Argumente 4/2012 - Jugend und Bildung

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Dezember 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

Argumente 4/2012 Jugend und Bildung


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ARGUMENTE 4/2012 Jugend und Bildung

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10911 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro: Jugend und Bildung ...................................................................................... 4 von Katharina Oerder, Matthias Ecke und Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende und Mitglieder der Redaktion

Magazin Entscheidungsjahr 2013: Auch für Israel und Palästina ......................................... 8 Von Bettina Schulze, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Christoph Dinkelaker, Projektkoordinator WBC Jerusalem, Jan Lichtwitz, kooptiert im Juso-Bundesvorstand und Tobias Pietsch, ehem. Praktikant im WBC Jerusalem Der Staat der Klassengesellschaft ........................................................................ 14 von Jan Lichtwitz, kooptiert im Juso-Bundesvorstand und Julian Zado, stellvertretender Juso- Bundesvorsitzender Rekommunalisierung – Ist die Privatisierungswelle gebrochen? ......................... 19 von Ralf Höschele, stellvertretender Kreisvorsitzender der SPD FriedrichshainKreuzberg

Schwerpunkt Die Junge Generation – Kanonenfutter für den entfesselten Markt? ................ 23 von Eric Leiderer, Bundesjugendsekretär der IG Metall Perspektiven durch Ausbildung ............................................................................ 28 von Benjamin Krautschat, Politischer Referent beim Deutschen Gewerkschaftsbund

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Inhalt Argumente 4/2012


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Inklusion statt Selektion: Paradigmenwechsel im Bildungssystem ist überfällig 33 von Kerstin Rothe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der HU Berlin und Martin Timpe, bis Dezember 2012 Referent für Bildungs- und Wissenschaftspolitik beim SPD Parteivorstand Berufliche Weiterbildung in Deutschland – Die Wichtigkeit wird erkannt, aber nicht viel getan! ........................................... 38 von Dr. Roman Jaich, Referent bei weiter bilden (Initiative für berufsbegleitende Bildung) Partizipation als Verteilungsfrage – Warum Beteiligung mehr ist als ein Jugendparlament ........................................ 43 von Kevin Kühnert, Vorsitzender der Jusos Berlin Nicht alle Hipster – Jugendkulturen heute .......................................................... 48 von Gabriele Rohmann, Mitbegründerin des Archiv der Jugendkulturen e. V. in Berlin, Projektleiterin von „New Faces“ und „Culture on the Road“ Schön wahnsinnig .................................................................................................. 52 von Alena Thiem und Yvonne Franck, Gründerinnen von AnyBody Deutschland

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INTRO: JUGEND UND BILDUNG von Katharina Oerder,Matthias Ecke und Jan Schwarz, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende und Mitglieder der Redaktion

Die Jugend von heute heißt es oft, sei politikfern, spaßorientiert, parteienverdrossen oder Ich-zentriert. Schimpf und Schande über die junge Generation auszuschütten ist keine neue Entwicklung. Schon Sokrates, Aristotels und Platon haben nichts von ihren Nachfolgegenerationen gehalten. „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen" hieß es beispielsweise bei Aristoteles. Die Jugend ist klassischerweise die Zeit des Aufbegehrens, des Ander-sein-wollens und der Rebellion gegen erwartbares und erwartetes – sei es von der Familie oder der Gesellschaft. Als sozialistischer Jugendverband wollen wir dieses Potenzial fördern. Denn nur, wer etabliertes in Frage stellt, kann neue Zeiten schaffen. Eine andere Welt ist möglich. Dabei sind junge Menschen genauso vielfältig wie die Kritik an ihnen. Einige Jugendliche wachsen in wohlhabenden Verhältnissen auf und müssen sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen, andere junge Menschen haben schon früh das Ge-

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fühl abgehängt und ausgeschlossen zu sein – sie entwickeln kaum noch eine Vorstellung, wie eine gute Gesellschaft aussieht. Aber auch jenseits der sozialen Unterschiede ist die Lebenswelt von jungen Mennschen vielfältiger geworden. Vielfalt ist für uns kein Makel, sondern Wert. Gerade für junge Frauen haben sich in den letzten Jahren viele neue Freiheiten ergeben, das Leben selbstbestimmt zu gestalten. Frauen wollen sich nicht mehr entscheiden, ob Kind oder Karriere. Beide Lebensentwürfe müssen gleichzeitig möglich sein. Aber auch für andere Gruppen, etwa Menschen mit Migrationshintergrund oder aber Menschen mit Behinderung sowie diejenigen, die keine heterosexuelle Paarbeziehung leben, sind die Möglichkeiten der individuellen Lebensentwicklung und -gestaltung deutlich besser geworden. Dennoch stellen sie sich weiterhin schlechter als die der Mehrheitsgesellschaft dar. Das darf nicht so bleiben: wir wollen, dass kein junger Mensch mehr diskriminiert wird. So unterschiedlich die Lebensentwürfe und -bedingungen junger Menschen, so unterschiedlich sind auch die Themen, die für sie relevant sind. Jugendpolitik bedeutet


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deshalb für uns, verschiedenste Politikfelder in den Blick zu nehmen und auf die besonderen Herausforderungen für Jugendliche zu betrachten. Es ist klar, dass Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik genauso dazu gehören wie Bildung, Integration und Freizeitgestaltung. Auf Initiative der Jusos hin hat Mitte dieses Jahres auch die SPD ein jugendpolitisches Papier auf ihrem Parteikonvent diskutiert und beschlossen. Erstmals wird dort Jugendpolitik als eigenständiges Politikfeld behandelt und gleichzeitig verschiedenste Aspekte von Integration bis Infrastruktur berücksichtigt. Wir wollen Perspektiven für junge Menschen schaffen. Einer der wichtigsten Bausteine junger Menschen ist ihre Ausbildung und damit einhergehend ihre Möglichkeiten, auf dem Arbeitsmarkt zu partizipieren. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern hat die weltweite Finanzkrise die Situation für Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt nicht weiter verschlimmert; dennoch ist ihre Lage alles andere als rosig. Jugendlich werden oft in Überbrückungsmaßnahmen geparkt. Gerade junge Menschen leiden besonders unter prekärer Beschäftigung, Niedriglohn und Leih- und Zeitarbeit. Auch unfreiwillige Teilzeit, befristete Arbeitsverträge oder unbezahlte Praktika nach einer berufsbefähigenden Ausbildung sind heutzutage fast die Regel statt die Ausnahme für junge BerufseinsteigerInnen. Wir wollen jungen Menschen jedoch Sicherheit verschaffen. Die Sicherheit, ein gutes Leben führen und auch eine Familie gründen zu können. Dies kann nur mit einer klaren Perspektive, nicht nur für die

nächsten sechs Monate, sondern auch für die nächsten sechs Jahre, gelingen. Die wichtigste Voraussetzung für diese Möglichkeit ist eine gute Bildung und Ausbildung junger Menschen. Dies sehen wir Jusos als zentrales Element an. Die integrierte Gesamtschule muss das Modell der Zukunft sein – nur so kann gute Bildung für alle jungen Menschen garantiert werden. Wir Jusos sprechen uns klar für eine gemeinsame Schule für alle Kinder, starke und schwache, sowie Kinder mit Behinderung aus. Gute Bildung bedeutet für uns auch: gute Ausbildung. Kein Jugendlicher darf auf diesem Weg zurück gelassen werden. Eine Ausbildungsplatzgarantie muss dies sicherstellen. Immer wieder muss auch die Qualität der Ausbildung diskutiert werden. Zu viele Jugendliche berichten über zahlreiche Überstunden und ausbildungsfremde Leistungen, die erbracht werden müssen. Zu dem vielfach propagierten „Lebenslangen Lernen“ gehört auch die Möglichkeit, sich weiterbilden zu können. Weiterbildungsmöglichkeiten für Jugendliche müssen dafür deutlich besser koordiniert und weiterentwickelt werden. Wir wollen Jugendlichen Raum geben. Denn Selbstentfaltung braucht Platz. Sowohl im übertragenen, als auch im ganz wörtlichen Sinne. Angebote zur Freizeitgestaltung, Mobilität und Zugang zum Internet gehören dabei zur öffentlichen Daseinsvorsorge dazu. Schulen und Jugendzentren müssen zu solchen Räumen ausgebaut werden. Räume müssen erreichbar sein. Öffentlicher Personennahverkehr spielt gerade für Jugendliche dabei eine wichtige Rolle. Entsprechende Angebote dürfen nicht immer weiter eingeschränkt werden.

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Wir wollen Mitbestimmung ermöglichen. Entgegen aller Unkenrufe: Jugendliche wollen ihre Umgebung, ihren Arbeitsplatz, die Gesellschaft mitbestimmen und gestalten können. Dieses Potenzial muss genutzt und gefördert werden. Mitbestimmung geschieht immer dort, wo Menschen ihren Lebensraum haben. Sei es in der Schule, im Ausbildungsbetrieb, der Hochschule oder in der Stadt oder Gemeinde. Darüber hinaus betätigen sich viele Jugendliche ehrenamtlich. Dazu gehört das Engagement in Sportvereinen oder der Schule, in Kirche, Gewerkschaften oder politischen Parteien. Dieses vielfältige, ehrenamtliche Engagement von Jugendlichen muss berücksichtigt und wertgeschätzt werden. Auch dieses braucht Raum zur Entfaltung. Dieser Ansatz einer ganzheitlichen Perspektive bei gleichzeitiger Berücksichtigung verschiedenster Facetten einer sozialistischen Jugendpolitik stehen im Mittelpunkt dieses Argumente-Heftes.

Zu den einzelnen Beiträgen Eric Leiderer, Bundesjugendsekretär der IG Metall beschreibt in seinem Beitrag „Eine Generation in der Krise“ die prekäre Situation junger Beschäftigter auf dem Arbeitsmarkt. Die IG Metall Jugendstudie von 2012 legt offen: ein Drittel der unter 35-Jährigen arbeitet befristet, in Leiharbeit oder in einer ABM-Maßnahme. Gerade junge Menschen sind also von der Wirtschafts- und Finanzkrise besonders betroffen. Leiderer beschreibt die Problematiken und zeigt gewerkschaftliche Lösungen für eine solidarische Unterstützung der Jugend auf.

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Dass es nicht nur an Ausbildungsplätzen mangelt, sondern dass auch die Qualität der Ausbildung oft schlecht ist, ist die These des Beitrags von Benjamin Krautschat. Er fordert deshalb zunächst einmal etwas Selbstverständliches: Die Einhaltung der bestehenden Gesetze zum Schutz junger Auszubildender. Auch eine Ausbildungsplatzgarantie und bessere Berufsschulen gehören zu den Forderungen Krautschats, der als politischer Referent beim DGB arbeitet. Kerstin Rothe und Martin Timpe diskutieren in ihrem Artikel zu „Inklusion statt Selektion: Paradigmenwechsel im Bildungssystem ist überfällig“ das deutsche Bildungssystem. Die gesellschaftliche und politische Linke solle in der öffentlichen Debatte den gesellschaftlichen Diskurs über Bildung wieder stärker für sich gewinnen und die Deutungshoheit über Bildungspolitik zurück erobern. Kein Kind darf zurück gelassen werden ist ihr Plädoyer. Die Autoren sprechen sich klar für eine Grundgesetzänderung aus, damit der Bund wieder stärker die wichtigsten Belange der Bildungsrepublik Deutschland koordinieren kann. Gleichzeitig beschreiben sie auch Lösungsansätze, bei denen der Bund bereits heute, ohne eine Grundgesetzänderung wichtige Schritte in ein inklusiveres und gerechteres Schulsystem einsteigen kann. Im Beitrag „Berufliche Weiterbildung in Deutschland – Die Wichtigkeit wird erkannt aber nicht viel getan!“ von Roman Jaich, Referent bei weiter bilden, steht der Reformbedarf bei der Weiterbildung im Fokus. Jaich erläutert die aktuelle Situation der Beruflichen Weiterbildung und analysiert die wesentlichen Förderinstrumente.


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Anschließend plädiert er dafür, statt vereinzelter Maßnahmen auf Bundes- und Länderebene der unterschiedlichen Ministerien auf bundeseinheitliche Regelungen zur Förderung der Weiterbildung zu setzen. Erforderlich sind aus Jaichs Sicht aber auch Veränderungen auf der betrieblichen Ebene. Um die spezifischen Bedingungen einzelner Branchen für die betriebliche Weiterbildung ausreichend berücksichtigen zu können, ist es notwendig, dass die Tarifpartner das Thema Weiterbildung aufgreifen. Im nächsten Beitrag „Partizipation als Verteilungsfrage“ hält Juso-Landesvorsitzender von Berlin, Kevin Kühnert ein Plädoyer dafür, die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen größer zu denken, als in Kinder- und Jugendparlamenten. Alle Erfahrungen aus anderen Ländern zeigte eine deutliche Verteilungsschiefe der Beteiligung an solchen Instrumenten zu Lasten der sozial Schwächeren. Nur wer um die Bedeutung und Wirkung dieser demokratischen Strukturen weiß, kann und wird sich dort bemühen, die eigenen Interessen durchzusetzen. Kühnert setzt sich für eine Erweiterung der Kinder- und Jugendpartizipation ein und empfiehlt, alle Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen, sie besser zu beteiligen und ihnen Partizipationsmöglichkeiten zu bieten. Gabriele Rohmann vom Archiv der Jugendkulturen in Berlin befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Phänomen der Jugendkulturen, denn Jugendliche bringen ihre Vorlieben für Musik, Kleidung und Freizeitverhalten, aber auch ihre politische Haltung sehr unterschiedlich zum Ausdruck. Am Anfang steht ein kurzer Aufriss

über die Entwicklung von verschiedenen Jugendkulturen. Diese sind nicht erst mit der Erfindung des Punk entstanden – bereits Anfang des letzten Jahrhunderts gab es erste Szenen. Die Autorin macht deutlich, dass Jugendkulturen auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht homogen zu betrachten sind. Besonders die rechte Szene hat immer wieder versucht, einzelne Jugendkulturen für sich zu vereinnahmen. Aus dieser Erkenntnis heraus schlägt Gabriele Rohmann den Bogen zu den Potentialen politischer Bildung und stellt zwei konkrete Projekte vor. Alena Thiem und Yvonne Franck von der Initiative „AnyBody Deutschland“ beschäftigen sich in ihrem Beitrag „Schön wahnsinnig“ mit den Auswirkungen von Schönheitsidealen auf junge Frauen. Für die Autorinnen waren Schönheitsideale noch nie so einseitig und so omnipräsent wie heute. Abertausende digital bearbeitete Bilder sprächen täglich zu uns, und das in einer viel mehr unterbewussten und mächtigeren Sprache, als es ein gesprochenes oder geschriebenes Wort vermag. Darum ist für Thiem und Franck der Begriff „Schönheitswahn“ eine vollkommen berechtigte Bezeichnung für den aktuellen Zustand. AnyBody Deutschland widmet sich deshalb der Aufgabe, neue Vorbilder zu schaffen für die Heranwachsenden, für die bislang Heidi Klums „arbeitet-aneuch-dann-könnt-ihr-es-schaffen“-Topmodels das Maß aller Dinge sind. ● Wir möchten auf einen Druckfehler im letzten „Argumente“ aufmerksam machen. Im Artikel „Sozialpolitik und Wirtschaft“ von Dr. Florian Blank ist auf Seite 36 der zweite Absatz eingefügt worden, obwohl dieser nicht vom Autoren stammt. Auf unserer Homepage ist eine korrigierte Version der Argumente zu finden.

