiste um sein Elend. Kreiste immer wieder um sein Elend, wie eine Fliege, die es einfach nicht lassen konnte, einen Auswurf zu umkreisen. Mit seiner Hand hielt er die Stirn, so als wollte er der Fliege Einhalt gebieten. Hoffnungslos. Er ließ die Hand los und senkte seine Stirn ganz langsam hinab. Sie wanderte der Erde entgegen, so als hätte sie ihre letzte Bestimmung gefunden. Ganz langsam näherte sie sich der Erde. Frieden wollte er schließen mit der Erbarmungslosigkeit dieses kalten Universums. Eins wollte er werden mit Gleichgültigkeit und Kälte. So tot und leer wollte er werden wie dieses tote und leere Sein

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in seinen unendlichen Räumen. Sollte es ihn doch wieder aufnehmen. Irgendwann würde es ihn erneut auswerfen müssen. Irgendwann, wenn in der grenzenlosen Zeit sich zum wiederholten Male eine materielle Konstellation gebildet hatte, die der seinen entsprach. Er spürte, wie die Erde kühl und widerständig gegen seinen alten Schädel drückte. Aufruhr und Übelkeit waren noch in seinem Körper, aber in seinem Innersten gab es nur eine immer stummer und friedvoller werdende Verzweiflung. Sein Atem ging schwer. Am Ende würde auch die Verzweiflung verstummen. Der harte Widerstand der Erde wirkte beruhigend auf ihn. ›Tod. Du bist gar nicht so übel‹, sagte er zu sich selbst. Seine Brust ging immer noch heftig auf und ab. Sein Herz pochte, als hätte sich die ganze Panik dorthin zurückgezogen. Sein restlicher Körper fing langsam an, zu einem leblosen Stein zu erstarren. So verharrte er einige Zeit. Irgendjemand hatte sich zu ihm gesetzt. Er spürte den warmen Atem an seinem Nacken. Er blickte kurz auf. Es war die Verrückte mit den zotteligen Haaren. Immerhin war jetzt jemand da, der sich um ihn kümmerte. Er spürte ihre Hand auf seinem gekrümmten Rücken. Es tat ihm wohl, ihre warme Hand zu spüren. Dann legte sie eine Hand auf seinen Hinterkopf, dann auch die zweite. Ihre Wärme drang in ihn ein und

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dann war es ihm, als würden unendlich viele Sterne auf ihn niederrieseln. Es wurde licht in ihm. Die Sterne strahlten und sie verbanden sich mit ihren Strahlen, als würden sie sich gegenseitig an den Händen halten. Er fiel in eine kosmisch glitzernde Leere und ihm war, als würde er sich mit allen Händen an allen Händen halten. So ergreifend schaute und fühlte sich das an, dass er weinen musste und immer mehr weinen musste. Die Materie schien nicht mehr dicht zu sein. Sie erschien ihm wie ein alles durchdringendes Energiegitter, das Muster von unfassbarer Schönheit aus sich heraus erzeugte. Er hielt die Augen geschlossen. Der Druck der warmen Hände ließ ein wenig nach. Als er ihr dankend seine Hand reichen wollte, war die Frau verschwunden. Er schloss die Augen wieder, doch der sanfte Druck der Hände hielt sich noch eine Weile auf seinem Kopf. Es war ihm, als hätte das Universum ihn im Innersten berührt. Ganz langsam richtete er sich auf. In ihm war eine nie gekannte Freude, Traurigkeit und Freude. Eine Traurigkeit über den physischen Tod, den seine Seele immer wieder erleiden musste. Eine unbändige Freude des immerwährenden Seins. Er schwieg. Was gäbe es Schöneres als diese Freude zu tanzen? So als wäre diese sein innerstes Wesen! Die Musik hatte sich gewandelt. Die Stimme einer Frau war zu hören. Es war die, welche zuvor schon

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singen wollte. Jetzt setzte sie erneut an. Sie erhob ihre Stimme und begann ein spanisches Lied zu singen: »Gracias al vida«. Gracias a la vida que me ha dado tanto Me dio dos luceros que cuando los abro Perfecto distingo lo negro del blanco Es war ihm, als würde er dieses alte und bekannte Stück zum allerersten Mal hören. Für eine Weile hielt er seine Augen geschlossen, sank in diese glitzernde, kristalline Welt. Und als er seine Augen wieder öffnete, war diese andere Welt immer noch da, still und durchdringend hinter all dem Theater, das sich vor ihm ausbreitete. Durch dieses Andere in ihm, das alles wie ein unsichtbares Licht durchdrang, schienen ihm die Ursachen des Lebensdramas erhellt. Die dahinter wirkenden Dynamiken und Gesetze schienen hinter der ihm so »phänomenal« gewordenen Welt wie offengelegt. Er musste nur schauen, aus diesem alles durchdringenden Licht nur schauen, um zu verstehen. Das Erkennen war so enorm, das er sich wie geblendet abwendete. me dio dos luceros que cuando los abro Perfecto distingo lo negro del blanco

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Gracias A La Vida Gracias a la vida que me ha dado tanto Me dio dos luceros que cuando los abro Perfecto distingo lo negro del blanco Y en el alto cielo su fondo estrellado Y en las multitudes el hombre que yo amo Gracias a la vida que me ha dado tanto Me ha dado el oído que en todo su ancho Graba noche y día grillos y canarios Violetta Para Violetta Parra arbeitet zuerst als Malerin und Bildhauern, später auch als Folkloresängerin. Mit ihren Liedern schuf sie die Basis für eine neue Gesangsbewegung Chiles. Kurz vor ihrem Freitod 1967 komponierte sie das Lied »Gracias a la vida« (= Dank an das Leben) welches vielleicht zum bedeutensten Lied der »Nueva Canción« wurde. Bekannt ist das Stück im Westen in der Fassung von Mercedes Sosas geworden,

Martirios, turbinas, ladridos, chubascos Y la voz tan tierna de mi bien amado Gracias a la vida que me ha dado tanto Me ha dado el sonido y el abecedario Con él, las palabras que pienso y declaro Madre, amigo, hermano Y luz alumbrando la ruta del alma del que estoy amando Gracias a la vida que me ha dado tanto Me ha dado la marcha de mis pies cansados Con ellos anduve ciudades y charcos Playas y desiertos, montañas y llanos Y la casa tuya, tu calle y tu patio Gracias a la vida que me ha dado tanto Me dio el corazón que agita su marco Cuando miro el fruto del cerebro humano Cuando miro el bueno tan lejos del malo Cuando miro el fondo de tus ojos claros Gracias a la vida que me ha dado tanto Me ha dado la risa y me ha dado el llanto Así yo distingo dicha de quebranto Los dos materiales que forman mi canto Y el canto de ustedes que es el mismo canto Y el canto de todos que es mi propio canto Gracias a la vida, gracias a la vida

youtube.com/watch?v=UW3IgDs-NnA

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Gracias A La Vida Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir zwei Augen, um deutlich zu trennen das Weiße vom Schwarzen; die Welt zu erkennen, den sternklaren Grund überm endlosen Himmel und den, den ich liebe im Menschengewimmel. Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir zwei Ohren, die Welt zu erlauschen, Gesang von Zikaden, des Regenguss' Rauschen, Geräusch von Turbinen, vom Hämmern an Bauten, die zärtliche Stimme des lange Vertrauten. Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir die Stimme, es gab mir die Laute, so konnte ich rufen, den, dem ich vertraute: die Mutter, den Freund und den Bruder zu finden, den Weg zu der Seele des Liebsten ergründen. Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir zwei Füße, um sie zu benützen, so laufe ich müde durch Städte und Pfützen, auf Berge, durch Wüsten, so heiß ohnegleichen, dein Haus, deine Strasse, um dich zu erreichen. Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir mein Herz, und das klopft zum Zerspringen, will ich die Früchte des Geistes besingen, seh ich wie weit ist das Gute vom Bösen, seh ich deine Augen und kann mich nicht lösen. Ich danke dem Leben, das mir so viel gegeben: Es gab mir mein Lachen, es gab mir mein Weinen, und lässt mich das Glück von dem Leid unterscheiden, mein Lied ist aus diesen zwei Quellen entsprungen, mein Lied für mich selber und für euch gesungen, mein Lied für mich selber und für alle gesungen. Gracias a la vida, gracias a la vida.

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Er hob kurz seinen Kopf, blinzelte herüber zu Bronsky, zu Alfred, zu Spleen. »Gracias!« Pieschkes Kopf senkte sich wieder dem Boden zu, dann nickte er alles ab, was er eingesehen hatte, nickte und nickte, während er den Boden angrinste. Und während er der Musik lauschte, dachte er: ›Warum klingt Danke in seiner Sprache so anders, so schroff und trocken, so wenig gefühlt?‹ Er blinzelt kurz und scheu hinüber zu Spleen. Dieser hatte sich aus seinem Rollstuhl herausgeschält und hob am Rande der Tanzfläche mal abwechselnd das linke, dann das rechte Bein. Pieschke befürchtete, er würde losbrüllen müssen, so viel Schmerz und Spaß boten ihm diese unfreiwilligen und urkomischen Einsichten. Doch ergriff ihn ganz unerwartet ein solches Mitgefühl beim Anblick von Spleen, der da gerade ein paar Trockenübungen vollzog, um wieder in das Leben zurückzufinden, dass er ihn einfach nur in die Arme hätte nehmen wollen. Er hatte genug gesehen. Er ließ sich wieder zurückfallen in diese schwer erklärbare Freude und Dankbarkeit mit allem, was ist.

IT´S PARTY TIME Eine der attraktiven Begleiterinnen von Bronsky hatte um Alfred ihren Arm geschlungen. Es sah für Paul so aus, als ob Alfred das unangenehm wäre. Bronsky schien damit jedoch keine Probleme

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KAPITEL03  SZENE 12:  IT´S PARTY TIME

zu haben. Er lag mit weit ausgebreiteten Beinen und Armen, wie ein Riesenbaby wohlig grinsend, auf zwei zusammengeschobenen Sitzquadern, deren Rückenlehne nach hinten geklappt worden war. Seine Damen hatten ihn verlassen, um zu tanzen. Paul musste an eine Bemerkung von Alfred denken: »Sie werden irgendwann alle wieder hier herkommen.« Dieser Abend schien ihm recht zu geben. Ein paar Leute hatten sich hier oben getroffen, um den Sonnenuntergang zu erleben. Einige hatten Instrumente mitgebracht. Bronsky hatte das Equipment organisiert. Und nun befanden sich hier oben vielleicht drei Dutzend Menschen, die miteinander redeten, tanzten und feierten. Die Musik war streckenweise so wild, dass sie alle tanzen mussten. Nun lag auch Paul erschöpft auf der Wiese. Mariella hatte sich zu ihm gelegt und ihn ein bisschen ausgefragt. Sie hatte ihm erzählt, dass sie sich darüber freuen würde, dass er hier hergekommen war. Sie hatte ihn angeschaut und Paul sah in Ihre Augen, die so so dunkel waren, wie die Augen von Henriette. Es wurde nicht geraucht. Niemand trank Alkohol und doch war diese Nacht seltsam verrauscht. Er hatte erlebt, wie Pieschke die Kontrolle verloren, wie er sich auf Mariella geworfen hatte und dann in sich zusammengebrochen war. Und nun lag ausgerechnet sie neben ihm und fuhr ihm über das Haar und sagte:

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»Denk‘ dir nichts dabei.« Paul sagte nur: »OK.« Und dann musste er darüber lachen. Sein Kopf viel nach hinten. Er schloss die Augen. Da war es wieder. Ein Gefühl, als ob in einiger Entfernung ein großer Generator vor sich hinbrummen würde. Wenn man ihn ausschalten würde, dann würde er in seinem Bett in Deutschland erwachen und alles wäre nur ein Traum gewesen. Es war nach Mitternacht. Die Musik hatte aufgehört und es war still geworden. Spleen war elektrisiert. Er brauchte sich nicht mehr in den Rollstuhl zu setzen. Niemand ergriff mehr das Mikrofon, niemand hantierte an der Anlage. Er hatte am Rande gestanden und sich, so gut er konnte, mitbewegt. Er hatte dass Gefühl, dass es nun an ihm sei, auf die Bühne zu treten. Er dachte daran, aus einem kleinen Zettel abzulesen, den er meistens bei sich trug. Die Zeilen, die auf diesem Zettel standen, hatten sich selbst nur als Fragment aus einer für Spleen sehr viel gesegneteren Zeit in die Gegenwart gerettet: Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort im höheren platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist...

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KAPITEL03  SZENE 12:  IT´S PARTY TIME

Sollte er diese Zeilen vorlesen? In deutscher Sprache? Allein wegen des feinen, melodischen und doch bestimmten Tons, der in diesen Sätzen sprach? Es wäre zu schwer, dies zu übersetzen und vielleicht klänge dann alles in den Ohren der Anderen auch ganz lächerlich und jünglingshaft naiv? Er seufzte in sich hinein: ›Ach würdet ihr den Geist erfassen, dann würdet ihr auch seine Dichtung verstehen‹. Er war sich sicher, das diese Sätze von Hölderlin, Schelling und Hegel in diesem »einen Geist« verfasst worden waren. Und das Fragment war vielleicht auch schon aufgrund dieses Mythos zu dem ersten wichtigen Manifest, ja zum Urtext des deutschen Idealismus geworden. Und auch nur aus diesem Geist war seine Dichtung zu verstehen: Als Ausdruck einer höheren Vernunft, einer neuen Mythologie, einer sinnlichen Religion und religiösen Ästhetik, die jedem die Freiheit zurückgab, an einer wandelbaren Wahrheit schöpferisch mitzudichten. Selbst Pieschke könnte doch dagegen keine Einwände haben. Denn war die schöpferische »Ästhetisierung des Lebens« nicht auch sein Thema? Nur dass er darunter mehr seine eigene Selbststilisierung verstand. Spleen blickte auf die Gestalt, die einige Meter entfernt gekrümmt auf den

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Knien hockte und immer noch den Boden annickte. ›Von wegen souveräne Selbststilisierung!‹ Er gab sich einen Ruck. ›Es ist an der Zeit, auch einmal das Mikrofon zu ergreifen‹. Er humpelte auf weichen Beinen zur Musikanlage. Er stolperte über ein Kabel und hielt sich am Mikrofonständer fest. Dies erzeugte ein lautes, kratzendes Geräusch, sodass in derselben Sekunde alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Seine Beine zitterten. Er musste ein paar Mal tief durchatmen, dann sagte er: »I would like to use this opportunity to recite a little poem. This poem is from my revered poet and friend Friedrich Hölderlin. Because I don´t know the English version, i will recite this poem in its originally german language« Er hatte es sich also anders übelegt. Doch hatte er das dumpfe Gefühl, dass er eine kleine Einführung zu diesem Gedicht machen müsste. Warum wollte er ausgerechnet jetzt Hölderlins Gedicht »An die Parzen« vortragen? Vor allem gab dieses Gedicht eine ermutigende Antwort auf seine, auf Alfreds, auf Pieschkes verzweifelten Formwillen. ›Das ist es!‹ Spleen raunte ins Mikrofon: »The search for the perfect form is not only attachment, is not eventually a fault, it is the most beautifull form of liberation«

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KAPITEL03  SZENE 12:  IT´S PARTY TIME

Er schaute in müde und fragende Gesichter. Sie hatten ihn nicht verstanden. Er hätte vielleicht noch auf Alfred, auf Pieschke verweisen müssen. Und zu speziell war das, was er versucht hatte in Worte zu fassen. Mariella stellte sich neben ihn und bot sich an, das Gedicht zu übersetzen. ›Hölderlin in Englisch mit spanischem Akzent?‹ Spleen stutzte für einen Moment, dann sagte er: »In Ordnung« Er hatte sowieso keinen Plan. Seine Knie schmerzten, sein linkes Bein versagte und er knickte unverhofft ein. Er trat auf die Fußpedale von einem der Effektgeräte, das unter seinen Füßen lag. Jemand schob ihm helfend einen Hocker an die Kniekehlen. Er sackte erleichtert nach hinten. »An die Parzen« Es gab einen gewaltigen Widerhall. Mariella blickte ihn erschrocken an. Er muste den Echoeffekt versehentlich aktiviert haben. Spleen machte Bekanntschaft mit dem, was man gemeinhin als Galgenhumor bezeichnet. »We should keep it as it is. Translate, directly after every line« Er sagte noch einmal den Titel an: »An die Parzen«

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Seine Stimme spannte sich mit einem feierlichen, rollenden Rhythmus über den Ort aus. Und dazu gab es diese elektronischen Verdoppelungen mitsamt ihrem Widerhall in den Bergen. Von überall her kamen die Verse aus der Ferne zurück, zuerst laut und dann immer leiser werdend. Mariellas mädchenhaft fistelnde Stimme kontrastierte auf besondere Weise mit dem hymnisch gestimmten, tiefen und ernsten Ton seines Vortrags. Spleen hielt nach jeder Zeile inne und erst nachdem diese in der Ferne verklungen war, kam die darauf folgende Zeile aus ihm empor: Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättigt, dann mir sterbe. Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil´ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinab geleitet; Einmal Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht. Die Stille war dicht, war intensiv. Waren es Andacht

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KAPITEL03  SZENE 12:  IT´S PARTY TIME

und Ergriffenheit? Waren es Erstaunen und Erschrecken über die Art des Vortrags und die Person des Vortragenden? Spleen war aufgestanden. Er wollte seinem Idol den Tribut zollen, den es verdiente. Er stand mit geschlossenen Augen. Und auch die Anderen waren aufgestanden und hielten ihre Blicke gesenkt. Nur die Anlage brummte ganz leise vor sich hin. Allein Pieschke, der hockte noch auf allen Vieren. Pieschke schaute wie jemand, der nicht begriff, was vor sich ging. Auf den Knien krabbelte er in die Mitte der leeren Tanzfläche. Dann blickte er noch einmal in die Runde, mit weit offenen Augen und einem unglaublich breiten und debilen Grinsen. Er hoppelte unbeholfen noch ein paar Meter weiter in Richtung Spleen, hob den Kopf und rief: »Mein lieber Spleen..., mein lieber Hölderlin...« Dann machte er ein Pause, als müsste er noch einmal überlegen, was er sagen wollte: »...ich bitte sie!« Er machte wieder eine Pause, um zu sehen, ob er von allen gehört wurde. »...einmal! lebt ich!« Unter vorgehaltener Hand flüsterte er in die Runde, die längst begriffen hatte: »I probably lived only once in my life!« Dann wandte er sich zu Spleen:

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»Nur einmal...unter der Voraussetzung, das Gedicht sei mir endlich mal gelungen...also eigentlich keinmal! Ich bitte sie...sie...Ideo...Idea...!« Pieschke hatte sich gerade erst mühsam erhoben, als ihn ein Anfall überkam. Er hielt den Mund weit aufgerissen, dann gab er ein paar röchelnde Geräusche von sich, die allmählich in ein abgehacktes Gaggern übergingen, das Schnabelenten manchmal von sich geben. Er musste sich viel Mühe geben, nicht vollends loszubrüllen. Dann fasste er sich wieder, um noch etwas zu sagen: »...das können wir so nicht stehen lassen. Machen sie sich nicht toter als sie sind. Wir haben ihr Anliegen verstanden. Sehr ehrenwert, wirklich sehr ehrenwert.« Pieschke hatte es trotz wiederkehrender lachartiger Krämpfe bis zum Mikrofon geschafft und war dort, immer noch in gebückter Haltung und mit baumelnden Armen, stehengeblieben. Seine Arme machten nun deutlich einen Schwung in Richtung Spleen und sie schienen damit andeuten zu wollen, dass er ihn auf der Tanzfläche haben wollte. Dann rief er: »Ich fordere sie zum Tanz auf, mein Lieber!« Die Anspannung war vorüber. Da mussten alle lachen. Selbst Spleen. Vielleicht war er wirklich zu ernst gewesen. Denn jetzt fiel diese ganze Anspan-

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KAPITEL03  SZENE 12:  IT´S PARTY TIME

nung, fiel dieser ganze Ernst von ihm ab, wie ein schwerer, eiserner Panzer. Was dann geschah, kam Paul im Nachhinein ganz unwirklich vor. Es war, als hätten sich unsichtbare Schleusen geöffnet und eine besondere Energie flutete diesen Ort. Für einen Moment war es still. Spleen schien noch zu überlegen, ob er die Einladung annehmen sollte. Jemand fing an, sehr leise über eine Gitarre zu streichen. Jemand anderes fing an, ebenso leise eine Trommel anzutupfen. Es war kaum hörbar, doch wurde mit diesen Klängen schon alles vorbereitet. Paul kam in dieser Nacht aus dem Staunen nicht mehr heraus. Spleen konnte tanzen! Pieschke hatte all seine Spastik verloren. Die Musik änderte sich noch radikaler, als sie es schon zuvor getan hatte, aber sie blieb immer auf den einen hohen ekstatischen Ton gestimmt, der nicht mehr enden wollte. Selbst die banalsten Texte klangen wie in Regionen katapultiert, in der sie normalerweise nichts zu suchen hatten. Pieschke war dabei vielleicht das größte Phänomen überhaupt. Er schien all das zu werden, was aus den Lautsprechern drang. Er war jede Zeile in Person. Er hüpfte, in völliger Missachtung seines Gewichtes, auf Zehenspitzen jubilierend an ihm vorbei. Und er sang solche Dinger wie:

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9,99 Pretty good wine A beautiful time My sweetheart You‘re sweeter than sweet And meaner than mean, I love you It‘s party time Den Anderen ging es nicht anders. Bronsky hatte Taschenlampen verteilt, die er mit bunten Folien beklebt hatte.

Alfred

war

außer

Rand und Band. Der Druide konnte sich nicht mehr einkriegen. Hakenase hüpfte auf den Sesseln, nachdem er die Damen vertrieben hatte. Und Paul? Er hatte zuletzt erschöpft und beinahe verliebt in den Armen von Mari-

Lisa Germano It´s party time It's too much me And none of the people I wanna be 9, 99 Pretty good wine A beautiful time What I am Is dreaming of dreams

ella gelegen. Erst als der

Of what I was, I could be

Morgen graute, nahm das

My sweetheart

Spektakel ein Ende. Mariella

You're sweeter than sweet

musste sich geschickt aus

And meaner than mean, I love you

seiner Umarmung gewun-

It's party time

den haben. Er war zuvor

It's party time

wohl eingeschlafen.

It's party time All of the good things In the middle I leave behind Unsolved riddles

youtube.com/watch?v=0XuSLAY_agM

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KAPITEL03  SZENE 13:  DIE ANGST DER MACHT

DIE ANGST DER MACHT Es klingelte früh. Es gab nur einen, der um diese Zeit anrufen konnte. Und das war Goldie. Bronsky langte noch halb im Schlaf nach dem Telefon. Auf dem Display stand Anonym. Er verließ eilig das Schlafzimmer, zögerte, überlegte hin und her, dann hob er ab. Eine unbekannte Stimme grüßte ihn. Er hörte irgendwas von Bundeskriminalamt. Die Stimme fragte ihn nach seinem Namen. Bronsky wollte wissen, was der Grund des Anrufs sei. Seinen Namen wollte er nicht nennen. Der Mann am Apparat nannte Bronskys Namen. Man hätte seine Nummer in Goldies Handy gefunden. Die Koffer waren in Frankfurt gefunden worden. Goldie selbst war verschollen. Bronsky fühlte sich benommen. Sie hatten seine Nummer. Sie hatten seinen Namen. Es war abgemacht worden, dass der Milliardär nach jedem Anruf die Anrufliste löschen und im Falle einer Gefahr das Handy unverzüglich beseitigen sollte. Und vermisst? Wahrscheinlich hatten sie ihn festgenommen. Nun wollten sie wissen, wer noch in diese Sache verwickelt war. Der Mann fragte nach dem Verhältnis zu dem Milliardär. Bronsky schwieg. Er hatte eine anstrengende Nacht durchlebt. Er hatte kaum zwei Stunden geschlafen. Und nun war die für ihn schlimmste anzunehmende Situation ein-

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getroffen, zu der er nun auch noch befragt werden sollte. Darauf war er nicht vorbereitet. »Ich weiß nicht, wer sie sind und ich weiß nicht, wovon sie reden...« Die Stimme am andern Ende der Leitung schwieg. Bronsky schwieg ebenfalls. In seinem Kopf sammelten sich die wichtigen Fakten. Er hatte den Telefonvertrag mit einem gefälschten Ausweis abgeschlossen. Er hatte alle Ortungsfunktionsmöglichkeiten deaktiviert. Aber sie werden jede Spur nachverfolgen: Geldtransfers, Transportlisten und Reisen. Wenn Goldie dran war, das hatte er immer gewusst, dann war auch er dran. Die Stimme nannte ihm eine Nummer, unter der er anrufen könnte, wenn er sich entschlossen hätte, mehr über sein Verhältnis zu Goldie auszusagen. ›Sie machen auf gelassen‹, sagte er zu sich. ›Ich soll mich in Sicherheit wiegen und denken, die würden nun wochenlang auf einen Rückruf warten. Die werden mich suchen, sie werden mich finden‹. Die Stimme schwieg verdächtig lange. Dann bat der Mann am anderen Ende der Leitung noch einmal eindringlich darum, auf telefonischem oder schriftlichem Weg alle Fragen zu klären. Bronsky legte auf. Danach googelte er sofort nach Goldie. Es gab ein paar Kurzmeldungen. Der Milliardär wur-

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KAPITEL03  SZENE 13:  DIE ANGST DER MACHT

de tatsächlich vermisst. Bronsky schaute durch nach draußen. Am Horizont kündigte ein heller Streifen den neuen Tag an, der ohne diesen Anfruf ein anderer werden würde. Er trat vor das Haus. Hätte er sich nur nicht auf diesen Deal eingelassen, hätte er sich einfach nur abgesetzt. Alles hätte perfekt sein können. Aber das wäre zu einfach gewesen. Man hatte ihn nach und nach eingeweiht in die Experimente, die sie an Menschen durchführten. Es sollte der nationalen Sicherheit dienen. Es war an einem Nachmittag. Er konnte das Gebäude, das sie mit Strahlen beschossen hatten, von seiner Arbeit aus beobachten. Da drinnen saßen Menschen. Sie hatten sie von irgendwoher, angeblich waren sie geisteskrank. Sie waren den Strahlungen einfach ausgesetzt worden. ›Alles für die nationale Sicherheit.‹ Bronsky spürte, wie die schiere Wut seine Kieferknochen zusammenpresste. Manchmal waren Schreie aus dem Gebäude bis zu ihm gedrungen. Albträume hatten ihn heimgesucht. An dem besagten Nachmittag hatte er frei, denn es waren keine weiteren Bestrahlungen geplant worden. Er näherte sich dem Ort über den rückseitig liegenden Garten und betrat dann unbemerkt das Gebäude. Die Korridore waren leer, jedoch kam ihm

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ein bestialischer Gestank entgegen. Er wanderte durch ein, zwei Zimmer, dann hörte er ein leises Stöhnen und Röcheln. Er blickte durch eine angelehnte Tür. Vielleicht zwanzig menschliche Kreaturen lagen dort auf Eisenpritschen. Sie lagen in ihrem Kot. Das schienen sie nicht zu bemerken. An ihre Köpfen baumelten Sensoren, die zu irgendwelchen Apparaturen führten. Er suchte nach jemandem, der ansprechbar wirkte. Doch diese Kreaturen waren ohne Ausnahme apathisch geworden. Sie starrten mit leeren Blicken und offenen Mündern an die Decke. Dann hörte er einen schrillen Ton, der sich dreimal kurz wiederholte. Er flüchtete hinter eine Tür und dort blieb er eine Weile versteckt stehen. Ihm wurde schwindelig, er taumelte. Er machte eine falsche Ausgleichsbewegung, sodass er stürzte. Er ahnte, was das bedeutete. Sie hatten außerplanmäßig mit einer weiteren Bestrahlung begonnen. Er wollte wieder auf die Beine, aber die Beine versagten ihren Dienst. Die Rückmeldungen seines Gleichgewichtsorgans waren falsch. Er fühlte sich ferngelenkt, versuchte sich dagegen zu wehren. Er machte ein paar unbeholfene Bewegungen, stürzte erneut und schlug hart mit dem Hinterkopf auf. Dies war ihm noch dumpf bewusst, denn zugleich fiel er nicht auf den Boden, sondern in einen sich

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KAPITEL03  SZENE 13:  DIE ANGST DER MACHT

drehenden Abgrund hinein. Er hatte die Orientierung verloren. Da war noch eine Tür, eine Wand, eine Decke. Die Decke war bald oben, bald unten. Seine Gedanken versuchten, sich an den stürzenden Dingen festzuhalten. Aber er konnte seine Gedanken nicht mehr willentlich aneinanderreihen. Er schrie. Die Schreie waren kochendes Wasser, das ihm ins Gesicht zischte. Das Außen war zu einem nervenzerschmetternden Spiegelkabinett geworden. Die Bedeutung seiner Worte wurden dunkel. Er konnte nichts mehr benennen und das löste in ihm eine rasende Angst aus. Die röchelnden Halbtoten flogen ihm durchs Gehirn. Sie erhoben mit dem Rest des in ihnen noch verbliebenen Lebens ihre Stimmen. Es war schauerlich. Sein Hirn schien ihm wie Dörrobst im Schädel zu zerschrumpfen. In schwarzem Wahnsinn begann er zu versinken. Ein letzter, unzerstörbarer Glaube war da noch, ein ruhender und leerer Punkt, in den hinein er sich irgendwie rettete. Seine Finger waren in den Boden verkrallt. Die Fingerkuppen waren aufgerissen und blutig. Sie waren das Erste, was er bewusst und andauernd wahrnehmen konnte. Unter den Fingern bildete sich der Boden und an dem Boden grenzten allmählich wieder die vertrauten Wände. Er betrachtete seine Uhr. Der Spuk hatte fünf Minuten gedauert, aber er war

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nicht mehr der, welcher er zuvor gewesen war. Sein Kopf fühlte sich noch Monate danach taub an. Sein linkes Bein machte ihm seitdem immer wieder unerklärlicherweise Schmerzen. Und was am Schlimmsten war: Ab da war eine Düsternis in ihm, die es vorher nicht gegeben hatte. Sie wurde in Zeiten der Ablenkung und des Rausches überdeckt. Sie lag in ihm wie ein totes Stück Fleisch. Diese Düsterkeit war ein kriechender und unheimlicher Schatten, wenn das Licht abnahm. Diese war verbunden mit etwas, das er »Schlechtigkeit« nannte. Diese Schlechtigkeit war vielleicht noch schlimmer als der Tod. Sie war durch die Strahlung in seine Zellen gedrungen und hatte diese grausame Kälte und destruktive Gier mit sich geführt. Sie war die Waffe Satans und seiner gefallenen Gefolgschaften. Zumindest in diesem Punkt hatte Bronsky einen Zug ins biblisch Religiöse. Für ihn als wissenschaftlich ausgebildeter Mensch blieb das Bewusstsein jedoch gebunden an dieses Wunderwerk aus grauem Fleisch. Dieses Ding war, wenn es denn lebte, zu viel mehr fähig als nur zu einer Welt. Er war durch gefährliche Experimente und durch abartige Induktionen in Bewusstseinszustände eingetreten, in welchen Raum und Zeit nicht mehr existierten. Er konnte in diesen Zuständen seinen Finger, oder die Idee eines Fingers, in eine Sphäre

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KAPITEL03  SZENE 13:  DIE ANGST DER MACHT

halten, in der alles, was zuvor räumlich und zeitlich getrennt war, greifbar zu sein schien. Doch war dies nur in eine Gehirnleistung, ein Phänomen der unendlich intelligenten Produktivkraft dieser glibberigen Masse. Für Bronksys Phänomenologie bedurfte es keiner angestrengten denkerischen Selbsthäutungen, wie dies Nietzsche ein Leben lang an sich vollzogen hatte, sondern es genügte allein die Modifikation von Wellenlängen, die Erhöhung von Strahlen­dosen. Was ihn mit den Schlächtern ideologisch verband, das war die Verachtung gegenüber den Schafen und den Schlafenden. Es war die Verachtung des Wissenden, der an diesem Wissen litt gegenüber denen, die nicht wissen wollten. ›Diese Schafe haben Handys, die überall in der Welt empfangen können, aber sie wollen sich nicht klarmachen,das man sie darüber jederzeit abhören kann, schlimmer noch: Sie möchten nicht darüber nachdenken, dass ihr Gehirn selbst so etwas sein kann wie ein Empfänger.‹ Man hatte ihnen eingetrichtert, das Gehirn sei hervorragend gegen die Strahlung aus dem Universum abgeschirmt. Doch besaß das Gehirn einen durchlässigen Bereich. Was bei den Russen mit Mikrowellen auf geringe Entfernungen erfolgreich als »Psychochirugie«, »Psychokorrektur« oder »psychotronische Bearbeitung« be-

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gonnen hatte, das hatte zu seiner Zeit eine viel größere und gefährlichere Dimension angenommen: In seiner Abteilung konnten sie die Energiefelder der Ionensphäre nutzen, um auch größere Bevölkerungsgruppen neurophysiologisch wirksam zu manipulieren. Sie taten dies mit Wellenformen, die entfernungsunabhängig

funktionierten,

die

schwer

messbar und doch biologisch wirksam waren. Sie sendeten niederfrequente Strahlen aus, welche natürliche Gehirnwellen nachahmten. Sie implementierten suggestive Formeln in diese Wellen. Sie müssten nur ein paar Schalter umlegen, um Menschen in unterwürfige Zombies zu verwandeln. Ihm war das Unmögliche gelungen. Er war aus ihrer Mitte, aus ihren Sicherheitstrakten wie eine Ratte entflohen. Dann hatte er den Milliardär kennengelernt und dessen Geld aufgetan. Er hatte damit diesen tollkühnen und irren Haufen organisiert und er war an die geheim gehaltenen Orte zurückgekehrt, um einige ihrer veralteten Geräte aus ihren weniger scharf bewachten Lagerhallen zu entwenden. Und dann überkam ihn diese messianische Energie. Bronsky fühlte sich, als hätte er den Auftrag bekommen, die Welt von einer ihrer größten Gefahren zu befreien oder diese zumindest öffentlich zu machen. Er wusste genau, wovor die Mächtigen am meisten

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KAPITEL03  SZENE 13:  DIE ANGST DER MACHT

Angst hatten. Man konnte diese Technik in eben dem Maße auch für bessere Zwecke einsetzen. Ähnlich den energiemedizinischen Verfahren, die Methoden der Radionik oder Bioresonanz nutzten. Und man konnt vor allem mit dieser Technologie neue und erweitertere Bewusstseinszustände hervorrufen. Die Technik konnte einen weiterhin zum Souverän gegenüber den täglichen Indoktrinationen machen. Er hatte sich vorgenommen, diese Technik für diese besseren Zwecke einzusetzen. Und natürlich wollte er damit auch Geld - viel Geld! - verdienen. Aber jetzt war etwas passiert, was allem eine neue Wendung gab: Sie hatten seine Spur aufgenommen. Sie würden nicht nur ihn, sie würden auch alles beseitigen, was jemals mit dieser Technologie in Kontakt gekommen war. Er konnte fliehen und noch einmal eine andere Identität annehmen. Er könnte bleiben, aber was sollte er dann tun? Bronsky gab einen gellenden Schrei von sich. Er fühlte sich in die Enge getrieben. Sie würden ihn nicht kriegen. Nicht lebendig. Er war Psychopath genug, um sich mit allen ihm zu Verfügung stehenden Waffen skrupellos zu wehren. Er gab einen weiteren Schrei von sich und noch einen und noch einen. Es war ihm egal. Nein, es sollte ihm eigentlich nicht egal sein. Doch da war es schon zu spät. Ein junge Frau kam herein. Er

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hatte sie mitgenommen. Sie war immer noch so sinnlich schön, wie in der gestrigen Nacht. Aber in ihrem Nichtwissen kam sie ihm auch ahnungslos, in ihrer Verwirrung darüber, dass sie hier war, naiv und beinahe dümmlich vor. Sie sah ihn an. Hatte sie etwas gemerkt? »Wie bin ich überhaupt hier hergekommen?« »Das musst du doch am besten wissen. Wir hatten eine tolle Nacht.« Er sah sie wie durch einen Schleier an. Er konnte jetzt nichts mit ihr anfangen. Er machte eine beschwichtigende Geste. »Ich komme gleich, ich komme.« Sie sah ihn entgeistert an. »Was ist hier los?« »Gleich, ich komme. Dann sag ich es dir.« Sie drehte ab. ›Was soll ich tun?‹ Bronsky lief in sein Labor. Er drückte Knöpfe, justierte die Regler. Nein, er war nicht normal. Wenn er wieder im Schlafzimmer wäre, würde sie alles vergessen haben.