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ENTSCHEIDUNGSJAHR 2013: AUCH FÜR ISRAEL UND PALÄSTINA von Bettina Schulze, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Christoph Dinkelaker, Projektkoordinator WBC Jerusalem, Jan Lichtwitz, kooptiert im Juso-Bundesvorstand und Tobias Pietsch, ehem. Praktikant im WBC Jerusalem

Magazin

2013 werden wir Jusos in Deutschland für die Abwahl der Schwarz-Gelben Mehrheit kämpfen. Nach der letzten dramatischen Wahlniederlage der SPD im Jahr 2009 haben wir es uns als Jusos zur Aufgabe gemacht, die SPD inhaltlich und organisatorisch zu erneuern. Ein großes Stück sind wir dabei vorangekommen. Jetzt ist es unser Ziel, möglichst viele konkrete JusoForderungen im Wahlprogramm der SPD zu verankern. Doch nicht nur für uns ist 2013 ein entscheidendes Jahr. Auch für unsere Partnerorganisationen (Labour Youth, Fatah Youth, Young Meretz) in Israel und Palästina, die wie wir für eine progressive Politik innerhalb ihrer Organisationen und ihrer jeweiligen Gesellschaften eintreten. Der Ausgang der Wahlen in Israel im Januar

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2013 wird dabei von entscheidender Bedeutung für den weiteren Fortgang des Konflikts und die zukünftige Arbeit im Willy-Brandt Center sein. Nicht nur für die SPD, auch für unsere Partnerorganisationen waren die letzten Wahlen durch dramatische Ergebnisse geprägt. Die Meretz Partei ist mit 3 Sitzen derzeit kaum noch im Parlament vertreten. Die traditionelle Arbeitspartei (Avoda) fuhr das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Nachdem Ehud Barak die Avoda 2011 verlassen hat, war jedoch der Weg für eine inhaltliche und personelle Neuaufstellung der Partei frei. Diese Möglichkeit hat die Avoda genutzt. Die neue Parteivorsitzende Shelly Yachimovisch setzt im Wahlkampf auf das Thema soziale Gerechtigkeit. Eine Frage, die in Israel durch die eindrucksvollen Proteste im

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Sommer 2011 endlich an die Oberfläche gedrungen ist. Es wird für unsere Partnerorganisationen eine große Herausforderung sein, das Potential dieser sozialen Protestbewegung in Stimmen für linke Mehrheiten in Israel umzuwandeln. Es ist Zeit, die rechte Regierung in Israel abzulösen. Unsere PartnerInnen werden dringend gebraucht. Nicht nur für mehr soziale Gerechtigkeit innerhalb der israelischen Gesellschaft, sondern auch für eine neue Chance in dem seit Jahren stockenden Friedensprozess im Nahen Osten. Wir wünschen unseren PartnerInnen dabei viel Erfolg!

Die Kommunalwahl in Palästina: Testlauf für die Parlamentswahlen Im Oktober 2012 fanden erstmals seit sieben Jahren in Teilen der Palästinensischen Gebiete Kommunalwahlen statt. Zuletzt war es PalästinenserInnen bei den Parlamentswahlen 2006 möglich gewesen, durch einen Urnengang am politischen Prozess zu partizipieren. Der damalige Wahlsieg der Hamas, die anschließende Nicht-Anerkennung der Regierung seitens großer Teile der internationalen Gemeinschaft sowie der eskalierende Machtkampf zwischen der Hamas und der Fatah hatten in der Folgezeit demokratische Prozesse maßgeblich beeinträchtigt und die politische Fragmentierung der Besetzten Gebiete verstärkt. Die Zweiteilung der Palästinensischen Gebiete mit konkurrierenden Machtzentren in Ramallah und Gaza-Stadt führte im Vorfeld der Wahlen dazu, dass die Hamas den Urnengang im Gaza-Streifen un-

tersagte. Mit der Begründung, die Fatahdominierte Autonomiebehörde unterbinde freie politische Meinungsäußerung in ihrem Einflussgebiet, rief die islamistische Partei zudem ihre Anhänger im Westjordanland zum Boykott auf. Dementsprechend konnte von umfassenden Wahlen kaum die Rede sein. Mit der Fatah konkurrierten lediglich wenig einflussreiche, mehrheitlich säkulare Splitterparteien. Angesichts dieser Vorzeichen kann die Wahlbeteiligung von 55 % durchaus positiv bewertet werden. Zudem verliefen die Wahlen – in ihrem begrenzten Rahmen – fair und transparent und dürfen als wichtiges Zeichen gewertet werden, dass die Autonomiebehörde das Recht der BürgerInnen auf Mitbestimmung respektiert. Unsere PartnerInnen der Fatah schienen ohne ernsthafte Konkurrenz ins Rennen zu gehen und sie gewannen letztlich die Wahlen. Trotzdem gelang es ihren offiziellen Listen überraschend häufig nicht, die Lokalräte zu dominieren: Ähnlich wie bei den Parlamentswahlen kandidierten Fatah-KandidatInnen aus Unmut über die autoritäre Listenaufstellungen der Parteiführung auf „unabhängigen“ Listen, weshalb sie vielfach von der Partei ausgeschlossen wurden. Sowohl die „Unabhängigen“ als auch kleinere Parteien wie das „Sozialistische Internationale“(SI)-Mitglied al Mubadara oder die Linksaußenpartei PFLP fügten der Fatah einige schmerzhafte Niederlagen zu, unter anderem in den wichtigen Städten Ramallah, Nablus und Jenin. Die Gründe dafür sind vielfältig: Weder konnte die Fatah bei der KandidatInnenauswahl überzeugen, noch gelang es, innovative inhaltliche Akzente zu setzen.

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Zudem wird das Beharren auf den OsloFriedensprozess angesichts weniger Fortschritte in der palästinensischen Gesellschaft zunehmend als Schwäche ausgelegt. Nicht zuletzt versäumte es die Fatah vielfach, jungen AktivistInnen die Möglichkeit politischer Gestaltung auf der kommunalen Ebene zu geben. Dementsprechend zeigten sich unsere PartnerInnen von Shabeebeh Fatah einerseits erfreut über die erfolgreiche Durchführung der Wahlen – auch als geglückter Testlauf für Parlamentswahlen. Andererseits äußerten sie sich enttäuscht darüber, dass die alte Garde der jungen Generation weiterhin nur begrenzte politische Einflussnahme gewährt.

Der Palästinensische Einigungsprozess: Demokratische Wahlen als Ziel Auch nach der Durchführung der Kommunalwahlen bleibt der Fokus auf dem innerpalästinensischen Einigungsprozess, der als Ergebnis die Durchführung demokratischer Wahlen des palästinensischen Präsidenten und des Parlamentes (Legislativrat) vorsieht. Bereits über fünf Jahre ist es her, dass die Hamas nach dem Scheitern einer Einheitsregierung im Juni 2007 gewaltsam die Kontrolle über den Gaza-Streifen ergriffen hat. Der innerpalästinensische Konflikt und die Spaltung zwischen dem Hamasregierten Gaza-Streifen und dem Westjordanland haben gesamtpalästinensische Wahlen in den vergangenen Jahren verhindert. Bereits seit Anfang 2009 ist die offizielle Amtszeit des Präsidenten und seit Anfang 2010 die des Parlaments ausgelaufen.

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Im Mai 2011 wurde unter der Vermittlung Ägyptens schließlich ein Einigungsabkommen zwischen Fatah und Hamas unterzeichnet, das innerhalb eines Jahres die Bildung einer unabhängigen Technokratenregierung, sowie die Vorbereitung demokratischer Wahlen vorsah. Bisher ist jedoch keine der Vereinbarungen umgesetzt worden. Nicht zuletzt die Spannungen um die Kommunalwahlen und der Boykott derselben durch die Hamas zeigen, dass der Prozess ins Stocken geraten ist. Die Unterstützung des Fatah-initiierten palästinensischen Gangs vor die Vereinten Nationen im November 2012 durch die Hamas schürt zaghafte Hoffnungen auf eine Überwindung der Kluft. Jetzt gilt es, die begonnene Aussöhnung fortzusetzen. Demokratische Wahlen sind von allen Seiten einzufordern. Nur so ist eine demokratische Entwicklung Palästinas möglich. Und so eröffnet sich ein gestärktes Verhandlungsmandat, um verbindliche Vereinbarungen mit der israelischen Regierung treffen zu können.

Knesset-Wahlen in Israel: Weichenstellung für den Friedensprozess Unsere israelischen PartnerInnen von Young Labor und Young Meretz hatten sich auf Knesset-Wahlen im Herbst 2013 vorbereitet. Doch nach anhaltendem Streit innerhalb der israelischen Rechtsregierung kündigte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Oktober Neuwahlen für den 22. Januar an. Premierminister Netanyahu geht als großer Favorit ins Rennen, die Bildung einer rechtsgerichteten, den Friedensprozess verzögernden Koalition ist wahrscheinlich.

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Die Rechte setzt auf sicherheitspolitische Themen, die sich auf Israels Bedrohung von außen fokussieren. Zumindest spielen in der Zwischenzeit aber sozialpolitische Themen im Vergleich zu den letzten, vom Gaza-Krieg 2008/09 geprägten Wahlen eine gewichtigere Rolle. Das traditionelle Links-Rechts-Verständnis in Israel, das bislang fast ausschließlich über die Positionierung im Nahostkonflikt definiert wird, erfährt somit eine allmähliche Umdeutung.

Labor: Annäherung an die Protestbewegung Insbesondere unseren PartnerInnen der israelischen Arbeitspartei ist es gelungen, mit linken Themen deutlich an Popularität zuzulegen. Mit der Parteivorsitzenden Shelly Yachimovich stellt sich Labor nach der Erneuerung der letzten Jahre mit Themen der sozialen Gerechtigkeit auf. Hier gibt es in Israel nicht erst seit den Sozialprotesten 2011 Handlungsbedarf. Während der Konflikt und sicherheitspolitische Fragen über Jahrzehnte die politische Debatte bestimmt haben, wurde das Land innenpolitisch einer neoliberalen Deregulierungs- und Kürzungspolitik unterworfen. In der Folge ist Israel heute das Land mit der höchsten Armutsrate innerhalb der OECD-Staaten. Diese steigende Ungerechtigkeit führte im Sommer des vergangenen Jahres zu den größten Sozialprotesten in der Geschichte des Landes. Zeitweise waren 700.000 Demonstrantinnen und Demonstranten auf der Straße, um gegen hohe Preise für Lebensmittel und Wohnraum, sowie für soziale Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit zu demonstrieren.

Hier knüpft die Arbeitspartei an, wenn sie auch im Wahlkampf auf Themen der sozialen Gerechtigkeit setzt. Doch nicht nur inhaltlich versucht die Partei Themen des Protests auf die politische Tagesordnung zu setzen. Auch personell entwickelt sich das Verhältnis zwischen Protestbewegung und Avoda. Während die OrganisatorInnen der Sozialproteste sich zunächst als „nicht politisch“ bezeichneten und damit vor allem ihre Abgrenzung zu politischen Parteien zum Ausdruck bringen wollten, haben sich mit Stav Shafir und Itzik Shmuli gleich zwei Leitfiguren der Proteste für eine Knesset-Kandidatur auf der Labor-Liste entschieden. Neben Shafir und Shmuli wird mit der Vorsitzenden von unserem Partner Young Labor, Michal Biran, einer weiteren jungen Politikerin gute Chancen auf den Einzug in die Knesset eingeräumt. Somit bleibt zu hoffen, dass sich die Mobilisierungsfähigkeit der israelischen Linken, die die Proteste unter Beweis gestellt haben, am 22. Januar in politischen Mehrheiten widerspiegeln wird.

Meretz: Friedenspolitisches Sprachrohr Neben der klaren innenpolitischen Ausrichtung der Avoda versucht Meretz, unsere zweite Partnerorganisation in Israel, eine linke Deutungshoheit in der Frage des Friedensprozesses zu erlangen. Bereits vor der Ankündigung der vorgezogenen Neuwahlen stellte die Parteivorsitzende Zahava Gal-On einen ambitionierten Friedensplan vor. Der Friedensplan, der den Oslo-Prozess ablösen soll, sieht vor, dass es einen sofortigen Siedlungsstopp und direkte Verhandlungen mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung binnen eines Jahres gibt. Darüber hinaus fordert Meretz offen-

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siv die volle Anerkennung des palästinensischen Staates. Dabei führt die Partei den Diskurs nicht nur innerhalb der israelischen Gesellschaft, sondern bemüht sich offensiv um politische Partnerschaften auf der palästinensischen Seite. Nach Umfragen scheint Meretz das Ergebnis von den Wahlen im Jahr 2009 etwa zu verdoppeln. Angesichts des schwachen Ergebnisses bei den damaligen Wahlen bleibt auf eine deutlich stärkere Steigerung zu hoffen, um gemeinsam mit der Arbeitspartei neben der Umsetzung sozialer Gerechtigkeit in Israel auch eine starke dialog- und friedenspolitische Agenda parlamentarisch zu verankern.