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KAPITEL04  SZENE 01:  DEVS GELBE ZETTELCHEN

IV. DEVS GELBE ZETTELCHEN Es war noch früh am Vormittag, als er erwachte. Dort, wo er lag, war es feucht und kühl. Neben ihm streckte sich eine Kiefer in die Höhe. Paul rollte sich in das morgendliche Licht und schaute hinauf. Das schwankende Geäst ragte mit seinem schweren Nadelgehänge bis fast zu ihm hinab. An den Enden der Äste hoben sich die jungen Zweige fröhlich leuchtend empor. ›So als wollten sie der Sonne zuwinken‹, dachte Paul. Dort, wo sich die Nadeln steil aufgerichtet hatten, sahen ihre Unterseiten wie ein Schwarm silberner Fische aus. Paul drehte sich aus dem Licht und betrachtete das üppige Nadelwerk. Dahinter schimmerten die schon älteren Büsche in schummrig kühlen und braunen Tönen. Die Äste, die sich weiter innen am Baum befanden, waren in dunkle Schatten gehüllt. Das Farbspiel war dort erloschen. Noch näher am Stamm gab es solche, an denen nur noch wenige Nadeln baumelten und die in der anhaltenden Dunkelheit ihrem Ende zuneigten. Umso länger er den Baum mit seinen schaukelnden Ästen anschaute, desto schöner und gleichnishafter wurde ihm das Bild. Während es unten kühl und still war und der Baum mit seinem alten Stamm so ganz der Erde verbunden war, tanzten die

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jungen Nadeln im Licht und so in den Himmel gehoben, als ob sie in eine andere und von aller Schwere befreite Dimension hinein ragen würden. Als er sich aufrichtete und schließlich ins Freie trat, ließ er seinen Blick über die Landschaft streifen. Da war diese unwirkliche Schönheit gleichsam überall vorhanden. Die Landschaft schien von diesem hellen Licht, schien von dieser Klarheit übergossen, die er schon am gestrigen Tag überall wahrgenommen hatte. An jeder Stelle hätte er verweilen können, um dort in natürlicher Betrachtung zu versinken. Alles hatte seinen je eigenen Zauber, war ganz für sich und war zugleich ein selbstvergessener Teil des Ganzen. Wolken schwammen darüber, strahlend und weiß, die Berge glänzten schneebedeckt und wie ferne Reiche. Und dahinter das ewige Blau. Paul hatte sich dennoch entschieden abzureisen. Die Nacht war schön, war real und irreal gewesen. Und das machte ihm Angst. Er musste an Deutschland denken, an seine Schule, an sein Zuhause, wo alles nüchtern, aber eben auch sicher war. Er musste an Henriette denken. Gerne würde er mit ihr hier umschlungen liegen und im Wesen der Dinge baden. Hier wäre Henriette sicher weniger verschlossen, hier wäre sie vielleicht so, wie sie wirklich ist. Er wollte sie wiedersehen, doch war es unwahrscheinlich, dass sie ihn hier besuchen kommen würde.

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KAPITEL04  SZENE 01:  DEVS GELBE ZETTELCHEN

Er wollte noch einmal die Orte erkunden, die er bei seiner gestrigen Ankunft und nur im Vorübergehen kennengelernt hatte. Er stolperte einen Abhang hinab, gelangte an den Platz, an dem das große Zelt stand. Unter dem uralten Baum waren mehrere Stühle um einen Tisch gerückt worden. Dort saß ein Mann. Als Paul näher kam, erkannte er in ihm denjenigen, der sich gegenüber Alfred so seltsam abfällig geäußert hatte. Der Mann winkte ihn zu sich heran. Er bot ihm etwas zu trinken an. Dabei blickte er Paul so offen, freundlich und interessiert ins Gesicht, das Paul sich beinahe geschmeichelt fühlte. Er mochte Ende zwanzig sein und strahlte eine Frische aus, die gleichermaßen von seinem Körper wie von seinem Geist auszugehen schien. ›Straffer Typ‹, dachte Paul. Der Mann stellte sich als Dev vor. Er erzählte Paul, dass er an diesem Ort vor gut einem Jahr »hängengeblieben« war. Dann fragte er Paul, wie denn nun bisher so sein Eindruck hier oben wäre. Paul meinte, dass er noch vollkommen überwältigt sei und sich kein richtiges Urteil erlauben könne. Dev fragte Paul, was er von seinem Onkel halten würde. Paul war überrascht. Er antwortete irgendwas mit ›ganz sympathisch‹, aber Dev erwiderte: »Und nicht auch ein bisschen irre?« »Ja vielleicht, so kann er einem vorkommen.« »Nicht nur vielleicht. Da kannst du dir sicher sein.

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Dein Onkel ist irre.« Dev machte verschiedene Andeutungen. Er erwähnte, dass Alfred mit Technologien experimentieren würde, denen er nicht gewachsen sei. Das Ganze sei vor allem ein ziemlich »größenwahnsinniger, weltverbesserischer Hippischeiß«. Etwas, das es gar nicht mehr geben dürfe. Er bot Paul an, ihn als Gast nicht nur im Notfall - bei sich aufzunehmen. Sie seien eine größere Lebensgemeinschaft von circa dreissig Leuten »dort unten«. Sie würden an ganz pragmatischen Projekten arbeiten, an neuen Lebensformen, die vor allem Ökologie und Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellten. »Wir sind ein Team. Bei uns gibt es keine einsamen vor sich hin spinnenden Visionäre.« Paul sagte, er würde sich das überlegen, aber er wolle seinem Onkel auch nicht vor den Kopf stoßen. Dann wollte er wissen, weshalb denn Alfred so ein »Spinner« sei. Dev dachte nach. Um Paul das klar zu machen, hätte er weit ausholen, hätte er bei seinem Studium anfangen müssen. Er ließ das, was er meinte, vor seinem inneren Sinn vorbeiziehen: In den höheren Semestern, erinnerte er sich, wurden die Problemstellungen zunehmend komplexer. Es war einem Einzelnen nicht mehr möglich, alle Aspekte eines Themas zu überblicken und so gingen sie in

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KAPITEL04  SZENE 01:  DEVS GELBE ZETTELCHEN

diesen Semestern dazu über, die Lösung als Teams in Angriff zu nehmen. Sie verteilten die Arbeitspakete untereinander, führten die Ergebnisse dann aber so zusammen, dass alle wieder darauf zugreifen konnten. So konnten sie mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen eine Fragestellung unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten und oft mussten sie sogar über mehrere Fachgebiete hinweg ihre Lösungsideen formulieren und umsetzen. Dev war Soziologe. Aber in seinen Projektgruppen, die sich vor allem mit stadtplanerischen Fragestellungen beschäftigten, arbeiteten Architekten, Ingenieure, Psychologen, Betroffene und Entscheider eng zusammen. Dort hatte er erlebt, wie großartig und bereichernd es sein konnte, sein Wissen und seine Leistung mit seinen Arbeitskollegen und Mitkommilitonen zu vergemeinschaften. Alle hatten ihre Inspiration und Produktivität in einem ganz erstaunlichen Maße steigern können. Einfach, indem sie sich aufeinander einließen und ihre Gedanken miteinander vernetzten. Und dafür gab es eine verblüffend einfache Methode: Dev und seine Teammitglieder hatten es sich angewöhnt, in den verschiedenen Phasen der Zusammenarbeit ihre Überlegungen auf kleine gelbe Zettelchen zu notieren. Die wurden anschließend an die Wand geklebt, gemeinsam überdacht und ausge-

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wertet. Einmal wurde einer von Devs zettelgroßen Einfällen genommen und zu einer Gruppe korrespondierender Zettel-Gedanken geklebt. Sie sortierten den ganzen gelben Haufen neu und brachten ihn zuerst in einen sinnvollen Zusammenhang und dann in eine schlüssige Reihung, die alle zum selben Ergebnis führte. Dev war glücklich. Dieser gemeinsame Denkraum aus zettelgelben Pinnwänden ermöglichte ihnen Teilhabe an etwas Umfassenderem als sie selber waren. Sie profitierten – jeder für sich und alle gemeinsam - von dieser Form »kollektivierter Intelligenz«. Am Anfang war diese gemeinsame Denkarbeit schmerzlich gewesen. Doch als er aufgehört hatte, sich mit seinen Beiträgen zu identifizieren, konnte er sie ohne Vorbehalt mitteilen. Er warf sie seinen Mitspielern wie Bälle zu. Und ein guter Wurf inspirierte das Spiel! Oft gab es blitzschnelle Rückmeldungen. ›Das war ein guter Einwurf, Dev! Hier ist unser Return...‹ Dev selber brauchte diese Steilvorlagen, brauchte die Inspiration der Anderen, um zu noch besseren und weiter reichenderen Ideen zu kommen. Ihm wurde klar: Hatte man eine Idee, klebte man sie am besten gleich an die Wand. So profitierte man von den Feedbacks und ad hoc Optimierungen seiner en-

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KAPITEL04  SZENE 01:  DEVS GELBE ZETTELCHEN

gagierten Kollegen. »Proofed Thinking« und »Rapid Redesigned Ideation« nannte er das. Davon hatte der junge Mann, der da vor ihm saß, sicher noch nicht mal einen blassen Schimmer. Doch die Zeit, ihm all dies zu erklären, würde nicht reichen. Dev versuchte es also anders: »Deine Freunde da oben denken allein vor sich hin. Dadurch entsteht diese verquirlte Scheiße, die sie am liebsten geistreich nennen würden. Sie treiben mentalen Inzest mit sich selbst. Sie sind die Übertreibungen ihrer selbst. Sie sind Karikaturen.« Paul fühlte sich durch die die Härte des Urteil getroffen: »Irre sind außerdem gefährlich.« Dev fügte hinzu, dass er diese Leute gut genug kennen würde, um diese Feststellung machen zu können. Seit einiger Zeit sei er unfreiwillig Zeuge dieses absurden Theaters. Das wäre alles folgendermaßen gekommen: In den Semesterferien des letzten Sommers war er mit Teamkollegen aus seiner Hochschule für ein Forschungsprojekt zuerst nach Pondisheri aufgebrochen. Denn dort war vor Jahrzehnten eine Gemeinschaft entstanden, die ein eigenes Sozialsystem und eine neue Form von Stadt geschaffen hatte. Diese Stadt hieß Auroville. Er wollte wissen, wie sie dieses Projekt geplant und realisiert

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hatten. Er hatte sich mit seinen Kommilitonen an diesem Ort schnell eingelebt und einige Bewohner aus der ersten Nachfahrengeneration kennengelernt. Als eine kleine Gruppe aus diesem Kreis hatten sie sich vorgenommen, ein verlassene Siedlung im Himalaja als Experimentierfeld zu nutzen, um dort ein Modelldorf entstehen zu lassen. So waren sie hier gelandet. Sie wollten durch den Einsatz kostengünstiger und effektiver Technologien die Möglichkeit einer Selbstversorgung erproben. Das Dorf sollte sich nahtlos in die Umwelt einfügen, weil es nur aus den Materialien aufgebaut wurde, die es hier schon gab. Und nun lebten sie seit mehr als einem Jahr in ihren Ergebnissen, welche »die Vergemeinschaftung ihrer Ideen« hervorgebracht hatte. »Für das, was wir hier geschaffen hatten, war kein Investor nötig.« Dev grinste. Er spürte, dass er Paul Dinge an den Kopf warf, die er nicht auf Anhieb begreifen konnte. Er versuchte die wesentlichen Gründe dieser Problematik für Paul auf den Punkt zu bringen: »Deine neuen Kumpels da oben wollen was ganz Besonderes ... oder sagen wir mal, sie wollen besonders »originell« sein. Dabei geht es heute nicht mehr um Originalität, sondern um die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten.«

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Dev schaute Paul mit einem Nicken an, als wollte er ihn dazu animieren, auch mit dem Kopf zu nicken. »Originalität hat für mich keine Bedeutung mehr. Sie riecht zu sehr nach Eigensinn. Deine Gedanken solltest du immer so formulieren, dass sie auf ein »Postit« passen. Das ist für mich das einzig angemessene, halbwegs überschaubare, erträgliche und sozial kompatible Maß an Originalität, das ich noch zu akzeptieren vermag.« Dev grinste noch breiter. »Wie...?«, meinte Paul, der nicht ganz verstand. Dev grinste Paul immer noch selbstgefällig an. Er war sich bewusst, dass die kommunikative Kultur seiner Generation durch Kurzmitteilungen, durch Open Source, soziale Netze, Facebook und Twitter geprägt worden war. Nicht durch die elend langen Monologe einer Diskurskultur von Althippies. Er hatte gelernt, wie man sich kurz fasst, um die Aufmerksamkeit der Anderen – als Ressource - zu schonen. Er hatte gelernt, mit der verfügbaren Fläche, die ihm diese gelben Zettelchen boten, auszukommen. Und das war viel mehr als nur eine Notizfläche: »Ich meine ...also...diese gelben Zettelchen...das sind die modernen Bausteine vernetzt denkender Gemeinschaften. Was deine Freunde da oben unter Originalität verstehen, ist Eigensinn. Vor allem bei

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Alfred. Der hat sich da allein etwas zurecht gegrübelt. Und nun wundert er sich, dass das für die Anderen nicht funktionieren kann.« Dev machte eine kurze Pause. »Hast du dir eigentlich das Gebäude ganz da oben angesehen?« Paul verstand wieder nicht, was Dev meinte. »Die haben da oben irgendein System installiert. So wie es aussieht, funktioniert das nicht nur als Empfänger, sondern auch als Sender.« Dann meinte er: »Die beschallen sich da mit irgendwas, das nicht gut sein kann.« Dev zeigte auf den Berg, auf welchem sich dieses System befinden sollte. Paul schaute in die Richtung, konnte aber nichts erkennen. Dann fragte er: »Sag mal, wo kommt eigentlich dein Name her?« »Das ist eine Abkürzung.« »Von Deven?« »Von der Schreibweise her müsste ich dir recht geben.« Dev buchstabierte seinen Namen: »D_e_v«, wird aber »Dave« ausgesprochen.« »Also bist du irgendwie Engländer?« »Nein. Im Grunde müsste ich »Def« abgekürzt werden.«

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Dev sprach seinen Namen dabei mit einem schroffen »f« aus. »Mein Name ist Programm. Ich bringe alles definitiv auf den Punkt. Deshalb »Def.«. Mit einem Punkt am Ende. Kommt von Definition. Jetzt alles klar?« »Finde ich übertrieben« »Stimmt genau...«, gab Dev mit einem noch genervteren Unterton von sich, »...denn eigentlich heiße ich »Detlef«. Jetzt weißt du´s.« »Ach so« »Aber Detlef ... das geht einfach nicht!« »Ok. Roger.« Paul wollte nicht weiter nerven, aber da er schon beim Fragen war, wollte er noch wissen: »Und was machst du, wenn du hier fertig bist?« »Wir...bitte: »Wir!« Wir werden vieles, was wir hier erprobt haben, auch in Deutschland zur Anwendung bringen. Wir gründen eine unabhängige Lebensgemeinschaft, die sich selbst versorgt, die energieautark ist, die das System nicht mehr braucht. Das ist die Revolution der kleinen Schritte!« »Du bist ja dann eigentlich ein Revoluzzer?« »Ja, aber keiner, der auf die Straße geht, sondern der seine Ideen mit Anderen produktiv vergemeinschaftet, um am Ende eine bessere Form der Gesellschaft zu kreieren...oder sagen wir »optimiertere Form der

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Gesellschaft«.« Dev lächelte. Paul war erleichtert. Die Fähigkeit zur Selbstironie konnte er ihm doch nicht ganz absprechen. Aber vielleicht hatte er es doch ernst gemeint. »Nimm doch Alfred mit, der kann das auch gebrauchen.« »Alfred ist ein Neandertaler...sorry. Der darf bei uns in das Gehege für seltene und vor dem Aussterben bedrohte Exemplare. Da kann er so viele Textfladen rausdrücken wie er lustig ist... die werden bei uns kompostiert und dann wieder der Gemeinschaft zugänglich gemacht.« »Das ist nicht fair. Er ist nur anders als du.« Allein die Vorstellung, mit Alfred etwas gemeinsam zu unternehmen, schien Dev regelrecht zu quälen. Paul meinte dies jedenfalls seinem Gesicht entnehmen zu können. »War nur so eine Idee. Ist doch erlaubt, dachte ich. Warst du eigentlich gestern nicht auch oben auf dem Fest?«, fragte Paul. »Ja, ich bin später dazugekommen. Eins muss ich denen lassen. Sie verstehen zu feiern...«, meinte Dev anerkennend. »...aber damit hatten Irre noch nie ein Problem.« »Na gut,...«, erwiderte Paul, »...ich schau mir mal an,

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was du da oben gesehen haben willst.« Dev´s fundamentale Abneigung gegen alles, was mit Alfred in Verbindung stand, war Paul zu heftig geworden. Diese hatte bei ihm sogar Sympathien für seinen Onkel und sein anscheinend zum Scheitern verurteiltes Vorhaben geweckt. Dev zog einen kleinen gelben Block aus der Tasche. »Keine Angst. Ich will nur aufschreiben, wo du mich finden kannst...falls du doch mal in Not geraten solltest.« Während er Paul hinterhersah, erinnerte sich Dev an den gestrigen Abend. Er hatte Alfred oben angetroffen und mit ihm geredet. Alfred wollte das große Zelt für die gemeinsame Feier nutzen. Es sollte auf der Hochebene aufgebaut werden, die von ihm als »Park« bezeichnet wurde. Dev hatte gezwungenermaßen eingewilligt, da das Zelt seinerzeit von allen gemeinsam angeschafft und errichtet worden war. Aber er hatte sich vorgenommen, den örtlichen Behörden eine Mitteilung zukommen zu lassen. Sie sollten bei Gefahr einschreiten können! Es war ein unaufgeregtes Gespräch gewesen. Ohne Grundsatzdebatten und Anschuldigungen. Es wäre alles ganz belanglos geblieben, wäre da nicht dieser eine Moment gewesen, den er nicht verstand. Sie hatten beide geschwiegen und Dev hatte den Eindruck, als hät-

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ten sie ihre unsichtbaren Fühler in das Bewusstsein des jeweils Anderen hinein gestreckt, so als wollten sie gegenseitig einen Blick hinter die Fassade ihrer Gedanken werfen. Alfred hatte ihn schweigend angesehen mit einem Lächeln, das so leicht war, dass es gar nicht mehr als ein solches hätte bezeichnet werden können. Da war noch nicht mal ein Lächeln. Da war nichts, an dem hätte Dev Anstoß nehmen können. Ganz im Gegenteil. Da war ein unabsichtliches, stillschweigendes Einvernehmen, eine geteilte Stille, Einsicht und Gemeinschaft – auch ohne gelbe Zettelchen.

DIE AUFLÖSUNG DER KREISEL Es gab einen Weg, der von dem Akkumulator direkt zum Berg führte. Von dort gelangte Paul auf eine lang gestreckte Ebene. Weit verstreut standen dort Büsche und Bäume. Entlang einer aufragenden Felswand reihten sich Gebäude eng aneinander. Die meisten bestanden aus groben, aufeinander geschichteten Steinen. Im Mauerwerk gab es kleine Öffnungen, die als Fenster dienten. In ein paar Mauern waren großzügig Glasfronten mit hölzernen Verstrebungen hineingebaut worden. Es gab auch stallartige Anbauten, die aus senkrechten

Holzplanken

zusammengezimmert

worden waren. Diese Behausungen standen in unter-

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KAPITEL04  SZENE 02:  DIE AUFLÖSUNG DER KREISEL

schiedlichen Winkeln zueinander und mit ihren ineinander geschobenen Baukörpern, mit ihren gemeinsam geteilten Wänden und Terrassen erinnerten sie Paul an die Kykladen-Architektur griechischer Fischerdörfer. Einige dieser Behausungen waren bewohnt, aber die meisten schienen leer stehend. Dort waren die Fenster zugenagelt worden und die Terrassen standen verlassen. Wahrscheinlich lebten hier viele von denen, die er gestern Nacht gesehen hatte. Nun waren die meisten sicher noch dabei, ihren Rausch auszuschlafen. Ein sanfter Wind strich an diesem Morgen über die Hochebene hinweg. Irgendwo plätscherte ein Bach. Paul kam es so vor, als würde er von einem unsichtbaren Fluidum umgeben sein, als wäre er ein wenig in Trance. Als er aus den Bäumen heraus und an die äußerste Kante dieser Ebene trat, konnte er seinen Blick weit in die Ferne schweifen lassen. Weiter oben an dem Berg gewahrte er ein weißes, schüsselartiges Gebilde, das an einem hohen Turm angebracht war. Wie eine helle Skulptur ragte dieses Etwas über den Baumwipfeln hervor. ›Das muss der Ort sein, von dem Dev gesprochen hat!‹, dachte Paul. Das Objekt weckte seine Neugier und er schlug eine Richtung ein, die auf den höher gelegenen Hügel zu führen schien.

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Er fand einen Trampelpfad, und nachdem er etwa zwanzig Minuten gelaufen war, gelangte er an eine Absperrung. Er wanderte in der Richtung weiter, in welcher sich der Zaun den Berg hinauf schlängelte. An einer kleinen Lichtung konnte er durch die Bäume das seltsame Gebilde deutlicher erkennen. Es musste sich dabei um irgendeine Sendeanlage handeln. Was ihn erschreckte, das war allerdings ein wesentlich beeindruckenderes Objekt, dass jetzt erst sichtbar wurde. Es war eine sehr große und lang gestreckte konvex geformte Schüssel. Es erinnerte Paul an ein altes Radar, so wie man es aus der Luftüberwachung kennt. Allein die Größe war erstaunlich. Und da es sich bewegte, war anzunehmen, dass es auch in Betrieb war. Als er weiterlief, gelangte er an eine kleine Pforte, die verschlossen war. Er traute sich zuerst nicht hinüberzusteigen, aber dann tat er es doch. Nach nur wenigen Minuten kam ihm ein wütend gestikulierender Inder in einem hellgrauen Kittel entgegen. Er sprach so schnell und undeutlich, dass Paul in kaum verstand. Auf jeden Fall sollte er sofort umkehren, denn dieses Gebiet wäre für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Er war aus derselben Richtung gekommen, die auch Paul eingeschlagen hatte und dort hatte er einen kleinen Schubkarren stehengelassen. Paul stiefelte zurück und als er in den Karren blickte, lagen darin tote Eichhörnchen. Darauf

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konnte er sich keinen Reim machen, denn weder hatte er Schüsse gehört noch konnte er sich vorstellen, dass Inder gerne Eichhörnchen essen. Auf seinem Rückweg nahm er eine ganz andere Richtung, sodass er am anderen Ende dieser seltsamen Siedlung aus dem Wald trat. Vereinzelt standen dort riesenhafte und uralte Bäume. Was aber seine Aufmerksamkeit weit mehr erregte, das waren die Objekte, die sich zwischen diesen Bäumen verteilten. Es schien sich um einen Spielplatz zu handeln, jedenfalls machten die Schaukeln, Wippen und eisernen Ringe diese Vermutung sehr wahrscheinlich. In einiger Entfernung hörte er Stimmen, wobei er eine als die Stimme Alfreds wiedererkannte. Dieser befand sich in einem aufgeregten Gespräch mit einer etwas dicklichen Person. Noch hatten Sie ihn nicht entdeckt und so bekam er aus den wenigen Gesprächsfetzen mit, dass Alfred von der Leiterin des abgelegenen Yoga-Ashrams berichtet wurde, die Gegend sei ihr nicht mehr geheuer. Vor allem Bronsky hätte bisweilen einen merkwürdigen Einfluss auf ihre Schülerinnen. »Du weißt, was damit gemeint ist.« Alfred war wütend. Bronsky entgegnete: »Du musst dich nicht in Unschuld waschen.« »Wie auch immer. Wir haben unser Ziel aus den Augen verloren.«

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Dann erzählte er Bronsky, dass ihn die gestrige Nacht begeistert hätte. »Es ist alles noch möglich.« Die beiden saßen in gepolsterten Sesseln, deren eiserne Gestelle auf eine runde Drehscheibe geschmiedet worden waren. Durch gelegentliches Ziehen an einem umlaufenden Geländer konnte die Drehscheibe bewegt werden, was Bronsky auch tat. In den Gesprächspausen konnten sie sich an der sich gemächlich mitdrehenden Landschaft erfreuen. Als Paul erschien, wurde er von Alfred zu einem gemeinsamen Kreisen auf die Drehbühne eingeladen. Alfred war nicht mehr zu stoppen. Er hatte sich vorgenommen, eine große Feier abzuhalten. Der Park, dessen Bau vor einem Jahr aus Geldmangel gestoppt wurde, sollte nun endlich und doch noch offiziell eingeweiht werden. Paul wurde ein alter Korbstuhl zugewiesen, der den beiden gegenüberstand. Dies hatte zur Folge, dass er gegen die Fahrtrichtung geschoben wurde und als schweigender Dritter – zumindest gefühlt – die Rolle eines Schiedsrichters einnehmen musste. Denn Bronsky war keineswegs von Alfreds Idee begeistert. Und wenn Paul auch nicht viel von dieser Feier verstand, so war er doch beeindruckt von dem Wandel, der sich in Alfred vollzogen hatte. In diesem war eine plötzliche, jugendliche Begeisterung erwacht. Er sprach deutlich, klar und mit Nachdruck.

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Er war voll Selbstvertrauen und seine Augen leuchteten, während Bronsky vielmehr übellaunig und ein wenig abwesend wirkte. Alfreds Enthusiasmus machte Bronsky noch missmutiger. Er wollte das alles nicht hören. Ja, es sah sogar so aus, als ob Alfreds Ideen ihn geradezu wütend machen würden. »Wir sollten davon ausgehen, dass wir den Milliardär nie mehr sehen werden. Von wem soll dann das nötige Geld kommen? Außerdem fehlen die Helfer.« Bronsky meinte, dass das ganze Projekt im Grunde sowieso gestorben sei. Es wäre an der Zeit, hier alles abzuwickeln. Dann fiel Bronsky in ein langes trotziges Schweigen, das mit einem überraschenden Entschluss endete: »Dann lass` uns die Feier machen.« Er hatte darüber nachgedacht, dass er dieses Ereignis für sich nutzen könnte. Während alle beim feiern wären, würde er sich aus dem Staub machen. Und die Geräte? Er würde sie vernichten oder zumindest bis zur Unbrauchbarkeit demontieren. Und zuletzt müsste er die Erinnerungen an alles, was hier geschehen war, löschen. Bronsky hatte die Scheibe angehalten und sich dann mühsam aus dem Stuhl herausgestemmt. Er verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung und einem mysteriösen Lächeln. »Ich empfehle mich, Jungs.«

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Paul sah ihm hinterher. Seine Beine waren nach außen gewölbt und recht kurz, so das der Eindruck entstand, eine Ente würde davonwatscheln. Von hinten fiel sein großer und speckig glänzender Kopf ins Auge. In Verbindung mit seiner dicken und schweren Brille gab ihm das ein intellektuelles, aber auch kauziges Aussehen. ›Schon erstaunlich, dass die Frauen so auf ihn stehen‹, dachte Paul. Alfred begleitete Paul noch ein wenig durch das Gelände. Dann setzten sie sich auf eine Bank. Paul wollte wissen, wer all diese Dinge finanziert hatte, aber sein Onkel hielt sich bedeckt. Und was hatte es mit dem Park und dieser ominösen Feier auf sich? Vor ihrer Bank lag eine mit Steinplatten ausgelegte Fläche. Auf dieser befanden sich sechs bunte Kreisel aus Blech. Sie waren größer als die, mit welchen Kinder normalerweise spielen. Alfred brachte einen dieser Kreisel zum drehen. »Inder mögen das...ich auch«, bemerkte er, »durch die schnelle Drehung lösen sich die Muster, lösen sich auch die Körper auf.« Der Kreisel war zu einem durchscheinenden, energetischen Phänomen geworden. Er bestand aus schmalen, bunten Streifen, die wie in die Luft gemalt zu sein schienen. »Immer wieder faszinierend« »Ja, faszinierend«, erwiderte Paul.

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»Das alles ist nur ein Vorspiel« Alfred hatte die Augen für einen Moment geschlossen und ließ seinen Kopf nach hinten fallen. »Ich bin erschöpft. Ich rege mich auf und bin erschöpft. Für diese Feier wird eine letzte und große Anstrengung nötig sein.« Er blickte in Pauls fragendes Gesicht. »Willst du wissen, weshalb ich das mache...« Alfred deutete auf die Kreisel. »Wir feiern die Auflösung der Kreisel. Wir feiern das Einzige, für das es sich überhaupt zu feiern lohnt.«

AN DIE NATUR Den Nachmittag verbrachte Paul mit kürzeren Wanderungen und gelegentlichen Aufenthalten in Alfreds Haus. Es besaß dicke Steinmauern und entlang des einen Zimmers hatte er drei große, gusseiserne Fenstergitter anbringen lassen. Paul hatte sich dort ein wenig hingelegt. Als er aus diesen Fenstern sah, hatte er den Eindruck, er würde aus einer alten Burg herausschauen. Das Haus schloss mit einer Terrasse ab, zu deren drei Seiten kleine Holzhütten standen. ›Für meine liebsten Gäste‹, hatte Alfred gesagt. Auf seinen weiteren Wanderungen an diesem Nachmittag traf Paul auf Pieschke, den es immer öfter in die Berge zog. Und dann traf er Spleen. Dieser

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saß an einer großen Wiese. Paul kam mit ihm ins Gespräch und Spleen erzählte, dass er sich jeden Tag aufs Neue darüber freuen würde, so viel Zeit zur Verfügung zu haben. Man benötige auch kaum Strom. Dieser würde einem hier auf unerklärliche Weise immer zu Verfügung stehen und außerdem wäre er mit einer Handvoll Reis und etwas Gemüse sowieso völlig zufrieden. Dann zog er eine ausgerissene Buchseite aus der Tasche und deutete auf die Wiese. Dieses Gedicht hätte er für sein nächstes Projekt ausgewählt. Er erzählte Paul, dass er keine architektonischen Ambitionen mehr hätte. Und nun, da die geheimnisvollen

Geldquellen

versiegt

waren,

sei

sowieso alles egal. Er wäre jetzt auch bereit, seine Sehnsucht nach antiken, idealischen Landschaften und erfundenen Mythologien zu überwinden. Vor allem in den Gedichten von Hölderlin seien diese für ihn nun eher störende Attribute. Er hatte ein frühes Gedicht von Hölderlin wiederentdeckt, dessen Worte er Buchstabe für Buchstabe in den Abhang pflanzen wolle. Denn in diesem würde Hölderlins Naturbegeisterung noch rein und unverbildet zum Ausdruck kommen. Er hatte sich dabei, und für Pauls Befinden fast schon zu nah, an ihn herangelegt. Dafür konnten sie nun aber beide auf das Blatt schauen. Er begann vorzulesen: »An die Natur«

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Da ich noch um deinen Schleier spielte, Noch an dir, wie eine Blüte hing, Noch dein Herz in jedem Laute fühlte, Der mein zärtlich bebend Herz umfing, Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen Reich, wie du, vor deinem Bilde stand, Eine Stelle noch für meine Tränen, Eine Welt für meine Liebe fand. Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte, Als vernähme seine Töne sie, Und die Sterne seine Brüder nannte Und den Frühling Gottes Melodie, Da im Hauche, der den Hain bewegte, Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich In des Herzens stiller Welle regte, Da umfingen goldne Tage mich. Spleen hielt für einen Moment inne: »Dein Geist, dein Geist der Freude sich in des Herzens stiller Welle regte. Wie konnte ihm dies gelingen?« Dann las er weiter: Wenn ich fern auf nackter Heide wallte, Wo aus dämmernder Geklüfte Schoß Der Titanensang der Ströme schallte Und die Nacht der Wolken mich umschloss,

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Wenn der Sturm mit seinen Wetterwogen Mir vorüber durch die Berge fuhr Und des Himmels Flammen mich umflogen, Da erschienst du, Seele der Natur! Spleen wartete bevor er weiterlas, schloss die Augen. Und auch Paul tat dem so. Der letzte Satz hatte eine vergessene Seite in ihm zum Klingen gebracht. Es war beiden, als könnten sie die »Seele der Natur« innerlich erfassen, als wäre diese ihnen greifbar nah. Oft verlor ich da mit trunknen Tränen Liebend, wie nach langer Irre sich In den Ozean die Ströme sehnen, Schöne Welt! in deiner Fülle mich; Ach! da stürzt ich mit den Wesen allen Freudig aus der Einsamkeit der Zeit, Wie ein Pilger in des Vaters Hallen, In die Arme der Unendlichkeit. »Durch die Natur in die Arme der Unendlichkeit! Bis zu dieser Zeile will ich jedes Wort und jeden Buchstaben in diesen Abhang pflanzen.« Paul las in die nächste Strophe hinein, um zu sehen, wie das Gedicht weiter ging. Dann meinte er, dass das Gedicht an der von Spleen bestimmten Stelle doch etwas abrupt enden würde.

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KAPITEL04  SZENE 03:  AN DIE NATUR

»Ja, das stimmt vielleicht«, meinte Spleen. »Dieser pathetische Aufschwung verlangt nach einer kontrapunktischen Setzung, nach einer Änderung in der Tonalität, nach Resignation und Nachdenklichkeit.« Paul nickte. »Erst dann ist es formal vollkommen.« Spleen hatte den Zettel missmutig weggeschoben. Paul nahm den Zettel und las die letzten Strophen vor: Tot ist nun, die mich erzog und stillte, Tot ist nun die jugendliche Welt, Diese Brust, die einst ein Himmel füllte, Tot und dürftig, wie ein Stoppelfeld; Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied, Aber hin ist meines Lebens Morgen, Meines Herzens Frühling ist verblüht. Ewig muss die liebste Liebe darben, Was wir liebten, ist ein Schatten nur. Da der Jugend goldne Träume starben, Starb für mich die freundliche Natur; Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, Dass so ferne dir die Heimat liegt, Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

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»Am Ende war doch alles nur wie ein Traum. Und wenn es mal wirklich so gewesen war, dann war es doch längst vergangen. Dichterwehmut eben.« Paul meinte: »Oder einfach ein stilistisches Prinzip. Melancholie und Unwiederbringlichkeit helfen, jedes Pathos zu veredeln.« Spleen sah niedergeschlagen aus. »Deshalb eben nur die ersten Zeilen.« Er fühlte sich, als hätte man ihm schon wieder den Boden unter den Füßen weggezogen. Wenn Hölderlin mit seinen Gedichten wirklich ein politisches Programm verfolgt hatte, so war Lyrik mindestens das falsche Medium, um dieses auch erfolgreich umzusetzen. Spleen lehnte sich noch etwas mehr an Paul heran. »Es ist schön, diese Gedanken mit dir teilen zu können.« Er betrachtete Paul mit einer gewissen Dankbarkeit, aber auch so, dass Paul denken musste, er wäre tatsächlich in der Lage, Spleen über seine Enttäuschung hinwegzutrösten. Wann hatte er sich zuletzt über Gedichte unterhalten? Seltsam anachronistisch kam ihm diese Begegnung vor. Und doch war da ein Zauber, eine jünglingshafte und romantische Begeisterung, ein Schwelgen in Gefühlen, so wie es viel-

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leicht im achtzehnten Jahrhundert unter jungen Männern einmal wirklich stattgefunden haben mag. Sie hatten noch einige Zeit geredet und waren dann in ein längeres Schweigen versunken. Die hohen Bäume, die in der Ferne in den Himmel ragten, standen entrückt im Licht, und wie der Zeit enthoben glitzerten ihre unzähligen Blätter. Der Wind strich über ihr Haar. Sie schlossen die Augen und öffneten sie nur noch gelegentlich, wenn das Rascheln im Blätterwerk stärker wurde. Paul war eingenickt. Eine Stunde mochte so vergangen sein, als die Stimme von Spleen ihn aus seiner seltsamen Schläfrigkeit riss. »Ich möchte dir etwas zeigen...« Paul blinzelte zu Spleen herüber. Dieser war zu einem Felsvorsprung gekrochen und winkte. Es war für Paul nicht so einfach aufzustehen. Er fühlte sich benommen. Spleen fuchtelte ungeduldig mit den Armen und rief: »Hier gibt es eine Wiese mit unzählig vielen Bienenblumen.« Als sich Paul bis zu Spleen hochgeschleppt hatte, erblickte er hinter einem Felsen ein weites Feld, auf dem zu gelben Inseln gruppiert der Löwenzahn blühte. »Das ist Löwenzahn!«

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»Ich nenne sie aber Bienenblumen. Es gibt sie ebenso in Indien.« Er reichte ihm eine Blume, die so strahlte, als wollte sie es der Sonne gleichtun. »Man nennt sie auch Eierblume, Kuhblume, Hasenfutter, Himmelslampe und Sonnenwirbel.« »Ja, aber für mich ist das Löwenzahn!« »Löwenzahn ist doch nur einer von unzähligen anderen Namen.« Spleen überlegte, dann zählte er auf: »Denn außerdem heißt sie Kristallkugel, Luftballon und Lichtblume...« »Lichtblume ist gut!«, meinte Paul. »Ja...Lichtblume!«, wiederholte Spleen entrückt. Paul drehte den Blumenstängel zwischen zwei Fingern hin und her. Seltsam verrätselt sah dieser gelbe Wuschel für ihn aus, und dieser wurde nun noch rätselhafter durch die vielen Bezeichnungen, die Spleen ihm gab. »Entschuldige, wenn ich dich jetzt esse...«, meinte Spleen. Er hob sie an sein Gesicht, neigte seinen Kopf nach hinten, sah dabei zuerst die Blume und dann Paul verlangend an, dann schob er den strahlenden Flausch in den Mund. ›So wie die dekadenten Römer ihre Weintrauben, so wie die Prostituierten...‹, Paul stockte bei diesem Gedanken und rückte ein Stück weg von Spleen.

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»Und Bettpisserli nennt man sie außerdem...« Sie mussten lachen. »Das glaub` ich nicht!« »Doch, Bettpisserli, Pissblume, Bettsaicher, Seichkraut, Bettbrunzer, Pfaffenröhrlein...wahrscheinlich weil du Wasser lassen musst.« »Für mich bleibt es Löwenzahn!« Paul war schwindelig geworden von all diesen Vorstellungen..., von Blumen, die alles verwirbeln, so dass selbst das Röhrlein des Pfaffen sich nicht mehr halten kann und dieser ins Bett brunzen muss. Er nahm sich vor, ganz gelassen zu bleiben. Er hatte sich in der Wiese eingerollt und staunte. Die Blumen waren ihm in ihrer phänomenalen Ausstrahlung so seltsam geworden und so, als wollten sie ihn mit ihrem im Wind tanzenden Wesen betören und betäuben. In einer dieser leuchtenden Erscheinungen hatte sich ein Biene niedergelassen. Sie hatte ihren Kopf in das Blütenkissen hineingewühlt, um sich zu bestäuben, und dann drehte und ringelte sie sich, wie besoffen, in all dem gelb glitzernden Licht. »Und weißt du, das aus ihnen Pusteblumen werden...?« Spleen versuchte, es Paul zu erklären. Er schien gedehnter zu sprechen als sonst und seine Stimme klang verschwommen. »Sie verpuppen sich, wie Schmetterlinge, und werden als Pusteblumen wiedergeboren.«

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»Ach ja...Pusteblumen sind das auch!« Das Bild von wegblasbaren, sphärischen Luftkörpern war Paul zu wirkmächtig, zu psychedelisch geworden: »Ich halte mich an Löwenzahn!« Paul wollte sich noch etwas weiter wegrollen, da fasste ihn Spleen am Arm, als wolle er Pauls Aufmerksamkeit in die seine zwingen. Er zeigte nach oben. Sein Zeigefinger wies auf den Hügel, hinter dem sich dieser obskure Sender befand. »Man kann ihn heute hören.« »Was meinst du?« Paul lauschte: Und dann glaubte er, tatsächlich etwas vernehmen zu können. Es klang wie ein Didgeridoo, unter dessen Raunen sich der Raum wie zu einem Schlauch zu verformen begann. Dieser schien sich darauf wie um sich selbst zu winden, und an seinem unendlichen Ende meinten sie Gesänge und Glocken zu hören, in denen unbekannte Winde spielten. Diese lautlose Musik schien die Dinge mit unbekannter Bedeutung aufzuladen. Spleen sagte: »Blumen sind Ekstase, aus was sonst sollten sie geboren sein!« ›Nicht nur Blumen...‹, kam es aus Paul. Spleen überlegte. Er brauchte einige Zeit, um den nächsten Gedanken zu fassen, dann meinte er:

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»Wir hatten mal Bienenblumen in Doppelkorn eingelegt.« Er setzte ein schräges Lächeln auf und fügte dann hinzu: »Schon balla balla..., wie sich der Verstand so seinen Rausch ersinnt.« Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Paul bekam einen Schreck, doch war da ein Bild, ein Gedanke, den er nachvollziehen konnte: ›Hirngrau macht das Denken alles... klein und dinghaft, damit es gedreht und gewendet werden kann‹. Spleen betrachtete Pauls sorgenvolle Miene. Er stand auf. Er taumelte. Die gelben Blumen schienen größer geworden zu sein. Auch schienen sie noch gelber als zuvor, geradezu bedrohlich gelb. Und dann benannte er instinktiv und, wie um sich zu schützen, die Gefahr. »Er experimentiert da oben mit Sachen, die uns noch irre machen werden.« Eine sms riss Paul aus dieser eigentümlichen Verwirrtheit. Hannah hatte sich kurzerhand entschlossen, ihn in den Bergen zu besuchen. Den ganzen übrigen Tag hatte er darauf in einer labilen und zugleich gehobenen Stimmung verbracht. Und es war völlig unvorhersehbar, was hier noch passieren würde.

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MIT TEE AUF DIE REISE

Wäre es nicht Henriette gewe-

sen, die ihm diesen Brief in die Hand gedrückt hätte, hätte er die Reise wohl nie unternommen. Aber so hatte er ihren Segen, handelte in ihrem Sinne, war dadurch mit ihr verbunden. Ja, er empfand diese Reise auch als einen Weg zu ihr. Bis jetzt hatte er Alfred nicht gefragt, woher er Henriette kannte und weshalb sie ihm diesen Brief übermittelt hatte. Und wieso überhaupt hatte Alfred ihn hierher eingeladen? Einiges dazu hatte er aus dem letzten Telefonat von Henriette erfahren. Aber Henriette war verschlossener geworden. War irgendetwas zwischen ihr und Alfred passiert? Er hatte sich nicht getraut, sie dazu am Telefon zu fragen. Abends wurde es kühler. Die Berge waren in Dunkelheit getaucht. Nur die höchste Gipfelspitze glühte noch in den letzten Strahlen der untergegangenen Sonne. Ein paar Tücher, die auf der Terrasse zum Trocknen aufgehängt worden waren, baumelten träge vor sich hin. Es war eine friedvolle Stimmung. Alfred hatte sich daran gemacht, seinen selbst gebastelten Ofen mit Holz zu bestücken. Paul überlegte, ob er nun endlich einmal all seine noch offenen Fragen stellen sollte. Sein Onkel hatte ein Büschel aus Stroh angezündet und wartete, ob das Feuer auf die Holzscheite überspringen würde. Er versuchte, das Feuer

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stärker zu entfachen, indem er mit einem Stück Blech vor dem Ofenloch hin und her wedelte. »Wie geht es eigentlich Henriette?« Alfred unterbrach seine Tätigkeit. Dann erhob er sich und sagte: »Ich mach` uns jetzt erst einmal einen Tee.« Nach einer Weile kam er mit einer orientalisch anmutenden Blechkanne und zwei Teegläsern zurück. Alfred musterte Paul. Dann sagte er: »Wir haben nicht mehr viel Kontakt. Sie hat sich verändert, seit sie einen Freund hat.« Für Paul war es, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und ihm dabei gleichzeitig einen Schlag vor den Kopf gesetzt. Kein Zweifel, er hatte richtig gehört. Er brauchte einige Zeit, um das zu begreifen. Sie hatte ihm den Brief von Alfred übergeben und immer hatte er gehofft, dass sie sich schon deshalb bald wiedersehen würden. Erinnerungen tauchten auf, erschienen in einem neuen Licht. Weshalb hatte er nicht nachgefragt, als sie ihm bei ihrem letzten Telefonat so abwesend vorkam? Alfred legte zwei größere Holzscheite nach, nachdem die Flammen an Kraft gewonnen hatten. Dann ging er noch einmal in die Küche. Scheppernde Geräusche drangen nach oben. Paul hatte sich auf der Liege lang ausgestreckt. Er blickte in den Nachthimmel. Er

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fühlte sich einsam. Die dunkle Unendlichkeit erschien ihm so gleichgültig. Und auch von den Sternen konnte er kein Mitgefühl erwarten. Sein Onkel tauchte mit einem Tablett voller Speisen auf. Darauf befand sich ein gedrängtes Durcheinander aus Chilischoten, Nüssen, Käse, Fladenbrot, Mangos und Bananen. ›So sieht Anteilnahme aus‹, dachte Paul. Er musste allerdings feststellen, dass sich das Messer klebrig anfühlte. ›Alfred fehlt auch eine Frau‹, dachte Paul. Einen Moment lang spendete ihm dieser Gedanke Trost. Da war ja jemand, dem es so ähnlich ging. Doch dann spürte er die Leere im Herzen. Etwas, das ganz selbstverständlich zu einem Teil von ihm geworden war, war nun verschwunden. Wieso hatte er fraglos angenommen, dass sie zusammengehören würden? Sie hatte es noch nicht einmal für nötig empfunden, ihm von ihrer neuen Beziehung zu berichten. Er hatte in einer Illusion gelebt! Das war ebenso schockierend. Paul mochte nicht reden. Er inspizierte weiterhin das klebrige Besteck und dann begann er das Messer an der Tischdecke zu polieren. »Ach ja...«, sagte Alfred, »...so was kommt vor.« »Was meinst du denn damit jetzt genau?« Nach ein paar Minuten gemeinsamen Schweigens fragte Alfred: »Willst du wissen, was geschehen ist?«

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»Ja, das würde ich.« Alfreds Blick schweifte über Pauls Kopf hinweg an den Horizont, so als könnte er dort in einer Chronik der Ereignisse lesen. »Es fing wohl alles damit an, dass du ihr die Adresse von dem Psychologen gegeben hast.« Er erzählte ihm, dass Henriette Dr. Bender besucht hatte, um sich über das Studium der Psychologie zu informieren. Er hätte ihr dann vorgeschlagen, ihn privat zu besuchen. Dort wollte er ihr ein paar Bücher mitgeben. Und dort würde er sie auch mit seinem Sohn bekannt machen. Alfred erzählte, dass ihm Henriette früher oft geschrieben hatte. Er war so etwas wie ein zweiter Vater für sie geworden. Aber seit einigen Wochen war diese Kommunikation abgebrochen. ›Der Sohn ist sicher wie der Vater‹, überlegte Paul. ›Das ist bestimmt nicht so ein verklemmter Trottel wie ich.‹ Er versuchte sich die Situation vorzustellen. Der stolze Vater. Das glückliche Pärchen. Hitze stieg ihm ins Gesicht. Er fühlte Ohnmacht, Verzweiflung und Wut. Er schlug mit der Faust auf die Matratze. Alfred setzte sich zu Paul, um ihn zu beruhigen und legte eine Hand auf seine Schulter. Er spürte, wie Verzweiflung und Wut in Paul arbeiteten.

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In der Dunkelheit warf das Feuer schwankende Schatten. Ab und zu drang ein Kreischen aus dem nahe gelegenen Wald. Paul hielt die Augen geschlossen. Er zitterte. Seine Gedanken kreisten um Henriette. ›»Sie« hat mir das eingebrockt! Sie hat doch von Anfang an auf der Seite von diesem Arzt gestanden und mir meine Bedenken weggeredet. Warum überhaupt? Vielleicht passt die viel besser zu denen.‹ Jemand hatte angefangen zu trommeln. Er sah in die Richtung, aus der es kam. Sein Onkel hatte sich eine Trommel zwischen die Beine geklemmt. Das Trommeln lenkte ab. In seiner Fantasie waren Dr. Bender und sein Sohn zwei Schweine. ›Zwei schweinigschlau

rumschweinernde

Schweine.

Dreck-

schweine eben.‹ Seine Wut ließ nur langsam nach und dahinter glühte der Schmerz. Noch deutlicher als zuvor spürte er den Verlust. ›Ihre Augen beugen sich nun über einen Anderen, ihre Hände halten einen Anderen fest.‹ Das Trommeln war verstummt. Alfred bot ihm etwas zu trinken an. Das Getränk schmeckte bitter. Paul schloss die Augen. Alfred fummelte an der Anlage herum und legte dann etwas Seltsames auf. Stöcke wurden aneinander geschlagen. Es klopfte und hämmerte in allen Tonlagen. Die Musik pochte wie sein Herz, pulsierte wie sein Blut. Es klang, als hätten sich

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KAPITEL04  SZENE 04:  MIT TEE AUF DIE REISE

Schamanen zusammengesetzt, um für ihn ein Ritual abzuhalten. Er hatte seine Augen geschlossen und sich auf der Liege ausgestreckt. Alfred hatte ihn in eine Decke gepackt. Eine Traurigkeit stieg auf, die uralt zu sein schien. Mit ihr kamen Gedanken: ›Nirgends bin ich daheim‹, ›Immer wird das so bleiben‹. Er hatte den Eindruck, dass sich die Anstrengungen des Lebens zu etwas Sinnlosem und zugleich ganz Unhinterfragbarem aufsummierten: Abitur bestanden. Mal dies und das studiert. Fünfzehn Jahre hier gearbeitet, zehn Jahre dort gearbeitet. Ihn deprimierte dieses ewige und sinnlose Spiel, dass immer nur Verlust und Tod zur Folge hatte. Und er konnte, ja er wollte da nicht mehr mitspielen. Henriette war weg. Er war gescheitert. Er war am Ende der Welt hängengeblieben. Die angestrengten Lebensentwürfe der Menschen erschienen ihm wie Kartenhäuser. ›Kartenhäuser fallen irgendwann zusammen, jedes auf seine Weise‹. Er fing an heftiger zu atmen. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Die Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit wurden beklemmend. Er hatte Angst, in diesem tief verzweifelten und unerträglichen Zustand steckenzubleiben. Er atmetete heftig gegen die Angst an. Er wurde zu einer Kreatur, die sich an ein kurzes und

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sinnloses Leben klammerte. Nein, er wollte nicht mehr leben und doch hatte er Angst vor dem unentrinnbaren Tod. Dieser war so deutlich, so nah! Ihn packte ein Schwindel und eine Übelkeit stieg in ihm auf. Mit seiner ganzen Kraft atmetete er gegen diese sich ausbreitende, schwindelerregende Schwärze an. Er versuchte panisch alles zu verstehen. Er hoffte, dass Schmerz und Dunkelheit dann ein Ende hätten. Er atmete und atmete und suchte und suchte. Jede Haltung, die er einnahm, wurde ihm schon im nächsten Augenblick unerträglich. Er warf sich hin und her. ›Was soll das alles! Was soll das alles?‹ Lange würde er das nicht mehr aushalten. Er änderte ständig seine Lage. Schließlich hatte er sich über seine Kniegelenke gekrümmt und den vornübergebeugten Kopf zwischen seinen Armen begraben. Diese Haltung erschien bis zum nächsten Verzweiflungsschub noch am erträglichsten. In dieser Haltung könnte er sich leichter übergeben. Eine Hand lag auf seinem Rücken. Sein Herz schlug beängstigend schnell. Ihm wurde bewusst, dass er diesen Zustand schon lange kannte, dass er schon unzählige Male diese Kreatur gewesen war. Viele Tode hatte er durchlebt. Sein Leben war getränkt in dieser archaischen Traurigkeit. In dieser abstrakten Traurigkeit.

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Während sich seine Finger in seinen Haaren zusammenkrallten und er den Kopf seiner leibhaftigen und sterblichen Existenz in den Händen hielt, suchte er in seinem Inneren nach einer Antwort. Sein Körper war erschöpft und verschwitzt. Es war der Körper einer tierischen und dämonischen Kreatur, die nicht sterben wollte. Selbst die Haare, an denen er verzweifelt zog, um sich dem Abgrund zu entwinden, fühlten sich nicht mehr menschlich an. Wieder kroch diese schwarze Übelkeit hinauf. Er musste das Grauen aus sich herauskotzen. Er gab dem Zwang nach. Er hob seinen Kopf über das Sofa, übergab sich und sackte erschöpft in sich zusammen. »Was für ein Leben, was für Elend!« Er hatte Fühlung zu einem unsichtbaren Punkt in seinem Innersten. Er konzentrierte sich auf diesen Punkt, der all diese Traurigkeit in sich zu sammeln schien. Da wurde diese Traurigkeit noch intensiver. Er drückte mit seinen Händen das Kissen so stark unter seinem Gesicht zusammen, dass niemand mitbekam, dass er weinte. Es erleichterte ihn. In dieser Traurigkeit fühlte er sich mit sich, fühlte er sich mit seiner Seele verbunden. Er spürte, wie all der Aufwand, den er betrieb, um Sicherheit und Anerkennung zu erlangen, eigentlich nicht von Bedeutung war.

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Wieder tauchten die Lebensereignisse als Karten auf. Unterschiedliche Karten und Legesysteme und Stapel. Doch jetzt sah er, wie die Reihung und Kombination der Karten immer wiederkehrende Muster offenbarte. Er hatte immer noch das Gesicht in das Kissen und in Dunkelheit getaucht. Und trotz dieser Dunkelheit konnte er in einer inneren Schau, die noch mehr ein Verstehen als ein Sehen war, in diesen Mustern „lesen“. Er keuchte vor Anstrengung. Schmerz und Angst zwangen ihn zu verstehen. Die Hand, die sich auf seinen Rücken gelegt hatte, machte sich durch einen sanften aber festen Druck bemerkbar. Er war zum Glück nicht allein. Er hörte Alfred sagen, dass er keine Angst zu haben brauchte. Er sollte nur weitermachen, sollte immer tiefer sinken. Paul ließ los. Erinnerungen kamen hoch. Er spürte seinen Widerstand, seine Ablehnung, gegen jede Art von Autorität. Es war eine ungeheure Anstrengung, die er aufbrachte, um sich allen Weisungen zu entziehen. Vor allem – wenn sie von „oben” kamen. Sein Leben war auf Feindbildern aufgebaut. Er erlebte, wie er gegenüber seinem Onkel, Frau Bollman, Dr. Bender und vielen Anderen in den Widerstand gegangen war. Er war in Vorstellungen gefangen. Es war seine Wirklichkeit, in der diese Dinge

passierten.

Sie

war

nach

seinen

Mustern

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strukturiert. Er warf sich erschöpft auf den Rücken, atmete ein paar mal tief durch und versuchte innerlich, die Einsicht zu halten. Eine neue Welle der Verzweiflung erfasste ihn. ›Ist denn alles, was ich getan und gedacht habe, verkehrt gewesen? Ist Dr. Bender doch anders, als ich angenommen hatte? Ist er weder gut noch böse?‹ Sein Atem wurde flacher. Alfred hatte ihm eine zweite Decke übergeworfen. Der Ofen glimmte. Die nächtliche Kälte lag nun wie ein eisiges Tuch auf seinem Gesicht. Er blieb eine Weile in diesem Zustand, bis sich allmählich die Verzweiflungsstarre löste. ›Wie spät ist es überhaupt?‹ Er öffnete die Augen. Alfred fragte, wie es ihm ginge. Er musste wohl die ganze Zeit bei ihm geblieben sein. »Manchmal fühlt sich alles so sinnlos an.«, stieß Paul verzweiftel aus sich heraus. »Auch das geht vorüber.« Paul setzte ein gequältes Lächeln auf. Die Vorstellung, da noch weiter durchgehen zu müssen, kam ihm absurd vor. »Einfach immer durch? Ja? Na gut. Ich gebe mir Mühe.« Er war erschöpft. Er wollte schlafen. Jetzt, wo er die Augen geöffnet hatte, war er wieder in der Konkretheit seiner körperlichen Existenz angekommen.

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Alfred reichte ihm ein Getränk. Es waren immerhin noch seine Hände, die das Glas entgegennahmen. Er fühlte sich in dieser Detailliertheit wieder mit sich als einer realen Person identifiziert. Das war erst einmal gut. »Muss ich das trinken? Es schmeckt nicht besonders gut.« »Es wird dir helfen.« Paul lag etwas auf den Lippen. »Nein, ich gebe Dir keine Drogen. Es ist nur eine Stärkung für die Reise.« Als Paul die Augen wieder schloss, glitt er erneut in das Geschehen hinein, dass durch das Gespräch unterbrochen worden war. Seine Atmung veränderte sich. Er atmetete in gleichmäßigen Zügen tief ein und aus. Diese Atmung schien den Prozess, in dem er sich befand, zu unterstützen. Sie brachte ihn dorthin, wo er zuletzt gewesen war. Wieder war da das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Er fühlte sich wieder in Vorstellungen eingeschlossen, die seine Wirklichkeit bestimmten. In ihm war eine Sehnsucht, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Ihm kam der Gedanke, dass er einfach nur alles auslöschen müsste, was ihn beeinflussen konnte. Er dachte sich seine Freunde und Familie weg. Er dachte sich selber weg: Seine Arme und Beine, Mund, Nase, selbst seine Augen. Er stellte

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KAPITEL04  SZENE 04:  MIT TEE AUF DIE REISE

sich vor, wie es wäre, komplett aus seinem eigenen Leben zu verschwinden. Ein letztes Mal würde er auf die Toilette gehen, eine Mahlzeit zu sich nehmen und sich dann für immer hinlegen. Er sagte zu sich: ›Adieu‹ Die Vorstellung, sich endgültig von sich zu verabschieden, sich ein letztes Mal zu sehen, war herzzerreißend. Dummerweise war es immer noch Paul, der von Paul Abschied nahm. Er kreiste verzweifelt um die Möglichkeit seiner Nichtexistenz, konnte sie aber nicht realisieren. Jeder Gedanke, den er hervorbrachte, fing mit einem Ich an, bestätigte seine Identität. Jeder Gedanke holte ihn an den Ort zurück, aus dessen Gefangenschaft er fliehen wollte. Er griff sich an den Kopf. Er hielt nicht mehr den Schädel einer animalischen Kreatur zwischen seinen Händen, sondern das überhitzte Gehirn eines

Menschen,

das

an

einer

Überfunktionsproblematik litt. Es war so entartet wie ein Magen, der sich selbst verdaut oder wie Beine, die stän-

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H. W. L. Poonja (Papaji) An dieser Stelle kann man auf den Gedanken kommen, dass es sich vielleicht um Ayahuasca handeln könnte, welches allerdings keine Droge ist, sondern ein schamanisches Heilkraut, dass in Südarmerika seit tausenden Jahren gegen unterschiedliche Erkankungen erfolgreich eingesetzt wird. Man könnte sich auch an die Heilreisen (The Journey) von Brandon Bays erinnert fühlen, in denen man zu verdrängten und unverarbeiteten Erlebnissen geführt wird. Bei Bays ist faszinierend, dass sie genau beschreibt, wie man durch seine emotionalen Schichten- bildlich gesprochen: »hindurch wandern« kann: So gelangt man hinter seiner Wut, zur Verzweiflung, hinter der Verzweiflung entdeckt man die Angst und dahinter möglicherweise ein Gefühl, von allem getrennt und isoliert zu sein. Und was kommt zuletzt? Bei dieser „Reise zu sich” kann man an einen Ort gelangen, wo nichts mehr zu sein scheint. Der Sprung in die Leere, in das Unbekannte, kann zu einem Erlebnis seines eigentlichen Seins führen. Diese Methode ist nicht neu. Sie ähnelt dem, was von Lehrern wie Maharshi oder Papaji mit wenigen Worten schon immer gelehrt wurde.


dig laufen müssen. Er dachte einfach zu viel! Er keuchte. »Halt!« Er vernahm, wie jemand sich über ihn beugte, dann hörte er Alfred im Flüsterton sagen: »Es gibt nichts, was du tun musst.« Wieder legte er seine Hand auf ihn. Paul spürte, wie er jetzt noch tiefer sank. Etwas anderes begann in ihm die Führung zu übernehmen. Ihm kamen Bilder, wie sein Körper schwächer und schwächer wurde. Er schmeckte den Tod auf seiner Zunge. Er bekam Angst, schreckliche Angst. Der Tod war stark und ewig und das Leben war ein endlicher Traum. Er hatte das Gefühl, dass das Blut bald zum Stillstand kommen müsste, dass sich bald die blauen Flecken des Todes auf seiner Haut ausbreiten würden. Diese Gewissheit seiner endgültigen Vernichtung und Verwesung war grauenvoll. In ihm war wieder diese Schwärze, die sich aus dem Unvorstellbaren speiste. Aber er konnte da nicht hinein, er konnte nicht hindurch. Er konnte nicht. Das Klopfen und Hämmern musste irgendwann aufgehört haben. Er hatte es nicht bemerkt. Er hörte, wie jemand an der Anlage herummachte. Ausgerechnet jetzt. Alfred hatte etwas Seltsames aufgelegt. Es war

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KAPITEL04  SZENE 04:  MIT TEE AUF DIE REISE

nur »ein« Ton. Es war ein kreisender, mahlender Ton. Wie ein gewaltiges Mühlrad drehte dieser Ton sich um sich selbst. Zugleich schien sich alles um diesen Ton zu drehen. Der ganze Kosmos drehte sich um ihn. Es war ein erhabener, endgültiger Klang. Wenn die Musik erloschen ist, wenn der letzte Gedanke gedacht ist, wenn alles in die absolute Stille eintritt und wenn diese anfängt zu singen, dann würde sie auf diesen Ton kommen. Vielleicht war es ein Gong, über den gleichmäßig ein Schlagstock fuhr. Vielleicht war es eine Sithar, in der sich eine Seite selber spielte, vielleicht war es ein Harmonium, das von unsichtbarer Hand ganz langsam auf und zu geschoben wurde. Dieser Ton schien nicht von irgendetwas bewirkt worden zu sein. Der Ton war Anfang und Ende von allem. So, als wenn die ganze Schöpfung in ihm wäre. Und so, als ob in seinem Kreisen sich die Zeit in Zeitlosigkeit auflösen würde. So war der Ton. In diesem Ton war er wie aufgelöst, wie nach seiner Existenz. Er lag innerlich weit geöffnet und hingegeben an diesen Klang. Wenn es einen Satz gab, der diesem Ton entsprach, dann war es der Satz: »Ich bin«. Ein »Ich bin« ohne seinen Namen, ohne Form und ohne fassbare Identität. Dieser kreisende und zugleich stehende Ton wurde irgendwann leiser und leiser, entfernte sich, löste sich auf. Aber es blieb erhalten, was er hervorgerufen hatte.

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Paul lag auf dem Sofa. Seine Brust hob und senkte sich. Sein Atem war tief und schien durch den ganzen Körper zu strömen. Es war ein Atem, der bis in seine letzte Zelle drang. Er war erfüllt von Bewusstsein. Er war überall. Er lag da wie eine russische Puppe, die sich in ihren äußeren Hüllen allmählich aufzulösen schien. Sein Bewusstsein schichtete sich in den Raum hinein. Er lag über den Bäumen, erstreckte sich über das Tal, war eins mit den Bergen. Diese Wahrnehmung war subtil und flüchtig. Wenn er sie hätte begreifen wollen – so spürte er - würde sie sich ihm entziehen. Ein paarmal bewegte er sich sacht, um sich in eine angenehmere Lage zu bringen, dann lag er wieder regungslos, um in diesem Zustand zu verbleiben. In seinem Kopf war es mit dem Verklingen dieser Musik still geworden. In der Stille durchmaß er den unendlichen Raum. Er konnte mit seinem Herzen in diesen Raum hineinatmen. Sein Herz hatte ihm die Nacht über so viele Schmerzen bereitet. Jetzt war es weit und offen und erfüllt von Dankbarkeit. Er war dankbar, dass die Tortur vorüber war und dass er irgendwie und auf unerklärliche Weise diesen Frieden in sich gefunden hatte. So lag er eine gute Weile, wie jemand, der von den Toten auferstanden war.