Die israelische Rechte Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gab es Ende Oktober eine Überraschung, die nach wie vor geteilte Reaktionen hervorruft. Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigor Lieberman kündigten an, mit ihren beiden Parteien, Likud und Yisrael Beitenu, auf einer gemeinsamen Wahlliste antreten zu wollen. Auf der einen Seite löste diese Nachricht Befürchtungen vor einem noch stärkeren rechten Block aus. Auf der anderen Seite wird prognostiziert, dass durch den Zusammenschluss WählerInnenpotential verloren geht, was aktuelle Umfragen auch bestätigen. Kamen Likud und Yisrael Beitenu bei den Wahlen 2009 zusammen noch auf 42 Sitze, sind es aktuell nur noch 39, was die Befürchtung eines neuen übermächtigen Lagers nicht bestätigen kann. Dennoch bleibt das orthodoxe und nationale rechte Lager stabil. Insbesondere

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der orthodoxen Shas-Partei ist es gelungen, ihre WählerInnenschaft zu festigen und es besteht weiter Potential, die Anzahl der aktuell elf Sitze zu erhöhen. Denn der Shas gelingt, was vielen anderen Parteien zunehmend schwer fällt: sie kann erfolgreich ihr Klientel der religiösen, arabischstämmigen Mizrachi-Juden ansprechen und an die Partei binden. Shas positioniert sich als die Partei der wirtschaftlich und sozial benachteiligten Mizrachim, der orientalisch-stämmigen Juden, in der Peripherie im Norden und Süden des Landes. Innenminister Eli Jischai ist das einflussreiche Sprachrohr der Partei, die askenasische Eliten für die schlechte Situation der 25 Prozent Mizrachim verantwortlich macht und die ihre Klientel auch in Siedlungen mit Bildungs- und Sozialprogrammen bedient. Während sich das rechte Lager festigt und in den Umfragen stabil bleibt, gibt es vor allem in der Mitte eine hohe Dynamik. Das israelische Parteienspektrum ist bekannt für seine schnellen Wandlungen, neue Parteien, die aus dem Nichts erscheinen und auf einen Schlag zweistellige Ergebnisse vorausgesagt bekommen, genauso wie für schnelle Abstürze in die Bedeutungslosigkeit. Gründe dafür sind die traditionell schwach ausgeprägten WählerInnenbindungen an Parteien, sowie die niedrige 2,5-Prozent-Hürde, die auch kleinen Parteien den Einzug ins Parlament ermöglicht, wo diese nicht selten als KönigsmacherInnen über das Schicksal von Regierungskoalitionen entscheiden. Größter Verlierer scheint aktuell die Kadima, die bei den letzten Wahlen 2009 mit 28 Sitzen stärkste Kraft wurde. Nach der Niederlage Tzipi Livinis als Parteivor-

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sitzende und dem kurzzeitigem Beitritt zur Regierungskoalition unter dem neuen Vorsitzenden Shaul Mofaz, hat die Partei dramatisch an Zustimmung verloren. Aktuell würde sie nur noch zwei Sitze bekommen, jedoch ist nicht einmal sicher, ob die 2,5Prozent-Hürde überwunden werden kann. Damit dürften auch alle Hoffnungen auf Kadima als neue Partei der Mitte, die den Friedensprozess voranbringen will, zunichte gemacht worden sein. Ein großer Teil der Stimmen von Kadima ist zu den drei neuen Partein im MitteLinks-Spektrum abgewandert. Bereits im Januar 2012 gründete TV-Star Yair Lapid die Partei Yesh Atid (Es gibt eine Zukunft) die für viel Aufmerksamkeit sorgte und zunächst beeindruckende Umfrageergebnisse erzielte. Aktuell käme die Partei auf 8 Sitze, wobei die Inhalte weiterhin sehr unkonkret bleiben und vor allem die Popularität Lapids eine große Rolle spielt. Weit unten in den Umfragen steht Ehud Baraks neue Partei Ha Atzma’ut (Unabhängigkeit), die er nach dem Ausscheiden aus der Arbeitspartei gegründet hat. Nachdem Barak Ende November 2012 seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hat, bleibt offen, wie es mit der Partei weitergehen wird und ob sie den Einzug in die Knesset schafft. Zeitgleich mit Baraks Rückzug hat sich eine weitere neue Partei um die ehemalige Außenministerin und Oppositionsführerin Tzipi Livni gegründet. Aktuell käme die Ha Tnuah (Die Bewegung) auf sieben Sitze mit Stimmen, die vor allem von Kadima abwandern, ebenso wie vier Abgeordnete, die ihren Wechsel zu Livni bereits vollzogen haben, weitere könnten folgen. Livni

kündigt an, mit ihrer neuen Partei den Kampf für den Frieden fortsetzen zu wollen. Kritiker merken jedoch an, dass dieser Kampf mit nur sieben Sitzen noch aussichtsloser ist als zu Zeiten, in denen die Partei stärkste Kraft im Parlament war und dem Frieden keinen Schritt näher kam.

Welche Chancen birgt 2013? Die aktuellen Entwicklungen machen vor allem eines deutlich: während das rechte politische Lager stabil bleibt, sind es vor allem die Dynamiken im Mitte-LinksSpektrum, die für den Wahlausgang entscheidend sein könnten. Zwar wird es die Arbeitspartei wahrscheinlich schaffen, ihr Ergebnis deutlich zu verbessern, dennoch verteilen sich die Stimmen des linken Lagers auch auf viele kleinere Parteien, was sich wohl für die Linke insgesamt nachteilig auswirken wird. Ob es den linken Parteien gelingt, das Potential der Sozialproteste in Stimmen für ihre Parteien umzuwandeln, ist völlig offen. Auch welche Rolle Themen wie Soziale Gerechtigkeit in Zukunft spielen werden und ob diese Fragen es schaffen, neben dem Konflikt einen wichtigen Platz in der Wahlentscheidung einzunehmen, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch klar, der Friedensprozess im Nahen Osten kann nur mit einer starken Linken voran gehen. 2013 besteht eine kleine Chance – aber immerhin eine Chance – auf einen Politikwechsel im Nahen Osten. ●

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DER STAAT DER KLASSENGESELLSCHAFT von Jan Lichtwitz, kooptiert im Juso-Bundesvorstand und Julian Zado, stellvertretender Juso- Bundesvorsitzender

Wolfgang Abendroth war der führende marxistisch-orientierte Rechtswissenschaftler der Nachkriegszeit. Zu Unrecht wurde er in den letzten Jahren immer weniger rezipiert und diskutiert. Dabei waren seine Schriften über den Staat, die Gesellschaft und die Demokratie ein fortschrittlicher Lichtblick in der Masse der konservativen bis reaktionären „herrschenden Meinung“ unter den StaatsrechtslehrerInnen in der Bundesrepublik. Der Band „Der Staat der Klassengesellschaft“, herausgegeben u.a. vom ehemaligen Mitglied im Juso-Bundesvorstand Thilo Scholle, zeichnet das Wirken Abendroths nach. Er hat sich zum Ziel gesetzt, Abendroths Bedeutung für die Staatsrechtswissenschaft hervorzuheben. Erschienen ist der Band in der von Prof. Dr. Rüdiger Vogt herausgegebenen Reihe „Staatsverständnisse“, in der im Nomos Verlag in unregelmäßigen Abständen Bände über verschiedene Interpretationen von Staatlichkeit veröffentlicht werden. Die Reihe beschreibt insbesondere den Wandel

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Der Staat der Klassengesellschaft Argumente 4/2012

des Staatsverständnisses in den letzten Jahrzehnten. Der vorliegende Band setzt sich mit dem Wirken Abendroths auseinander. Er wurde herausgegeben von Andreas Fischer-Lescano, Jura-Professor an der Universität Bremen, Joachim Perels, emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Leibniz Universität Hannover und Thilo Scholle, Referent in der Landesvertretung NRW beim Bund und ehemaliges Mitglied im Bundesvorstand der Jusos. Dass sich überhaupt ein aktuelles Buch so ausführlich mit dem Denken und Wirken Abendroths beschäftigt, ist zunächst ein großer Verdienst der Herausgeber. Denn seine Arbeit ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Diese fehlende Auseinandersetzung mit Abendroth begann freilich schon direkt nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, als sich die Rechtswissenschaften in der Bundesrepublik neu etablierten. Abendroth akzeptierte im Gegensatz zu anderen linken StaatstheoretikerInnen die Methodik und die Begriffe der „herrschenden Meinung“ in der Staatsrechtswissenschaft und stellte sich zugleich


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der Auseinandersetzung um dieselbe. Viele linke Theoretikerinnen und Theoretiker lehnten die dominierende Interpretation des Staates und der Verfassung ab, weil diese schon prinzipiell alles als „kommunistisches Hexenwerk“ verteufelte, was nicht auf eine Etablierung der kapitalistischen Gesellschaft hinaus lief. Abendroth lehnte diese zutiefst unwissenschaftliche Argumentation ebenfalls ab, setzte sich aber dennoch mit ihr im wissenschaftlichen Diskurs auseinander. Dabei sah er die Rechtsordnung des Grundgesetzes in einem Spannungsverhältnis als Mittel zur Stabilisierung kapitalistischer Gesellschaft auf der einen Seite und Instrument für Transformation auf der anderen Seite. Während er sich also mit der „Gegenposition“ akribisch auseinander setzte und dabei ihre Schwächen schonungslos aufdeckte, ignorierte ihn diese schlichtweg. Bis heute kommt Abendroth in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung quasi nicht vor. Der Band beschränkt sich dabei nicht auf eine rückblickende Anerkennung der Person und seines Wirkens, sondernbereichert aktuelle Debatten durch die Zusammenführung mit Abendroths Verfassungs-, Rechts- und Demokratieverständnis.

Abendroth und die Sozialdemokratie In einer anderen „Arena“ mangelte es Abendroth dagegen nicht an Konfrontation und Kritik: Das Verhältnis von Abendroth und der Sozialdemokratie war wechselhaft, aber stets angespannt. Diesen Aspekt Abendroths Lebens arbeitet Gregor Kritidis spannend und prägnant heraus. In Folge seines Widerstands gegen die nationalsozialistische Diktatur musste Abendroth mehrere Jahre im Zuchthaus

verbringen, bevor er 1943 einem Strafbataillon auf Lemnos zugeteilt wurde. Hierauf folge die britische Kriegsgefangenschaft. Noch dort trat er in die SPD ein – offenbar, weil er die Zersplitterung der Arbeiterbewegung überwinden wollte. 1948 bewertete er den gefundenen Verfassungskompromiss als positiv und sah ein großes emanzipatorisches Potential innerhalb dieses Systems. In den folgenden Jahren arbeitete er in der SPD als intellektueller Politiker. Er hatte zwar keine (gewählten) Parteifunktionen inne, aber wirkte in verschiedenen Zeitschriften und den wesentlichen theoretischen Diskursen mit. Dabei distanzierte er sich häufig von der Partei, weil er, anders als die SPD-Führung, die Westintegration und die Wiederbewaffnung ablehnte. Später verschärfte er seine Kritik am sozialdemokratischen Programmdiskurs. Dies fand seinen Höhepunkt in einem Gegenentwurf zum Godesberger Grundsatzprogramm, den Abendroth auf Drängen der Hessischen Jusos anfertigte. Die Auseinandersetzung führte schließlich 1961 zum Ausschluss aus und Bruch mit der Sozialdemokratischen Partei. Zeit seines Lebens fand Abendroth, der sich insbesondere mit der Studierenden- und Gewerkschaftsbewegung identifizierte, keine neue parteipolitische Heimat, da auch die stalinistische KPD keine Alternative für ihn darstellte.

Verhältnis zum Realsozialismus Nicht frei von Brüchen war auch Abendroths Verhältnis zum „realen Sozialismus“, das Uli Schöler kritisch herausarbeitet und damit zugleich einen Ausblick auf sein

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kürzlich erschienenes Buch zu diesem Thema gibt.1 Bereits 14-jährig schloss sich Abendroth der kommunistischen Jugend an und war stark von den Eindrücken der russischen Oktoberrevolution geprägt. In den fünfziger Jahren grenzte er sich zunehmend von realsozialistischen Staaten ab, die seiner Einschätzung nach mit „der demokratisch-sozialistischen Bewegung (…) nichts zu tun“ (S. 42) hatten. In dieser Zeit betrachtete er die DDR als „totalitäres System“ ohne Legitimation, obgleich er westdeutschen Versuchen der Gleichsetzung von rechts und links deutlich widersprach. Ende der 60er Jahre stellte sich ein Bruch in dieser Deutung ein. Ausgerechnet im zeitlichen Zusammenhang zum Prager Frühling 1968 unternahm Abendroth Versuche, Elemente der DDR mit Hilfe von Analogien zur französischen Revolution 1789 als unvermeidbare Notwendigkeit gesellschaftlicher Prozesse zu legitimieren.

Bedeutung des Rechts für emanzipatorische Politik Ein Herzstück Abendroths Wirken stellt die Auseinandersetzung mit der Rolle des Rechts in Bezug auf soziale und gesellschaftliche Transformation dar. Stets befindet sich geltendes Recht in der Spannung zwischen dem „Recht der Herrschenden“, das kapitalistische Herrschaftsformen verfestigt, auf der einen und dem Recht als Mittel zur politischen Emanzipation auf der anderen Seite. Thilo Scholle setzt sich in seinem Beitrag mit Abendroths Einordnung dieses

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Spannungsverhältnisses im Rahmen des Grundgesetzes auseinander. Dabei sah Abendroth im Grundgesetz und seinem Sozialstaatsgebot die juristische „Waffenstillstandslinie“ der gesellschaftlichen Kräfte der Bundesrepublik, welche Möglichkeiten zur sozialistischen Transformation im Rahmen der Kräfteverhältnisse und der Schranke der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG bietet. Dieser Position wurde sogar noch innerhalb der Rechtswissenschaften widersprochen. Da Abendroth gerade die Bedeutung des Sozialstaatsgebots als Mitglied der „Staatsrechtslehrervereinigung“ äußerte, ließ sie sich nicht ignorieren. Insbesondere Ernst Forsthoft widersprach ihm, was bis heute als „Abendroth-Forsthoff-Debatte“ bezeichnet wird. Abendroth war mit seiner Interpretation des Grundgesetzes aber keineswegs so allein, wie es mitunter dargestellt wird, was John Philipp Thurn in seinem Beitrag kenntnisreich herausarbeitet. Für Abendroth stellten sich jedenfalls gesellschaftlicher Klassenkampf und juristischer Deutungsstreit nicht als Gegensatz dar, sondern als gleichsam notwendige Instrumente für gesellschaftliche Veränderungen. Zugleich sah er die Bildung eines Machtfaktors von ArbeiterInnen als zentrales Element der Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaates an. Hierzu bedürfe es der gesellschaftlichen Verfügung über Produktionsmittel und zugleich einer unmittelbaren Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes zwischen Individuen und sozialen Gruppen. Dabei bleibt ein 1 Uli Schöler, Wolfgang Abendroth und der „reale Sozialismus“: Ein Balanceakt, erschienen im Verlag für Berlin-Brandenburg, 2012, ISBN: 978-3942476386, 19,95 Euro


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Staat, freilich ohne Herrschaftscharakter, nach Abendroths Verfassungsverständnis weiterhin wichtiges Organ der Gesellschaft – denn die unsichtbare Hand des Marktes wird nicht abgelöst von der unsichtbaren Hand der Selbstregulierung. Nach den Ansätzen von Abendroth ermöglicht die Rechtsordnung Transformation im Rahmen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Daran anschließend wagt Thilo Scholle einen Blick auf jüngere Konstitutionalisierungsprozesse auf europäischer und internationaler Ebene. Als Gegenentwicklung zur wirtschafspolitischen Neutralität des Grundgesetzes sieht er das Lissaboner Vertragswerk, die EuGH-Rechtsprechung, die Marktfreiheiten sowie die neoliberale Ausrichtung der WTO. Gleichzeitig arbeitet er das Fehlen einer gesellschaftlichen Gegenhegemonie heraus. Das bringt ihn zu seinem Fazit, dass (ausgehend von Abendroths Verfassungstheorie) zunächst emanzipatorisches Normenwerk auf allen politischen Ebenen ausgemacht werden müsse und gleichsam die Rolle gesellschaftlicher Kräfte auf diesen Ebenen zu klären sei.

Soziale Demokratie in Europa und global In den abschließenden Beiträgen des Sammelbandes widmen sich Hans-Jürgen Bieling, Andreas Fischer-Lescano/Gerhard Stuby und Kolja Möller der Übertragung Abendroths Theorie auf die Sozial- und Rechtsstaatlichkeit der europäischen Union und der globalen Ebene. Obwohl Abendroth in seinem Wirken einen Schwerpunkt auf den Verfassungsstaat leg-

te, scheint der Weg konsequent, die Anschlussfähigkeit an den europäischen Integrationsprozess, Internationalisierung und die damit einhergehende Fragmentierung von Rechtsordnungen darzustellen. Hier bedeutet ein Anknüpfen an Abendroths Ansätze, der zunehmenden Verrechtlichung einer neoliberalen Globalisierung und dem Rückgang demokratischen Zugriffs nicht durch Rechtspessimismus zu begegnen, wie ihn Kolja Möller attestiert. Vielmehr muss auch hier emanzipatorisches Rechtspotential herausgearbeitet und von gesellschaftlichen Kräften erkämpft werden. Dieses Rechtspotential arbeitet Andreas Fischer-Lescano als Abendroths Internationalismus heraus, der, wie schon Abendroths völkerrechtliche Doktorarbeit zeigt, fester Bestandteil seines Wirkens war.2

Die Bedeutung des Rechts für Transformation Die Frage der Bedeutung von geltendem (Verfassungs-)Recht in Bezug auf gesellschaftliche Transformation wird weiterhin ein relevanter Faktor innerhalb der politischen Linken bleiben. Neben der Würdigung der Person Wolfgang Abendroths und seines historischen Wirkens, gelingt es dem Sammelband, anhand aktueller Problemstellungen an die Theorie Abendroths anzuknüpfen. 2 Zur Vertiefung eignet sich auch Andreas FischerLescano/Kolja Möller,Soziale Rechtspolitik in Europa, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2012, kostenlos abrufbar unter http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/09344.pdf

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Insbesondere in Bezug auf Verrechtlichungsprozesse auf europäischer und internationaler Ebene erscheint die Herausarbeitung emanzipatorischer Rechtselemente dringend notwendig. Hier brauchen wir einen neuen transnationalen Verfassungskompromiss, eine Neuverhandlung der „Waffenstillstandslinie“ aller gesellschaftlichen Kräfte im Sinne globaler sozialer Rechte. Dafür brauchen wir aber auch eine politische Linke, die global in der Lage ist, Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und einzufordern. ● Literaturhinweis: Andreas Fischer-Lescano/Joachim Perels/ Thilo Scholle (Hrsg.), Der Staat der Klassengesellschaft. Rechts- und Sozialstaatlichkeit bei Wolfgang Abendroth, erschienen bei Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012, ISBN: 978-3-8329-6160-2, 29,– Euro.

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REKOMMUNALISIERUNG – IST DIE PRIVATISIERUNGSWELLE GEBROCHEN? Von Ralf Höschele, stellvertretender Kreisvorsitzender der SPD FriedrichshainKreuzberg

„Die Bahn gehört auf die Schiene und nicht an die Börse!“ – 2008 wurde am Beispiel Deutsche Bahn öffentlich, im Parlament und auf SPD-Parteitagen noch heftig um das Für und Wider einer Privatisierung öffentlicher Unternehmen gerungen. Inzwischen scheint die Ära der bedenkenlosen Privatisierung öffentlicher und kommunaler Unternehmen ihrem Ende entgegenzugehen. In Berlin war ein Volksentscheid zu den Wasserbetrieben überraschend erfolgreich: Die Forderung, die bis dahin geheimen Privatisierungsverträge offenzulegen fand mehr Unterstützung als die SPD bei der folgenden Parlamentswahl. Die Androhung eines Volksentscheids zur Gründung von Stadtwerken brachte selbst die CDU in Berlin soweit, dass sich nun das Land um die Konzession für die Stromnetze bewerben wird. Immer mehr Kommunen versuchen ihre privatisierten Einrichtungen der Daseinsvorsorge zurückzukaufen.

Staat oder Kommunen sind sicherlich nicht in jedem Fall die besseren Anbieter im Vergleich zu privaten Unternehmen. Doch zum einen gibt es ganz wesentliche Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, die immer angeboten werden müssen und zu denen alle Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang haben müssen. Es ist eben gesellschaftlich nicht akzeptabel, wenn es beispielsweise keinen öffentlichen Personennahverkehr, keine Wasser- oder Stromversorgung mehr gibt, weil sich diese nicht rentiert bzw. der Anbieter Pleite gegangen ist. Hier ist die öffentliche Hand in der Verantwortung. Zum anderen geht es dabei um Infrastruktur (beispielsweise Netze), die in einem bestimmten Gebiet ein Monopol darstellen. Da kann man zwar die Vergabe in einem Wettbewerb organisieren, doch wenn die Vergabe erfolgt ist, ist man meist an den jeweiligen Anbieter gebunden. Bestes Beispiel: Die Berliner S-Bahn. Seit Jahren erfüllt sie ihren Vertrag nicht,

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das Land Berlin kann zwar Strafzahlungen in Rechnung stellen, doch einfach den Anbieter wechseln oder selbst wieder das SBahn-Netz betreiben, das geht nicht. Die Folge der Privatisierung ist: Kaum öffentlicher Einfluss auf die Unternehmenspolitik, kaum Sanktionsmöglichkeiten, aber trotzdem steht die Landespolitik in der Öffentlichkeit in der Verantwortung. Auch solche Erfahrungen führen dazu, dass die Unterstützung für Privatisierungsvorhaben schwindet.

Trendwende bei der sozialdemokratischen Privatisierungseuphorie Jahrelang galt die Privatisierung öffentlicher Unternehmen auch in der Sozialdemokratie als modern, wirtschaftsfreundlich und effizient. Selbst der Bereich der unmittelbaren öffentlichen Daseinsvorsorge wurde privaten Betreibern ganz oder teilweise überlassen. Sozialdemokratische Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker wurden von Lobbyisten mit Begriffen und Modellen wie „Cross Boarder Leasing“, „Public Private Partnership“ (PPP bzw. in der SPD: ÖPP) vertraut gemacht. Das ist heute nicht mehr so. Mit dem Hamburger Parteiprogramm hat sich die SPD eindeutig zur öffentlichen Daseinsvorsorge bekannt, die nicht dem Markt überlassen werden darf: „Die Demokratie wird sich in Zukunft darin bewähren müssen, dass sie den Zugang zu diesen öffentlichen Gütern gewährleistet, die politische Verantwortung für die Daseinsvorsorge behauptet, die eine gerechte Verteilung von Lebenschancen erst ermöglicht. Das ist in einer Welt knap-

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per werdender Ressourcen mehr denn je erforderlich und darf nicht dem Markt überlassen werden.“ Damit fand durchaus eine teilweise Neuausrichtung der SPD-Position statt – und näherte sich damit der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung an. In der gemessenen öffentlichen Meinung gibt es regelmäßig große Zustimmung zu Rekommunalisierungsvorhaben bzw. große Ablehnung weiterer Privatisierungen. Für eine öffentliche bzw. kommunale Verantwortung für die Daseinsvorsorge sprechen aus Sicht der Jusos mehrere Argumente: ●

Der gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Zugang aller Bürgerinnen und Bürger.

Ein flächendeckendes, an qualitativen Standards orientiertes, dauerhaftes und verlässliches Angebot zu angemessenen Preisen sicherstellen.

Die demokratische Kontrolle und öffentliche Verantwortung.

Viele Leistungen der Daseinsvorsorge lassen sich auch gar nicht im wirtschaftlichen Wettbewerb anbieten, zum Beispiel die Wasserversorgung oder Stromnetze. Auch ökonomisch würde es wenig Sinn machen, wenn mehrere Verkehrsunternehmen dieselben Buslinien anbieten würden: Wer als privater Anbieter eine Ausschreibung gewinnt, bekommt faktisch ein Monopolrecht übertragen. Dazu kommt also als weiteres Argument für eine Rekommunalisierung, dass sie sich in vielen Fällen langfristig auch finanziell lohnt, da dann

Rekommunalisierung – Ist die Privatisierungswelle gebrochen? Argumente 4/2012


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nicht mehr private Anbieter Monopolgewinne abschöpfen, sondern Einnahmen zur Entlastung des kommunalen Haushalts erwirtschaftet werden können.

Neuer Rückenwind für Privatisierungen durch die Schuldenbremse Also alles in Ordnung? Ist die Rekommunalisierung der Daseinsvorsorge nur noch eine Frage der Zeit und in der SPD nicht mehr weiter umstritten? Leider wohl kaum. Zwar hat man an mancher Stelle dazugelernt, auch hat sich die Kommunikation teilweise verändert. Doch die InteressenvertreterInnen einer Privatisierungspolitik sind noch immer in der Partei unterwegs. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich zum Beispiel noch in diesem Jahr für Öffentlich-Private-Partnerschaften (ÖPP) ausgesprochen.1 Großer Druck zu weiteren Privatisierungen und Öffentlich-Privaten-Partnerschaften wird voraussichtlich auch durch die Schuldenbremse entstehen. Viele Kommunen, aber auch die Bundesländer haben nicht die finanziellen Mittel für notwendige Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung. Da erscheint ein ÖPP-Projekt oft als letzte Alternative. Denn bei einer „Partnerschaft“ mit einem privaten Anbieter werden die Schulden vom privaten Partner – in der Regel zu deutlich schlechteren Konditionen – aufgenommen. Die privaten Partner arbeiten meist nur mit 10 Prozent Eigenkapital, der Rest wird durch Kredite finanziert. Die Raten und Zinsen werden dann zusammen mit dem privaten Gewinn, den Mietkosten und so weiter dem öffentlichen Partner in Rechnung gestellt und erscheinen damit

nicht mehr als Schulden im öffentlichen Haushalt. Der Preis dafür ist allerdings groß: Die öffentliche Hand bindet sich in einem hoch komplexen Vertragswerk für Jahrzehnte und gibt die Möglichkeit einer demokratischen Kontrolle und Gestaltung so auf.Am Schluss der Vertragslaufzeit sind ÖPP-Maßnahmen für die öffentliche Hand meist teurer als eine klassische Kreditfinanzierung. Zusätzlicher Privatisierungsdruck kommt aus Brüssel. Die Kommission versucht nach wie vor über das Wettbewerbsrecht weitere Bereiche für private Anbieter zu öffnen. Aktuelles Beispiel: Die Trinkwasserversorgung. In Deutschland sind die Trinkwasserqualität und die Versorgungssicherheit im Vergleich zu anderen europäischen Staaten sehr hoch. Die Versorgung mit Leitungswasser erfolgt über Wasserbetriebe, die in ihrem jeweiligen Gebiet ein Monopol haben – in Deutschland meist die kommunalen Stadtwerke. Einen echten Wettbewerb gibt hier nicht: Wer mit der Wasserqualität unzufrieden ist, die Versorgung unsicher oder die Preise zu hoch findet, kann nicht einfach zu einem anderen Versorger ausweichen. Manche deutsche Städte haben in der Vergangenheit ihre Wasserwerke schon teilprivatisiert. Köln hat zum Beispiel RWE mit 20 Prozent beteiligt, Berlin hatte 49,9 Prozent an Private abgegeben (RWE und Veolia je zu gleichen Teilen), inzwischen aber RWE wieder rausgekauft.

1 http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/097/ 1709726.pdf

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In anderen Ländern wurde die Trinkwasserversorgung schon viel weitergehender privatisiert – mit gravierenden negativen Folgen. In London zum Beispiel geht durch Rohrbrüche über ein Fünftel des Wassers verloren, in einigen Teilen Londons entstehen so phasenweise echte Versorgungsprobleme und Wasserknappheit. Auch in deutschen Städten hat die Beteiligung Privater keine Vorteile gebracht. Trotzdem wird die Privatisierung der Wasserwirtschaft von der EU-Kommission vorangetrieben, denn mit Wasser lässt sich für Private gut Geld verdienen. Die Nachfrage ist stabil, die Rendite liegt für die privaten Investoren meist bei ca. acht Prozent – die Risiken verbleiben dabei meist auf der kommunalen Seite. Deshalb läuft zur Zeit eine europäische Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“ – das erste Volksbegehren auf europäischer Ebene. Die Initiative wurde von den europäischen Dienstleistungsgewerkschaften initiiert und ist für uns Jusos ein guter Anlass unsere Bündnisarbeit weiter auszubauen. Ziel ist es, eine Privatisierung der Wasserversorgung zu verhindern.

Der Kampf geht weiter! Zu der scheinbaren Sachzwanglogik, aufgrund zu geringer finanzieller Mittel seien Privatisierungen unumgänglich gibt es Alternativen. Die SPD hat auf ihrem vergangenen ordentlichen Bundesparteitag ein Steuerkonzept beschlossen, das die staatliche Einnahmebasis und insbesondere die Einnahmen von Ländern und Kommunen deutlich verbessern würde. Nun geht es darum, diese Positionierung in das Wahl-

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programm zu kämpfen und im Falle eines Wahlsiegs im Koalitionsvertrag durchzusetzen. Für eine öffentlich verantwortete Daseinsvorsorge gibt es breite gesellschaftliche Mehrheiten und für die Jusos viele potenzielle Bündnispartner, z. B. die Gewerkschaften oder vielerorts Bürgerinitiativen. Rekommunalisierung ist auch nicht gleich Rekommunalisierung. Wenn zwar die Kommune wieder die Erbringung einer öffentlichen Aufgabe übernimmt, sich sonst aber nichts ändert, dann ist erst einmal wenig gewonnen. Eine Rekommunalisierung sollte für die Bürgerinnen und Bürger zu verbesserten Angeboten oder niedrigeren Preisen führen. Sonst schwindet die öffentliche Unterstützung schnell. ● Weitere Informationen: Argumente 3/2008: „Öffentliche Daseinsvorsorge“, im SPD-Shop oder unter http://www.jusos.de/argumente-32008 Noch immer lesenswert ist der Beschluss D2 des Juso-Bundeskongresses 2007: „Gestaltungsräume zurückgewinnen – Öffentliche Aufgaben stärken!“ http://www.jusos.de/sites/default/files/Beschlussbuch_bund_Buko_2007.pdf, S.65ff. Initiative „Gemeingut in BürgerInnenhand“ (GIB): http://www.gemeingut.org/ Attac-AG „Privatisierung: http://www.ppp-irrweg.de/ Europäische Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“: http://www.right2water.eu/de/ Staatlich geförderte Lobby für PPP-Projekte: http://www.partnerschaften-deutschland.de/

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DIE JUNGE GENERATION – KANONENFUTTER FÜR DEN ENTFESSELTEN MARKT? von Eric Leiderer, Bundesjugendsekretär der IG Metall

Schwerpunkt

Wie ist das jetzt mit der Krise? Ist sie das jetzt gerade oder trifft sie uns erst nächstes Jahr mit voller Wucht? Erleben wir vielleicht schon den Aufschwung? Für jede dieser Thesen gibt es eine mehr oder weniger glaubhafte, vermeintlich argumentativ gestützte Prognose. Dem politisch Interessierten bleibt letztlich nichts anderes übrig, als der bewährten Weisheit zu folgen: „Erwarten wir das Schlimmste.“ Doch was bedeutet das für die jungen Menschen, die das Arbeitsleben bisher nur vom Hörensagen oder aus der Sicht des Auszubildenden kennen? Schließlich fordert die Fähigkeit sich auf eine Situation vorzubereiten – insbesondere auf eine sehr schlechte –, eine Menge Erfahrung.