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DIE ZWEITE HAUT Was sie von Beginn an gestört hatte, das war die Selbstverständlichkeit, mit der er über sie meinte verfügen zu können. Sie hatte ihn bei Dr. Bender getroffen. Er wurde ihr als sein Sohn vorgestellt und er hatte vor zwei Jahren mit dem Studium der Psychologie begonnen. Es war, als hätte er sie mit seinen Augen an die Hand genommen. Sie ließ es geschehen. Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr erzählte, aber sein Blick war bohrend und gnadenlos. Als er sie berührte und als er dann ihre Hand umfasste, da war ihre Neugierde stärker als ihre Angst. Sie frage sich, was wohl als nächstes geschehen würde. Und weshalb stand er auf ihren Typ? Sie verabredeten sich. Und dann noch einmal. Es war schön, begehrt zu sein. Es war ein elementares Gefühl. Aber es war auch so, dass sie nicht gefragt wurde. Für ihn war alles von Anbeginn klar. Sie nahm Anteil an seinem Leben, reiste mit ihm nach Marburg, übernachtete in seiner kleinen Wohnung. Dies war der Tag, als er zum ersten Mal mit ihr schlief. Sie hatte das alles noch so vor Augen, als wäre es gestern geschehen. Ihr Körper hatte sie nicht im Stich gelassen. Es war schön und sie war dankbar. Er trieb sein Studium zielstrebig voran. Wenn sie bei ihm war, dann

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erzählte er ihr viel von seinen Seminaren, Hausarbeiten und Vorlesungen. Sie war zu dem Entschluss gekommen, sich selbst für das kommende Semester in Marburg einzuschreiben. Er schlief eigentümlicherweise auf dem Bauch und sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich an ihn anzuschmiegen. Das war ein ungewohntes und interessantes Gefühl. Doch mit der Zeit kamen ihr seine kräftigen Schulten wie zwei Schalen vor, die sich abweisend nach innen wölbten, die eigentlich nicht für sie da waren. Und seine Energie blieb bei ihm und seine Aufmerksamkeit konnte er nie vollständig auf andere richten. Immer war alles auf seinen Willen hin geordnet und sie war ein Teil geworden von seiner Welt. Die Lichter waren verschwunden. Früher hatte sie viele Stunden damit verbracht zu erfahren, wer sie besuchen kam. Sie konnte telepathisch eine Beziehung herstellen zu diesen flimmernden Punkten, die andere Geister nannten. Manchmal leuchtete ein Bild in ihr auf und dann wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte. Diese hellen Punkte, denen sie auch am Tage begegnen und versonnen hinterherschauen konnte, die waren jetzt verschwunden. In seiner Nähe war die Atmosphäre geisterlos. Die Wirklichkeit schien sich an die Vorstellung, die sich die Menschen

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von ihr machten, anzupassen. Seine Sicht der Dinge schien die dominierende zu sein. Es ging dem immer ein kurzer Entschluss voraus, dann war er für sie da. Dann rollte er sich über sie und verschaffte ihr die Lust, die er sich auch selbst besorgte. Sie hatte bemerkt, dass ihre Hellfühligkeit in dem gleichen Maße abgenommen hatte, wie ihre physischen Körperwahrnehmungen durch seine Berührungen intensiver geworden waren. Wenn sie miteinander geschlafen hatten, dann bebte ihr Körper, war heiß und feucht und absorbierte die Kühle wie ein Schwamm. Und wenn sie die Decke nach oben zog, dann waren das Rascheln der Decke und der Stoff auf der Haut deutlich und nah. Aber sie musste sich nur etwas zurücksinken lassen, dann fiel sie wieder in die Abstraktion, fiel aus den Dingen heraus in einen leeren Raum, der sie ebenso zu umhüllen schien und in dem sie wesentlich zu Hause war. Er hatte keine Ahnung davon. Er griff da immer hindurch. Er war so ahnungslos wie ein Kind, das anschaulicheren Spielen nachgeht. Sie war im Wesentlichen für ihn unsichtbar. Sie begann, ihn, ohne dass ihr das bewusst war, zoologisch zu betrachten. Er erinnerte sie an ein betriebsames Bisammännchen, das sich geflissentlich um seinen Bau und fürsorglich um sein Weibchen kümmert. Er war rauhäutig, aber berechenbar. Viel-

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leicht schwänzeln auch Bisammännchen anderen Weibchen hinterher, während die eigene Braut ahnungslos im Bau sitzt. Das hatte sie anfangs verletzt, aber sie hatte kein Interesse daran, ihn zu ändern, denn das wäre in seinem Fall sicher nicht aussichtsreich gewesen. Bisammännchen haben ihren eigenen Willen und wenn überhaupt - das sagte ihr ein untrügliches Gespür - dann lernen sie nur durch wiederholten Schmerz. Da hatten die Behavioristen recht. In seinem Fall muss schon das Leben selbst als Erzieher auf die Bühne treten. Sie liebte ihn nicht. Das war ihr deutlich geworden. Es war ein Experiment gewesen. Sie hatte öfter an Paul denken müssen, zwischen ihnen war ein Zusammenklang gewesen, den sie zuerst nur unterschwellig wahrgenommen hatte. Jetzt - in der Erinnerung - war er wieder da. Es war dieser Zauber, den sie vermisste. Paul hatte sich auf und davon gemacht und seinen Eltern nur eine kurze Nachricht hinterlassen. Sie sollten sich keine Sorgen machen. Nur sie wusste, wo er war, und ihr neuer Freund hatte häufiger nach ihm gefragt, obwohl er Paul nicht kannte. Sie hatte es ihm verraten und dann wird er es seinem Vater erzählt haben. Und der hatte es dem Vater von Paul gesteckt, denn dieser hatte sie wütend angerufen, um sie als Komplizin zu

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entlarven. Sie hatte einen Fehler begangen und das machte ihr große Sorgen. Er war ins Bad gegangen. Auf die Weise, wie er es jeden Morgen tat. Sehr geradeaus und immer etwas zu laut. Sie konnte an den Geräuschen erkennen, wie er mit den Dingen hantierte, wenn er in Zeitnot war und mit Wucht die elektrische Zahnbürste in die Halterung drückte, die Seife auf die Ablage plumpsen ließ, die Unterhosen in den Wäschekorb schleuderte. Es würde keinen Sinn machen, ihm das alles zu erklären. Sie spürte dem nach, was er in ihr hinterlassen hatte. Dies geschah auf eine Weise, die sie befürchten ließ, dass ihr Körper ihr wieder fremd werden würde. Es war diese teilnahmslose Wahrnehmung, so als ob ihre Füße, ihre Beine, ihr Unterleib nicht zu ihr gehören würden. Sie schloss die Augen und erfühlte die Distanz, die zwischen seinen Geräuschen und dem Raum lag, in dem sie selber war. Sie konnte nicht leugnen, dass es angenehm war, in diesem inwendigen Raum zu ruhen. Und schließlich war auch dieses feine, fühlbare ausgedehnte Sein immerhin auch wie eine zweite Haut. Das, was andere nicht sehen konnten, was sie selber nur sehr verschleiert wahrnahm: ›Weshalb nicht endlich einmal dazu stehen?‹

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Sie hörte sein Fluchen, weil er seinen Socken nicht fand. Noch war es nicht soweit, dass er sie dafür verantwortlich machte. Sie hatte die Decke weggezogen. Ihre Beine hatte sie auseinander gespreizt. Sie hatte keine Hose an. Sie nahm diesen unsichtbaren Körper wie eine warme Hülle wahr. Diese wob sich aus unendlich vielen, sanft ineinander strömenden Wellen zusammen. Dies war ihr eigenes Kleid. Dies war sie. Sie versuchte den Stil zu fühlen. ›Sehr fein, sehr elegant‹, sagte sie zu sich. Sie bemerkte es mit einem gewissen Stolz. Sie versuchte, diesen Impuls als einen neuen Teil ihrer Selbstwahrnehmung zu integrieren und tatsächlich: es funktionierte. Ihr Freund kam aus dem Bad und wunderte sich. »Fällt dir etwas an mir auf?« »Nein. Hast du noch mal Lust auf Sex?« »Ich glaube nicht.« Er schaute noch einmal zu ihr rüber. »Ist irgendwas?« »Nein« Er schüttelte den Kopf und zog die Hosen hoch. Seit sie auch hier wohnte, musste er häufiger neue Plätze für seine Sachen suchen. Diesmal hatte er sie unter die Kommode geschoben. Sein Zimmer war zu klein für zwei Personen. Aber dies war ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, um organisatorische Gespräche zu führen. Er hatte es eilig.

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KAPITEL04  SZENE 06:  METAPHYSIK MIT MASCHINEN

»Wir sehen uns dann heute Abend.« »Ja, heute Abend« Sie musste herausfinden, wie es Paul ging und wie ernst Albert es meinte. Bis zum Abend würde sie auch wissen, was sie für ein Flugticket nach Dehli bezahlten müsste.

METAPHYSIK MIT MASCHINEN

An diesem Tag hatte

Alfred etwas Feierliches. Anders als sonst, trug er ein weißes Hemd und seine Haare waren gekämmt. Er hatte auf der Terrasse ein umfangreiches Frühstück für Paul vorbereitet mit Tee, Bananenbrot, Orangensaft und zwei aufgehauenen Kokosnüssen. »Du bist ja dann doch noch eingeschlafen.«, bemerkte er beiläufig. Es war kurz vor Sonnenaufgang gewesen, erinnerte sich Paul, als ihn der Schlaf übermannte. Er fühlte sich benommen von den nächtlichen Erlebnissen. Der Ton, den er gehört hatte, war immer noch da, so wie ein ganz hintergründiges Summen, in dem die Stille zu singen schien. Alfred fragte Paul, wie es ihm heute Morgen ginge, denn heute wollte er mit ihm einen Ort aufsuchen, für welchen er den Zeitpunkt jetzt gekommen sah. »Es beschleunigt sich alles.«, sagte er. »Zumal jetzt, wo wir mit den Vorbereitungen für die Feier begonnen haben.«

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Der Ort, den er mit Paul besuchen wollte, wurde von ihm als »Park« bezeichnet. Als sie aufbrachen, hatte das frühe Licht schon die ersten Bäume auf den Berghöhen lodernd entfacht, während die Täler noch in tiefen Schatten lagen. Hinter dem Akkumulator gelangten sie nach einigen hundert Metern an eine etwas breiter angelegte Straße. Diese schlängelte sich in großen Serpentinen einen Berg hinauf. Pflanzen hatten begonnen, die Straße zu überwuchern, und vor ihnen versperrte ein umgefallener Baum den Weg. Nach etwa einer Viertelstunde des Aufstiegs gelangten sie an ein ähnliches Tor, wie das, welches den Eintritt im unteren Bereich der Anlage markiert hatte. Nur war hier auf den Torbogen mit verwischten Strichen ein nicht ganz symmetrisches Mandala aufgemalt worden. Dazu stand in großen lateinischen und indischen Lettern: »Park«. Und darunter war ebenso flüchtig etwas in Indisch hingekritzelt worden. Paul wollte wissen, was der Satz bedeutete und Alfred versuchte es ins Deutsche zu übersetzen: »Wo nichts ist, kann alles werden. Erst im Sein sind wir daheim, so ungefähr.« Alfred machte eine Pforte auf, die den Durchgang versperrte. Sie wanderten einen Weg entlang, der zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt wurde. Alfred

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sah in den Park. Und wieder war es dieser erste Anblick, der ihm so unwirklich und doch so vertraut vorkam. Silbern schimmerte das uranfängliche Licht, orphisch waren die Berge an diesem Morgen in das Blau gehoben, und wie aus diesem Rausch geboren, standen die Dinge in ihrem Sein. Es war dieser erste Blick, der stimmte, der ihm Gewissheit gab. Auch wenn er sich schon bald und auch an diesem Ort wieder in den Details verlieren würde, die jedes begonnene Projekt so schrecklich mühselig machten. Paul blickte in dieselbe Richtung. Er sah einen Park mit hohen Bäumen, aus dem noch höhere und seltsame Maschinen ragten. Es gab dort einen mächtigen Schwebehammer, ein Riesenrad mit kreisrunden Sitzkabinen, ein vergammeltes Karussell, einen bunten Lastwagen, eine paar gewaltige Generatoren, herrenlose Schornsteine und noch einiges mehr. Es war eine Art Maschinenpark. Es war eine Art Riesenspielplatz. Es war surreal.

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Call of Peaks, 1943 Während die Sprache begründen kann, liefert das Bild nur sichtbare Einsichten. Ihm gelingt auch nicht die Negation, dh. es besitzt nicht die Möglichkeit etwas nicht zu zeigen. Doch am Rande dieser Unmöglichkeit bewegen sich die Bilder Rene Magrittes, indem sie im Visuellen die Dinge nur durch Andeutung oder rein assoziativ zur Anwesenheit zu bringen. So ist der Adler eigentlich nicht vorhanden, wobei auch das Gebirge nur als Gemälde im Gemälde vorhanden ist. Das ist interessant im Hinblick auf einen Zustand in der alles »anwesend« ist, ohne das etwas real »existiert«. Ein Aspekt des Mysteriösen dieser philosophischen Bilder mag also sein, dass sie die Leere, die von Möglichkeit übervoll ist, zu berühren scheinen. Und dazu passt auch, dass sich das Gezeigte durch Metamorphosen in etwas Anderes verwandelt, denn die Grenzen sind fließend und alles kann in diesem Seinsmodus alles andere sein. Dazu kann man sich die berühmte Beschriftung in Erinnerung rufen „Ceci n´est pas une pipe“ oderauf diese Abbildung angewandt: „Dies ist keine Adler, kein Berg und keine Leinwand“. Es sind nur Erscheinungen innerhalb von Verweiszusammenhängen, die auf eine Metaphysik hindeuten in der Nichts ist und alles werden kann.


»Das sieht ganz schön bekifft aus.« Alfred musste lachen. »Ja, so kann man das sagen.« Seine Stimme hatte diesen singenden Ton angenommen, der Paul das Schlimmste befürchten ließ. »Wir haben alles hinter uns gelassen. Wir haben uns noch einmal in der Welt umgesehen. Auf Festplätzen, Vergnügungsparks, Jahrmärkten und in stillgelegten Fabriken. Sind diese Dinger nicht wunderschön?« ›Apollonisch schön!‹, hätte Alfred noch hinzufügen mögen. Denn apollonisch waren sie für Alfred in der transparenten Logik ihrer komplexen Mechanik, in der Wohlproportioniertheit ihrer aufeinander abgestimmten Funktionalität. Und sie konnten andererseits - wenn man sie in Betrieb nahm - ihre Insassen in einen geradezu »dionysischen« Rausch versetzen. »Nietzsche sei dank! Sie sind einfach kolossal!«, warf er zu Paul rüber. So wie sie in den Himmel ragten, so gewaltig und stark, wirkten sie auf Alfred immer auch wie die stählernen Repräsentanten von Gottheiten. Nur dass sie nicht Herakles oder Hyperion hießen. Alfred betrachtete die Kulisse. Er schloss die Augen. Er versuchte, eine Kohärenz herzustellen zwischen dem, was ihm wie eine uralte Erinnerung zu sein erschien, und dem, was er unmittelbar vor sich sah. Der Wind säuselte auf

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dem hoch gelegenen Plateau leise durch die Wipfel. Er war wie ein leichter Strom, der Bäume und Bauten flutete und der die Menschen, die sich hier länger aufhielten, in eine leichte Trance versetzte. »Sieh mal das dort!« Alfred deutete auf ein antiquiert wirkendes Karussell, an dem etwa ein Dutzend Holzschaukeln hingen. »Eine Schaukel für freie Geister!« Sie hatten den alten Motor wieder in Gang gebracht und so frisiert, dass sich das Ding gefährlich schnell drehen konnte. An dem Dach waren Lautsprecher angebracht worden und wenn es sich wie wild im Kreise drehte, dann dröhnte aus den Lautsprechern Nietzsches »An den Mistral«: Wer nicht tanzen kann mit Winden, Wer sich wickeln muss mit Binden, Angebunden, Krüppel-Greis, Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen, Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen, Fort aus unsrem Paradeis! »Und dieses hohe Ding da...« Alfred zeigte auf ein turmartiges Gerät. »...das, was da aussieht wie ein Außenfahrstuhl. Das hat Spleen angepinselt. Da steckt viel Technik drin.«

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Alfred erinnerte sich, dass Bronsky dort einen Infrawellensender eingebaut hatte. Wenn man oben angelangt war, fühlte man sich tatsächlich schwerelos. Leider bedeutete das auch ein Sicherheitsproblem. Alfred war sich nicht mehr sicher, aber es war zumindest wahrscheinlich, dass dort oben Oden von Hölderlin zu hören gewesen waren. Sie hatten die Maschinen mit einem enormen Aufwand hierhergebracht und dann hatten sie verschiedene Vertreter aus den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen eingeladen, damit sie diese zu Transformatoren und heiteren Sinnbildern ihrer jeweiligen Weltanschauung umwidmen sollten. Flaches Vergnügen und erhabene Gefühle sollten nicht mehr als etwas Getrenntes angesehen werden. Ebenso sollten auf dieser Spielwiese der Weltreligionen die immer wieder viel zu ernst gedeuteten Grenzen zwischen den Glaubensrichtungen fallen. Einige waren ihrer Einladung gefolgt und es hatte sogar für ein paar Monate so ausgesehen, als würde dieses Projekt dieses Mal gelingen. Paul hatte sich in der Zwischenzeit – immer noch staunend – auf die Mitte des Parks zubewegt. Dort befand sich ein freies Gelände. Es wurde von einem Kiefernwald gesäumt, aus dem vereinzelt und schillernd Eukalyptusbäume ragten. Ein hoher Felsvorsprung begrenzte das Gelände zum Berg hin.

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KAPITEL04  SZENE 06:  METAPHYSIK MIT MASCHINEN An den Mistral

Vor diesem Steilhang war eine circa fünfzehn Meter hohe Wand aufgemauert worden. Ein Sprungbett auf der Höhe von fünf Metern ragte aus der steilen Wand, zu welchem eine einfache Leiter hinaufführte. Unterhalb der Wand befand sich ein ausgetrocknetes Becken, das in seiner Länge und Breite jeweils zwanzig Meter umfasste und vier Meter tief war. Seitlich des Beckens ragte ein gigantisches, U-förmiges Rohr aus dem Boden. In der Mitte und unterhalb dieses Rohres war eine dunkle Öffnung erkennbar. Dieses umgedrehte U überspannte ein weiteres rundes Becken. Alfred führte Paul zu dem Laster,

der

sich

hinter

diesem

scheinbaren Relikt vergangener Industriekultur befand. Dieser war über und über mit Ornamenten bemalt und mit orangen und gelben

Girlanden

geschmückt

worden. An den Seiten sah Paul Abbilder der hinduistischen Gott-

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Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb ich dich! Sind wir zwei nicht Eines Schoßes Erstlingsgabe, Eines Loses Vorbestimmte ewiglich? Hier auf glatten Felsenwegen Lauf ich tanzend dir entgegen, Tanzend, wie du pfeifst und singst: Der du ohne Schiff und Ruder Als der Freiheit freister Bruder über wilde Meere springst. Kaum erwacht, hört ich dein Rufen, Stürmte zu den Felsenstufen, Hin zur gelben Wand am Meer. Heil! da kamst du schon gleich hellen Diamantnen Stromesschnellen Sieghaft von den Bergen her. Auf den ebnen Himmels-Tennen Sah ich deine Rosse rennen, Sah den Wagen, der dich trägt, Sah die Hand dir selber zücken, Wenn sie auf der Rosse Rücken Blitzesgleich die Geißel schlägt, Sah dich aus dem Wagen springen, Schneller dich hinabzuschwingen, Sah dich wie zum Pfeil verkürzt Senkrecht in die Tiefe stoßen, Wie ein Goldstrahl durch die Rosen Erster Morgenröten stürzt. Tanze nun auf tausend Rücken, Wellen-Rücken, Wellen-Tücken Heil, wer neue Tänze schafft! Tanzen wir in tausend Weisen. Frei - sei unsre Kunst geheißen, Fröhlich - unsre Wissenschaft! Raffen wir von jeder Blume Eine Blüte uns zum Ruhme Und zwei Blätter noch zum Kranz! Tanzen wir gleich Troubadouren Zwischen Heiligen und Huren, Zwischen Gott und Welt den Tanz!


heiten Shiva, Vishnu, Lakshmi und Parvati. Auf der Ladefläche, dessen Planendach von vier eisernen Stangen gehalten wurde, stand ein gemütliches und mit bestickten Decken ausgelegtes Sofa. Daneben befand sich ein verbeulter Kanonenofen. Auf diesem stand ein kleiner Gaskocher. All das sah ziemlich heruntergekommen aus, was Paul etwas erstaunte, da die Errichtung des Parks Unsummen von Geld gekostet haben musste. Alfred kramte unter dem Sofa eine hölzerne Kiste hervor, um mit Hilfe der sich darin befindenden Utensilien einen Tee zuzubereiten. Sie nippten an dem süßen, schweren Tee und schauten in die Landschaft. Paul fragte, ob man dieses gewaltig irreal aussehende und dominante Riesenrohr nicht einfach mal ausknipsen könnte? »Stimmt«, Alfred musste lachen. Sie saßen da wie zwei Couchpotatoes und schauten auf das Objekt wie auf ein Pausenzeichen. Alfred erzählte, dass sie es einer christlichen Gemeinschaft untergejubelt hätten. Die hätten daraus etwas gemacht, das man auch als »Taufmaschine« bezeichnen könnte. Alfred erklärte, dass das Rohr unterirdisch mit Wasser gespeist wurde, das von dem vor ihnen liegenden Berg kam. Denn hinter der großen Mauer, die sich seitlich zu ihrem Wagen nach oben türmte,

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KAPITEL04  SZENE 06:  METAPHYSIK MIT MASCHINEN

gab

es

ein

Staubecken.

Wenn man dort die Ventile öffnete, dann würde das Wasser mit enormen Druck in das Rohr schnellen. In dem

oberen

Rohrbogen

würde es sich mehrfach verwirbeln und dann von einer Zentrifuge in alle Richtungen wie ein Schirm zerstäuben. Durch einen Hebel, der sich am Rohr befand, wäre es außerdem möglich, den Austritt des Wasser derart zu gestalten, dass dieses sich nicht nur weit versprühte, sondern auch wie

Wer nicht tanzen kann mit Winden, Wer sich wickeln muß mit Binden, Angebunden, Krüppel-Greis, Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen, Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen, Fort aus unsrem Paradeis! Wirbeln wir den Staub der Straßen Allen Kranken in die Nasen, Scheuchen wir die Kranken-Brut! Lösen wir die ganze Küste Von dem Odem dürrer Brüste, Von den Augen ohne Mut! Jagen wir die Himmels-Trüber, Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, Hellen wir das Himmelreich! Brausen wir ... o aller freien Geister Geist, mit dir zu zweien Braust mein Glück dem Sturme gleich. - Und daß ewig das Gedächtnis Solchen Glücks, nimm sein Vermächtnis, Nimm den Kranz hier mit hinauf! Wirf ihn höher, ferner, weiter, Stürm empor die Himmelsleiter, Häng ihn - an den Sternen auf!

ein senkrechter Strahl nach unten stürzen konnte. Paul versuchte sich vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn diese Maschine einmal ihren Betrieb aufnahm. Es wäre sicher ein Riesenspaß. Es wäre aber auch ein absurdes Spektakel. Alfred fügte noch hinzu, dass diese Maschine - technologisch betrachtet - weiter entwickelt war als die, die Spleen und Pieschke konzipiert hatten. »Wie das?«, wollte Paul wissen.

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»Das Wasser singt. Es ist voll wunderbarem Gesang!« Er erklärte Paul, dass dies über zwei Magnete geschah, die das Wasser hochfrequent machten. Eine Art »Halleluja« wäre für diejenigen vernehmbar, die fein- und hellfühlig genug dafür wären. »Das Problem...«, ergänzte Alfred, »das Problem war allerdings, dass viele Maschinen einen Zustand voraussetzten, den wir eigentlich erst zu erzeugen angetreten waren. Für die Menschen, die bei dem ersten Probelauf dabei gewesen waren, war alles nur ein Riesengaudi gewesen.« Er schenkte Paul noch eine Tasse Tee nach. Beide verfielen in ein längeres Schweigen. In Alfred nahm ein neuer, ein ungewöhnlicher Gedanke langsam Gestalt an. Vielleicht würde er Bronsky gar nicht mehr brauchen! Und auch keine Maschinen und keine Ideologien. Vielleicht noch nicht mal eine Methode. Oder nur eine solche, die so einfach war, dass sie als solche gar nicht mehr erkannt werden würde?. ›Eine Methode...‹, so dachte Alfred, ›ist ja oft auch umso effektiver, desto einfacher sie ist‹. Paul musste an das Summen denken, welches an dem heutigen Morgen wieder so stark und auf unerklärliche Weise wie dieser Ton gewesen war, der ihn aus seiner nächtlichen Verzweiflung geholt hatte. Und war da nicht auch alles wie aufgelöst und schwerelos und

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KAPITEL04  SZENE 06:  METAPHYSIK MIT MASCHINEN

wie Gesang gewesen? Hier saß er nun. Sein Onkel und er schauten in dieselbe Richtung, waren wie in demselben Blick geeint. Silbern schimmerten die Bäume, silbern war das Licht. Wie aus Kristall war der Himmel und hymnisch waren die Berge gestimmt. Und da hinein ragten diese Maschinen. In rot und gelb und orange und weiß und in blau. Sie waren wie enorm große Spielsachen und wie Relikte einer postindustriellen Zeit, die hier anscheinend einer neuen Bestimmung zugeführt wurden. Beinahe konnte er sie für etwas Heiliges halten. Und dank dieser besonderen, implantierten Technologie erschienen sie Paul tatsächlich so etwas wie Tore zu sein. Tore in eine wie auch immer geartete Transzendenz. Paul wandte sich zu Alfred: »So sei es. Amen. Du bist verrückt. Ich bin verrückt.« Alfred musste grinsen. Paul musste grinsen. Sie saßen noch eine Weile. Die Räume waren geöffnet. Eine Freude war über den Dingen. Und ein Frieden und eine Glückseligkeit. Alfred schloss die Augen. Paul schloss die Augen. Er hatte begonnen, seinen Onkel ein wenig mehr zu verstehen. Und jetzt war sie wieder ganz da: Die Klarheit. Als ob er seinen Kopf aus trübem Wasser gehoben hätte, als ob die Schlieren und Schleier von seinem Auge weggewischt wären. Er erinnerte sich an die Situation, als

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er im Biologieunterricht Zwiebeln tranchiert hatte. Da hatte er für einen Moment auch in diesem Klarsein gestanden. Alfred schien auf einmal aus diesem Zustand gerissen, denn er wandte sich mit einem besorgt aussehenden Gesicht zu Paul. »Du darfst deinem Vater davon nichts erzählen! Ich hatte dir das ja auch schon in dem Brief mitgeteilt. Albert würde sonst sicher kommen und alles vereiteln. Dass du bei mir bist, das wird er als gemeinen Vorsatz und späte Rache interpretieren.«

GRAUSAM SCHÖNE TAGE

In den folgenden Tagen

und Wochen trat ein allmählicher Wandel ein. Die verlassenen Behausungen füllten sich und auf der zum Akkumulator angrenzenden Wiese wurden Zelte aufgeschlagen. Die abendlichen Treffen fanden nun regelmäßiger statt. Meistens fing es damit an, das irgendjemand dazu anschickte Musik zu machen. Dann fanden sich weitere Musiker ein. Leute versammelten sich und es kam nicht selten vor, dass bis in den frühen Morgen getanzt und gefeiert wurde. Einige aus der Pondisheri-Fraktion hatten begonnen, sich um die regelmäßige Verpflegung zu kümmern. Es wurde gemeinsam das Essen zubereitet und es gab immer eine wechselnde Gruppe von Leuten, die

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KAPITEL04  SZENE 07:  GRAUSAM SCHÖNE TAGE

sich um das Kochen, das Austeilen und Abräumen kümmerte. Andere übernahmen die Verantwortung für die Verbesserung der sanitären Bedingungen und dann gab es auch noch solche, die am Morgen singend und bimmelnd um die verstreuten Zelte und Behausungen zogen, um die Leute zu wecken. Alfred agierte im Hintergrund. Wenn es wichtige Entscheidungen zu fällen gab, dann wurde meistens er befragt. Aber zunehmend wurde die Verantwortung auch an Andere delegiert. Bronsky war kaum noch anzutreffen. Er blieb für Paul ein Mysterium. Und Alfred reagierte bei Fragen zu Bronsky immer noch ausweichend und diffus, so dass Paul danach nie schlauer war als zuvor. Als ein besonderes Ereignis empfand Paul das Eintreffen der vier alten Yogis, die Höhlen in der Nähe von diesem Territorium bewohnten. Sie hatten einander seit vielen Jahren nicht mehr gesehen und man sah ihnen an, wie sehr sie sich über ihr gegenseitiges Wiedersehen freuten. Alfred hatte nach ihnen in der Umgebung suchen lassen. Und so viel hatte Paul herausbekommen: Sie waren in gewisser Weise schon die ganze Zeit mit diesem Ort verbunden gewesen. Es schien sogar so gewesen zu sein soweit er dem Gerede zwischen Alfred und Bronsky entnehmen konnte - dass dies auch der tiefere Grund

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gewesen war, weshalb Alfred ausgerechnet hier alles errichtet hatte. Alfred hatte ihm eines Abends erzählt, dass diese Yogis in der Lage waren, auf diesen Ort energetisch einzuwirken. Und dann fügte er noch hinzu, dass Bronsky mit ihnen in gewisser Weise zusammenarbeitete. »Er potenziert Frequenzen.« Dies klang für Paul anfangs rätselhaft, aber er begann immer mehr zu ahnen, was sein Onkel damit meinte. Die alten Männer hatten sich in dem Park niedergelassen. Etwas abseits hatte man für sie kleine Hütten errichtet. Manchmal hielten sie sich auch weiter unten auf. Sie saßen mal hier, mal dort. Dasein war ihre Aufgabe. Paul bemerkte, dass er in ihrer Nähe unwillkürlich anfing, bedächtiger sowie auch andächtiger zu werden. Er konnte sich dann stundenlang mit dem Schälen und Kauen einer Apfelsinne oder dem Betrachten von Bäumen beschäftigen. Doch war nicht alles nur schön. Es passierten seltsame Dinge. Und wäre Paul in einem anderen Zustand gewesen, dann hätte er allarmiert sein müssen. Aber so nahm er die merkwürdigsten Phänomene hin, nahm diese Vorkommnisse als Teil einer Wirklichkeit wahr, in welcher er - ähnlich wie im Traum Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten nicht mehr hinterfragte. Einmal lief er an einer Gruppe von Saddhus vorbei, die sich in der Nähe des Akku-

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KAPITEL04  SZENE 07:  GRAUSAM SCHÖNE TAGE

mulators niedergelassen hatte. Er blieb erschrocken stehen, dann schaute er noch einmal hin. Er erkannte zwischen ihnen Hinkel. Derselbe Hinkel, den er noch aus der Firma seines Vaters kannte: Dipl. Ing. Hinkel hockte inmitten dieser verzottelten Typen und trank mit ihnen Tee. Hinkel hatte geschmunzelt, als er Paul sah. Paul frage Hinkel, ob er richtig sehe. »Ja...«, sagte Hinkel, »Der bin ich. Ich war auf der Suche nach dir. Aber sage hier niemandem, wer ich bin oder wer ich mal war.« »Gut, klar.... Aber was machst du hier?« »Ich bin im Auftrag deines Vaters hier. Ich soll dich zurückholen. Jedenfalls war das mal mein Auftrag gewesen - bis ich es mir anders überlegt habe.« Paul fragte nach seinen Eltern, aber Hinkel wich aus. Er wollte davon nichts mehr wissen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Paul nahm das einfach hin, obwohl es irrsinnig war. Dann hakte er doch wieder nach und wollte wissen, was Hinkel hier machte. Hinkel erzählte, dass Bronsky ihm Arbeit angeboten hatte, als dieser gemerkt hatte, dass er sich mit der Programmierung von Maschinen gut auskannte. Er setzte hinzu, dass er gerade dabei war, sich selbst umzuprogrammieren. Er schrieb gerade an einem Programm zur Löschung von Gedankenmustern und dies hätte er selbst auch bitter nötig.