Wer noch keine Erfahrungen hat, weil er oder sie sich gerade auf dem Sprung von der Schulbank ins Berufsleben befindet, dem muss jemand mit Erfahrung zur Seite stehen. Doch wenn das nicht passiert, – richtig – dann wird man ohne eigenes Zutun zum großen Verlierer. Tatsächlich ist dies ein zentrales Ergebnis der breit angelegten quantitativen Studie „Persönliche Lage und Zukunftserwartungen der Jungen Generation 2012“. In der repräsentativen Befragung des Forschungsinstituts TNS Infratest Politikforschung im Auftrag der IG Metall aus dem Mai 2012 wurden mehr als tausend Jugendliche zwischen 14 und 34 und nahezu 800 über 35-Jährige als Referenzgruppe interviewt.

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Mit der Integration der Altersgruppe bis 34 Jahre verlässt die Studie das Korsett klassischer Jugendforschung, kann aber so die gesamte Phase des Berufseinstiegs junger Menschen abbilden. Derzeit gibt es keine vergleichbare quantitative oder repräsentative Studie, die dies berücksichtigt. Ein blinder Fleck, da die Altersgruppe „unter 35“ zwar von „Generation Praktikum“ bis „Generation Prekär“ im Feuilleton viele Namen trägt, von wissenschaftlicher Untersuchung jedoch weitgehend unberührt bleibt. Die IG Metall hat das erkannt, sie definiert diese Gruppe als „Junge Generation“. In dieser Lebensphase gilt es Wissen, Verantwortung und Werte wie politisches Bewusstsein zu entwickeln, berufliche Kompetenz auf- und auszubauen, den Einstieg in ein erwachsenes Arbeitsleben zu finden und gleichzeitig den Schritt in ein selbstbestimmtes Leben zum Beispiel mit einer Familiengründung zu gehen. Die Jugendstudie liefert einen wichtigen Beitrag für die öffentliche Wahrnehmung der Probleme der Jungen Generation.

IG Metall Jugendstudie Als die Jugendstudie im Mai 2012 zum dritten Mal durchgeführt wurde, befand sich die IG Metall mit den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie in Tarifvertragsverhandlungen. Als die Arbeitgeber trotz erheblichen Warnstreiks noch auf einer grundlegenden Ablehnung der IG Metall Forderungen beharrten, stand das härteste Mittel der Gewerkschaft, der Streik, kurz bevor. Der Grund dieser Eskalation ist in den beiden qualitativen Forderungen nach mehr Mitbestimmung bei der Leiharbeit und der verpflichtenden Übernahme erfolgreich

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Ausgebildeter zu finden. Die Arbeitgeberverbände versuchten dem Druck der Beschäftigten standzuhalten, um mit einem weiteren Einsatz prekärer Beschäftigung, die Stammbelegschaft unter Druck zu setzen und kurzfristig die Kosten zu senken. Die IG Metall setzte sich erfolgreich durch: Die Übernahme erfolgreich Ausgebildeter wurde in der Metall- und Elektroindustrie zur Regel. Bei der Einstellung von Leiharbeitern hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht. Mit diesem Erfolg konnte der Teufelskreis durchbrochen werden, der jungen Berufseinsteigern drohte, wenn sie nach der Ausbildung eine Anstellung nur in Leiharbeit oder anderen prekären Verhältnissen fanden. 210.000 Aktive der IG Metall Jugend haben mit der Kampagne „Operation Übernahme“ ihren Beitrag zu diesem Erfolg geleistet und mit ihren Aktionen Maßstäbe gesetzt. Durchgehende Unterstützung fanden sie dabei in der Gesamtorganisation. Wer heute zu dieser Tarifrunde recherchiert, wird häufig folgenden Satz finden: „Wir dürfen die Jugend nicht im Stich lassen.“ Eine Solidaritätsbekundung, die in der IG Metall selbstverständlich ist. Wohlgemerkt, in Deutschland gibt es 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss und in Warteschleifen. Und jedes Jahr kommen 300.000 neue hinzu. Die Ergebnisse der Jugendstudie zeigen, wie stark die Junge Generation auf diese Unterstützung angewiesen ist.

Abgehängte Jugend Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind für die Junge Generation keine Randerscheinung mehr: Ein Drittel der unter 35Jährigen arbeitet befristet, in Leiharbeit

Die Junge Generation – Kanonenfutter für den entfesselten Markt? Argumente 4/2012


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oder in einer ABM-Maßnahme. Das ist ein unglaublicher Anstieg von über zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zieht man die offiziellen Zahlen des Bundesministeriums für Arbeit hinzu, dass 17 Prozent der jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren keinen Berufsabschluss haben, eröffnet sich die gesamte Dramatik. Denn auch wenn gegenüber den Vorjahren eine leichte Verbesserung erkennbar ist, stagniert die Vermittlung in einem nicht hinnehmbaren Bereich. 2012 findet knapp ein Drittel der Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz, der den eigenen Interessen entspricht. Jeder vierte Befragte hat überhaupt Schwierigkeiten einen Ausbildungsplatz zu finden. Trotz demografisch bedingter Entspannung ist es also bisher nicht gelungen die Ausbildungsquote im notwendigen Maße zu steigern. Die häufig wiederholte These, ein niedriges Qualifikationsniveau der Bewerber ließe nur befristete Anstellungen zu, ist als alleiniges Argument ebenfalls fragwürdig: ein Drittel der 14-34-Jährigen fühlt sich in ihrer Tätigkeit durchgehend unterfordert. Trotz öffentlicher Debatten um den demografischen Wandel und den einhergehenden Fachkräftemangel, gibt es für den Ausbildungsmarkt bisher keine effektiven Maßnahmen. Im Angesicht dieser Fakten kann der Erfolg der letzten Tarifrunde zur unbefristeten Übernahme und zur Mitbestimmung bei der Leiharbeit nicht hoch genug bewertet werden.

Phänomen Werkvertrag Der in der Jugendstudie 2012 erstmals thematisierte Komplex der Werkverträge bestätigt, dass es eine relevante Größe von

jungen Arbeitnehmern in unreguliertem und unterbezahltem Status gibt. Werkverträge entwickeln sich von einer vormals unverdächtigen Beschäftigungsform zu einer Bedrohung für alle Beschäftigten: Nach der zunehmenden Regulierung der Leiharbeit missbrauchen Unternehmen die Werkverträge vermehrt als ein Instrument, um systematisch Lohndumping, Spaltung von Belegschaften und Abbau von Mitbestimmungsrechten voranzutreiben. Werkverträge sind dann Scheinverträge und verdeckte Leiharbeit – ein neues Phänomen des Chaos auf dem Arbeitsmarkt. Die IG Metall Jugendstudie bestätigt, dass 15 Prozent der befragten Arbeiter und Angestellten unter 35 Jahren – die keine Leiharbeitnehmer sind – mehr als zwei Dritter ihrer Arbeitszeit auf dem Firmengelände des Auftraggebers ihres Arbeitgebers verbringen. Eine dringende Forderung der IG Metall ist deswegen eine schnellstmögliche weitergehende Untersuchung des Phänomens Werkverträge, um die unkontrollierte Entwicklung der prekären Beschäftigungsverhältnisse vollständig erfassen zu können. Die IG Metall verfolgt dabei schon seit längerer Zeit das politische Ziel: Tarifliche Regelungen müssen auch für Kollegen in Werkvertragsunternehmen gelten.

Wirkung und Effekt Wohin die Reise unterbezahlter und unsicherer Werkverträge führt, zeigt das Ansteigen der Nebenerwerbsquote bei den Arbeitnehmern der Jungen Generation: Ein Viertel muss in einem zweiten Job arbeiten. Das hauptberuflich verdiente Geld reicht nicht aus, um den Lebensunterhalt

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zu bestreiten (diese Angabe klammert Schüler und Studierende explizit aus). Zum Vergleich: Die Hälfte der über 35Jährigen, die nebenbei jobben, geben als Motivation „Spaß und Erfüllung“ an. Eine bemerkenswert diametrale Begründung. Eine weitere direkte Folge der prekären Beschäftigungsverhältnisse findet sich in der Frage nach der Haupteinkunftsart bei Arbeitslosen oder Arbeitssuchenden wieder. Jeder Zweite junge Mensch dieser Gruppe zwischen 14 und 35 Jahren ist von ALG 2 abhängig. Die Ausübung prekärer Beschäftigungsformen – die von allen tariflich gesicherten Mindeststandards ausgeschlossen sind –, reicht in den meisten Fällen offensichtlich nicht für einen Anspruch auf ALG 1 aus. Junge Erwachsene rutschen überproportional häufig direkt in die Abhängigkeit von Hartz IV. Bei all diesen beunruhigenden Fakten scheint es logisch, dass 40 Prozent der Befragten aus der Jungen Generation die gesellschaftliche Entwicklung der „Sozialen Gerechtigkeit“ negativ einschätzen. Die Hoffnung auf einen guten Arbeitsplatz oder eine gute Alterssicherung fällt sogar noch schlechter aus. Beeindruckend hingegen ist, dass sich die deutliche Kritik und Unzufriedenheit – also die reflektierte Kenntnis der eigenen Situation – nicht auf die prinzipielle Zuversicht in die eigene Zukunft auswirkt. Hierin lässt die Jugendstudie den Schluss zu, dass die Junge Generation zu großen Teilen den starken Prekarisierungsgrad hinnimmt, zugleich aber an die eigenen Fähigkeiten (und Möglichkeiten) glaubt, etwas erreichen zu können.

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Große Verlierer Fast jeder Dritte junge Erwachsene nimmt an, dass es ihm oder ihr genauso gut oder besser als den eigenen Eltern ergehen wird. Diese Angabe bleibt durch alle bisherigen Jugendstudien beständig. Ein Indiz dafür, dass Werte unabhängig von begründeter Unzufriedenheit und Kritik in einer längerfristigen Perspektive gesehen werden. Dem gegenüber steht aber eine große Skepsis über die Zukunft der Jungen Generation. Die bereits im Berufsleben Etablierten teilen die hoffnungsvolle Sicht über die Perspektiven der jungen Erwachsenen nicht. 61 Prozent der über 35-Jährigen sehen eine sorgenvolle Zukunft für die Junge Generation. In der Einschätzung der über 35-Jährigen findet sich das eingangs erwähnte, zentrale Ergebnis der IG Metall Jugendstudie wieder: Die zunehmende Prekarisierung und die Unordnung des Arbeitsmarktes gehen in großen Teilen zu Lasten der Jungen Generation. Auch wenn Deutschland sich nicht in spanischen Verhältnissen bewegt, in der Bundesrepublik gibt es ernsthaften Anlass zur Sorge. Insgesamt arbeitet ein Drittel der unter 35-Jährigen in befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit oder ABMMaßnahmen. Wenn man hinzuzieht, dass diese Quote seit 2009 um vier Prozent gestiegen ist, während gleichzeitig die Anzahl der prekär Beschäftigten über 35 Jahren sank, sieht man, dass sich prekäre Beschäftigung im Generationenvergleich auseinander entwickelt. Das schwächste Glied in der Kette, die jungen Berufseinsteiger, kristallisieren sich als die großen Verlierer heraus.

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Fazit Die eingehende Betrachtung der Jugendstudie offenbart das mechanische und unmenschliche „Krisenlösungsprogramm“ des Arbeitsmarktes: Der Schwächste zahlt die Zeche. Dass die Junge Generation dieses Opfer ist und in ihren Hoffnungen und ihrem Einsatz für eine eigene selbstbestimmte Zukunft der reinen Profitmaximierung ausgeliefert wird, ist für die IG Metall nicht hinnehmbar. Wer die Probleme der Wirtschaftskrise nur auf die Klassifizierung von „kreditwürdig oder nicht kreditwürdig“ reduziert, riskiert fahrlässig die Zukunft der Jungen Generation – riskiert die Zukunft unseres Sozialstaates und unserer sozialen Gesellschaft. Die IG Metall hat in der letzten Tarifrunde bei der Leiharbeit und der Übernahme gezeigt, dass sie in der Lage ist, eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu entwickeln. Wir werden dies weiterhin erfolgreich verfolgen und die Junge Generation nicht im Stich lassen. ●

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PERSPEKTIVEN DURCH AUSBILDUNG von Benjamin Krautschat, Politischer Referent beim Deutschen Gewerkschaftsbund

Berufliche Bildung und die duale Ausbildung spielen zu Recht eine wichtige Rolle in der Diskussion um eine bessere und gerechtere Jugendpolitik. Dies zeigt die Bedeutung, die die duale Ausbildung für junge Menschen hat: Nach wie vor durchlaufen rund 60 Prozent eines Altersjahrgangs in Deutschland eine duale Berufsausbildung. Sie kombiniert mit ihren beiden Lernorten Betrieb und Berufsschule theoretisches und praktisches Lernen mit einem hohen Praxisanteil und zielt auf eine umfassende Handlungsorientierung und eine ganzheitliche Berufsfähigkeit. Damit die duale Ausbildung dieses Ziel erreichen kann, müssen im Kern zwei Bedingungen erfüllt sein: die jungen Menschen müssen Zugang zu freien Ausbildungsplätzen haben und die Qualität der Ausbildung muss ausreichend gut sein.