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»Ich lösche meine Erinnerung an dreißig verlorene Jahre, an dieses Irgendwo, das mal meine Arbeit und mein Zuhause gewesen war.« Denn mit dieser Vergangenheit konnte er einfach nicht mehr leben. Eigentlich durfte er ihm dies nicht erzählen, es war streng geheim. Aber er tat es doch vorsorglich, denn er wusste ja nicht, ob er sich noch morgen an sich erinnerte und woher er eigentlich kam. Paul schaute auf Hinkel, der ganz offensichtlich glücklich aussah, und dann sah er auf seine neuen, langhaarigen, bärtigen und bekifft grinsenden Freunde, die noch nicht einmal richtig Englisch verstanden. Die machten Andeutungen, dass er sich doch auch setzen sollte. Paul nahm an, dass die sich schon lange um den Verstand gebracht hatten und nun dasaßen, wie kleine Jungs mit ihren dunklen und freundlichen Augen, und alles war gut. ›Nichts ist gut!‹, durchfuhr es ihn. Er verließ diesen Ort und seine Begegnung mit Hinkel wie betäubt. Er dachte daran, seinen Vater anzurufen. Alles würde sich wie ein Traum auflösen und er würde zurückfallen in sein altes Leben. Später erinnerte er sich an ein Gespräch mit Alfred. Er hatte dieses Gespräch nicht verstanden, aber einige Sätze behalten und länger darüber nachgedacht. »Wenn deine Seele dich sieht und sie stellt

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KAPITEL04  SZENE 07:  GRAUSAM SCHÖNE TAGE

sich vor, dass sie zugleich auch jemand anderes ist, dann ist da ein alter, ein äonen-alter Schmerz, denn sie war nie der Eine oder Andere von euch beiden. Die Seele will nur sie selber sein und sich in allem spiegeln und in allem ist die Freude Gottes. Nur Kinder werden dem noch gerecht, wenn sie spielen.« ›Hinkel ist ja immer noch Hinkel, aber zugleich ist er auch schon jemand Anderes, und dabei ist er vielleicht mehr bei sich selbst, als er jemals bei sich selbst gewesen ist?‹, überlegte Paul. Immerhin war er nicht allein. Und den Anderen musste es doch ähnlich ergehen? Solange er diese Wirklichkeit mit den Anderen teilte, beruhigte er sich, war es noch gut. Immer wieder musste er auch an Henriette denken. Und als er einen Anrufversuch von ihr auf seinem Handydisplay gesehen hatte, da versuchte er, sie immer und immer wieder zu erreichen. Henriette musste ihr Handy danach abgestellt haben. Er rief ihre Eltern an. Ihre Eltern waren in Sorge, denn sie wussten nicht, wo sie war. Eines Tages kam Hannah ihn besuchen. Auch sie wurde angesteckt von dieser Aufregung, die sich hier langsam breitmachte. Paul durchstreifte mit Hannah die Gegend. Sie gelangten zu Hügeln und in Täler, die sich hinter der rotierenden Schüssel befanden.

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Als sie dort den ganzen Nachmittag und den frühen Abend verbrachten, begann Hannah ihn anzufummeln. Auch Paul hatte immer stärker unter einer sexuellen Anspannung gestanden, die sich bei ihm fast bis ins Unerträgliche gesteigert hatte. Er wusste nicht, was er genau tun und wie er es anstellen musste, denn er kannte sich nicht aus. Doch sie war erfahren und älter als er. Sie ging ihm über das Haar und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Und als er sagte, dass er noch unerfahren sei, da meinte sie: »Ich weiß.« Sie machte weiter. Sie nahm ihn. Er tat es ihr nach und sie machten es gut, würde er bei all seinem laienhaften Verständnis dieser Angelegenheit behaupten. Jedenfalls lagen sie danach noch eine halbe Stunde im Gras und Hannah grübelte wortlos vor sich hin. In diese Schweigsamkeit blieb sie eingehüllt. Und dies hielt an bis zum folgenden Tag. Sie sonderte sich ab und zog allein durch die Gegend. Erst am Abend war sie wieder da. Sie wirkte verstört und meinte zu Paul, dass hier etwas nicht stimmte, denn sie hätte Alfred und Bronsky oben am Wasserfall mit einigen Damen beobachtet. Das hier sei in jedem Fall kein Ashram, meinte sie, eher noch eine Pornosekte. Und das sei ihr alles nicht ganz geheuer.

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KAPITEL04  SZENE 07:  GRAUSAM SCHÖNE TAGE

Am darauf folgenden Morgen packte sie ihren Rucksack und verschwand. Was Paul in diesen Tagen am meisten berührte, das waren Spleen und Pieschke. Auch sie hatten sich verändert. Spleen war nur noch selten in seiner klassizistischen Villa anzutreffen. Er verbrachte den ganzen Tag auf dieser Wiese und pflanzte Worte. Das war ihm so eine Art Ritual geworden. Wenn man ihn danach fragte, dann erzählte er, dass er dies nicht allein für sich tat. So konnte man davon ausgehen, dass er auch ein wenig verrückt geworden war. Dabei war er aber ganz ruhig und beinahe konnte man sagen, selig vor Freude. ›Armer Spleen‹, dachte Paul. Er half ihm jedoch, wenn er Zeit hatte. Manchmal kam Spleen zu den nun regelmäßig stattfindenden abendlichen

Zusammenkünften

gehumpelt,

und

auch

Pieschke war immer wieder mal anwesend. Er redete immer noch viel, aber längst nicht mehr so viel wie früher, und manchmal fiel er auch in ein langes, abwesendes Schweigen. Seine Anfälle waren nicht mehr so heftig. Sie endeten immer noch in diesen Zusammenbrüchen und dann ging es ihm für Tage besser. An einem dieser Tage hatte er sich mit dem Ecco Homo von Nietzsche in die Berge zurückgezogen.

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AN DEN TOILETTEN Dr. Bender war für die Dauer einer Zigarette aus der Situation herausgetreten, mit der er in der Gaststätte konfrontiert worden war. Er hatte sich an den Toiletten unter ein schützendes Dach gestellt. Es war feucht und kalt und immer wieder gab es Regenschauer. Dunkle und tief hängende Wolken schoben sich über ihn hinweg. Sie bildeten eine dichte Decke, die sich allseitig bis zum Horizont erstreckte. Im Hintergrund war ein mehrstöckiges Hochhaus zu erkennen, das aus grauen Betonplatten bestand. Ein brauner Streifen, der vom Boden bis zum Dach reichte, markierte an der Außenfassade den Bereich, hinter dem sich das Treppenhaus befand. Seitlich davor ragte eine Gewerbehalle endlos weit in einen Acker hinein. Bender stellte sich vor, er würde in diesem Hochhauses wohnen. Er hätte dort von seinem Wohnzimmer aus die Halle im Blick. ›Und zwar über diesen Balkon mit den roten Geranien hinweg‹. Bender zählte und fand »seine« Wohnung im fünften Stock. Er malte es sich aus. ›In der Halle würde ich tagsüber meine Arbeit verrichten. Wie jeden Abend würde ich mir meinen Cognac aus dem Wandschrank holen und dann alleine vor der Glotze sitzen... was für ein dolles Leben.‹ Bender entwickelte Empathie mit einer Person, die es so nicht gab, er fühlte Mitleid mit

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KAPITEL04  SZENE 08:  AN DEN TOILETTEN

sich in dritter Instanz. ›Es wäre nicht so schlimm wie in dem Film Eraserhead. Es wäre noch viel schlimmer.‹ Während er dies resümierte, fingerte er nach der Verpackung, die er in seinem Mantel vermutete. ›Da sind sie. Gott sei Dank!‹ Er hatte sie also nicht im Auto liegen lassen. Jetzt musste er nur noch mit der freien Hand das Feuerzeug aus der anderen Manteltasche ziehen, dann noch mit dem Ding zwischen den Fingern eine Zigarette rausfummeln. Er spürte das Weiche zwischen den Fingerkuppen, blickte auf die Stichflamme und auf die unter dem ersten Zug erglühende Zigarettenspitze, dann auf den aufsteigenden Qualm. Kleine, vertraute Sensationen. Jetzt konnte er in Ruhe über alles nachdenken. Er rief sich die Situation ins Gedächtnis, als er Albert zum ersten mal gesehen hatte. So viel Verzweiflung war ihm lange nicht mehr begegnet. Sein Sohn war verschwunden und Albert hatte das Gefühl versagt zu haben. Mehr noch, Albert hatte Angst. In ihm war eine tief sitzende Angst, ein kompletter Versager zu sein. ›Der Mann ist getrieben‹, sinnierte Bender. ›Wenn ihm noch etwas was bedeutet, dann ist das sein Söhnchen. Alles andere ist für ihn bedeutungslos geworden, vorausgesetzt, das war nicht schon immer so...wirklich tragisch.‹

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Bender betrachtete den Balkon mit den Geranien. Er dachte, dass man dies von vielen seiner Zeitgenossen behaupten konnte - ihn mit eingeschlossen und dann nahm er einen weiteren, tiefen Zug. Er war von Albert gefragt worden, ob er nicht helfen konnte. Er hatte Paul ja in seiner Sprechstunde gehabt. Bender konnte, denn er wusste, dass Henriette durch Pauls Empfehlung zu ihm gekommen war. Er hatte daraufhin seinen Sohn instruiert, Henriette nach Paul auszufragen. Eine Woche später hatte Bender die Informationen, die er brauchte. Er bestellte den Vater in sein Büro und klärte ihn auf. Etwa drei Minuten hatte der Mann in sich hineingeschwiegen. Dann hatte er gesagt, jetzt falle es ihm wie Schuppen von den Augen. Und Bender solle ihn davon abhalten, seinen Bruder eigenhändig zu erschießen. Dies war vor gut einem Monat geschehen. Albert hatte kurzerhand Hinkel nach Indien geschickt, um Paul zu suchen. Dieser war dann auch verschollen. Und dies hatte nun zur Konsequenz, dass er hier auf dieser Autobahnraststätte stand. An einem Samstag. Und dann waren da noch diese beiden Typen. ›Wer hat denen denn gesteckt, dass sie im Anzug aufkreuzen müssen? Was kann es denn Blöderes geben als Rambos mit Krawatte!‹ Bender und Albert hatten ihnen gegenübergesessen. Die beiden Bodyguards

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KAPITEL04  SZENE 08:  AN DEN TOILETTEN

nickten geflissentlich zu Alberts unseriösen Vorschlägen. Sie waren tatsächlich bereit, sich in Indien Waffen zur organisieren. Sie waren zu allem bereit, wenn man ihnen endlich mal eine Chance gab, ordentlich Geld zu verdienen. Für einen Moment dachte Bender, dass Albert gar nicht mehr vernünftig sein wollte. ›Der sucht vielleicht sogar das Abenteuer? Der stellt sich komplett selbst in Frage.‹ Er schaute einem aufgepumpten BMW hinterher. Er dachte: ›Arschloch‹. Dann überlegte er, inwieweit die Investition in ein großes und hochkomfortables Auto vor dem Andrang der hiesigen Unwirtlichkeit zu schützen vermochte. Bender sah dem nächsten Auto hinterher und überließ sich rauchend dieser Reptilienhirnwahrnehmung. ›Aufmerksamkeit wird doch durch jeden Scheißdreck angezogen.‹ Es war Zeit wieder hinein zu gehen. Eine Frau schob sich mit ihrem plärrenden Balg an ihm vorbei. Er schaute der krakeelenden Alten hinterher. Ihr Rücken ähnelte dem eines aufrecht laufenden Bären. Weiter unten spannte der Stretch an zwei gedellten Pobäckchen. Und noch ein bisschen weiter unten - Dr. Bender machte sich die Mühe, auch das zu begutachten - hatten sich ihre Unterbeine unter ihrem Lebendgewicht ferkelartig auseinandergespreizt. ›Wer hat die bloß gepoppt?‹ Die Frage stellte sich ihm mit derselben Unfreiwilligkeit, mit welcher er ihre

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peinlich tiefe Arschrille im Stretch fixierte. ›Egal!...‹ Bender wehrte diesen Anfall von Zwanghaftigkeit mit einer genervten Handbewegung ab. Wieder nahm er die Verfolgung von Autos und Lastern auf. Die letzten Züge an der Zigarette hinterließen einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. ›Rauchen macht das Leben auch nicht immer reflektierter...‹ Er ließ die Kippe auf den Asphalt fallen und zerdrückte sie knirschend mit seinen Lackschuhen, die er zu dem heutigen Anlass angezogen hatte. Er war angewidert von seiner eigenen geistigen Verfassung, die durch absolut keine Zigarette mehr aufgehellt werden konnte. Aber er hatte sich entschieden, mit einem verzweifelten Vater und in Begleitung dieser beiden Tölpel durch Indien zu reisen. Vielleicht würde er seinen Sohn mitnehmen, der nicht akzeptieren wollte, das Henriette ihn so einfach verlassen hatte. All dies schien ihm angesichts seiner aktuellen Lebenslage eine vielversprechende Abwechslung zu werden.

PARADOXES ERLEBEN Nach

einem epileptischen An-

fall mit seiner qualvollen Enge und seinen furchtbaren Krämpfen tritt bei einigen der Betroffenen ein Zustand von tiefem Frieden ein. Pieschke hatte davon nicht nur gehört, sondern er hatte ähnliche An-

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KAPITEL04  SZENE 09:  PARADOXES ERLEBEN

fälle selber durchgemacht. Und doch schien einiges nun anders geworden zu sein. Das friedvolle Glück nach einer solchen Krise war nun von Dauer. Ein Raum in ihm hatte begonnen sich zu öffnen. Selbst sein Ärger konnte sich darin verlieren. Am deutlichsten wahrnehmbar war dieser Zustand, wenn er seine Augen schloss. Er ruhte dort unverortet im Nirgendwo. Er fühlte sich ausgebreitet in einem Zustand von Nichts und in einem Zustand von Sein. ›Das Paradoxe...«, stellte er fest, »...ist wohl eine notwendige Erfahrung, ja eine Bedingung, um das Alltägliche hinter sich zu lassen.‹ Dieser geweitete Raum füllte sich mit einem Gefühl von Freiheit, ja von Begeisterung. Auch an diesem Morgen war alles von einem solchen Zauber und so voller Klang, dass er beschloss, sich auf einen nahe gelegenen Berg zurückzuziehen. Er hatte Nietzsches Autobiografie, den »Ecce Homo« mitgenommen. Er kraxelte einen steinigen und zugewachsenen Weg nach oben. Das Licht funkelte auf den umliegenden Bäumen wie auf fernen Meeren. Geblendet von Licht war ihm die Welt und alles erschien ihm gleichsam entrückt wie unmittelbar. Bronsky war in seinem Sendeturm, als er durch das seitliche Fenster eine Gestalt erblickte, die sich an einem Steilhang nach oben kämpfte. Diese torkel-

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te in zweihundert Meter Entfernung den Berg hinauf. An der dicklichen Figur und an der Unbeholfenheit, mit welcher sich der Wanderer - schwer atmend - an Sträuchern und Ästen nach oben zog, war unschwer zu erkennen, um wen es sich handelte. Bronsky betrachtete ihn mit der Gleichgültigkeit, mit der Forscher Ratten, Mäuse oder Stubenfliegen examinierten. Hier nun also bot sich ihm die passende Gelegenheit. Pieschke war keuchend stehen geblieben. Er fixierte einen höher gelegenen Felsvorsprung. Dort zog es ihn hin. Nach etwa fünf Minuten hatte er den Ort erreicht. Er war erschöpft und seine Begeisterung hatte ihn vergessen lassen, dass er nicht mehr der Jüngste war. Er ließ sich nieder und als er die Augen schloss, trat er wieder ein in diesen durchsichtigen und unsichtbaren Raum, trat ein in ein Verteiltsein und Verwobensein mit allem was war. ›Ich kann doch unmöglich jetzt dieses Buch lesen!‹, dachte er. Doch er wusste auch, dass dies nicht stimmte, denn mit der Zeit machte er Erfahrungen mit den Folgen seiner Veränderung. Es war ihm möglich geworden, sich aus seinem Entrücktsein auch wieder bewusst »herauszurücken«. Er hatte angefangen, diesen neuen Zustand als eine weitere Instanz seiner Selbst wahrzuneh-

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KAPITEL04  SZENE 09:  PARADOXES ERLEBEN

men. Dieses zweite Selbst nannte er seinen »stillen Beobachter«. Dieser war in der Lage Dinge wahrzunehmen, ohne sie zu intendieren. ›Aber ist denn Bewusstsein nicht immer intentional?‹, überlegte Pieschke, ›...und erfordert nicht jeder Bewusstseinsakt auch einen Bewusstseinsgegenstand? Schließlich benötigt doch auch jeder Satz einen Satzgegenstand? Sonst wären Sätze gar nicht möglich? Sprache würde verstummen?‹ Allerdings konnte dieses Verstummen und Schweigen so intensiv werden, dass Pieschke es meistens unterließ, irgendwelche Fragen zu stellen. Wenn er sich dann doch solche Fragen stellte,

war

er

wieder

im

alten

Pieschke-Modus. Dann konnte es passieren, dass er sich sogleich in das Gegenteil von Schweigen hineinsteigerte. Doch selbst, wenn er wieder einmal einen Anfall hatte, diese neue Identität war jetzt immer da - zwar überlagert aber immer da, still und beobachtend. ›In diesem Fall werde ich nur einen Richtsender

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benötigen‹,

überlegte

Ausschnitt: Olympia, 1957 Das man durch Negation dialektisch vorankommt ist seit Hegel bekannt. Aber dass das Bewusstsein selbst eine einzige Negation ist? Das auch. Aber in anderen Breitengraden. Üblicherweise wird unser Bewusstsein (dass sich eigentlich darin genießen könnten nichts mehr sein zu müssen) westlich so gedacht, dass es immer auf etwas bezogen sein muss. Das nennt man dann auch Intentionalität oder: Immer dort wo es ein wahrnehmendes Subjekt gibt muss es auch ein wahrgenommenes Objekt als Gegenüber geben. CyTwombly hat mit den Bildern des frühen Kandinsky die Ekstase unmittelbarer Entstehung, mit dem Minimalismus die Fragmentiereng der Form bis zum Kürzel gemeinsam. Vor allem aber ist es das Weiß, ist es der scheinbar unfokussierte »Bewusstseinsraum« in dem die fllüchtigen Malereien und Zeichnungen in ihrer vibrierenden Virulenz wie Spuren eines Zustands wirken, in dem alles fast formlos, schwebend und leicht geworden ist. Sie wirken, als wären sie dem bewussten Zugriff entzogen, als gäbe sich das Bewusstsein sich nicht mehr die Mühe etwas genau zu intendieren und in eine klare kommunikative Form zurückzubringen.


Bronsky. Dieser besaß genügend Reichweite. Mit diesem konnte man punktgenau arbeiten. Bronsky hatte sich in den Kontrollraum begeben. Er schaute auf einen Monitor. Pieschke war aus dem Sichtfeld des Suchers verschwunden. ›Er wird niedergeplumpst sein, der olle Sack.‹ Er drehte sich zum Steuerpult, schaltete den Sender an. Dann suchte er in einem kleinen Rollschrank nach dem passenden Programm. Er fand »Panik State of Mind«. ›Passt genau...‹, dachte Bronsky, ›...Angst!... damit sind die Deutschen gut vertraut. Das verabreichen wir doch mal.‹ ›Aber ist denn Bewusstsein nicht immer intentional?‹, diese Frage hatte Pieschke sich also gestellt und damit sein somnambules Ruhen im Nirgendwo verlassen. Seine rechte Hand fingerte nach dem Buch, das am Boden lag. In demselben Moment, in dem er dieses »Bewusstsein-ist-immer-intentionalMantra« ausgesprochen hatte, war eine Unruhe in ihm entstanden, sein Interesse war wieder erwacht, in Nietzsches »Ecco Homo« hineinzulesen. Er blätterte hin und her. Er blieb an dem Kapitel mit Nietzsches Ausführungen zum Thema »Inspiration« hängen. Er las den ersten Satz: Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker

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KAPITEL04  SZENE 09:  PARADOXES ERLEBEN

Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich‘s beschreiben. Pieschke hielt inne. Es hatte die Betrachtung dieser Formulierung seinem stillen Beobachter übergeben. Dies war seine neue, seine doppelte Lesart von Texten. Wie gehen Sätze ins Schweigen ein? Wie gehen diese damit in Resonanz? Und alles, was er wusste und was er über Nietzsche wusste, ging gleichfalls in Resonanz. ›Mit Nietzsche ist es wie mit Bach, ja wie mit allen großen Geistern...mit dem ersten Satz, dem ersten Akkord sind sie präsent.‹ Er legte das Buch neben sich auf die Wiese und schloss für einen Moment die Augen. Er deklamierte noch einmal Wort für Wort: ›Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts...‹ Er spürte diese bestimmten, entschiedenen Tonart nach. Er spürte den Drang, der aus der Gewissheit entstand, etwas Wichtiges mitzuteilen zu müssen. ›Doch wer ist dieser Jemand, mit dem Nietzsche sprach?‹ In der von ihm beschriebenen »letzten Einsamkeit«, in der nur noch eine »schauerliche Stille« herrschen sollte, in der »nichts mehr hindurch geht«, gab es diesen Jemand doch gar nicht mehr? Und doch wollte Nietzsche diesem Jemand »am Ende des neunzehnten Jahrhunderts« doch endlich einmal erklären, was »Dichter

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starker Zeitalter« Inspiration nannten. ›Und wer sind außerdem diese Dichter starker Zeitalter?‹, fragte sich Pieschke. Er versuchte sich zu erinnern. Gegenüber Goethe, ja vor allem gegenüber Shakespeare empfand Nietzsche eine gewisse Wertschätzung. Doch ging es ihm ja um die Dichter aus ganz anderen »Zeitaltern«. Wahrscheinlich waren auch diese nur Erfindungen seiner Einbildungskraft. Pieschke spürte seine Einsamkeit, seine aus dem Schmerz geborene höhnische Verachtung, seinen Spott und seine Verzweiflung. Dieser Existenzialist war wirklich kein »denkender Frosch« mit »kalt gestellten Eingeweiden«, keine »Registriermaschine«, keiner von diesen deutschen Professoren, die immer »die Hoffnungslosesten unter seinen Lesern« waren. Er überflog den folgenden Absatz. Diese »Inspiration«, so stand dort, war derart, dass sie »umwirft« und dass man »außerhalb von sich selber ist. Pieschke musste das Buch ein weiteres Mal zur Seite legen und still werden. Er fragte sich: ›Wer wird da umgeworfen und ist außer sich?‹ Er begann in den Absatz noch einmal und genauer hineinzulesen. In ihm bebte das Erlebnis seiner Offenbarung nach. Wie sich überschlagende Akkorde kamen ihm die Sätze vor, wie beidhändig und mit Wucht in ein Klavier gehämmert:

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KAPITEL04  SZENE 09:  PARADOXES ERLEBEN

...der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, - ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einem Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Außer-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein

einer

Unzahl

feiner

Schauder

und

Überrieselungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses... Pieschke legte sich auf den Rücken und schaute in die Wolken, die wie getupft am Himmel standen. Kannte er nicht auch solche kurzen Phasen von Lichtüberfluss, und kannte er nicht auch diese ungeheure Spannung? Und er fragte sich: ›Woher rührt diese explosive Gespanntheit? Was hält all dies nicht mehr aus, will aber dennoch davon berichten?‹ Er schwieg

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lange in sich hinein. Dann kam ihm der Gedanke: ›Es ist das Ich! Das Ich ist die Ursache der Dramatik in einem sonst ganz glückstiefen Geschehen. Und wahrscheinlich kann Nietzsche nur souverän über diesen Zustand

berichten als jemand, der diese

Übermenschlichkeit bereits verwirklicht hat: Als Zarathustra. Der allem Freund ist, der erhaben über Gut und Böse schwebt, der auch nur seine Erfindung, sein Gott-Nietzsche, seine eigene Übersteigerung und Maskerade ist.‹ Pieschke las: ...Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustra‘s zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnisse anböten (- «hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichnis reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen... Pieschke klappte das Buch zusammen, nicht ohne seinen Zeigefinger vorsorglich in die aufgeschlagene Seiten geschoben zu haben. Er spürte, wie das von Nietzsche beschriebene Geschehen sich wieder - zeilenweise - auf seine gedachte Mitte, seine imaginierte Person, auf sein Ich zu beziehen begann... »schmeichelnd, liebkosend, auf seinem Rücken rei-

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tend« wollte es durch ihn erst »reden lernen«. »Nein...«, rief Pieschke aus, »...daran kann doch nichts falsch sein!« Doch bestand da eine Gefahr. Zeile um Zeile war ihm dies deutlicher geworden: Nietzsche würde am Ende wieder und vor allem nur von sich selber sprechen wollen, als dem Erlebenden, als demjenigen, dem allein dieses Erlebnis zuteil geworden war. Pieschke sinnierte: Wird aus dem Erleben der Entgrenzung dann nicht eine grenzenlose Egomanie, ein sich selbst vergötterndes, ein dämonisches Ich? Da schaute Pieschke den Dämon. Lange schaute er da hin. Und der Plärr- und Quälgeist, »von dem alles reden lernen will«, verschwand allmählich wieder in seinem Schauen. Er schlug das Buch noch einmal auf und las in die letzten Zeilen dieses Abschnitts hinein: Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehen muss, um jemanden zu finden, der mir sagen darf: »es ist auch die meine«. Da war er wieder! Schlimmer noch als je zuvor! Nur noch wenige Jahre würde es dauern - so erinnerte sich Pieschke in diesem Augenblick - dann würde dieser Dämon, dieses dämonisch große Ego den Denker ins Delirium gedrängt haben!

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Währenddessen hatte Bronsky seinen ersten Schuss gesetzt. ›Die volle Ladung!‹, jubelte er, ›... der steht nicht auf.‹ Er wartete gespannt, ob sich Pieschke vielleicht doch noch aus dem Gebüsch erheben würde. Er hielt den Sender weiterhin auf ihn gerichtet. ›Das größte Problem wäre jetzt ...‹, sagte er zu sich, ›... wenn er bibbernd und heulend den Berg hinabstürzt. Dann besteht die Gefahr, dass Alfred alles aufdeckt.‹ Pieschke war von der Vorstellung besessen, dass er diesen Text nicht hätte lesen dürfen. Nicht in seinem jetzigen, so offenen und empfänglichen Zustand. Gerade noch war er sich sicher gewesen, dass er den Dämon überwunden hatte. Nun hatte dieser wieder von ihm Besitz ergriffen, mehr als zuvor. Dass er meinte Nietzsche überwunden zu haben - das allein schon war dämonisch. Soeben noch wollte er dieses Werk loben aufgrund seiner genialen Vielschichtigkeit. Da wurde es ihm in seinem Undeutbaren und Unfassbaren zu einem dunklen und gefährlichen Gebilde, in das hinein er wieder seinen eigenen Größenwahn zu projizieren begonnen hatte. Soeben noch schien sich bewahrheitet zu haben, was Nietzsche einmal über seine besten und mutigsten Leser gesagt hatte: Wandle nur auf deiner eigenen Bahn, dann trägst du auch mein Werk zu höherem Licht heran.

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Da klang dieser Sinnspruch schon wie Spott, denn: Größenwahn gebiert Größenwahn. Der vermessene Glaube, den Dämon überwunden zu haben, gebiert den Dämon aufs Neue. ›Er ist gekommen, mir den Verstand zu rauben!‹ Pieschke bekam Angst. Er suchte verzweifelt nach Streichhölzern. ›Ich trage doch immer welche bei mir? Ich kann mich retten, wenn ich dieses unselige Buch sofort verbrenne‹. Er fand die Streichhölzer. ›Gott sei Dank‹, gab er wie in einem Stoßgebet von sich. Seine Hände zitterten. ›Was wollte ich von den Streichhölzern? Ach ja: Das Buch verbrennen!‹ Er riss Seiten heraus, zerknüllte sie, versuchte sie zu entflammen. »Alles muss brennen!«, rief er. Die erste Seite fing Feuer. Er begann zu tanzen. Vor rasender Angst und mit verzweifelnder Freude. Das Buch brannte lichterloh. Dann blieb er stehen und starrte in die züngelnden Flammen. Er hatte vergessen, weshalb er hier war, weshalb er tanzte. Er stürzte. Beinahe verlor er das Bewusstsein. Er schaute in den Himmel, in die betörende, in die beängstigende Leerheit des Himmels. Der sprach mit ihm: ›Mein lieber Pieschke. Spaß muss sein. Die größte Leere hat noch ihr eignes Lachen, das größte Nichts hat ein bestimmtes Sein‹.

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SEX MIT SIKHS Es war um Mitternacht, als sie in Dehli ankamen. Der Taxifahrer hatte Ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit empfohlen. Er hatte sie in ein Hotel gefahren, das zu der gehobenen Kategorie gehören sollte, die Zimmer besaßen nämlich eine Klimaanlage. ›Das also ist hier der Maßstab für Niveau‹, dachte Albert. Das Hotel befand sich in einer üblen Gegend, und als er aus seinem Zimmer heruntersah, stellte er fest, das noch andere unmittelbar unter seinem Fenster wohnten. ›Obere Etagen stehen wohl auch für Niveau, da bleibt man um ein paar Meter dem Elend enthoben‹. Unten hatte ein Inder sein schrammeliges Bett auf die enge Gasse geschoben. Er hatte sich kurz hingelegt, dann war er wieder aufgestanden, lief ein paar Meter nach links, stellte sich an eine Wand und pisste dagegen. ›Da also hat er sein Klo‹, stellte Albert angewidert fest. Er musste an eine Anekdote über Fürst Metternich denken. Der hatte von einer Reling aus beobachtet, wie ein Mensch ins Wasser gefallen war. Haie hatten ihn geschnappt und gerissen. Metternich soll gesagt haben: »Oh Gott! Ohne Messer und Gabel!« Albert dachte ähnlich. ›Wahrscheinlich wird seine Küche auf der anderen Seite vom Bett liegen.‹ Und tatsächlich, da lagen organische Abfälle. ›Aha...,‹ dachte Albert, ›für Essen und Scheißen gibt es getrennte Orte und zum Glück hat

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KAPITEL04  SZENE 10:  SEX MIT SIKHS

auch der Inder zwei Hände, wenn er nicht schon mit Messer und Gabel ist‹. Am kommenden Tag hatten sie vergeblich versucht, für ihre beiden Bodyguards Waffen zu besorgen. Das war eine schwierige Unternehmung gewesen, denn in Indien gibt es keine Waffen zu kaufen. Zumindest nicht für Touristen. Sie waren zuletzt zu einem Laden geführt worden, in welchem sich die nordindischen Sikhs mit Lebensmitteln und Kleidern eindeckten und interessanterweise auch mit altmodischen Waffen. Der Händler erzählte ihnen, dass es bei den Sikhs eine weit zurückreichende Tradition gibt. An bestimmten Tagen kleiden sie sich in blaue Gewänder und dann hängen sie sich einen riesigen Säbel um. In ihrer Religion war nämlich die kämpferische Selbstverteidigung sehr wichtig. Noch heute würden als Bewahrung dieser Tradition rituelle Kämpfe ausgeübt werden und noch heute liefen einige Sikhs in dieser Aufmachung herum. »Gut...«, hatte Albert geantwortet, nachdem er ungeduldig zugehört hatte. »...die nehmen wir und das ganze Drumherum brauchen wir ja dann auch.« Und Bender dachte dabei: ›Die wirken darin nicht weniger verkleidet als in Anzug und Krawatten‹. Das einzige Problem war noch der Bart. Denn dieser war ein obligatorisches Detail dieser Verkleidung. Sie

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fanden zwei Spitzbärte zu einem für indische Verhältnisse ganz horrenden Preis. Die Bärte waren sogar aus Echthaar und sie wurden normalerweise nur an bartlose Sikhs verliehen. Am späten Nachmittag hatten sie Haridwar erreicht. Alberts Verachtung gegenüber Indern, ihrer lauten Lebensart, ihrer verantwortungslosen Vermehrungsfreudigkeit und ihren unhygienischen Behausungen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Jetzt konnte er verstehen, weshalb die Britten so herablassend gewesen waren. Die beiden Bodyguards liefen mit blauen Turbanen, etwas zu bejahrten Bärten und langen Krummsäbeln voran. Sie fielen tatsächlich nicht auf. »Zum Glück sind Sikhs hellhäutig«, sagte Bender zu Albert. »Und relativ groß« »Ja, sie sollen sogar von den Ariern abstammen.« »Interessant«, meinte Albert. Diese Vorstellung missfiel ihm. Sie wurden von zwei Sikhs trotz des großen Gedränges schon von weitem entdeckt. Die Sikhs waren ebenso gekleidet wie ihre beiden Bewacher. Die Sikhs kamen freudig auf sie zu. Sie redeten zuerst in indisch auf die beiden Bodyguards ein. Die waren ganz verdattert und schauten verzweifelt nach hinten. Albert trat an die Inder heran.

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KAPITEL04  SZENE 10:  SEX MIT SIKHS

Die Sikhs, die mittlerweile verstanden hatten, dass diese zwei Krieger des Indischen nicht mächtig waren, sprachen nun mit Albert in Englisch. Sie wollten alle zum Essen in ihre Zelte einladen. Denn normalerweise gäbe es hier nur selten Besucher aus ihrem Kulturkreis. Die Bodyguards wirkten immer noch überfordert und hilflos. ›Wie zwei Schwuchteln, denen man die Handtaschen geklaut hat‹, dachte Bender verächtlich. Das hätte er nicht denken sollen. Denn nun antwortete er in diesem Sinne. »We like them in this outfit...it´s sexy«, ergänzte er mit einem ironischem Lächeln. »Sexy?«, wiederholte der eine Sikh begriffsstutzig, »You mean, you will have Sex with Sikh´s? »No...i mean we are so sick for sex, that we should make sex for six.« Bender lächelte versonnen. Er war stolz auf sein Wortspiel. Es dauerte eine Sekunde, da hatten die Sikhs ihre Säbel aus dem Halfter gezogen. Sie ritzten Bender mit einem gekonnte Hieb die Hose runter und dann hieben sie den beiden Rambos ihre Turbane vom Kopf. »Wir sollten jetzt unbedingt gehen«, bemerkte Bender tonlos. Sie stoben in alle Richtungen auseinander, verschwanden in der Menge und erst Stunden später

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trafen sie sich an dem Taxi, das immer noch auf sie wartete. Albert hatte am Abend den Entschluss gefasst, dass sie Verstärkung brauchten. Er meinte zu Bender: »Die Kulissenschieber reichen nicht aus.« Sie organisierten am folgenden Morgen eine Truppe von Indern in einer Reiseagentur, die normalerweise Touristen auf die Berge begleiteten. Da man sich dort gelegentlich vor Bergtigern, die es in dieser Gegend immer noch gab, schützen musste, besaßen diese sogar Schrotflinten. Damit konnte die letzte und wichtigste Etappe ihrer Mission in Angriff genommen werden.