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Perspektiven durch Ausbildung Argumente 4/2012

Ausbildungsplatzsituation Nach wie vor ist es nicht selbstverständlich, dass alle interessierten jungen Menschen einen Ausbildungsplatz bekommen. Zwar hat sich die Situation auf dem Ausbildungsmarkt in den letzten Jahren verbessert, von einer ausgeglichenen Situation kann bundesweit aber immer noch nicht die Rede sein.1 So ist die Verbesserung auch nicht einem gesteigerten Ausbildungsengagement der Betriebe zu verdan1 Gleichzeitig gibt es ausgeprägte regionale Unterschiede im Ausbildungsplatzangebot. Während in einigen Regionen Ausbildungsplätze nach wie vor Mangelware sind, gibt es in anderen Bereichen mehr Ausbildungsplätze als Bewerber/-innen. Auch bei den Branchen gibt es erhebliche Ungleichgewichte. Interessanterweise ist gerade in den Berufen, die am meisten Probleme haben, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen, wie z. B. im Gaststätten- und Hotelgewerbe, auch die Ausbildungsqualität am schlechtesten.


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ken – der Anteil der auszubildenden Betriebe ist zuletzt auf 22,5 Prozent gesunken2 – sondern resultiert aus dem demografisch bedingten Rückgang der jungen Menschen. Verlässt man sich auf die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die lediglich einen Ausschnitt des Geschehens auf dem Ausbildungsmarkt widerspiegelt und viele Ausbildungsplatzinteressierte nicht berücksichtigt, hatten Ende September bundesweit 76.029 Bewerber/-innen keinen Ausbildungsplatz bei gleichzeitig 33.275 unbesetzten Ausbildungsplätzen. Selbst wenn den jungen Menschen weder eine freie Orts- noch Berufswahl zustehen würde, würden rein rechnerisch immer noch 42.754 Ausbildungsstellen fehlen. Dass sich die Situation für Ausbildungsinteressierte noch dramatischer gestaltet, zeigt eine Erhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) für das Ausbildungsjahr 2011: Während die BA für dieses Jahr von 538.245 gemeldeten Bewerber/-innen spricht, kommt das BIBB auf eine Zahl von 833.238 institutionell erfassten Ausbildungsinteressierten; zur Orientierung: 2011 wurden 570.140 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen.3

bildungsplatzangebot auf die einzelnen Jugendlichen abgeschoben, die damit selber dafür verantwortlich gemacht wurden, keinen Ausbildungsplatz gefunden zu haben. Herausgebildet hat sich ein Dschungel an Maßnahmen im Bereich des Übergangs von der Schule in die Ausbildung. Anstatt sich mit diesen Maßnahmen allerdings auf die zu konzentrieren, die tatsächlich Unterstützung brauchen und diesen eine individuell angepasste Unterstützung zukommen zu lassen, wurden und werden auch junge Menschen, die lediglich keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, in die Maßnahmen vermittelt. Statt einer anschließenden Perspektive auf eine reguläre Ausbildung, werden die Programme für Viele so zu Warteschleifen oder gar Abstellgleisen. Allein im Jahr 2011 waren 294.294 junge Menschen davon betroffen. Gleichzeitig haben 1,5 Millionen junge Menschen in der Altersgruppe von 20 und 29 – das sind 17 Prozent der Altersgruppe – keinen qualifizierenden Berufsabschluss. An irgendeinem Punkt in ihrer Biographie sind sie „aus dem System gefallen“ oder wurden vielmehr fallen gelassen und haben kaum weitere Perspektiven.4

Qualität der Ausbildung Die bundesweit unversorgten Ausbildungsplatzsuchenden bilden allerdings nur die Spitze des Eisberges. In den letzten Jahren des massiven Bewerber/-innenüberhangs haben die Betriebe sich die (vermeintlich) besten Bewerber/-innen herausgesucht, was oftmals anhand des erreichten Schulabschlusses eingeschätzt wurde, und einen Großteil der anderen Bewerber/-innen als nicht „ausbildungsreif“ abgestempelt. Damit wurde die eigene Verantwortung für ein ausreichendes Aus-

Nach wie vor ist eine gute und qualitativ hochwertige Ausbildung die Voraussetzung für junge Menschen, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden und eine reguläre, unbefristete und fair bezahlte Ar2 vgl. Berufsbildungsbericht 2012; bundesweit haben 56 Prozent der Betriebe in Deutschland eine Ausbildungsberechtigung. 3 vgl. BIBB: Datenreport 2012, S. 17 4 Genauere Hintergründe zu dieser Personengruppe: http://tinyurl.com/bulpq3p

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beitsstelle zu finden. Sie stellt sicher, dass die Auszubildenden die notwendigen Inhalte lernen und nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Ein Großteil der Auszubildenden (72,5 Prozent) ist mit ihrer Ausbildung zufrieden, dies darf aber nicht davon ablenken, dass es in einigen Bereichen massive Mängel gibt.5 Leider werden bei einem nicht unerheblichen Anteil von Auszubildenden nicht einmal die gesetzlichen Regelungen eingehalten. Große Unterschiede, was die Qualität angeht, gibt es bei den einzelnen Ausbildungsberufen, die sich im Wesentlichen auch durch die einzelnen Problemfelder hindurchziehen: Während die angehenden Bankkaufleute, Industriemechaniker/-innen und Mechatroniker/-innen seit Jahren ihrer Ausbildung Bestnoten geben, klagen besonders die Auszubildenden in den Hotel- und Gastronomieberufen über massive Probleme in der Ausbildung. Durch das Berufsbildungsgesetz und die jeweiligen Ausbildungsordnungen ist klar geregelt, welche Aufgaben zur Ausbildung gehören und welche nicht. Gerade einmal ein gutes Drittel der Auszubildenden muss nie ausbildungsfremde Tätigkeiten verrichten, wohingegen 10,8 Prozent der Auszubildenden dies sogar häufig oder immer machen müssen. Für die betroffenen Auszubildenden heißt das, dass sie meist als billige Ausbildungskräfte ausgenutzt werden und sie wichtige Ausbildungsinhalte nicht lernen können. Auch die Betreuung durch die Ausbilder/-innen ist klar gesetzlich geregelt, trotzdem zeigen die Zahlen ein anderes Bild der Realität. 12,9 Prozent werden selten oder nie durch ihre/n Ausbilder/-in be-

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Perspektiven durch Ausbildung Argumente 4/2012

treut und 16,5 Prozent nur manchmal. In der Praxis bedeutet das dann häufig „learningbydoing“ ohne die notwendige fachliche Anleitung und die Möglichkeit Fragen stellen zu können. Auszubildende befinden sich in einem Lern- und keinem Arbeitsverhältnis mit konkret ausgestalteten inhaltlichen und zeitlichen Ausbildungsrahmenplänen, so dass es eigentlich keine Überstunden geben sollte. Fallen doch einmal Überstunden an, ist gesetzlich klar geregelt, dass diese Überstunden „besonders zu vergüten oder durch entsprechende Freizeit auszugleichen“ sind. Auch hier wird die gesetzliche Grundlage von der Realität eingeholt: 38,1 Prozent der Auszubildenden müssen regelmäßig Überstunden machen, im Durchschnitt 5,2 Stunden pro Woche. Auch mit dem Ausgleich sieht es dürftig aus, so bekommen 17,9 Prozent, also fast ein Fünftel, keinerlei Ausgleich für die Mehrarbeit. Für Auszubildende unter 18 Jahren gelten die besonderen Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes. In einigen Bereichen werden nicht einmal diese Schutzvorschriften eingehalten: 15,5 Prozent der Auszubildenden unter 18 Jahren müssen durchschnittlich über 40 Stunden in der Woche arbeiten und 7,8 Prozent der minderjährigen Auszubildenden gab an, mehr als fünf Tage pro Woche im Betrieb arbeiten zu müssen. Der Übergang von der Ausbildung in das Berufsleben stellt für viele junge Menschen eine besondere Schwierigkeit dar. Eine unbefristete Übernahme nach der 5 Die Zahlen zur Ausbildungsqualität stammen, sofern sie nicht anders angegeben sind, aus dem Ausbildungsreport 2012 der DGB-Jugend: http://tinyurl.com/ausbildungsreport.


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Ausbildung bedeutet für die Auszubildenden in der Regel eine gute berufliche Perspektive. Doch die Übernahmesituation kann angesichts der Bedeutung dieses Themas für die junge Generation nur enttäuschen: in einer Befragung von Auszubildenden im letzten Ausbildungsjahr im Frühjahr 2012 – kurz vor den Abschlussprüfungen – hatten gerade einmal 43 Prozent eine Zusage für eine befristete oder unbefristete Übernahme. 25 Prozent wussten, dass sie nicht übernommen werden und 32 Prozent hatten noch keinerlei Informationen über ihren weiteren Verbleib.6

Lösungsansätze Um die Situation für junge Menschen zu verbessern, ist es notwendig an verschiedenen Punkten anzusetzen: ●

Alle ausbildungsinteressierten jungen Menschen müssen eine Ausbildungsplatzgarantie bekommen. Die absolute Priorität müssen dabei betriebliche Ausbildungsplätze haben.

Junge Menschen dürften nicht einfach als „ausbildungsunreif“ abgestempelt werden, denn das sind sie nicht. Manche von ihnen kommen aus schwierigen Situationen, haben große Probleme und brauchen besondere Unterstützung und Perspektiven. Für sie müssen begleitende Unterstützungsangebote während der Ausbildung, wie z. B. ausbildungsbegleitende Hilfen, ausgebaut werden.

Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist es leider nicht: Das Einhalten der bestehenden Gesetze und Verordnungen. Die zuständigen Stellen müssen aktiv gegen Verstöße vorgehen und dürfen in gravierenden Fällen auch nicht vor Sanktionen zurückschrecken. Wenn die zuständigen Stellen und die Kammern aufgrund ihrer Doppelfunktion dieser Kontrollfunktion nicht nachkommen können, müssen dringend unabhängige Stellen geschaffen werden.

Junge Menschen brauchen Perspektiven und dazu gehört die unbefristete Übernahme in ein – sofern gewünscht

Auch die Berufsschulen spielen eine wichtige Rolle in der Ausbildung. Doch gerade einmal 56,3 Prozent der Auszubildenden finden die fachliche Qualität der Berufsschule „gut“ oder „sehr gut“. Dabei wird ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Qualität des Berufsschulunterrichts und der Ausstattung der Berufsschule sowie der Klassengröße und der Lernatmosphäre deutlich. Dort, wo die Berufsschulen materiell und personell besser ausgestattet sind, ist sowohl die Zufriedenheit der Auszubildenden als auch der Lernerfolg deutlich größer. Eine erschreckende Erkenntnis der Ausbildungsreporte der letzten Jahre ist, dass sich trotz bekannter Mängel an der Qualität in der Ausbildung nichts Wesentliches verändert hat. Die Branchen, die qualitativ gut ausbilden, sind die gleichen geblieben und in den Branchen, in denen es die größten Probleme gibt, hat nichts verbessert. Die bestehenden Kontrollmechanismen durch die zuständigen Stellen scheinen also nicht zu funktionieren.

6 http://tinyurl.com/ch5xzqv

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– Vollzeitbeschäftigungsverhältnis unter Berücksichtigung der absolvierten Ausbildung sowie des Wohnorts. ●

Die Rahmenbedingungen, unter denen in den Berufsschulen gelehrt und gelernt wird, müssen dringend verbessert werden. Berufsschulen müssen deutlich mehr (finanzielle) Unterstützung bekommen als bisher, um eine materiell und personell bessere Ausstattung ermöglichen zu können. ●

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Abschnitt Argumente 4/2012


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INKLUSION STATT SELEKTION: PARADIGMENWECHSEL IM BILDUNGSSYSTEM IST ÜBERFÄLLIG Von Kerstin Rothe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der HU Berlin und Martin Timpe, bis Dezember 2012 Referent für Bildungsund Wissenschaftspolitik beim SPD Parteivorstand

Bildungschancen sind in der Bundesrepublik Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhängig. Die Feststellung mag langweilen, weil wir sie schon so oft gehört haben, und sie mag beinahe banal klingen. Aber für alle, die von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Bildungssystem nicht nur reden, sondern sie wirklich erreichen wollen, muss dieser Umstand immer wieder Grund zur Empörung und Ansporn zu engagiertem politischem Handeln sein.

Die Logik des Aussortierens Das beherrschende Paradigma im deutschen Bildungssystem ist leider immer noch die Logik des Aussortierens. Sehen wir einmal von ungleichen Beteiligungsquoten verschiedener gesellschaftlicher Schichten am Krippen- und Kita-Besuch ab, so können die Einrichtungen frühkind-

licher Bildung und die Grundschulen noch als relativ „inklusive“ Institutionen bezeichnet werden. Umso stärker bekommen aber Kinder im Alter von neun, zehn oder elf Jahren beim Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I die Sortierlogik unseres Bildungssystems zu spüren. Und es bleibt ja nicht bei der Einordnung der Schülerinnen und Schüler in die verschiedenen Schubladen des mehrgliedrigen Schulsystems. Hinzu kommen – zumindest in einem Teil der Bundesländer – pädagogisch destruktive Maßnahmen wie Sitzenbleiben oder Abschulen. Wie eine jüngst veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung gezeigt hat, kommen im Bundesdurchschnitt auf jede/n „Aufsteiger/in“ im Schulsystem zwei „Absteiger/innen“. Besonders skandalös ist das Aussortieren vermeintlich behinderter Kinder in so genannte Sonder- oder Förderschulen. Es ist unbestritten, dass viele Förderschulen

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mit ihren hervorragenden Betreuungsverhältnissen, hoch qualifiziertem pädagogischem Personal und besonders guten räumlichen Bedingungen eine gute, individuelle Förderung für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf bieten können. Zur Wahrheit gehört aber leider auch, dass Förderschulen sich für den größten Teil der Schülerinnen und Schüler als bildungspolitische Sackgasse erweisen. Im Jahr 2008 verließen über drei Viertel der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen ihre Schule ohne Hauptschulabschluss. Es ist unverantwortlich, dass in Deutschland 85 Prozent der Schüler/innen mit besonderem Förderbedarf aussortiert werden. Die absolute Mehrheit wird in Fördereinrichtungen beschult, nur 15 Prozent das allgemeine Schulsystem besuchen. In vergleichbaren Ländern in Europa ist dieses Verhältnis umgekehrt! Der Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Herkunft lässt sich ebenfalls mit Zahlen belegen: Von 100 Kindern aus AkademikerInnenhaushalten besitzen 71 eine Hochschulzugangsberechtigung. Von 100 Kindern, deren Eltern keinen akademischen Abschluss haben sind es dagegen nur 24. Die dafür entscheidende Weichenstellung findet beim Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II statt: von den 100 Kindern aus Akademikerhaushalten schließen 81 die Sekundarstufe I erfolgreich ab. Von 100 Kindern aus NichtAkademiker-Haushalten sind es nur 45.