DEPERSONALISATIONEN Sie hatten Pieschke vor dem großem Zelt gefunden. Er hatte darum gebettelt, in ein Krankenhaus gebracht zu werden. Sein Zustand war kritisch. Er zitterte am ganzen Körper und war so geschwächt, dass er nicht mehr von selbst auf die Beine kam. Was aber vor allem besorgniserregend war, das war seine geistige Verfassung. Die meiste Zeit war er nicht ansprechbar, obwohl er alle mit flehenden Blicken ansah. Er hatte Angst, furchtbare Angst. Sie brachten ihn zu Alfred und alle überlegten, ob sie ihn nicht doch in ein Krankenhaus fahren sollten. In dieser Situation wäre dies eine gefährliche Sa-

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KAPITEL04  SZENE 11:  DEPERSONALISATIONEN

che gewesen und so wurde er erst einmal in einem abgedunkelten, kühlen Raum gebettet. Alfred war lange bei ihm. Aus seinen zerrissenen Sätzen konnte er entnehmen, dass Pieschke glaubte, sich selbst verloren zu haben. Er wusste nicht mehr, wer er war. Er verlangte nach einem Spiegel. Er starrte lange in den Spiegel. Am Anfang beruhigte ihn das, da war ja noch jemand. Aber dann entglitt ihm auch diese Gewissheit und die Panik befiel ihn erneut und noch heftiger als zuvor. Er schrie, er zappelte, er klammerte sich an die, die bei ihm waren. Er fürchtete in einen Zustand hinabzusinken, in dem er nicht mehr ist. In dem nichts bleibt, als ein paar lose Gedankenfetzen, die keine Mitte mehr haben. Und ein Rest von Bewusstsein, dass den eigenen Wahnsinn aushalten muss. Pieschkes Depersonalisierung hielt auch am folgenden Tag noch an. Es war gut, wenn immer jemand bei ihm war. Zwei Tage später wurde Spleen in einer ähnlich kritischen Verfassung aufgefunden. Man hatte ihn vermisst und dann hatte Alfred nach ihm suchen lassen. Er war bei seinen Beeten. Er wusste nicht mehr, wo er war. Er wusste nicht mehr, wer er war. Offenbar hatte dies jedoch keine Panikattacken bei ihm ausgelöst. Sein Gesichtsausdruck war fragend und debil. Es war für alle ein Schock. Selbst Paul versuch-

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te, Spleen durch geduldiges Zureden da wieder herauszuholen. Sie erzählten ihm sein Leben und alles, was er so in den letzten Wochen gemacht hatte. Er erinnerte sich ein wenig, aber diese Erinnerungen schienen für ihn bedeutungslos geworden zu sein. Alfreds Zustand hatte sich verdüstert. Paul wurde klar, wie sehr die beiden Alfred am Herzen lagen. Die meisten glaubten, dass dies lediglich eine unglückliche Folge ihres sowieso schon labilen Zustandes gewesen sei. Alfred hatte dem nicht widersprochen, aber Paul spürte, dass er diese Meinung nicht teilte. In der folgenden Woche gab es ein Zerwürfnis zwischen Alfred und Bronsky. Gebrüll war von dem Ort herübergedrungen, in dem sich die große Sendeschüssel befand. Den wenigen Wortfetzen von Alfred war zu entnehmen, dass Bronsky seine Arbeit einstellen sollte und dass er ab sofort allen Aufgaben enthoben sei. Dem Gebrüll von Bronsky war wiederum zu entnehmen, dass Alfred ihm nichts vorzuschreiben habe. Danach redeten die beiden nicht mehr miteinander. Bronsky war seitdem kaum mehr zu sehen. Sein Assistent und Hinkel, der auch für ihn arbeitete, waren ganz von der Bildfläche verschwunden. Das Leben ging weiter, doch angesichts dieser schrecklichen Ereignisse erschien die Schönheit dieses Ortes und das Voranschreiten der Vorbereitungen

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KAPITEL04  SZENE 11:  DEPERSONALISATIONEN

für das Fest in einem noch seltsameren Licht. In einem Nebengebäude von Alfreds Haus waren Pieschke und Spleen in zwei getrennten Zimmern untergebracht worden. Immer war jemand bei ihnen. Da lagen sie nun, kaum ansprechbar. Und das Weben und Leben der Natur war so zauberhaft wie eh und je. Schmetterlinge kreiselten über den Wiesen und Blüten schwankten friedlich vor sich hin. Pieschke und Spleen aber kämpften um ihre verlorene Existenz. Mittags, wenn selbst hier oben die Hitze alle Tätigkeiten lähmte, dann ruhte sich Alfred nicht aus, sondern war bei ihnen. Unabhängig von diesen Ereignissen nahmen die Vorbereitungen weiter ihren Gang. Alfred war still geworden. Andere hatten das Organisatorische unter sich verteilt, um ihn zu entlasten. Doch was vielleicht das Wunderbarste war, das waren die neuerlichen, gemeinsamen Zusammenkünfte im Morgengrauen. Die alten Yogis hatten begonnen, ganze eigene und ihnen gemäße Aufgaben zu übernehmen. Einer von ihnen war auf die Idee gekommen, zwei Leute singend und Gitarre spielend um fünf Uhr morgens durch die bewohnten Gegenden zu schicken. So wurden zwar alle früh geweckt, aber viele fanden sich dadurch zu der gemeinschaftlichen Morgenmeditation ein. Es war noch dunkel, als man so zusammen

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saß, erst ein paar Dehnbewegungen und Atemübungen machte und dann gemeinsam zum Gesang anhob, wenn die Sonne sich anschickte, über den Bergen zu erscheinen. Seit dem Streit zwischen Alfred und Bronsky hatte die riesige Schüssel für Tage still gestanden. Dies hatte für Pauls Empfinden eine atmosphärische Veränderung nach sich gezogen. Es war für ihn, als wäre er aus einer leichten Trance erwacht, als würde er wieder fester auf der Erde stehen. Doch wenn er in der Frühe den gemeinschaftlichen Ritualen beiwohnte, dann kam es ihm so vor, als würde er innerlich aufgeladen und von einer unsichtbaren Energie durch den Tag geschoben und getragen werden. Manchmal hatte er Kopfschmerzen und manchmal fühlte er sich benommen. Es arbeitete in ihm. Es arbeitete in allen. Und dann bewegten sich die großen Schüsseln wieder. Aber diesmal spürte Paul kaum eine Veränderung. Einmal kam Alfred auf ihn zu, um in wegen seines Vaters anzusprechen. Er machte ein ernstes und besorgtes Gesicht. Er wollte wissen, ob Paul seinem Vater irgendetwas darüber verraten hatte, wo er sich aufhielt. Paul verneinte, er hatte nur Henriette etwas darüber erzählt. »Wenn er hier aufkreuzt, haben wir ein Problem. Er

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

macht sich sicher Sorgen und sucht nach dir. Schreibe ihm doch, dass es dir gut geht und dass er sich keine Gedanken machen muss.«

DAS ABSOLUTE Es war der letzte Tag vor der großen Feier. Immer noch kamen Leute. Die, welche angekommen waren, hatten Nachrichten verschickt. Die, welche diese Nachrichten erhielten, hatten es wiederum anderen mitgeteilt. Und alle, die sich auf den Weg gemacht hatten, wussten, dass dieser Weg beschwerlich werden würde. So war mit der Zeit eine bunte Gemeinschaft aus sinnsuchenden Aussteigern, aus herrenlosen Abenteurern und Brüdern im Glauben – jedoch ohne Konfession und Dogma - entstanden. »The International Freakshow«, hatte Bronsky diese Leute herablassend genannt. Der Zustand von Pieschke und Spleen hatte sich ein wenig gebessert. Alfred war weiterhin niedergeschlagen. Wegen seiner beharrlichen Schweigsamkeit hatte Paul jedoch keine Ahnung, was in Alfred wirklich vor sich ging. In der letzten Woche hatte man angefangen die Mahlzeiten gemeinsam zu organisieren. Es gab eine Gruppe für den Einkauf und eine andere für die Vorbereitung und wieder eine andere für die Zubereitung des Essens. Und es gab solche, die für das Austeilen abbestellt waren. Man hatte es so eingerichtet,

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dass sich zur besseren Verteilung der Mahlzeiten alle in langen Reihen auf den Boden setzten. Eine weitere Gruppe musste sich um den Abwasch kümmern. Alfred hatte sich, obwohl er von solchen Diensten befreit war, in diese Gruppe eingetragen. Und er hatte Paul gefragt, ob er ihm dabei behilflich sein wollte. Im Unterschied zu den anderen Diensten konnte dieser von nur zwei bis drei Leuten bewerkstelligt werden, sodass Alfred und Paul ziemlich unter sich waren. Außerdem gab es für diese Arbeit keine Fristen, sodass sie sich bei der Arbeit Zeit lassen konnten. Das Leeren und Waschen der großen Kochtöpfe fand in der Nähe der Feuerstellen statt. Und um diese Zeit war es an den Feuerstellen leer und ruhig. Die meisten hatten sich nach dem Essen in ihre Zelte zurückgezogen. Mittlerweile war etwas abseits vom Park ein großer Zeltplatz entstanden, in der die Zugereisten untergebracht wurden. Devs Kollegen aus Pondisheri hatten eine Zeit lang zuerst skeptisch, dann neugierig den Wandel mitverfolgt. Dann hatten sie sich entschlossen mitzumachen und das riesige Zelt, das wie ein Kirchschiff aussah, zur Verfügung gestellt. Nur Dev blieb reserviert und Paul musste manchmal an seine Drohung denken, »alles auffliegen zu lassen«. Das Zelt war im Park in der Nähe des indischen Lasters aufgeschla-

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

gen worden. Der Laster mit seiner zur Veranda umgebauten Ladefläche, auf welcher Alfred mit Paul über die tiefere Bedeutung der Maschinen philosophiert hatte, war zu einer Art Hauptquartier ausgestaltet worden. Er war die zentrale Anlaufstelle für ungelöste Herausforderungen und Fragen. Und von dort aus wurden die Verpflegung, die Schlafplätze und alle weiteren Aufgaben organisiert. Durch die vordere Öffnung des Zeltes konnte man zuerst die Taufmaschine, dann das Wasserbecken, den gewaltigen Schwinghammer und mehr im Hintergrund das alte Riesenrad sehen. Im vorderen Bereich des Zeltes hatten sich in den letzten Tagen die vier Yogis dauerhaft niedergelassen. Am anderen Ende des Zeltes waren die Planen so weit heruntergelassen worden, dass man gerade noch hindurch schlüpfen konnte. Durch die zentrierte und kreisrunde Öffnung der herabgelassenen Plane fiel ein freier Blick auf die beeindruckende Kulisse des Hochgebirges. Es war schon früh am Abend und die Berggipfel leuchteten in den Strahlen der untergehenden Sonne. Zu dieser Zeit und an diesem letzten Tag war in dem Zelt noch reger Betrieb. Einige machten ihre Plätze zurecht, andere schmückten das Zelt mit Blumen und Girlanden, wieder andere stimmten ihre Instrumente und selbst die Yogis waren aufgeregt, gaben

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die eine oder andere Anweisung, beredeten einiges unter sich und stimmten sich immer wieder mit Alfred ab. So fing es schon an zu dämmern, als sich Alfred endlich bei den Kochstellen einfand. Paul hatte nach dem Abendessen all das Treiben von dort aus beobachtet. In dem späten Licht schimmerten die Transformatoren, Schornsteine und Schaukeln in warmen, blätternden Farben. Wie langsam verwitternde Denkmale einer vergangenen, industriellen Ära standen sie da. Doch dieses Bild langte für Paul gefühlt noch weiter zurück, bis hin in archaische, ja atlantische Zeiten, als in den Maschinen noch seltsame Mächten wirkten, als die Geräte noch wie Gottheiten anzuschauen waren. Er glitt mit seinen Blicken an zwei mächtigen Stützen hinauf, an welchem oben eine Schaukel wie ein Schwinghammer aufgehängt worden war. Er wanderte an dem bunt bemalten Stahl noch weiter hoch, bis er fast nur noch Himmel sah. Wie gotische Pfeiler und zugleich auch wie Racketenspitzen ragten diese tief ins Firmament. Das Seltsame war: Nun, da diese Dinge ihre konkrete Bedeutung und Zweckmäßigkeit verloren hatten, erschienen sie ihm ganz anders und irgendwie auferstanden in ein Mysterium, dass weit großartiger war als das, was sein Verstand zu fassen vermochte. Immer besser

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

konnte er die schweigsame Zurückhaltung der Yogis nachvollziehen. Wenn man aus der Stille seines vorurteilslosen Staunens heraus eine Frage stellte, dann war sie präziser, und wenn aus ihr eine Antwort kam, dann war sie stimmiger. Im reinen Sein -wirst du mit dir- im Reinen sein hatte Alfred einmal zu ihm gesagt. Aber ausgerechnet Alfred, der alles immer so genau zu wissen meinte, war in den letzten Tagen alles andere als mit sich selbst im Reinen. Denn Alfred fühlte sich gescheitert. Spleens und Pieschkes geistige Zerrüttung war für ihn, als hätte man auch ihn zerstört. Diesmal, so hatte Alfred geglaubt, würden Spleen und Pieschke – anders als ihre berühmten Vorbilder – nicht in den Wahnsinn fallen. Diesmal würden Transformation und Transzendenz gelingen. Mit Hilfe von neuen Technologien und ihrem ungenutzten Potenzialen würde sich das Denken in einer Weise verwandeln, für die einige Vertreter der philosophischen Geistesgeschichte je eigene Formulierungen gefunden hatten. »Denkender« würde das Denken werden, »sich selbst denkend« sogar oder »nicht denkend denkend«. Und die Yogis waren bei diesem »Technological Transfer of Yogis Mind« -

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wie Bronsky Alfreds Vorhaben ironisch und auch pragmatisch betitelte - sogar bereit mitzuwirken. Doch nun war wieder etwas schief gelaufen!: Spleen und Pieschke litten an schweren psychischen und mentalen Problemen. ›Vielleicht ist das menschliche Gehirn auf Dauer nicht in der Lage, derartige Bestrahlungen zu ertragen?‹, grübelte Alfred. Sie hatten so viel versucht: Sie hatten mit antiken und modernen Bauformen gespielt. Sie hatten die dahinter liegenden geistigen Ordnungen und energetischen Potenziale aktiviert und verfügbar gemacht. Sie hatten mit verschiedenen Psychotechniken und Ritualen experimentiert. ›Diesmal...‹ hatte Alfred geglaubt, ›werden mir die Götter beistehen‹. Doch jede »Form« war zuletzt so gut und so schlecht wie jede andere vorher auch. Nun fühlte er sich erschöpft und niedergeschlagen. Alle Anstrengungen erschienen ihm nur noch absurd und lächerlich. ›Lass mich nichts wollen. Nicht für mich. Und vor allem nicht für die Anderen. Lass mich nie mehr anmaßend sein. Lass mich einfach nur den Abwasch machen...‹ In dieser Verfassung befand sich Alfred, als er auf Paul traf. Und an diesem Abend wollte er ihm auch einiges erzählen, was ihm auf der Seele lag. Die großen Maschinen ruhten gewaltig und still im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Im Vorder-

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grund schrubbte Paul die Töpfe . Über die Irrealität der Kulisse musste Alfred lächeln. ›Immerhin...‹ dachte er, ›ist die Absurdität unserer Ambitionen für alle sichtbar geworden‹. Doch was er in diesem Augenblick nicht wahrhaben wollte: Die warmen Winde strichen sanft über die beseelte Natur. Alles schien durchtränkt von ihrem Odem. Töne von einer Zimbel waren in der Ferne vernehmbar, eine Grille zirpte dazwischen, ein Hund bellte einigemal. Dann wieder die Zimbel. Das Ganze fügte sich zu seltsamen Ordnungen. Und ihr Zusammentreffen und ihr Gespräch fügte sich da hinein. Paul hörte zu. Er verstand Motive und Zusammenhänge. Es war, als würden sie sich wie aus einer gemeinsamen Mitte heraus verständigen. Und dann wollte Paul von Alfred wissen, wie es zu dieser besonderen Beziehung zu Spleen und Pieschke gekommen sei, denn er hatte den Eindruck, dass Alfred mit ihnen auf eine besondere Weise verbunden war. »Ich bin mit ihnen so sehr verbunden, dass ich mein Schicksal nicht von ihrem trennen kann. Sie sind die Seele des Projektes.« Alfred machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu, dass immer, wenn er an Spleen und Pieschke dachte, ihm zugleich Hölderlin und Nietzsche in den Sinn kamen. In gewisser Weise machte das keinen

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Unterschied. Und auch Hölderlin und Nietzsche waren, so behauptete er, bei all ihrer Unterschiedlichkeit in ihrem äußeren Erscheinungsbild, in Gemüt und Temperament von einer ähnlichen Sehnsucht getrieben gewesen. Alfred begann über die biografischen Parallelen im Leben dieser beiden Dichter und Denker zu berichten. So, als müsste er zuerst diese zusammenfassen, um dann zu dem vorzudringen, was er wesentlich mit ihrer »inneren Gemeinschaft« meinte. Er erzählte, dass beide aus einem Pfarrhaus stammten und dort im kirchlichen Glauben aufgewachsen waren. Sie waren beide vaterlos gewesen und von einer fürsorglichen Mutter erzogen worden. Ihre »geistigen« Vorbilder hatten sie schon bald enttäuscht und zutiefst verletzt verlassen. Und auch darüber ließe sich Vergleichbares bis ins Detail erzählen. So könnte man irgendwann einmal das Verhältnis von Hölderlin zu Schiller mit dem von Nietzsche zu Wagner vergleichen. Sie hatten beide ein hochemotionales und gestörtes Verhältnis zu ihrem Vaterland. Hölderlin hatte dies in seinem Hyperion auf ganz wunderbare und noch heute gültige Weise in Worte gefasst. All dies hatte dazu geführt, dass sie in ihrem Leben immer nomadisch und ohne Heimat, Haus, Frau und Familie geblieben waren. In ihren Schriften hatten sich Dichtung und Denken auf eine unvergleichliche Weise miteinander

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vereint, um ihr tiefstes Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Sie hatten dafür die Sprache bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gebracht und versucht, Sprache Musik und Gesang werden zu lassen. Alfred brach seine Rede ab. Im Hintergrund hörte man das Jaulen eines Hundes. Paul fragte sich, ob das Verhältnis von Alfred zu seiner Heimat nicht ebenso gebrochen war? War das Griechenland Nietzsches und Hölderlins sein Indien geworden? Wäre nicht all das auch in Deutschland möglich gewesen? Irgendwie? Dann kam ein Wind auf. Die Blätter in den Bäumen rauschten. Die beiden ließen ihre Blicke über die gewaltigen, sich verdunkelnden Räume schweifen, schwiegen miteinander und machten sich an den Abwasch. Sie gossen Wasser nach, rührten in den Töpfen, schütteten das Wasser aus, gossen noch einmal Wasser nach. Paul fühlte Gemeinschaft, fühlte Verbundenheit mit allem was ist. Sie überließen sich ihrem Schweigen und darin ging alles ein, was jaulte, zimbelte und rauschte. Selbst die scharrenden und schleifenden Geräusche beim Reinigen der Töpfe gingen ein. Bronsky schaute in der Nähe nach, ob in einem der abgedeckten Töpfe Essen übrig gelassen wurde. Er hatte es in den letzten Tagen vermieden, bei den gemeinsamen Speisungen zu erscheinen. Auch Hinkel und sein indischer Assistent waren wie vom Erd-

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boden verschwunden. Behutsam und leise, sodass niemand auf ihn aufmerksam wurde, füllte er sich ein paar Portionen ab. Dann wollte er sich wieder auf den Rückweg machen. Er blieb für einen Augenblick stehen, als er die Stimme von Alfred hörte. Er entdeckte die beiden, die es sich auf den gereinigten und umgedrehten Töpfen bequem gemacht hatten und beschloss, das Gespräch unbemerkt mitzuverfolgen. »Sinn und Geschmack für das Unendliche...«, nahm Alfred den Faden wieder auf, nachdem sich die Zeilen in seinem Kopf geordnet hatten. »...so könnte man vielleicht ihr gemeinsames Anliegen bezeichnen. »Sinn und Geschmack für das Unendliche«, so hatte Schlegel das Programm der Romantik benannt. Teilhabe an den ewigen Wahrheiten, ja am ewigen Leben sollte jedem Menschen möglich werden - und das ganz ohne Dogma und Religionslehre. Schöpferisch wollten die Romantiker das Unendliche in sich einbilden. Begeisterung bedeutete ihnen mehr als der heilige Geist der Kirche. Die liebende Gemeinschaft war ihnen wichtiger als moralische Imperative und vor allem: war ihr religiöser Sinn ein ästhetischer Sinn!«. Alfred machte eine kurze Pause, um Paul die Möglichkeit zu geben, das Gesagte zu rekapitulieren.

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»»Nur als ästhetisches Phänomen ist die Welt und das Dasein insgesamt gerechtfertigt«, so hatte Nietzsche dieses Programm auf seine Weise einmal ausgedrückt. Und Hölderlin hoffte, dass wenn ihm einmal »das Gedicht gelungen sei...«, dass dann Gottnähe und Seelenfrieden durch Vollendung der sprachlichen Form möglich werden würde«. Alfred hielt für einen kurzen Moment inne. In ihm sammelte sich die Rede, und dann führte er, leidenschaftlicher geworden, weiter aus: »Vielleicht war dies das Unmögliche, das Tragische an ihnen gewesen, dass sie dem Formlosen eine Form, eine »absolute« Form geben wollten. Denn zuletzt waren sie an ihren eigenen Formen hängen geblieben. Die Götter, die Hölderlin besungen hatte, sie wurden für ihn wortmagisch zum Leben erweckt und Zarathustra, der Nietzsches dichterischer Fantasie entsprungen war, er wurde für Nietzsche zuletzt der »kommende Gott«. Beide hatten so auf ihre Weise das Programm der Romantik zu Ende geführt. Sie hatten, wie von Schelling für zukünftige Kulturen vorhergesehen, »die« Wahrheit in einer je eigenen und subjektiven Mythologie zur Anschaulichkeit gebracht. Doch jeder Mythos ist auch nur eine Gestalt, die man am Ende wieder lassen muss, um zu den Quellen zurück zu finden, denen er entsprungen ist.«

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Paul sah Alfred an. Was wollte er mit all dem sagen? Wie in einem Sekundenflug gingen ihm in einer dichten, Reihung Bilder durch den Kopf. Nach den Raffungen all diesen Materials schien er seine Konzentration wiedergefunden zu haben. »In den Weisheitslehren des Zen-Buddhismus gibt es dafür einen Ausdruck: Satori. Es ist der kurze Einblick in das Sein in seinem Sein, in seinem formlosen, wahren Sein. Hölderlin und Nietzsche hatten diesen Zustand erreicht. Nicht mit Meditationen, nicht mit Yoga, sondern auf dichterischen und denkerischen Wegen. In ihnen hatte begonnen »der Intellekt spirituell zu werden«. Ist dies nicht ein wunderbares und beinahe auch notwendig ein deutsches Programm?« Alfred hatte sich wieder in diese Aufregung hineingesteigert, die Paul als grenzwertig empfand. »»Singe mir ein Lied, die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich«, hatte Nietzsche in diesen Glücksmomenten gedichtet. Und zwischen »den offenen Himmeln der Zeiten« stand Hölderlin, um dort zu erleben, wie der Geist der Welt auch seinen eigenen Geist erweckte. Sie waren Sprachrohr allgegenwärtiger Gottheiten, Mundstücke jenseitiger Imperative geworden. Dichtung und Wahrheit. Für sie wurde dies eins.«

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

In der Mitte des Hügels, der vor ihnen lag, baute sich Bronsky auf. Er stand da mit zwei schwer beladenen Tüten und rührte sich nicht. In den letzten Strahlen der untergegangenen Sonne waren die Wolken über ihm rot entflammt, doch zu den Rändern hin glühten sie schon in verklärteren Farben. Er stand da als dunkle Silhouette mit leicht gestreckten Armen. So wie jemand, der gleich seinen Revolver zieht, um Alfred für das Gesagte zu erschießen. Dann ging er ein, zwei Schritte auf Alfred und Paul zu und die seltsame Spannung des Bildes löste sich auf. »Ja, ja«, sagte er mit seinem leicht englischen Akzent. »Sinn und Geschmack für das Undenkliche...und für das Absolute! Wäre Adolf Hitler nicht gewesen, vielleicht wäre alles absolut geworden. Jetzt haben wir Quantentheorie und Gottesteilchen... und meine Wenigkeit.« Er machte ein kurze Pause. Dann fuhr er fort. »Eurer Problem – auf das Ganze betrachtet – ist, dass ihr immer ein bisschen zu ernst wart, ein klein bisschen zu ernst...und zu konkret, hehe. Die Suppe übrigens schmeckt hervorragend.« Bronsky hielt den beiden freundlich grinsend seine ausgestreckte Hand entgegen. Sie schüttelten ihm unwillkürlich die Hände. »Das wird ja morgen was.«

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Für Bronsky schien damit alles gesagt zu sein, denn er war gerade dabei wieder zu gehen, als Alfred ihm zurief: »Wir müssen noch über morgen reden.« »Wir müssen über gar nichts reden. Ich werde mich morgen absolut richtig verhalten. Absolut!« Dies hatte Bronsky so vehement und mit Nachdruck gesagt, dass kein Widerspruch mehr möglich war. Er ließ einen noch deprimierter wirkenden Alfred zurück, als dieser es zuvor schon gewesen war. »Vielleicht hat er Recht«, sagte Alfred. »Er glaubt an gar nichts mehr. Für ihn geht es nur noch um Wohlstand und ein paar angenehme Jahre. Sie hatten ihm das Gehirn weggeblasen. Er hatte die organische Bedingtheit seiner Wahrnehmung, die Verwirrung der Nervenströme, das Zerstreuen der Bilder, den allmählichen Zelltod des Bewusstseins erlebt. Das Denken verliert sich und die Welt dunkelt weg. Da scheißt man auf Philosophie...« Sie sahen zu, wie Bronsky mit seinem Tony Savalles Hinterschädel schrittweise hinter einem Hügel versank. »Wir stehen am Ende am Abgrund unserer Endlichkeit und wir können nur bitten und beten, dass sich etwas von uns erhält. Doch wo Gefahr ist...« Albert schwieg in sich in hinein. »...nur kann ich das Rettende nicht mehr immer fassen.«

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

Alfred wirkte in sich zusammengesunken. So niedergeschlagen hatte Paul ihn noch nie erlebt. »Doch manchmal denke ich..., in den letzten, einfältig klingenden Reimen des umnachteten Hölderlin weht dann doch noch etwas davon herüber: von einem Seelenfrieden aus den Tiefen der Dunkelheit. Von einem entfesselten und fernverklärten Wesen, das noch wie in Obertönen über dem Stammeln seiner letzten Verse schwebt.« Sie schwiegen beide. Dann drängte sich Paul eine schon lang zurückgehaltene Frage auf. »Ist es dann nicht komisch, dass du hier in Indien bist?« Wieder schwiegen sie. Durch Alfred gingen Bilder, die in ihm einmal ein Heimweh hervorgerufen hatten. Seen und Weiher. Einsame Landstriche mit sanften Hügeln. Feldsteinkirchen. Weiden und Kühe. Kiefern und Eichen. Es waren diese Landschaften, die er am meisten vermisst hatte. Bis auf Berlin vielleicht, die als Stadt eine einzige Ausnahme war. Aber nun waren schon so viele Jahre vergangen, dass ihm diese Erinnerungsbilder blass und unwirklich vorkamen. »Was ist eigentlich mit Dev?« Alfred blickte Paul überrascht an. »Hast du ihn kennengelernt?« »Ja« »Dev ist ein Flachkopf.«

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»Ich glaube nicht. Der will auch was verändern. Ihr könntet euch ergänzen.« »Der hat nichts begriffen.« »Dieser Meinung ist er auch...was dich betrifft. Schon komisch. Redet doch mal miteinander!« Paul kam ein deprimierender Gedanke. Vielleicht waren beide zu sehr auf sich selbst bezogen. »Außerdem mache ich mir Sorgen.« »Wie...Sorgen?« Paul musste daran denken, dass Dev pünktlich zu dem Fest die Polizei zum Schutz rufen wollte. Aber dies nun Alfred zu erzählen, das konnte einen ziemlichen Aufruhr bedeuten. ›Doch vielleicht ist das auch nur eine leere Drohung. Was soll dadurch auch schon anders laufen als geplant?‹, fragte sich Paul und schwieg. Alfred richtete sich auf, ging zum Zelt, suchte in den Verzeichnissen der Musikanlage herum, bis er die »Bach´s Violinenpartitur Nr. 2 in D Moll« fand. Dann kam er zurück. »Wenn ich Bach höre, finde ich ausgedrückt, wonach ich mich manchmal sehne: Ein Gefühl von stiller Einkehr in tiefen Wäldern und Kirchgang in verschlafenen Dörfern. Etwas, das es eigentlich gar nicht mehr gibt.« Die Musik hob und senkte sich in andachtsvollendeten Akkorden. Abstrakter, geistiger Gesang. Die

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KAPITEL04  SZENE 12:  DAS ABSOLUTE

Berge des Himalaya sahen auf einmal aus wie die Alpen. Nur noch großartiger und gewaltiger. ›Und alle Dinge fangen an zu singen, triffst du nur den Zauberklang‹, ging es Alfred durch den Kopf. Als die Musik abbrach, war es beiden so, als wäre es dieses eine Mal gelungen: Indien und Deutschland, Halleluja und Himalaja. Beides eins. »Dann sage mir mal...wo soll ich hin? Ich weiß es nicht!« »Vielleicht dorthin, wo es noch ländlich und einsam ist, wo die Natur noch stark ist?« »Diese Zeiten sind vorbei!« »Na ja, vielleicht im Osten. Die Uckermark oder die Mark Brandenburg? Oder noch weiter im Osten? An der Grenze zu Polen vielleicht? Dort gibt es noch richtig verlassene Landstriche.« »Aber dort, habe ich gehört, besudeln sie nun alles mit Windmühlen« Alfred schien aus seiner Niedergeschlagenheit zu erwachen. Er lächelte leicht: «...aber gut...wenn wir hiermit fertig sind. Dann dort... mein lieber Paul...lass uns ziehen.«

RASTA HARI Es

war ein verrückter Morgen. Es war

ein Schwirren und eine Aufregung in der Luft. Paul war benommen. Am Himmel kreisten schillernde Punkte. Mal gingen sie wie wild durcheinander, dann

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waren sie wieder weniger sichtbar, aber der Himmel schien dicht und voller Leben. Er oszillierte in die vibrierende Welt. Er war wie ausgeweitet und eingestimmt in die Energien, die sich an diesem Ort gebildet hatten. Und hinter allem bildete sich allmählich wieder diese Klarheit, die hier oben in den Bergen so enorm und unfassbar war. Paul machte sich auf den Weg zum Park. Der Beginn der Feierlichkeiten war für den späten Vormittag angesetzt worden. Bis dahin musste alles vorbereitet sein und jetzt war die letzte Gelegenheit, noch etwas zu sich zu nehmen. An diesem Tag, hatte Alfred ankündigen lassen, sollten alle in weiß gekleidet sein. Und als Paul den Park betrat, ergab sich für ihn in der Befolgung dessen ein wunderbarer Anblick in das farbliche Ensemble. Er blickte auf die bunten Maschinen mit ihren verwaschenen und blätternden Farben, blickte in das rauschende Grün der Natur, das am Morgen noch so frisch aussah, und in die blauen Schatten, in denen die Luft noch kühl war, während auf der freien Fläche bereits die Sonne brannte. Das Weiß der Leute schien all das in sich aufzunehmen. Es war weiß und glänzend in der Sonne, grünlich unter den Bäumen, bläulich in ihrem Schatten. Paul sah eine Traube von Menschen, die Melonen in der Hand hielten. Das Rot und Dunkel-

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KAPITEL04  SZENE 13:  RASTA HARI

grün der Melonen und das Weiß der Hemden und Gewänder kontrastierte zu klingenden Akkorden. Eine Gruppe von zotteligen Gestalten hatte sich in der Nähe niedergelassen. Einer spielte auf der Gitarre, während die anderen auf unterschiedlichen Instrumenten trommelten. Als er bei den Musikern angekommen war, erblickte er Dennis. Unwillkürlich kniff er sich in den Oberschenkel. Dennis saß immer noch da. Und er war noch nicht einmal fassungslos. »Hier also treibst du dich rum.« Dennis freute sich. Er sprang auf, um Paul zu umarmen. »Man, freu ich mich dich wiederzusehen,...Kumpel« Dennis entließ Paul erst nach einer langen Weile aus seiner Umarmung und sah sich um. »Hier sind wir unter Freaks. Hier kann uns doch nichts passieren?« »Nein«, entgegnete Paul mit klopfendem Herzen. »Hier ist alles gut. Aber dass du hier bist, macht mir Angst.« »Wieso denn? Ich kann´s dir erklären.« Dennis erzählte Paul, dass er es nicht einfach hinnehmen wollte, dass Paul verschwunden war. Er hatte Henriette solange bedrängt, bis sie ihm die Adresse herausgerückt hatte. Und dann hatte er sich mit seinen Musikerfreunden kurzerhand entschlossen,

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ihn zu besuchen. Paul blickte nach unten. Da saßen die zwei Freunde und nickten. Und neben ihnen saßen die zahnlosen Saddhus und nickten. Es war dasselbe Bild wie bei Hinkel. Nur dass jetzt dort, wo Hinkel saß, Dennis und seine beiden Kumpels saßen. Paul dachte für einen Augenblick daran, seinen Vater anzurufen, um sich von hier schnellstmöglich abholen zu lassen. Er atmete tief durch. Schließlich hatte er hier doch gelernt, erst mal die Fassung zu behalten. Er blickte noch einmal auf die fast schelmisch grinsenden Saddhus, auf ihre Filzlocken, dann auf die fast genauso filzigen Dreadlocks ihrer neuen Kollegen, dann auf Dennis, der über das ganze Gesicht strahlte. Dann blickte er in sich hinein. Da war nicht mehr derselbe Paul. Er hatte gelernt, vieles anders zu betrachten. Hier geschahen Dinge, die sich nicht an Wahrscheinlichkeiten, an physikalischen Gesetzmäßigkeiten orientierten. »Hier geschehen die Dinge schneller«, hatte Alfred auch einmal gesagt. »Und wenn du an etwas sehr intensiv denkst, dann tritt es ein.« So intensiv hatte er an Dennis nicht gedacht, aber vermisst hatte er ihn schon. Doch Henriette vermisste er noch viel mehr. »Alles in Ordnung. Manchmal macht mir das Angst. Aber es schön, dass du hier bist.« »Hier machen wir alles explizit, oder?«

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KAPITEL04  SZENE 14:  HENRIETTE UNTERWEGS

Paul musste lächeln. »So sieht es aus.« Dennis wandte sich zu den Saddhus. »Wir haben Freundschaft geschlossen.« Er sagte: »Rasta Rasta« Sie antworteten: »Hari Hari« »Wir kennen uns nicht lange, aber wir haben gestern Abend schon mal geprobt.« Die Saddhus lachten. Sie hoben wie zum Beweis ihre Instrumente in die Höhe.