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Darüber hinaus hat in Deutschland ein Drittel aller Jugendlichen mit Migrationshintergrund keine berufliche Ausbildung.

Bildungsarmut in einem reichen Land Im deutschen Bildungssystem gibt es eine große Gruppe von „BildungsverliererInnen“, die schon als Kinder und Jugendliche gesellschaftliche Ausgrenzung und Exklusion erfahren. Versprechen wie „Aufstieg durch Bildung“ oder „gleiche Bildungschancen für alle“ müssen wie blanker Hohn in ihren Ohren klingen. Vor dem Hintergrund, dass ein Schulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung ganz entscheidend sind für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch für die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens, ist es vollkommen inakzeptabel, dass ●

jedes Jahr mehr als 53.000 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen,

mehr als 1,5 Mio. junge Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung haben,

mehr als 300.000 Jugendliche sich in den Warteschleifen des sogenannten „Übergangssystems“ befinden, statt eine vollqualifizierende Berufsausbildung zu absolvieren und

über 7,5 Mio. Menschen in Deutschland als funktionale Analphabeten gelten, d. h. als Personen, die bereits in alltäglichen Dingen aufgrund ihrer unzureichenden Lese- und Schreibkenntnisse vor großen Herausforderungen stehen.

Inklusion statt Selektion: Paradigmenwechsel im Bildungssystem ist überfällig Argumente 4/2012


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Inklusion und Durchlässigkeit schaffen: Diskurshoheit für linke Bildungspolitik gewinnen Die Logik des Aussortierens im deutschen Bildungssystem muss ersetzt werden durch eine Logik der gleichen Teilhabechancen für alle. Das ist leicht gesagt, bedeutet aber für viele Einrichtungen und die dort beschäftigten Pädagoginnen und Pädagogen, wie auch für viele BildungspolitikerInnen einen umfassenden Paradigmenwechsel. Die Größe der Aufgabe ist nicht zu unterschätzen und die Hoffnung, einen solchen Umbau des Bildungssystems in zwei oder drei Jahren schaffen zu können, muss enttäuscht werden. Wichtig ist aber, dass wir endlich damit anfangen! Es gibt erste, richtige Schritte in einzelnen Bundesländern, das ist unbestritten. Aber ein kritischer Blick auf das deutsche Bildungssystem als Ganzes zeigt, wie machtvoll eine über Jahrhunderte gewachsene Tradition von Aussortieren und Selektion ist, die im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern bis heute hochgehalten wird. Die BefürworterInnen von Inklusion, von gleichen Bildungschancen, von einem Recht auf Teilhabe für alle Kinder und Jugendliche sind gefordert, die öffentliche Debatte, den gesellschaftlichen Diskurs über Bildung wieder stärker für sich zu gewinnen. Natürlich kann die kulturelle Hegemonie des Aussortierens nicht von heute auf morgen aufgebrochen werden. Aber wenn eine an gesellschaftlichem Fortschritt und Emanzipation orientierte, linke Bildungspolitik in den Debatten nicht endlich wieder in die Offensive kommt, dann wird der Wandel des Bildungssystems nur in Trippelschritten stattfinden – wenn überhaupt.

Bildungspolitisches Programm für Inklusion und Durchlässigkeit entwickeln Gleiche Bildungschancen für alle erreichen wir nur mit einem umfassenden Programm für Inklusion und Durchlässigkeit im Bildungssystem. Bausteine eines solchen Programms könnten sein: Die Forderung nach einem Bildungssystem, das von Kita bis zur Weiterbildung gleiche Teilhabechancen von Menschen mit und ohne Behinderung bietet, muss sich als roter Faden durchziehen. Inklusion muss als neues Leitbild des deutschen Bildungssystems durchgesetzt werden. Die Forderung nach einem bedarfsdekkenden Angebot an Krippen- und KitaPlätzen für alle Kinder. Wer die Bedeutung früher Bildung für den weiteren Bildungsweg verstanden hat, der kann sich der Forderung nach einem pädagogisch hochwertigen, gebührenfreien Angebot an KitaPlätzen nicht ernsthaft verschließen. Die von der schwarz-gelben Bundesregierung geplante Fernhalteprämie namens „Betreuungsgeld“ ist bildungspolitisch unsinnig und markiert einen familien- und gleichstellungspolitischen Roll-Back der CDU. Die Forderung nach einem massiven Ausbau von Ganztagsschulen in ganz Deutschland ist überfällig. Gute Ganztagsschulen ermöglichen nicht nur eine bessere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Sie tragen darüber hinaus nachweislich zu einer höheren Schulmotivation bei und sind nicht nur Orte des Lernens, sondern des sozialen Austauschs und Miteinanders.

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Wir sollten uns von der (richtigen) Forderung nach einer besseren individuellen Förderung für alle aber nicht einlullen lassen. Es gilt weiterhin auch die strukturellen Probleme des gegliederten Schulsystems zu thematisieren und Reformschritte einzufordern. Ohne in die alten Dogmen zurückzufallen, sollten dabei Durchlässigkeit, Chancengleichheit und das Lernen in heterogenen Lerngruppen im Mittelpunkt stehen. Ein Schulsystem, in dem es neben dem Gymnasium nur noch eine weitere Schulform gibt, die gut ausgestattet ist und alle Schulabschlüsse anbietet, bedeutet einen enormen Fortschritt auf dem Weg zu gleichen Bildungschancen für alle. Die Forderung nach einer Berufsausbildungsgarantie muss mit klaren Aussagen über eine zweite, vollschulische Säule der beruflichen Bildung verbunden werden. Dabei spricht vieles für eine klare Priorität zugunsten der dualen Ausbildung mit ihrem starken Anteil des Lernens im Betrieb. Die Forderung nach ausreichend Studienplätzen für alle, die ein Studium aufnehmen möchten, muss verknüpft werden mit der Forderung nach besseren Betreuungsverhältnissen. Finanzielle Hürden müssen durch ein starkes BAföG abgebaut werden. Außerdem gehört zu einem Studium die soziale Infrastruktur (Wohnheime, Mensen und Cafeterien, Beratungsangebote, Kita-Plätze). Dabei muss ein besonderes Augenmerk auf Studierende mit Kind und Studierende mit Behinderung gelegt werden. Chancengleichheit im Bildungssystem darf sich nicht darauf beschränken, zu Beginn gleiche Startchancen zu gewähren,

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sondern bedeutet, immer wieder gleiche Chancen auf Teilhabe an Bildung zu garantieren. Deshalb brauchen wir ein Programm für die „Zweite und dritte Chance“!

Was kann, was soll der Bund tun? Die Verankerung des Kooperationsverbots im Grundgesetz, das seit 2006 dem Bund verbietet sich im Bildungsbereich zu engagieren, war ein gravierender Fehler, der dringend korrigiert werden muss. Die Herausforderungen im Bildungssystem sind zu groß, als dass der Bund als finanzstärkster Partner die Bewältigung den Ländern und Kommunen alleine überlassen könnte. Wir brauchen eine Grundgesetzänderung, die eine neue Kultur des Miteinanders und eine umfassende finanzielle Beteiligung des Bundes im gesamten Bildungsbereich ermöglicht. Die schwarz-gelbe Bundesregierung könnte aber auch ohne Grundgesetzänderung schon heute viel mehr tun. CDU/CSU und FDP könnten: ●

sich wesentlich stärker am Ausbau der Kita-Plätze beteiligen, statt mit einer Fernhalteprämie den Roll-Back in der Bildungs-, Familien- und Gleichstellungspolitik zu proben.

ihrer Verantwortung für die berufliche Bildung gerecht werden, indem sie endlich die überfällige Reform des Übergangssystems anpacken und mehr Druck auf die Wirtschaft ausüben, ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.

Inklusion statt Selektion: Paradigmenwechsel im Bildungssystem ist überfällig Argumente 4/2012


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das Angebot der aktiven Arbeitsmarktpolitik an langfristigen, individuell zielgerichteten Fort- und Weiterbildungen für Arbeitslose ausbauen statt gerade an dieser Stelle den Rotstift anzusetzen.

den Hochschulen und den Ländern Planungssicherheit bei der Schaffung zusätzlicher Studienplätze garantieren, indem sie schleunigst den Deckel des Hochschulpakts anheben statt es hier bei wolkigen, unverbindlichen Ankündigungen zu belassen.

das BAföG erhöhen, um mehr Studierenden eine staatliche Studienförderung zu garantieren und es an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anpassen.

zusammen mit den Ländern ein Sonderprogramm zu Wohnheimbau an Hochschulen auflegen, um dem in manchen Städten und Regionen akuten Wohnungsmangel bei Studierenden entgegenzuwirken.

All das tut die schwarz-gelbe Bundesregierung nicht. Das Geschwätz von der „Bildungsrepublik“ erweist sich als inhaltsleeres Versprechen von Merkel und Schavan. Eine rot-grüne Bundesregierung wird mit deutlich höheren Bildungsinvestitionen und einem klaren bildungspolitischen Programm soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Inklusion im Bildungssystem vorantreiben. Dafür lohnt es sich zu kämpfen! ●

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BERUFLICHE WEITERBILDUNG IN DEUTSCHLAND – DIE WICHTIGKEIT WIRD ERKANNT, ABER NICHT VIEL GETAN! von Dr. Roman Jaich, Referent bei weiter bilden (Initiative für berufsbegleitende Bildung)

Auf die Bedeutung der Förderung von Weiterbildung, seit Ende der 90er Jahre häufiger auch mit „lebenslanges bzw. lebensbegleitendes Lernen“ tituliert, wird regelmäßig von allen gesellschaftlichen Akteuren hingewiesen. Insbesondere bei „Megathemen“ wie z.B. dem demografische Wandel und dem damit vermuteten Fachkräftemangel wird regelmäßig auf die Notwendigkeit der Qualifizierung von Beschäftigten verwiesen. Erstaunlich ist hierbei, dass hartnäckig ein Thema verbreitet wird, sich aber nichts ändert. Nimmt man z.B. den Bericht der Autorengruppe „Bildungsberichterstattung“ aus dem Jahre 2006, so wurde dort bereits formulierte: „Politisch nachdenklich stimmen sollte auch der Sachverhalt, dass Deutschland bei der Weiterbildungsbeteiligung (einschließlich informeller Lernaktivitäten)

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innerhalb der EU-15-Staaten eher am unteren Ende rangiert. Ob damit nicht auch die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit auf lange Sicht beeinträchtigt wird, ist eine offene Frage.“1 Bei einer Betrachtung der aktuellen Situation zeigt sich, dass es keine grundsätzlichen Änderungen gegeben hat. Die Autorengruppe „Bildungsberichterstattung“ kommt in ihrem aktuellen Bericht zu folgendem Ergebnis:2 Die Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung sank im Zeitraum von 2007 bis 2010 von 29 % auf 1 Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorunterstützter Bricht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld, hier S. 136. 2 Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld, S. 141 ff.

Inklusion statt Selektion: Paradigmenwechsel im Bildungssystem ist überfällig Argumente 4/2012


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26 %.3 Die Disparitäten in der Weiterbildungsteilnahme haben sich nicht verringert. Der Erwerbsstatus beeinflusst die Teilnahme. Im Jahre 2010 ist die Weiterbildungsteilnahme von Erwerbstätigen fast doppelt so hoch wie die von Nichterwerbstätigen. Ebenso haben der Bildungsstand und die berufliche Qualifikation einen erheblichen Einfluss auf die Teilnahme. Nach wie vor ist die Weiterbildungsbeteiligung von Menschen mit Hoch- und Fachhochschulreife fast doppelt so hoch wie die von Menschen mit niedrigem allgemeinbildendem Abschluss. Ebenso verhält es sich bei der beruflichen Qualifikation. Menschen ohne Berufsbildung nehmen nur halb so oft an Weiterbildung teil wie Personen mit Fachschul- oder Hochschulabschluss. Nach wie vor werden durch das bestehende Weiterbildungssystem Ungleichheiten zementiert und nicht abgebaut. Der Befund ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass eine öffentliche Förderung der Weiterbildung nur durch einzelne, nicht miteinander verbundene Förderinstrumente erfolgt. Damit spiegelt die Weiterbildungsförderung die grundsätzliche Situation in der Weiterbildung wider: Sie ist nicht einheitlich geregelt sondern wird in einer größeren Anzahl von Gesetzen und Verordnungen auf Bundesund Länderebene geregelt, mit der Folge, dass eine Reihe von Lücken bestehen.

che Umsteuerung ist durch die Politik trotz aller Lippenbekenntnisse nicht eingeleitet. Statt dessen erfolgt ein Festhalten an bekannten Instrumenten mit einer tendenziellen finanziellen Aushöhlung. Einzige Ausnahme ist die Diskussion um neue Steuerungsmodelle in der Bildung. Diese ging auch am Weiterbildungsbereich nicht spurlos vorbei. Hier ließ sich die Politik von der Hoffnung leiten, dass so genannte Effizienzgewinne durch den Einsatz neuer Steuerungssysteme im Bildungssystem ausreichend Finanzreserven mobilisiert werden können, so dass keine zusätzlichen Finanzressourcen notwendig seien. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch, sei es die Kita-Card im Bereich der Kindertagesstätten, die Globalhaushalte im Schulbereich, die Einführung von Hochschulautonomie oder in der Weiterbildung die Bildungsgutscheine für Erwerbslose. Häufig verursachte die Einführung dieser Instrumente mehr Kosten als Effizienzgewinne generiert werden konnten. Zum Teil sind sie daher schon wieder Geschichte geworden, einige leben jedoch in der Weiterbildung weiterhin fort mit Instrumenten wie der Bildungsprämie (vgl. unten). Im Folgenden werden die wesentlichen Förderinstrumente für die berufliche Weiterbildung kurz dargestellt. Neben diesen bestehen zahlreiche „kleinere“ Programme wie z.B. die Begabtenförderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Wie sieht die bestehende Weiterbildungsfinanzierung aus? Größere Veränderungen haben sich aus dem vielfach formulierten Handlungsbedarf bisher nicht ergeben, eine grundsätzli-

3 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld, S. 142ff.