HENRIETTE UNTERWEGS Die Ankunft in Indien hatte ihr die Schwere genommen. Sie kam in Bombay an, um danach den Zug nach Dehli zu nehmen. Von dort aus sollte es in die Berge gehen. Schon am Flughafen von Bombay konnte sie die Slums riechen. Es war der Geruch von offenen Feuerstellen und Kloaken, von Tieren und Menschen - Lebenden wie Verstorbenen sowie von Autos und Abgasen. Es war ein unangenehmer Geruch, aber er war auch irgendwie berauschend. Henriette verließ den Flughafen. Sie wurde geschubst und geschoben. Sie war die Vielen, die um sie waren. Sie war mit den Vielen, die alle in ihr ein und ausgingen, ohne dass es ihr Angst machte, wie sonst so oft. In ihr bildete sich eine Gewissheit: ›Wenn

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du dich auf dieses Leben hier einlässt, dann wirst du ein Teil davon. Du verdienst deine paar Handvoll Reis und die nächtliche Wärme ist wie ein Dach über deinem Kopf. Sie hüllt dich ein. Sie gibt dir das Urvertrauen zurück, dass du in der Kälte verloren hast‹. Sie war bei sich angekommen. Sie wusste, dass auch all das, was zwischen ihr und Paul gestanden hatte, sich nun aufgelöst hatte wie eine Einbildung, die sie als eine solche entlarvt hatte. ›Etwas nicht zu tun, obwohl man es gerne tun würde, lässt darauf schließen, dass man sich einbildet, es nicht tun zu dürfen‹, sagte sie zu sich. Und so, wie sie mit allem war, so war sie zugleich auch bei sich selbst. Dies war vielleicht ihr größter Schutz. Man ließ sie in Ruhe, bis sie Chandrigar erreicht hatte. Dann hatte sie ein arroganter Mittelklasse-Inder angegrapscht, als sie sich ein Stück weit in seinem Auto mitnehmen ließ. Henriette stieg aus und suchte sich ein Taxi. Dies sollte sie bis zu der Stelle mitnehmen, die ihr Paul einmal beschrieben hatte. Sie war nur noch wenige Kilometer von dieser Stelle entfernt, da sah sie auf der linken Straßenseite eine Karawane von Mulis und Menschen, die teilweise bewaffnet waren. Das Taxi fuhr langsam vorbei. Henriette sah aus dem Wagen. Sie erkannte Dr. Bender. Der blickte in den Wagen. Sie wusste nicht, ob er sie erkannt hatte. Aber

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KAPITEL04  SZENE 15:  FRÖSCHE UND VÖGEL

nachdem das Taxi vorbeigefahren war, klopfte Bender Albert auf die Schulter und als der sich umdrehte sagte er: »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.«

FRÖSCHE UND VÖGEL Die

indische Begleitmanschaft

hatte eine Abkürzung vorgeschlagen. Darauf hatten sie die Straße verlassen und wanderten auf kaum erkennbaren Trampelpfaden. Es ging zunehmend steiler hinauf und alle mussten aufpassen, nicht auf einen lockeren Stein zu treten oder auf glattem Boden abzurutschen. Bender war guter Dinge. Albert war verunsichert. Er machte sich Gedanken, was ihn da oben erwartete. Bender erklärte ihm Glauben, Aberglauben, Sekten und was es so damit auf sich hatte. Er stellte beispielsweise fest: »Magisches Denken findet man zumeist in primitiven Kulturen, allerdings auch bei posttraumatischen Störungen. Es wirkt entlastend, wenn man in einer verzweifelten Lage noch glaubt, etwas durch Beschwörungsformeln erreichen zu können. Insofern ist diese Form des Denkens durchaus mit Alkoholismus vergleichbar.« Albert stimmte dem zu und meinte: »Diese Leute sind lebensunfähig. Sie fliehen in eine

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Scheinwelt.« Bender nickte Alberts Allgemeinplätze ungeduldig ab. »So ist es, so ist es...« Und dann fügte er hinzu: »Allerdings, Meditation soll auch schon mal therapeutisch gewirkt haben.« Sie legten einen kurzen Halt ein, dann fuhr Bender fort: »Und was den Wahrheitsgehalt anbetrifft, also etwa den Wahrheitsgehalt von Lichtvisionen während dieser aufgehellten Gemütszustände..., da unterschätzen die Leute immer, dass sie selbst in diesen besonderen Momenten kulturell konditioniert sind...« »Verstehe ich nicht ganz?« Bender suchte nach einem drastischen Beispiel. »Wenn du in einem Land aufgewachsen ist, in welchem gelbe Frösche heilig sind, dann wirst du in deinen Gipfelerlebnissen gelbe Frösche sehen. Eben all dass, was dir eingetrichtert wurde, wie ein spirituelles Erlebnis auszusehen hat.« Albert nickte, er hatte verstanden. Sie hatten eine Anhöhe erreicht. Von dort aus konnten sie den weiteren Aufstieg überblicken. In der Ferne sahen sie ein paar Rauchschwaden. »Dort müssen sie sein.« Albert bekam einen Schreck. Jetzt würde es bald ernst werden. Jedoch war dieser nur von kurzer Dau-

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KAPITEL04  SZENE 15:  FRÖSCHE UND VÖGEL

er, denn schon im nächsten Augenblick packte ihn das heftige Verlangen, so bald wie möglich dort anzukommen. Er würde dieses Mal entschiedener sein: Er würde Alfred ins Gesicht sagen, dass er ihn für einen Versager und einen Verbrecher hielt. ›Versagen kann er ja so viel er will, aber Verbrechen werden geahndet, weil andere durch sie in Mitleidenschaft gezogen werden‹. Er überlegte, was er selbst geleistet hatte und was Alfred eben nicht zustande gebracht hatte. Was war die Differenz? Was konnte er in die Waagschale werfen? Was hatte Gewicht? Albert kam auf den Begriff der Verantwortung. Verantwortung gegenüber seiner Arbeit, gegenüber seinen Angestellten, seiner Frau, seinem Sohn. Das war es, was Alfred nie besessen hatte: Verantwortungsgefühl! ›Er hat immer nur an sich gedacht!‹ Ihre beiden Bodyguards hatten sich zur Vorhut bereit erklärt. Nun standen sie etwa fünfzig Meter vor Albert und Bender im offenen Feld. Bender hatte die beiden von Anfang an nicht leiden können. Seine ganze Abneigung galt ihrem primitiven, unreflektierten Selbstverständnis. In ihrer Vorstellung waren sie die Stärkeren, sie fühlten sich als die Beschützer. ›Dabei sind das die wahren Schwachmaten‹, sagte Bender zu sich. In seinem Sarkasmus hatte er angefangen, für beide Spitznamen zu suchen. Der mit den

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pomadigen Haaren hatte für Bender etwas von einem Kleinganoven. »Eierdieb« empfand er als hinreichend abfällig. Der Name passte aber nicht so recht zu seinen schmierigen Locken. Er hatte sich mit Albert daher auf »Eisdealer« geeinigt. Der andere war wesentlich breiter und kräftiger gebaut. Und er besaß ganz erstaunlich treu-doofe Augen, wie Bender fand. »Nur keine Hundenamen! Nicht so was wie Rex oder Hasso!«, hatte Albert eingewendet. Bender korrigierte. Es gab schließlich auch einen Rex Gildo und einen Hasso Plattner. So genau konnte man das also nicht unterscheiden. Sie einigten sich auf »Sportsfreund«. Das klang sogar noch einigermaßen nett. Eisdealer und Sportsfreund standen nun also auf dem Feld. Sie waren etwa fünfzig Meter entfernt. Sie hatten ohne ersichtlichen Grund eine Pause eingelegt. »Wie sollen wir vorgehen, wenn wir angekommen sind?«, wandte sich Bender an Albert. »Gute Frage«, antwortete Albert. Anscheinend hatte er auch keine klare Vorstellung. »Wir werden das Ganze erst mal beobachten, wenn das möglich ist.« »In Ordnung« Bender war erleichtert. »Beobachten ist gut.«

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KAPITEL04  SZENE 15:  FRÖSCHE UND VÖGEL

Er hatte mehr Aktionismus befürchtet. Dann schaute Bender hinüber zu Eisdealer. Der hatte sein Gewehr gegen einen Baum gerichtet. Bender meinte: »Das ist ein Baum und kein Mensch.« Albert blickte jetzt auch in die Richtung, dann erwähnte Bender: »Wir haben keinen Idiotentest gemacht. Ich wäre dafür gewesen.« Auch die Inder schauten nun verängstigt in die Richtung. »Was sollen wir tun? Die Polizei rufen?« Albert lächelte gequält. »Lass uns näher herangehen, bevor wir hier durch die Gegend brüllen.« »Wenn der jetzt abdrückt, haben wir ein größeres Problem.« Sie schlichen sich zügig, aber leise an die beiden heran. Eisdealer hatte angefangen, seinen Kopf seltsam zur Seite zu neigen. Er schaute immer noch in den Baum. Dabei ging er etwas in die Knie. »Das ist keine unglückliche Verrenkung.«, meinte Albert besorgt. »Der hat wirklich ein Problem.« Dann fügte er nach eingehender Beobachtung noch hinzu: »Er hat es nicht auf den Baum, er hat es auf seine Bewohner abgesehen«. »Ach was«, entgegnete Albert.

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Dann erkannte auch er einen Vogel, der sich, hinter Blättern versteckt, sein Gefieder flauste. Als der Vogel sah, dass da jemand etwas auf ihn zu richten schien, machte er sich davon. Eisdealer verfolgte ihn mit erhobenem Gewehr. »Bist du irre!«, schnauzte Bender mit gepresster Stimme zu ihm herüber. Doch Eisdealer wollte nicht begreifen. Er schaute sich nur einmal kurz und erschrocken um. Dabei hielt er das Gewehr immer noch auf den Baum gerichtet... »Bist du denn irre...hier einem Vogel nachzuspionieren? Wolltest du den etwa abschießen...?« »Sie sind vielleicht gefährlich«, entgegnete er zuerst eingeschüchtert. Dann aber korrigierte er sich: »Sie sind gefährlich!« Bender schaute zu Albert, der alles mit angehört hatte. Albert machte eine beschwichtigende Geste. »Vielleicht sind es die Nerven?« »Aber die Kanone!«, zischte Bender zu Albert hinüber. Dann wendete er sich an Eisdealer und sprach ihn an wie einen Dreijährigen: »Nicht schießen! Ist das klar?« Doch der Mann war schon wieder bei seinen Vögeln. Die waren ihm offensichtlich wichtiger. Er schlich sich an einen neuen Baum heran. In diesem

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KAPITEL04  SZENE 15:  FRÖSCHE UND VÖGEL

Augenblick hörten sie hinter sich ein Rascheln, dann ein lautes Knacken. Alle bis auf Eisdealer schauten in die Richtung, aus dem das Geräusch kam. »Sportsfreund hat auch ne Meise«, stellte Bender entgeistert fest. »Sehr witzig«, entgegnete Albert mit zitternder Stimme. Sportsfreund saß auf einem Baum. Es knackte noch einmal und ein Vogel flog auch aus diesem Baum. Sportsfreund schoss auf den Vogel. »Wir müssen die beiden augenblicklich entwaffnen«, rief nun Albert in heller Aufregung. Er wandte sich an die schreckstarren Inder. »Can you get them down!?« Bender war da skeptisch. Er hatte gerade erst seinen Satz begonnen: »Die holen niemanden vom ...« Da gab es einen weiteren lauteren Knall und Sportsfreund plumpste getroffen zu Boden. Aus einer Böschung traten zwei Typen mit seltsamen Schutzanzügen und Helmen hervor. Die indische Begleitmannschaft floh, von Panik ergriffen, in alle Richtungen den Berg hinab. Bender und Albert blieben stehen, schwankend zwischen Staunen und Schrecken. Dann gab es wieder einen Knall. Den Soldaten fiel ein toter Vogel vor die Füße. Sie drehten sich augenblicklich in die Richtung, aus welcher der Schuss

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gekommen war. Albert und Bender nutzten diese Gelegenheit, um sich gleichfalls aus dem Staub zu machen. Und als sie hinter einem Busch verschwunden waren, hörten sie einen weiteren Schuss, dann ein dumpfes Aufschlagen. »Das war´s dann mit den Beiden. Toller Abgang. Und jetzt?« Bender zitterte am ganzen Leib. Albert entgegnete mit trotziger Verzweiflung: »Ich werde diesen Ort nicht verlassen, bevor ich nicht meinen Sohn hier herausgeholt habe.« Bender ließ sich zu Boden sacken. »Scheiße!« Das, was geschehen war, hatte Albert nur noch entschlossener gemacht. Jetzt wusste er, dass sein Sohn wirklich in Gefahr war. Wenn er überhaupt noch lebte! Da ihnen nichts anders übrig blieb und weil sie Angst vor ihren hochgerüsteten Verfolgern hatten, kraxelten sie weiter hastig den Berg hinauf. Das Experiment hatte geklappt. Diesmal hatte Bronsky seine Opfer mit dem elektromagnetischen Feld eines Zwanghaften beschossen, welcher der fixen Idee erlegen war, dass Vögel feindlich gesonnenen Mächten als Spione dienten. Bronsky hatte sich zuerst gewundert, als er die beiden schlecht verkleide-

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KAPITEL04  SZENE 15:  FRÖSCHE UND VÖGEL

ten Männer sah. Er hatte nicht erwartet, dass der Geheimdienst mit solchen Dilettanten zusammen arbeiten würde. Dafür war die Sache einfach zu groß. Doch als die Soldaten aus dem Busch sprangen, war ihm alles klar. Ihn packte eine unbändige Wut. »Die wollen es also wissen!« Er blickte auf Hinkel. »Unsere ferngesteuerte transkranielle Stimulation war erfolgreich gewesen!« Aber der kapierte nichts mehr. Der freute sich nur noch darüber, dass er Eisdealer und Sportsfreund so punktgenau bestrahlt hatte.

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V. FREUDE AN SICH Paul

hatte einen Platz in den vor-

dersten Reihen zugewiesen bekommen. Um ihn herum war immer noch viel los. Man ordnete Kissen und Decken, suchte, redete und lief hin und her. Einige hatten ihre Plätze noch nicht gefunden oder wollten dann doch lieber woanders sitzen. Einige wollten sich ausgerechnet dort niederlassen, wo andere schon ihr Lager hergerichtet hatten. Dann ertönte einmal, zweimal, dreimal ein Gong und allmählich nahm die Hektik ein Ende. Ein paar Nachzügler beendeten, ohne noch viel zu reden, ihre letzten Vorkehrungen. Dann saßen alle. Paul schaute über die Reihen nebeneinander sitzender, weißer Yogis hinweg. An diesem besonderen Tag hatten sich alle auf ein gemeinsames Selbstverständnis geeinigt. Mit Yogi sollte keine Ideologie, kein Religionssystem verbunden werden. Ein Yogi war jeder, der sich auf die Suche machte und dessen Suche ihm zum Wichtigsten im Leben geworden war. Paul schaute über unterschiedlichste Kulturen, Hautfarben und Gesichter hinweg. In einer Reihe vor ihm erblickte er eine Frau. Er sah wieder und wieder zu ihr hin. Sie hatte sich ein weißes Tuch als Stola über den Kopf gezogen. Er betrachtete ihren geraden Rücken, ihre melodisch fallenden Haare, ihren fein

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

geschwungene Nase und Brauen, ihren Mund, ihre dunklen Augen. In ihr verbanden sich Sanftheit und Strenge, Anmut und Disziplin. Sie versetzte ihm einen Stich. Henriette war nicht hier. Ausgerechnet heute war sie nicht hier. Er fühlte sich einsam. Mitten unter den vielen Leuten, mit denen er sich gemeinschaftlich verbunden fühlte, war er doch auch irgendwie allein. Neben ihm saß Hakennase. Der lächelte ihn an. Paul lächelte zurück und dachte: ›Wenn man zu zweit allein ist, dann ist das auch schon eine Form der Gemeinschaft.‹ Hakennase war aufgeregt. Er schaute nervös in alle Richtungen. Dabei zog er den Kopf mal hoch und weit nach vorne, dann wieder hinab und zurück. ›Wie ein Vogel...‹, dachte Paul, ›wenn man seine Nase als Schnabel nimmt...‹ Dennis hatte sich einige Reihen weiter hinten zu seinen alten und neuen Freunden gesetzt und Paul von dort aus zugewunken. Seitlich zur Bühne waren Spleen und Pieschke die Plätze zugewiesen geworden. Offenbar ging es ihnen schon besser. In ihrer Nähe hatte sich ein freiwilliger Helfer postiert. Im Unterschied zu allen anderen mussten die freiwilligen Helfer stehen, damit sie besser als solche erkennbar waren. Pieschke und Spleen hatte man Sonnenbrillen aufgesetzt, um sie von der Fülle der Eindrücke etwas abzuschirmen.

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Von seinem Platz aus konnte Paul gut die Bühne überblicken. Hinter dem offnen Zelt sah er in etwa zwanzig Metern Entfernung die Taufmaschine. Ihr großes, gebogenes Rohr glänzte in der Sonne. Sie machte immer auch ein wenig den Eindruck, als wäre sie an ein gewaltiges unterirdisches System aus Rohren und Turbinen angeschlossen. Noch weiter hinten ragte ein kolossaler Schwebehammer verschwommen schimmernd über den Baumwipfeln empor. Und noch viel weiter im Hintergrund türmten die paar Sechstausender mit ihren Schneehängen wie ferne Reiche in den Himmel. Ein Wind kam von daher und brachte angenehme Kühle mit. Gegen Mittag war es hier in den letzten Tagen immer sehr heiß geworden. Paul blickte wieder auf die Bühne. Die hatte sich mit den Yogis gefüllt. Obwohl sie seit Jahren und Jahrzehnten in dieser Gegend zurückgezogen leben, hatte jeder ein völlig anderes Aussehen. So, als hätten sie tausende von Jahren auf sich gehäuft, um unverwechselbar und eigen zu werden. Es waren vollendete Individualisten, die nun aber in einem Geist zusammensaßen, der von diesen uralten Anstrengungen befreit war und gelassen in sich ruhte. Einer von ihnen fiel durch seine zottelige Haarpracht auf. Sein wulstiges Gesicht und seine höckerige Stirn erinnerten Paul an die Physiognomie

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

australischer Ureinwohner. Neben diesem saß ein Yogi, der seinen direkten Antipoden abgab. Wegen seinem weißen, krausen Bart, vor allem aber wegen seiner runden Nickelbrille, hinter der zwei kleine Augen hervorblinzelten, erinnerte dieser Paul vielmehr an einen Intellektuellen. An einen von den Hippie-Intellektuellen der alten Schule. ›Es wird wohl in den Sechzigerjahren gewesen sein. Da hat er sich entschieden, ein Leben in Höhlen vorzuziehen.‹ Ganz am Rand saß aufrecht und streng im weißen Haarkranz ein Yogi, der Paul wie Sokrates vorkam. »Er ist schon weit über hundert Jahre«, hatte ihm Alfred erzählt. Und als Ältester würde er von den anderen besonders respektiert werden. Einmal hätte sich Sokrates-Yogi über Aborigine-Yogi aufgeregt, weil der sich bei einem Angereisten eine Cola organisiert hatte. Alfred wollte damit andeuten, dass sie auch nicht immer dieselben Prinzipien der Lebensführung verfolgten. Doch wie sie nun so gemeinsam da saßen, ging von ihnen eine stille und intensive Gemeinschaft aus. In ihrer Nähe war es, als würde man in einem unsichtbaren Licht sitzen. Sie hatten sich bei aller äußeren Gegensätzlichkeit radikal für den Weg der Freiheit und Wahrheit entschieden. Paul hatte in seinem Leben wenig Vorbilder gefunden. Und auch, wenn er sich ihnen nicht unmittelbar nachbilden wollte, jetzt, da er in ihrer Nähe saß, erfüllte ihn ein Gefühl der Liebe, des Respekts

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und der Hingabe. Ihre stille Präsenz war so intensiv, dass allmählich alle stiller und stiller wurden. Alfred war als Letzter auf die Bühne gekommen. Sie hatten ihm einen Platz in der Mitte eingerichtet. Paul staunte. So hatte er seinen Onkel noch nicht gesehen. Denn auch Alfred hatte sich ein weißes Gewand angezogen. Sein schütteres, langes Haar hatte er gewaschen und nach hinten gekämmt. Sein gegerbtes und markantes Gesicht trat dadurch stärker hervor als sonst. Er war in sich gekehrt und er wirkte auf Paul in einer für ihn ungewohnten Weise würdevoll und erhaben. Ihm wurde klar, dass Alfred – obwohl er sich immer stärker zurückgezogen hatte – als Einziger berufen war, diese Zeremonie zu leiten. Die Yogis hatten sich in seine Nähe gerückt und Alfred hatte begonnen, im Flüsterton mit ihnen ein paar Worte zu tauschen. Dann erhob Alfred die Stimme und sagte, sie hätten sich darauf geeinigt, dass einige der Yogis zuerst ein paar Übungen machen wollten. Dann sollten alle in einen gemeinsamen Gesang einstimmen, der Stunden dauern könnte. Dies wollte Alfred nicht weiter im Detail erläutern. Und danach würde man eine Weile in tiefer Meditation sein. Erst dann würde er den Park eröffnen. Wenn wieder ein Wind aufkam, dann rauschte es in den hohen Bäumen und es war, als würde es regnen. Dann wurde es wieder für einige Zeit still und

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

diese Stille war angefüllt von dem Zirpen der Zikaden und dem entfernten Gezwitscher vorbeiziehender Vögel. Ausgerechnet der etwas dickliche Aborigine-Yogi hatte sich vorgenommen, die versammelte Gemeinschaft körperlich zu ertüchtigen. Alle mussten mit den Armen kreisen, sich bücken, drehen und biegen und zuletzt mussten sie minutenlang im Liegen die Beine nach oben halten, um dann zuletzt erschöpft alle Glieder von sich zu strecken. Pauls Herz pochte laut. Der Wind strich kühlend über seine nasse Haut und unter seinen tiefen Atemzügen hob und senkte sich sein erschöpfter Körper. So lagen alle etwa zehn Minuten, tiefer und tiefer in die Erde sinkend. Dann mussten sie sich wieder aufrichten, denn nun war der Yogi mit der Nickelbrille dran. Er führte ihren Atem in rhythmischen Intervallen durch alle Glieder des Körpers. Allmählich verlangsamte er den Atem, dann beschleunigte er ihn wieder und so zog er das Bewusstsein von den Dingen. Nach einer längeren Pause, in der alle in sich ruhten und die Augen geschlossen hielten, wurde die Leitung an einen letzten Yogi übergeben. Dieser wollte nun nichts anderes, als dass sie ihn ab einem angekündigten Zeitpunkt beim Singen mit Stockschlagen und Händeklatschen begleiten sollten. Er fing an brahmanische Lieder zu singen. Dann gab er ein Zeichen und alle klatschten und klopften und

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sangen mit, soweit sie es konnten. So verging einige Zeit und es wurde Nachmittag. Nach diesem heiligen Gesang, in dem sich für Paul Zeiten und Räume öffneten, trat wieder dieses eine einigende Schweigen ein. Von Zeit zu Zeit schob sich eine Wolke über das Zelt. Die wanderte gemächlich und als riesiger Schatten über über das Zelt hinweg und verdunkelte dann auch den Zeltinnenraum. Dort war eine seltsam aufgeladene und knisternde Atmosphäre entstanden. Paul fühlte sich von inneren und äußeren Kräften durchströmt, an seinen Fingerspitzen spürte er das Kitzeln feiner elektrischer Entladungen und es gab Momente, in denen ihm etwas schwindelig wurde. Doch wenn er regungslos blieb und wenn er sich ganz auf seinen Atem konzentrierte, dann war es gut und zum aushalten, ja sogar angenehm und wie eine leichte Trance. Das war so ungewöhnlich für Paul, dass ihn in manchen Augenblicken eine Angst und Unruhe befiel. Dann öffnete er die Augen und schaute, wie es den anderen ging. Die Anderen saßen regungslos. Ein leichter Wind streifte ab und zu über ihre Kleider. Gelegentlich und kaum hörbar schlugen Zeltplanen am vorderen Zelteingang gegeneinander. Sie waren zur Hälfte herabgelassen worden, nachdem die Strahlen der tiefer stehenden Sonne bis weit ins Zelt

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

vorgedrungen waren. Das Zirpen hatte aufgehört und auch der Wind war nicht mehr so böig, sodass es nur noch selten und leise in den Bäumen rauschte. In diese Stille hinein begann Alfred einen hölzernen Klöppel über ein gläsernes Gefäß zu ziehen. Es entstand ein sehr feiner obertonartiger Klang. Sanft holte er die Meditierenden wieder an den Ort zurück, an dem sie sich versammelt hatten. Nach einer weiteren Pause erhob Alfred das Wort. Es sei nun an der Zeit, den zweiten und eigentlichen Teil der Zeremonie einzuleiten. Alle sollten gemeinsam beginnen, auf einen Laut gestimmt zu singen, der dem ersten Schöpfungston am nächsten stünde. Jedoch anders als sonst üblich, sollte dieser Ton den Ausgangspunkt aller weiteren Töne bilden. Denn in diesem Ton sei die ganze Schöpfung enthalten, erläuterte Alfred, und so sei auch jede Modulation bis hin zur scheinbaren Unkenntlichkeit des Ursprungs doch nichts anderes als dessen Fortsetzung. Doch wäre es wichtig, fügte er noch an, dass man dabei nicht bestimmten Worten oder sinnhaltigen Formulierungen verfiele, sondern man solle sich in einem sinnfreien Gesang, in welchem dieser Ursprung anwesend und fühlbar bleibe, versuchen. Alfred nannte diese Methode »continuos ohm«. Zum Ende einer noch nicht bestimmten Zeit würden sich alle wieder zu einem

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gemeinsamen Ton zusammenfinden. Mehr wollte er dazu nicht sagen. Ein enormes, ganz langsam ausklingendes Ohm erfüllte das Zelt: oooooooooooooooooohhhhhhmmmmmmmmm Doch schon nach wenigen Minuten hörte Paul auch andere Töne in diesem Ohm. oooooooouuuuuuuiiiihhmmmmmm em em em ooooooooohmmm ohlalalalalala em em em em Und nach einiger Zeit war dieses Ohm unter dem Andrang unterschiedlichster individuellerer Laute beinahe vollständig verschwunden. Jeder Einzelne gelangte in seine ganz eigene Improvisation über diesen Grundlaut. Von überall her kamen seltsamste Geräusche, kam ein Grunzen und Gackern, Jubilieren, Trillilieren. Leidenschaften kochten auf und verschwanden, Wut entbrannte und erlosch. Laute nahmen tierische Gestalt an. Es quiekte und quakte, bellte, brunste und blökte. Manchmal verfing sich der Verstand in einem Ton, übertrieb diesen oder malte ihn aus. Das war schnell hörbar und für die anderen beinahe unangenehm, weil dann auch ihr Verstand wieder einzusetzen drohte, wo es doch umso

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

mehr wunderbar war, wenn alles eben keinen Sinn mehr ergab! Hakennase war bei einem »mee mee mee eeh eeh eeh« hängen geblieben. ›Vielleicht ist er in ein früheres Leben, in eine parallele Existenz, in eine Form von Besessenheit, in - was auch immer - geraten. Jedenfalls ist er gerade eine Ziege‹, dachte Paul. Und das schien ihm noch einigermaßen harmlos. Sein Nachbar hatte dagegen begonnen, in regelmäßigen Abständen den Kopf auf den Boden zu schlagen und »mannoman mannoman« zu intonieren. Sein Ärger wandelte sich allmählich in ein Klagen und Kreischen. »mamamama babbabbabbaaaaaah«. Einen Anderen, der direkt vor ihm saß, erfreute sich seiner Verblödung: »hoihoi hoho trallalü trallala tattatü tattata«. Er wackelte mit dem Kopf wie Kasperle und streckte seine Arme mal links, mal rechts nach oben. Das sah so doof und lustig aus, dass Paul für Sekunden an diesem Anblick kleben blieb, bis er eine Hand an seiner Schulter spürte. Es war Alfred. Er flüsterte ihm ins Ohr, dass er sich nicht um die Anderen kümmern, sondern sich nur ganz auf sich konzentrieren sollte. Es war, als hätte Alfred ihn »beim Denken erwischt«. Für ein paar Sekunden saß Paul ganz schreckstarr da, doch dann wurde auch er, indem er einfach zu in-

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tonieren begann, von den seltsamsten Modulationen seiner Stimmte mitgerissen. Er brummelte in sich hinein. Er wurde zum Besserwisser. Er wurde zum Belehrten. Er wurde zum Jasager und zum Neinsager. Er wurde ein Affe, ein Heiliger, ein Schwein. In ihm piepste ein Vögelchen und in ihm winselte ein Kind. Er wurde zu Pinocchio, zu Freddy der Frosch, zu Benny der Bär. Er wurde alles, was es nur gab. In ihm war alles, was je existiert hatte und je existieren wird. Die Welt hatte sich in diesem Zelt versammelt. Alles kreischte und weinte und lachte wild durcheinander. Und das ging so immer weiter. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden. Es gab Phasen, in denen Paul meinte eine Erschöpfung zu bemerken, aber dann rastete jemand aus und riss die anderen in seinem Schreien wieder mit. Denn auch das war erstaunlich: Paul war in tausend Filmen, und doch immer noch bei Bewusstsein. Er war bei sich und doch auch ein Teil des gemeinsamen Wahnsinns. Er war eine Stimme in diesem einen Orchester, er war ein Teilchen kollektivierter, menschlicher Existenz, das auf der ganzen Bandbreite seines schöpferischen und des kreatürlichen Potenzials intonierte. Die Yogis hatten zumeist schweigend auf der Bühne gesessen, so als hätten sie über diesen vielstimmigen Irrsinn in Ruhe meditiert. Doch gelegentlich war

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

auch einer von ihnen in dieses gemeinsame und besondere Ohm-Singen eingefallen. Nun aber hatte sich Alfred erhoben und mit ihm hatten sich auch die Yogis erhoben. Dies war ein Zeichen. Und mancher, der eben noch tief in seinen Prozessen steckte, schaute nun wieder nach vorne. Alfred fing an zu singen. In dem Tosen von tausend Tönen war sein Singen zuerst kaum vernehmbar. Aber dann geschah es, dass auch andere in seinen Ton einstimmten. Es war ein gedehntes, ein volltönendes, ein inbrünstiges »aaaaaaaaaaaaaaaa«. Es war, als ob Licht in die Finsternis der Verwirrung, in den Tumult des Kreatürlichen dringen, als ob ein Strahl der Freude durch alle Herzen schießen würde. Und auch die Yogis standen und sangen dieses eine »a«. Einige steckten noch in ihrer Verrücktheit, sodass dieser Prozess der Einstimmung ein wenig dauerte. Doch dieses »a« wurde durchdringender, gemeinschaftlicher, wurde immer mehr der eine Ton, der alle verband. Nun stimmte auch Paul ein in diesen Ton. Es war, als ob er aus einer unsichtbaren Mitte, aus seinem eigenstem und zugleich mit allen geteilten Sein singen würde. Und der Himmel sang mit. Sie waren im Herzen des Universums angekommen.

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Paul hielt seine Arme durchgestreckt nach oben. Sie waren schwerelos geworden. An seinen Fingerspitzen konnte er Ekstase spüren, sie ragten da hinein, wo er nicht mehr, wo nichts mehr war. Er schaute auf die Bühne. Die Energie war so gewaltig, dass sogar die Yogis zu zittern und zu schlottern begonnen hatten. Dann fing ein Trommeln an. Ein paar Musiker waren auf die Bühne gekommen. Dennis und seine Freunde waren unter ihnen. Sie trommelten schneller und immer schneller. Die Energien waren so stark, dass sie sich wirbelnd entladen mussten. Das Zittern und Schlottern wurde zu wildem Tanz, wurde Erleichterung, Befreiung. Und Begeisterung. Bald hatten fast alle ihre Arme oben. Nur wenige lagen erschöpft am Boden oder hatten sich an die Ränder des Zeltes zurückgezogen. Paul musste unwillkürlich zu Pieschke herüberschauen. Pieschke tanzte. Sogar Spleen tanzte. Paul standen Tränen der Freude in den Augen. Nun endlich waren sie in ihrem Element. Es war wie in dem Gedicht von Christian Morgenstern: Ein Hase sitzt auf einer Wiese, des Glaubens, niemand sähe diese. Doch, im Besitze eines Zeißes, betrachtet voll gehaltnen Fleißes vom vis-à-vis gelegnen Berg ein Mensch den kleinen Löffelzwerg.

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KAPITEL05  SZENE 01:  FREUDE AN SICH

Ihn aber blickt hinwiederum ein Gott von fern an, mild und stumm. An Anfang der Beobachtungskette saßen Albert und Bender. Sie waren weit an das Zelt herangeschlichen, hatten nun aber Angst, sich noch weiter in das offene Feld hinauszuwagen. Nicht weit entfernt von ihnen saß Henriette zusammengekauert unter einem Strauch. Sie hatte, nachdem sie so leichtsinnig den offiziellen Weg nach oben geschritten war, die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich gezogen. Diese standen ebenfalls unter Beobachtung. Und zwar von Bronsky. Bender hatte eine halbe Packung leer geraucht. Ihm fiel zu dem Ganzen nichts mehr ein. Mit Gruppenzwang allein war das nicht mehr zu erklären. Hier wurden alle freiwillig irre. Die Situation erschien zugleich so irreal, dass er seinen Sinnen nicht mehr traute. Und auch Henriette traute ihren Sinnen nicht. Da saßen doch tatsächlich Albert und Bender vor ihr. Sie waren bewaffnet. Und aus dem Zelt kam dieser ohrenbetäubende Lärm. Währenddessen funkten die Soldaten ihre Beobachtungen an die Kommandantur. Die Kommandantur traute ihren Berichten nicht. Und wenn es doch stimmte, was durchgegeben wurde, dann stellte sich die Situation völlig anders dar als sie vermutet hatten.

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Für Bronsky jedoch war alles klar. Sie wollten ihn eliminieren und seine Geräte zurückholen. Sie hatten mit Sicherheit den Auftrag bekommen alle niederzumachen, die sich ihnen in den Weg stellen würden. Geld und Macht waren auf ihrer Seite und bisher hatten sie immer am längeren Hebel gesessen. Er musste alles in der ihm verbleibenden Zeit versuchen, damit es diesmal anders werden würde und er das Blatt wenden konnte.

IM REINEN SEIN Die Trommeln hatten aufgehört. Noch hielten viele die Hände hoch, noch hörte man dieses alle einigende »aaaaaaaaaaaaaaaa«. Auch Pauls Arme waren noch oben. Der Ton wurde ganz allmählich leiser und er fühlte, dass sich damit das Erleben nach innen kehrte. Alfred hatte begonnen, vorsichtig und lautlos einen Gong auf die Bühne zu schieben. Der Aborigine-Yogi stand auf und deutete mit seinen beiden Zeigefingern auf den Boden. Alle sollten sich nun setzen. Die meisten vielen in eine inwendige Ekstase, in eine tiefe Meditation. Für einen Moment war es still. Sehr still. Dann wurde ein fernes Grollen vernehmbar. Es wurde ganz langsam lauter und immer mehr etwas lauter und zuletzt ohrenbetäubend laut. Es krachte, es donnerte. Paul schien es, als stünde er am Anfang aller Zeiten: Tosendes Chaos. Gewaltige Räume.

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KAPITEL05  SZENE 02:  IM REINEN SEIN

Dann wurde es wieder still. Unendlich still. Die Gedanken waren zerschrieen worden. Das Schreien war verstummt. Alle Formen, Rollen und Existenzen – die sie wie in einem Zeitraffer durchlebt hatten – hatten sie weit hinter sich gelassen. Der krachende, tosende Gesang des Gongs hatte sie in den Ursprung zurück katapultiert und alles ausgelöscht, was sie noch an ihre alte Existenz band. Nichts war mehr. Sie hatten die Stille betreten. Niemand rührte sich. Niemand wollte die Stille stören. Diese Stille war heilig. Alle wussten das. Kein Gedanke. Kein Laut. Keine Regung. Nur reines Schauen, Staunen. Reine Stille. Sonst Nichts. Reine Leere. Sonst Nichts. Nur das Selbst war noch da im Gewahrsein des Nichts. Darinnen waren alle gleich. ›Das Nichts ist das, was essenziell und ewig existiert!‹ Paul öffnete die Augen. Er betrachtete das milde, abendliche Leuchten und das schimmernde Licht, welches die tief stehende Sonne auf Bäume und Blätter warf. Er betrachtete zwei Ameisen, die auf seinem Knie hin und her krabbelten. Er betrachtete dies aus einem unendlichen und stillen Bewusstsein heraus. Die Farben schillerten unwirklich und sanft, die Ameisen machten ihre wie unwirklich wirkenden irdischen Runden. Es war ein seltsam berührendes Spiel, das

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wie gehaucht schien auf eine schauende, mitfühlende Leere. Ein Frieden war da. Weil es nichts mehr zu tun und zu sagen gab. Weil sie angekommen waren. Paul schaute zu Dennis. Dennis schaute zu Paul. In diesem Schauen war keine Regung. Denn es gab keine Notwendigkeit, ein Zeichen zu geben. In diesem Schauen waren Paul und Dennis eingekehrt und aufgegangen. Sie waren zugleich und immer noch da. Sie hätten sich zulächeln oder winken können. Aber es wäre so, als wollten sie ihr Erscheinen ernst nehmen, wo sie im Sein angekommen waren. Paul schaute in das Sein. Es war nicht zu benennen. Denn das Sein war das Schauende. Paul musste lächeln und lächelte auch beinahe. Und dann sagte er sich: ›Gott sei Dank ist da Nichts. Kein Etwas. Keine Form. Das wäre grausam. Dies würde die Vollkommenheit nur stören. Die Vollkommenheit in ihrer Vollkommenheit, alles sein und werden zu können. Oder auch nicht.‹ Paul schaute zu Alfred. Ihn überzog dieses leise, unsichtbare Lächeln. ›Du Formfanatiker, du bekloppter Formfetischist.‹ Am Ende mussten sie alle Formen auflösen, um dort hinzugelangen, wo sie jetzt waren. Alfred schaute zurück, Liebe erfüllte ihre Herzen. Dieses Wissen bedarf keiner Kommunikation. Irgendwie kam aber dann wie telepathisch doch

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KAPITEL05  SZENE 03: FREUDE DRÖHN UND GÖTTERTRUNKEN

eine Botschaft an: ›Nur manchmal muss man das Nichts in-form-ieren, damit es in Erscheinung treten kann‹. Dann verschwanden sie wieder in der Leere, die sie betreten hatten.

FREUDE, DRÖHN UND GÖTTERTRUNKEN

Die Stille

hielt etwa eine Stunde an, dann wurde sie gebrochen. Einige hatten angefangen, sich zu rekeln und zu rascheln. Einige mussten auf die Toilette. Der Harndrang war ihnen dann doch nicht vergangen. Und vielleicht war es einigen auch zu viel. Sie mussten irgendetwas tun und an alte Gewohnheiten anknüpfen. Doch die meisten, dass wurde an ihrem Verhalten deutlich, begannen sich in diesem neuen Zustand zu bewegen, sich anzusehen, zu lachen und sich zu umarmen. Die Welt, in die sie hinaustraten, war rauschhaft und klar. Sie war trunken von Bewusstsein. Und alles war heilig in diesem Rausch. Und alle waren nüchtern vor lauter Klarheit. Paul hatte das Zelt verlassen und sich etwas abseits hingelegt. Er war benommen, er zitterte und ihm war kalt geworden. Er hatte sich in eine Decke gewickelt und schaute ins abendliche Blau. Weit oben zogen Wolken, die der Wind zu unzähligen goldenen Fäden verweht hatte. Diese vermischten sich,

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bildeten Inseln, lösten sich wieder auf. Paul staunte. So schön war ihm dieses Schauspiel noch nie erschienen. Und auch der Raum fühlte sich anders an. Er war kristallin und wirkte wie auseinandergefaltet. Es war, als könnte er die Raumschichten und Entfernungen spüren, die zwischen den Wolken waren. Weit oben gingen ein paar Vögel mit den Winden. ›Vielleichten fühlen sie sich so wie ich? So allem enthoben und absichtslos...‹, fragte er sich. Dann sank er wieder zurück in sein wortloses Staunen. Sie hatten die Planen nach oben gezogen. Einige blickten umher, als würden sie alles zum ersten Mal sehen. Hakennase betrachtete ungläubig seine Füße. Auch schien er davon begeistert, wie er einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Er erfreute sich am Gehen. Freude war überall. Alfred hatte das Mikrofon zu sich herangezogen. Er erklärte den Park für eröffnet. Nun sollten zuerst einmal alle die Taufmaschine aufsuchen. Einer der Eremiten hatte sich an das Harmonium gesetzt. ›Von diesem Instrument kam also dieser zeitlose und in sich kreisende Klang, den ich am Ende dieser qualvollen Nacht vernommen habe!‹, erinnerte sich Paul. Die Frau mit den Zotteln war an das Mikrofon gegangen. Sie wartete eine Weile, dann stimmte sie ihre Stimme leise auf diesen Ton ein. Sie summte mit

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KAPITEL05  SZENE 03: FREUDE DRÖHN UND GÖTTERTRUNKEN

dem Ton, um dann freier und wie in feinen Schleifen spielend um ihn herum zu singen. In ihrer Stimme, die aus der Stille kam, war noch die Stille. Und dann modulierte sich ihr Gesang und sie weckte Zeiten und Kulturen. Und es hörte sich an, als formte sich aus ihrer zuerst gestaltlosen Stimme allmählich zuerst ein Ohm Mani Padme Hum und dann ein Ave Maria. Und als ihre Stimme weit oben und wie im Himmel hing, da begann ein buddhistischer Mönch mit tiefen Bässen in ein zweites Mikrofon zu grummeln. Der Mönch war aufgestanden und wiegte sich mit den Hüften und die Zottelige drehte sich mit kreisenden Bewegungen um ihn herum. Ihre Haare wuchtete sie dabei mit einer schnellen Kopfbewegung nach links und nach rechts über ihre Schultern. Das Tempo steigerte sich. Jemand hatte zu trommeln begonnen. In dieser Weise eingewoben in die Musik, und während viele noch durcheinander liefen, nach Sachen kramten, sich suchten und fanden, machten sich alle auf den Weg. Auch Alfred war benommen. In seinem Körper war noch dieser feine und hohe ekstatische Ton und im Lichte dieses Zustands gelangen ihm Einsichten, die sonst eher unwahrscheinlich gewesen wären. Er stellte betroffen fest, dass er die vielen Mitstreiter von Dev unterschätzt hatte. Ohne diese wäre alles

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weniger intensiv, weniger gewaltig gewesen. Er suchte ihn dort, wo er ihn zuletzt kurz gesehen hatte. Und als sich ihre entfernten Blicke trafen, hatte auch Dev eine erschütternde Einsicht. Sie hatten sich abgegrenzt, sie hatten sich als etwas Besseres gefühlt. Vor allem aber konnte er seine eigenmächtigen Entscheidungen nun nicht mehr rückgängig machen. Während dies geschah, hatte sein Bruder Albert in höchster Anspannung am Rande des offenen Geländes gehockt. Nun, als die Menschen aus dem Zelt strömten, konnte ihn nichts mehr halten. Er stolperte mit gebückten Schritten an der Menschenmenge entlang. Er suchte die weiß gekleideten Scharen mit irrenden Augen nach Paul und Alfred ab. Er hatte die Schrotflinte in der Hand. Es gab beunruhigte Blicke, aber die meisten sahen ihn nicht. Nach ein paar Metern musste er stehen bleiben. Albert fühlte sich betäubt und seine Beine waren weich. Wo war sein Sohn? Wo war sein Bruder? Er konnte ihn nicht zur Rede stellen, wenn er nicht klar war in seinem Kopf. Er hatte sich doch alles zurechtgelegt: All die Jahre. Alfreds Verantwortungslosigkeit. Er hatte nach Bestätigung gesucht, sich weit zurück erinnert. Aber da waren nur dumpfe und bedrückende Bilder. Sein Schreibtisch. Zahlenkolonnen. Langweilige Reisen

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KAPITEL05  SZENE 03: FREUDE DRÖHN UND GÖTTERTRUNKEN

und gediegenes Ambiente. Er hatte Sachen gemacht, die ihm seltsam unwirklich vorkamen. Was also wollte er Alfred vorwerfen? Er gedachte seines Büro, seiner Sekretärin, seines Schreibtisches, seines Sofas. Bei der Erinnerung an sein Eindruck schindendes Sofa hatte es ihn geradezu geschüttelt. Dort hatte er gesessen, um zu liquidieren. ›Um nicht selbst...aber mein Sohn war mir immer wichtig!‹ All dies schoss durch seinen Kopf, als er in die Menge stolperte. Die Leute wichen zurück. Jemand sprach ihn an, jemand wollte ihn festhalten, aber er riss sich los. ›Ich muss verschnaufen‹, sagte er sich. Doch als er stand, schwindelte ihm noch mehr. ›Was ist los mit mir? Was stimmt hier nicht?‹ Er fand keine Antwort und das steigerte seine Verwirrung noch mehr. Er sah seinen Sohn. ›Gott sei Dank. Er ist am Leben!‹ Sein Sohn erblickte ihn. Albert hatte Angst, er könnte sich abwenden. Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich, so als wäre nichts geschehen, als wäre alles wieder in Ordnung. Er musste weinen. Sein Sohn sagte nichts. Er hielt ihn fest. Doch dann wollte er ihm das Gewehr nehmen. Panik ergriff ihn. Er riss sich los, stürmte nach vorne, rempelte die ihm Entgegenkommenden an. Dann sah er Alfred. Er packte seinen Bruder an der Schulter und zog ihn zu sich heran, schaute ihm ins Gesicht, wollte ihn zur

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Rede stellen. Ihm viel nichts ein. Der Andrang der Gefühle hatte ihm die Sprache verschlagen. Bilder kamen. Bilder von einer permanenten Hast zwischen muffelnden Gemütlichkeiten, Bilder von einer sinnlosen Tour de Force und seinem verkorksten Leben, Bilder von alten Lieben und Freundschaften. Das Gefühl überwältigte ihn, er fühlte Reue und Vergebung, ewige Bruderschaft und endlich Frieden. In diesem Augenblick gab es einen enormen Knall und das Wasser strömte mit tosendem, mit krachendem Gesang aus der Maschine. Bender hatte seinem davonhumpelnden Begleiter erschrocken nachgeschaut. Er konnte sich auf all das keinen Reim mehr machen. Nachdem er diesem verrückten Treiben eine Weile zugesehen hatte, sagte er zu sich: ›Das ist zu unwirklich, das kann nicht sein‹. Und als das Wasser in den Himmel schoss, da hatte er sein Gewehr draufgehalten und abgedrückt. Beinahe im selben Augenblick durchbohrte ihn ein Geschoss. Er sackte mit dem Kopf in seinen Haufen ausgequalmter Kippen. Seine Brust brannte und er spürte, wie sich der in ihm schwindende Rest von Leben ganz um die Aufrechterhaltung organischer Funktionen verzerrte. ›Aber dieser Gestank ist wirklich einzigartig!‹ Eine Verlagerung des Kopfes schien ihm

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KAPITEL05  SZENE 03: FREUDE DRÖHN UND GÖTTERTRUNKEN

nicht mehr möglich. Sein letztes Denken war fiebrig und er verfiel dem Wahn, dass er seine Nase aus dieser Asche mit letzter Kraft herausbekommen müsse. Andernfalls drohe ihm die Verbannung seines Bewusstsein auf alle Ewigkeit in einen Aschenbecher. Bender versuchte um Hilfe zu schreien. Seine Stimme versagte. Da spürte er, wie ihn jemand zu wenden versuchte. Und als er sich drehte, sah er in das erschrockene Gesicht von Henriette. Dann blickte er in den Himmel, dann in das Licht, dann schloss er die Augen. Sie kniete über dem bewusstlosen Bender. Der Schuss war in dem Lärm kaum zu hören gewesen. Nur wenige hatten sich kurz umgedreht, waren dann aber von dem Strom des Geschehens wieder mitgerissen worden. Durch den hohen Wasserdruck und den Gegendruck der Erde, hatte sich das Rohr gedreht und nun zischte der Strahl hoch hinauf, um sich dann in großer Höhe wie ein Blütenkelch zu öffnen. Ungezählte Tropfen standen für Momente wie ein stehender Regen glitzernd am Himmel. Dann sackten sie nach unten. Schneller und schneller fielen sie hinab und dann platschen sie millionenfach auf die Versammelten nieder. Deren Andacht und Stille hatte sich nun gleichsam in helle Euphorie verwandelt. Die Getauften waren ergriffen und so hymnisch gestimmt wie

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in Beethovens neunter Sinfonie: Freude, schöner Götterfunken. Alle Menschen werden Brüder. Etwas Neues schien angebrochen. Die Taufe war Segen und Siegel. Sie war das Ritual endgültiger und kollektiver Verwirklichung. Viele strömten weiter, nachdem sie die nasse Weihe empfangen hatten, um auch das andere Gerät, um die gigantische Schaukel, den Schwinghammer, das alte Riesenrad mit seinen Zeppelinsitzen, um Nietzsches Karussell für freie Geister in Betrieb zu nehmen.

IM ZEICHEN DES ELEFANTEN

Der Mönch und die

Schamanin hatte aufgehört zu singen, als die Wasserfontäne am Himmel stand. Das Tosen war so allgewaltig und der Anblick so großartig, dass sie die ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Alfred hatte mit Dennis abgesprochen, dass er sich zur Eröffnung des Parks um die Musik kümmern sollte. Alfred, Dennis und andere Musiker hatten verschiedene Stücke zusammengetragen, sich aber nicht auf eine genaue Reihenfolge einigen können. Er hatte sich auf den indischen Lastwagen begeben und den Kopfhörer aufgesetzt. Auch er war noch benommen und euphorisiert zugleich. Eine Reihe von Papp-Elefanten baumelte an der oberen Planenstange, die schräg vor ihm zugleich das Dach markierte. Tücher waren zu

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KAPITEL05  SZENE 04: IM ZEICHEN DES ELEFANTEN

drei Seiten des Wagens angebracht worden, um vor den Winden zu schützen. Vom Sofa aus und über den Tisch hinweg, auf dem die Anlage aufgebaut worden war, hatte Dennis auf der noch offenen Seite eine gute Sicht auf das Zelt, die wasserspeiende Maschine und all das andere Gerät im Park. Vor allem aber waren da die Tanzenden. Er schätzte sich glücklich, denn er war nun einer von ihnen. In dieser Weise und mit allen gemeinsam entrückt wollte er immer schon sein. Denn obwohl der Strahl gewaltig brüllte und die dort Versammelten johlten und jubilierten, war noch die Stille in den Köpfen und über den Dingen. Die hatte ihre eigene, unberührbare Präsenz, die war das Eigentliche, in dem alles badete. Dennis tippte ein paar mal zaghaft auf den Wiedergabeknopf, so als traute er sich noch nicht ganz die Musik anzumachen. Dann machte es doch Klack. Es ertönte eine einfache dubbige Bassline: Dam Dam Dada Bam Bam. ›Genial‹, fand Dennis, ›einfach genial‹. Dam Dam Dada Bam Bam. So hatte er das noch nie wahrgenommen. ›So ganz gelassen. Elefantenschwer. Drogenmäßig!‹. Dann drückte er einen weiteren Schalter und die Bassline waberte in die Welt hinaus: Dam Dam Dada Bam Bam/ Oneness / Dam Dam Dada Bam Bam/ Got the Power / Dam Dam Dada Bam

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Bam/ Oneness / Dam Dam Dada Bam Bam/ Taking Over / Dada Bam Bam/ No more pain / Dada Bam Bam/ No more sorrow... Während das Stück lief und die Welt im Geiste des Dub erleuchtete, musste er sich doch davon trennen, um in ein paar weitere Stücke hineinzuhören. Da war ein altes Soulstück. Motown. Siebziger Jahre. »Fantastisch...«, rief Dennis aus, »...völlig abwegig das zu spielen.« Er tat es dennoch. Er ging weitere Stücke durch. Zigeunerweisen, Bachkantaten, alles Mögliche. Etwas verwundert stellte er fest: ›Das alles ist komplett perfekt!‹ Es schien ihm, als wäre er in das Zentrum der Musik vorgestoßen. Er hörte sie von dort, von wo sie inspiriert wurde. Und von diesem Punkt aus war sie wunderbar. Das war es vielleicht. Alles lag offen. ›Extrem explizit!‹ stellte er fest. Dennis blickte über den Verstärker hinweg auf die Wirkung, die seine Dublines, Volksweisen und Gesänge hinterließen. Helle Begeisterung. Außer sich sein. Sie waren in dieser gemeinsam geteilten Sphäre. Sie war dicht, sie war resonant. Sie war es, in der das Leben einmal begonnen haben mochte. Und so hörte sich alles aus diesem Ursprung heraus an, als wäre es soeben erst

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KAPITEL05  SZENE 04: IM ZEICHEN DES ELEFANTEN

entstanden. ›Gott, Jahwe oder Jah Rasta Fari! Welcher Name auch immer. Das liebt einfach Musik!‹ Wenn da nur nicht noch etwas anderes angefangen hätte, einen absurden Tanz aufzuführen. Dennis hatte zuerst ungläubig nach oben gesehen. Ein Hubschrauber stand am Himmel, in Warteposition. Dann waren es zwei und drei. Auch die standen erst einige Sekunden, dann fingen sie an zu kurven. Und wie Dennis fand, passend zur Musik! Sie flogen Schleifen. Und dann flogen sie aufeinander zu. Wie um sich in die Arme zu nehmen, um dann ihm letzten Augenblick wieder voneinander zu weichen. ›Unfassbar! Kiffen kann nicht schöner sein. Doch ich bin nicht bekifft!‹. Die Musik war intensiv, sie gab den Ton an. Dennis drehte lauter und das Lärmen der Motoren wurde unhörbar. Das Ganze wurde zu einem Phänomen, dessen Bedeutsamkeit sich unterschiedlich interpretieren ließ. Die meisten nahmen es als eine komische Überraschung und als einen seltsamen Spuk wahr. Für Augenblicke wurden die Propellergeräusche bedrohlich laut. Ein Hubschrauber war auf wenige Meter heruntergekommen. Dann entfernte sich der Hubschrauber wieder und das verrückte Treiben von einem inzwischen Dutzend dieser Dinger war, musikalisch untermalt, wieder lustig anzu-

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schauen. Dennis spielte »Just a Kiss for you«. Und die Hubschrauber tanzten wie verliebt. Sie brummten aufeinander zu, um dann in einem jähen Schwung voreinander zurückzuweichen. Als Bronsky den ersten Hubschrauber kommen sah, grummelte er hasserfüllt in sich hinein: ›Ich ficke euch mit eurer eigenen Scheiße!‹ Sein Assistent stand hinter ihm. Er beobachtete ihn. »Was legen wir ein?...«, fragte Bronsky. »...Egoshooter oder Autoscooter? Ich bin für Autoscooter!« Der Assistent nickte. Bronsky hatte alles vorbereitet. Er hatte seine Schüsseln auf verschiedene Positionen am Himmel gerichtet. »Hubschrauber sind ideal. Die stehen lange genug in der Luft rum.« Er öffnete ein Fach, dort schob er einen kleinen Stick hinein. Auf diesem war das Frequenzmuster eines Sechsjährigen beim Autoscootern abgespeichert worden. Er blickte auf den Himmel. Er wartete auf Resultate und es trat das ein, womit er gerechnet hatte. Einigen war diese himmlische Choreografie unheimlich geworden. Sie schauten nun öfter nach oben. Als Alfred den ersten Hubschrauber am Himmel entdeckt hatte, war er zu den Sendeanlagen ge-

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KAPITEL05  SZENE 04: IM ZEICHEN DES ELEFANTEN

stürmt. Dort raste Bronsky vor Wut und Begeisterung. Er schrie: »Es funktioniert! Es funktioniert!« Er war in Vorstellungen gefangen. Er merkte nicht mehr, was unmittelbar um ihn herum geschah Währenddessen lagen Spleen und Pieschke erschöpft und regungslose auf dem Boden. Sie waren nah beieinander. Sie befanden sich in einem Zustand von Innehalten im Zentrum des Tumults. Dennis scrollte eilig durch die Listen. Er suchte ein passendes Stück. Er hatte in der Menge Henriette entdeckt. Und er hatte auf der gegenüberliegenden Seite Paul entdeckt. Er legte »Elefant Gun« von »Beirut« auf. Henriette hätte um Hilfe schreien können. Sie hatte es nicht getan. Sie war durch die tanzenden, singenden, schreienden, und still gewordenen Menschen gelaufen. Auf der Suche nach Paul. Das Riesenrad drehte sich am Himmel. Die Taufmaschine machte einen Regenbogen. Die Hubschrauber flogen große und kleine Schleifen. Die Menschen liefen hin und her. Dennis legte Elephant Gun auf: Eine Ukele wurde geschrumpelt. Urtümlich und wie aus alten Zeiten. Die Stimme war sehnsuchtsvoll und melancholisch, sie war auch feierlich und heiter. Ein

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Schifferklavier setzte ein. Es war, als hätte sie schon vor Jahrhunderten diese Musik gehört. Sie fühlte sich ausgebreitet über Räume und Zeiten und ihr war, als trüge sie ein altes Kleid. Und eine Trompete trötete los. ›Ausgerechnet Trompeten...‹, dachte Henriette, ›...die sind doch immer so laut und aufdringlich‹. Doch war der Klang betörend, voller Inbrunst und heimatlicher Empfindung. Dann polterte eine Pauke los. So, als setzte sich nun die ganze Kapelle in Gang. Fahrende Musikanten. Bunt gemischt: Zigeuner, Juden, Russen und Deutsche. Die Trompete klang nicht nur volkstümlich. Sie klang auch philosophisch. Sie klang final. So, wie ein letzter Gesang. Henriette erblickte Paul in der Menge. Der war jetzt wie der Junge vom Dorf. Und sie freute sich so sehr. Und auch Paul erkannte Henriette. Die Pauke tölpelte wie ein betrunkener Elefant und die Trompete trötete voll Wehmut. Und dann begann sich Henriette zu drehen. Sie drehte sie sich halb zur einen, dann halb zur anderen Seite. Sie sah zu Paul. Sie lachte. Sie hob ein wenig das eine und das andere Bein. Sie wollte doch tatsächlich zeigen, wie schön sie war. Und sie war schön und ihr Körper war jung und die Musik gab den Ton und die Musik gab den Takt an. Und so war es schon immer. Seit tausenden von Jahren.

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KAPITEL05  SZENE 04: IM ZEICHEN DES ELEFANTEN

Und Paul tat das, was Henriette tat. Auch er tanzte. Wie ihr Spiegelbild vollzog er dieselben Bewegungen. Wie ein Schauspieler und durch alle Zeiten hindurch. Und dabei sah er sie an: Die Musik war folkloristisch und so war sie. Und wie die Musik sich wandelte, so wurde auch sie melancholisch und übermütig, schüchtern und froh. Und Henriette war Judy, war Maria, war das ewige Mädchen und die eine Frau. Und mit all diesen Weisen, die immer in ihr waren, ging sie auf ihn zu. So explizit, so dermaßen offengelegt hatte er sie, hatte er überhaupt noch nie etwas erlebt. Und dass sie all das sein konnte, was sie in sich zurückgenommen hatte, und dabei doch so eigen war. So würde er sie immer lieben, durch alle Zeiten und Verwandlungen hindurch. Albert hatte Bronskys Labor erreicht. Seine Sender waren nicht, wie abgesprochen, auf den Park, sondern sie waren in den Himmel gerichtet worden. Im Inneren war ein heilloses Durcheinander. Geräte waren aus ihrer Verankerung gerissen worden. Fenster und Türen standen offen. Bronsky hing leblos an einem Tisch. Sein Hinterkopf war flach, seine Haare waren rot und zerknautscht, seine Stirn suppte im Blut. Dann endete die Musik. Es war ein Schwirren in der Luft. So als ob alles sich beschleunigt hätte und

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nun wie wild durch die Gegend flitzte. Es war wie ein rasendes Summen im Ohr. Es wurde so schnell, dass man innehalten und stehen bleiben musste, um es zu ertragen, um an den Punkt zu kommen, an dem alles aufzuhören schien. Und Spleen und Pieschke lagen immer dort, wo sie liegen geblieben waren. Und Henriette war zu Paul getreten und Paul war denselben letzten Schritt gegangen. Sie hatten ihre Stirn aneinander gelehnt. So, als hätten sie eine praktische Methode gefunden, Gedanken auszutauschen. In ihrer geteilten Stille war alles da. Die Reinheit ihrer Herzen, die Demut vor dem Unendlichen, die kreisenden Hubschrauber, die letzten Monate, das Glück endlich zusammen zu sein. Sie fühlten die ungezählten Schichten ihrer zeitlosen Existenz, die Jahre, Jahrhunderte, die Jahrtausende, in denen Seelen sich suchen, verlieren und wieder finden. Sie hielten ihre Stirn beieinander in diesem einen Sein und durch ihre Hände, mit denen sie sich berührten, flossen all die leisen Empfindungen, warmen Gefühle und zurückgehaltenen Leidenschaften. In die Abstraktion ihres gemeinsamen Seins floss auch und immer noch all das Konkrete ihrer leiblichen Existenz. Und dann ließen sie ihr Bewusstsein nach unten sinken und langsam wanderte es in ihr Herz hinein. Funkelndes Licht. Glückseliger Schmerz. Endlich

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KAPITEL05  SZENE 05: GEGENTAUFE

eins. Doch dass sich das Endliche auch so endlich anfühlen musste. Das, was kommen wird, war schon antizipiert. Es zischte gefährlich über ihren Köpfen, so als würde etwas reißen wollen, so als würde der geschützte Raum nicht mehr lange standhalten können. Die Hubschrauber flogen gefährliche Attacken. Viele bekamen Angst und gerieten in Panik. Henriette und Paul drückten sich fester. Sie spürten noch einmal Gemeinschaft und Freude in einem angehaltenen Augenblick. Denn nun mussten sie zurück in das Geschehen, in das wirbelnde Spiel.

GEGENTAUFE Es

gab eine gewaltige Explosion. Ste-

hende Bilder. In die Erinnerung für ewig eingebrannt. Paul und Henriette standen Stirn an Stirn gedrückt. Alfred lief aus dem Gebäude in der Vermutung, dass sie dieses als nächstes bombardieren würden. Am Himmel sah er einen Feuerball. Er lief zu den oberen Wasserbecken, dessen gestautes Wasser sich auf gleicher Höhe befand. Vielleicht, um sich vor den Flammen zu retten, liefen auch Paul und Henriette dorthin. Sie kraxelten einen Abhang hoch, rutschten ab, liefen weiter. Der Feuerball hatte wie eine gewaltige Aussaat brennende Teile in den Himmel gestreut. Und diese begannen nun, von dort oben auf die Menschen hinab zu regnen. Qualm verdunkelte immer

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mehr den Himmel. Das brachte die Hubschrauber noch mehr durcheinander. Einige wurden von brennenden Wrackteilen getroffen. Ein weiterer Zusammenstoß ereignete sich. Und dann noch einer und noch einer. Der Himmel stand in Flammen. Metallteile schossen nieder. Die Erde brannte. Ein Hubschrauber krachte in das gestaute Wasser. Die Wellen drückten gegen die Stauwand, die für diesen Vorfall nicht gewappnet war. Sie brachten die Wand zum bersten. Mit einer großen Welle kam die Flut auf sie zu und, um auszuweichen, mussten alle dasselbe tun: Sie sprangen. Und dann schoss das Wasser den Abhang hinab in den Park und in das Tal darunter. Paul stürzte und Henriette war schon vor ihm gesprungen. Ihr lebloser Körper lag am Boden, als er über ihr war. Es war ein seltsames Gefühl, nun so anders auf dem Weg zu ihr zu sein. Und dann kamen ihm die Bilder. Wie auf einem Strahl flog er aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart und darüber hinaus. Er sah eine Stadt. Er sah Berlin. Er sah noch einmal Henriette. Ein anderes, ein neues Leben. Eine neue Form der Gemeinschaft und unbekannte Menschen. Dann sah er Alfred in seiner Nähe. Der lächelte. Ein idiotisches, ein fernverklärtes Lächeln. So, als wüsste er selber nicht, was er da tat. Er schien ihn

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anzusprechen. ›Vater tot. Freundin tot. Selbst das Ich ist tot‹. Paul wollte antworten. ›Möglicherweise.‹ Er hatte Alfreds Antwort deutlich vor sich: ›Das hätten wir einfacher haben können‹. Paul lächelte. Weiß Gott, woher das Lächeln kam. Er hörte sich noch sagen: ›Das kann schon sein‹.

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