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Das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG – oder „Meister-Bafög“) Das vom Bund und den Ländern gemeinsam finanzierte Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG) sichert einen individuellen Rechtsanspruch auf Förderung von beruflichen Aufstiegsfortbildungen. Seit der Novelle des AFBG im Jahre 2002 ist es zu einem kontinuierlichen Anstieg der Inanspruchnahme gekommen. So stieg die Zahl der Geförderten in 2010 auf mehr als 166.000, ein Anstieg im Vergleich zu 2009 um rund 5,6 %.4 Voraussetzung für eine Förderung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung. Gefördert werden Weiterbildungsmaßnahmen, die auf eine öffentlich-rechtliche Fortbildungsprüfung nach dem BBiG, der HwO oder auf einen gleichwertigen Abschluss nach Bundes- oder Landesrecht vorbereiten und die über dem Niveau einer Facharbeiter-, Gesellen-, Gehilfenprüfung oder eines Berufsfachschulabschlusses liegen. Mit der letzten Novelle des AFBG wurden auch die Gesundheits- und Pflegeberufe in die Förderung mit einbezogen. Gefördert werden der Lebensunterhalt, Lehrgangsund Prüfungsgebühren mit einem Darlehens- und einem Zuschussanteil. Die zentrale Schwachstelle des AFBG besteht darin, dass es sich von seiner Konzeption her um ein Leistungsgesetz handelt, das nicht systematisch in die Weiterbildungslandschaft integriert ist, sondern nur einen Teilbereich dessen regelt. Dies führt einerseits dazu, dass Qualifikationen unterhalb der Aufstiegsfortbildung nicht gefördert werden und andererseits dazu, Berufsgruppen, die nicht eine duale Berufsausbildung durchlaufen oder eine Aus-

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bildung in einem der Gesundheitsberufe absolviert haben, auszuschließen.

Die Förderung der Weiterbildung von Erwerbslosen und von Erwerbslosigkeit bedrohter Beschäftigter Von besonderer Bedeutung im Bereich der beruflichen Weiterbildung ist die Förderung von Maßnahmen durch die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur für Arbeit stellt nach wie vor einen der größten Finanzier von Weiterbildungsmaßnahmen dar. Seit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahre 1969 finanziert die Bundesagentur (BA), früher Bundesanstalt, Weiterbildungsmaßnahmen. Das Arbeitsförderungsgesetz wurde in den 27 Jahren seines Bestehens über hundertmal geändert. Insgesamt gingen die staatlichen Leistungen tendenziell jedes Mal ein Stück zurück. Förderte die Arbeitsagentur die berufliche Weiterbildung im Jahre 1995 noch mit ca. 5,3 Mrd. €, betrug die Förderung im Jahre 2009 nur noch 1,4 Mrd. € und sank im Jahr 2010 noch einmal auf 1,1 Mr. €. Eine präventive Arbeitsmarktpolitik ist nach diesen regelmäßigen Leistungskürzungen kaum noch möglich.

Programme des Bundes und der Länder zur Förderung der Weiterbildung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds Die zahlreichen ESF-Programme des Bundes und der Länder lassen sich in zwei 4 Vgl. BMBF (2012): Berufsbildungsbericht 2012, Berlin Bonn, S. 77.

Berufliche Weiterbildung in Deutschland – Die Wichtigkeit wird erkannt, aber nicht viel getan! Argumente 4/2012


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Förderstränge einteilen: die direkte Förderung von Weiterbildungsteilnehmern oder die Förderung von Projektvorhaben mit dem Ziel, Weiterbildungsstrukturen zu etablieren. Ein Beispiel für den ersten Förderstrang stellt die Bildungsprämie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) dar (ähnliche Modelle werden in einigen Bundesländern umgesetzt, z.B. der Bildungscheck NRW). Die Bildungsprämie wurde vom Bundeskabinett Mitte 2007 beschlossen. Im Kern wird eine Weiterbildungsprämie in Höhe von maximal 500 € für Einkommensgruppen mit bis zu 25.600 € (alleinstehend) bzw. 51.200 € (verheiratete) zu versteuerndem Jahreseinkommen gewährt, wenn mindestens die gleiche Summe als Eigenbetrag zur Finanzierung der Teilnahmeentgelte geleistet wird. Die Bildungsprämie ist als problematisch einzuschätzen, da sie als singuläre Maßnahme keinen nennenswerten Beitrag dazu leistet, Weiterbildung als vierte Säule des Bildungssystems auszubauen. Die heterogene Weiterbildungslandschaft und -finanzierung wird „bereichert“ um ein nachfrageorientiertes Instrument. Ein Schritt in Richtung einer Gesamtstrategie wird mit der Bildungsprämie nicht gegangen. Ein Beispiel für den zweiten Förderstrang stellt das Programm „weiter bilden“ (Sozialpartnerrichtlinie) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) dar. Mit dem ESF-Programm „weiter bilden“ sollen die Anstrengungen der Tarifparteien zur Stärkung der Weiterbildungsbeteiligung von Beschäftigten und Unter-

nehmen unterstützt werden. Die Förderung zielt auf die Umsetzung von Qualifizierungstarifverträgen, beziehungsweise von den jeweiligen Sozialpartnern getroffenen Vereinbarungen, zur Weiterbildung. Gefördert werden Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für betriebliche Weiterbildung und Weiterbildungsmaßnahmen in Betrieben. Im Rahmen des Programms werden aktuell 195 Projektvorhaben gefördert. Positiv ist hervorzuheben, dass mit dem Programm Strukturen für die betriebliche Weiterbildung aufgebaut werden können. Der Nachteil des Vorhabens besteht darin, dass es sich um eine Programmförderung handelt, die mit Auslaufen der aktuellen ESF-Förderperiode Ende des Jahres 2014 beendet ist. Wie es danach weitergeht, ist derzeit nicht abzusehen. Sinnvoll wäre demgegenüber eine Regelförderung zum Aufbau von betrieblichen Weiterbildungsstrukturen.

Was notwendig ist Statt vereinzelter Maßnahmen auf Bundes- und Länderebene der unterschiedlichen Ministerien, sind bundeseinheitliche Regelungen zur Förderung der Weiterbildung notwendig. Die Gewerkschaften ver.di, IG Metall und GEW haben im Jahre 2009 die Inhalte formuliert, die in einer bundesgesetzlichen Regelung aufgegriffen werden müssen.5 5 Vgl. z.B. GEW/IG Metall/ver.di (2008): Notstand: Weiterbildung in Deutschland. Das Weiterbildungsdesaster verringert Wachstum, Innovationen und Lebensperspektiven, Berlin/Frankfurt a.M.

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Stichwörter für strategische Handlungsfelder der Weiterbildungspolitik sind: ●

Aufbau einer flächendeckenden Beratung und Information;

Qualitätssicherung durch Evaluation;

ausreichend Personal in der Weiterbildung,

einheitliche Abschlüsse und Zertifizierung;

Kooperation und Regionalisierung in Netzen und Verbünden;

Absicherung von Lernzeiten

ein Finanzierungsmodell, das Allen Teilhabe an Weiterbildung ermöglicht.

Regelungsebenen Gesetz und Tarifvertrag wieder ineinander, sie sind aufeinander angewiesen. Gesetzliche Regelungen und Förderinstrumente können den Rahmen bilden, der im betrieblichen Alltag mit Hilfe der Tarifparteien umgesetzt wird. ●

Erforderlich sind aber auch Veränderungen auf der betrieblichen Ebene. Um die spezifischen Bedingungen einzelner Branchen für die betriebliche Weiterbildung ausreichend berücksichtigen zu können, ist es notwendig, dass die Tarifpartner das Thema Weiterbildung aufgreifen. Seit Ende der 90er Jahre haben sich einzelne Gewerkschaften auf dem Weg gemacht, das Thema anzugehen. Seitdem gibt es für die großen Branchen Metall- und Elektroindustrie, chemische Industrie und den öffentlichen Dienst sowie zahlreicher kleinerer Branchen tarifliche Regelungen zum Thema Weiterbildung. Auf dem Weg zur Umsetzung dieser Tarifverträge sind jedoch zahlreiche Hürden zu nehmen und diese sind noch nicht alle genommen. Denn nur wenige Arbeitgeber wollen die Gestaltung der betrieblichen Weiterbildung aus der Hand geben. Hier greifen die

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Berufliche Weiterbildung in Deutschland – Die Wichtigkeit wird erkannt, aber nicht viel getan! Argumente 4/2012


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PARTIZIPATION ALS VERTEILUNGSFRAGE – WARUM BETEILIGUNG MEHR IST ALS EIN JUGENDPARLAMENT von Kevin Kühnert, Vorsitzender der Jusos Berlin

Partizipation und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist ein im Kern populäres Anliegen, dessen Grundtenor kaum jemand widersprechen kann und will. Trotzdem kann konstatiert werden, dass unsere Gesellschaft den Bedürfnissen junger Menschen in den allermeisten Lebensbereichen nicht oder nur unzureichend gerecht wird. An Strukturen und Angeboten, die Beteiligung gewährleisten sollen, mangelt es jedoch kaum. Wer sich also als JungsozialistIn um die Partizipationsmöglichkeiten der eigenen Generation bemühen möchte ist gut beraten, den Theorie-Praxis-Gap zu ergründen und Strategien zu entwickeln, diesen zu schließen.

Theorie Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beteiligung. Diese Feststellung ist so simpel wie wichtig. Die rechtliche Grundlage für alle Menschen zwischen 0 und 27 Jahren schafft hierbei die überaus progressive UN-Kinderrechtskonvention, die u. a. festlegt, dass Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Entscheidungen angemessen beteiligt werden müssen. Dieser Grundsatz zieht sich mittlerweile wie ein roter Faden durch BGB, Kinder- und Jugendhilfegesetzt (SGB VIII), durchs Baugesetzt, zig Ländergesetze und noch mehr Ausführungsvorschriften. Das selbstbewusste Beharren auf diesen Grundsätzen muss Grundlage jeder politischen Hand-

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lung sein, die aus Recht eine erlebbare Wirklichkeit formen möchte.

Praxis Ein Beteiligungsprozess genügt sich jedoch nicht selbst sondern muss an Konzeption, Umsetzung und Ergebnis gemessen werden. Die in Deutschland am häufigsten genutzten Beteiligungsinstrumente erweisen sich im Praxischeck oft als mangelhaft. Sie fokussieren nur einzelne Altersgruppen, sind elitär und lassen die NutzerInnen über die Dimension der Entscheidungsspielräume im Unklaren. Solche Prozesse festigen etablierte Machtstrukturen, denn sie sind in der Regel an den Interessen derer orientiert, die sie anleiten und nicht an denen, die sie unmittelbar betreffen. Gleich fünf elementare Voraussetzungen für gute Partizipation werden hierbei mit Füßen getreten: ●

Die Beteiligung steht allen Kindern und Jugendlichen barrierefrei offen.

Die Entscheidungsprozesse und -spielräume sind von Anfang an für alle transparent.

Die Betroffenen setzen die Themen selbst.

Die Kommunikation ist gleichberechtigt.

Die Methoden sind zielgruppenorientiert und attraktiv.

Wir alle kennen solche Formen der Scheinbeteiligung. Sie sind wissenschaftlich erfasst und haben Eingang in das Mo-

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dell „Stufen der Partizipation“ gefunden, das sie entsprechend ihrer Machtverteilung hierarchisiert. Das Spektrum reicht demnach von Instrumentalisierung bis Selbstbestimmung und weist dazwischen zahlreiche Graustufen auf, die wir in der Praxis finden können. Am häufigsten wird in Deutschland mit dem Modell der Mitsprache und Mitwirkung gearbeitet, in dem Kinder und Jugendliche eigene Anregungen unverbindlich in etablierte Entscheidungsprozesse einfließen lassen können. Die Entscheidungskompetenzen bleiben in den Händen der Erwachsenen.

Interessenkonflikte am Beispiel des Kinder- und Jugendparlaments Wie schwierig es ist, echte Partizipation in der Praxis Wirklichkeit werden zu lassen zeigt das Beispiel der Kinder- und Jugendparlamente (KiJuPs), die in vielen Kommunen seit einigen Jahren wie Pilze ausdem Boden sprießen. KiJuPs genießen in den meisten Parteien, bei politischen Eliten und auch in Reihen unseres Verbandes große Sympathien. Die Vorteile liegen auf der Hand: Solche Parlamente orientieren sich an bereits existierenden politischen Strukturen, sind somit vergleichbar und nicht zuletzt recht pflegeleicht. In Zeiten klammer Kassen der Kommunen ist damit eines der bestechendsten Argumente für KiJuPs leider bereits genannt: Sie sind finanziell und personell ressourcenschonend. Das Problem in der praktischen Umsetzung eines KiJuPs liegt nicht in der Zielstellung. Beteiligung zentral vor Ort zu etablieren ist ein edles Anliegen und die Bindung an die Modelle der repräsentativen Demokratie folgt einem verständli-

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chen Bedürfnis nach institutioneller Nähe. Einzig die Zielgruppenorientierung,und somit das entscheidende Merkmal sachgemäßer Partizipation, bleibt hierbei auf der Strecke. Das Problem der KiJuPs sind folglich nicht diejenigen, die da sind, sondern vielmehr diejenigen, die weg bleiben. Alle empirischen Erfahrungen unterstreichen, dass sich in KiJuPs lokale (Nachwuchs)Eliten sammeln, wobei einzelne Ausnahmen hierbei natürlich die Regel bestätigen. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Wahl von „Abgeordneten“ in Schulen – in seltenen Fällen auch in Jugendfreizeiteinrichtungen – befördert eine personelle Auslese, die erfahrene Kinder und Jugendliche bevorzugt. Andere fallen durch das Raster, weil ihnen Kompetenzen, das Bewusstsein für Funktion und Bedeutung von parlamentarischen Abläufen oder sogar beides fehlt. Diese Kinder und Jugendlichen haben jedoch auch zahlreiche berechtigte Anliegen, ihre Lebenswirklichkeit betreffend, die in den mitunter komplexen Mühlen des Delegiertenprinzips verloren gehen. Die damit einhergehende Frustration der Betroffenen ist eine beobachtbare, tragische Begleiterscheinung. Soziale Beteiligungshürden werden so verfestigt – bis hin zu Tendenzen der Ablehnung parlamentarischer Demokratie. Eine wissenschaftliche Begleitung des im Jahr 2008 eingerichteten Jugendparlaments in Luxemburg bestätigt diese und andere Beobachtungen. So zeichnen sich KiJuPs auch durch eine beträchtliche zeitliche Beanspruchung der „Abgeordneten“ aus. Sie erfordern einen Einsatz, der weit über die ureigenen Anliegen der/des Einzelnen hinausgeht, was jedoch niemals eine Voraussetzung für Partizipation sein darf.

Darüberhinaus bergen sie ein erhebliches Frustrationspotenzial, wenn eine Verflechtung mit den tatsächlichen Parlamenten sowie eine transparente Regelung zur Umsetzung der KiJuP-Beschlüsse fehlen. Solche Beteiligungsillusionen müssen strukturell ausgeschlossen werden, soll das Parlament wenigstens für die erreichte Zielgruppe einen Mehrwert bieten. KiJuPs können funktionieren, wenn sie als ergänzendes Element einer lokalen Beteiligungslandschaft genutzt werden, die passgenaue Partizipationsformen für alle Zielgruppen bereithält. Als alleiniges Instrument der Partizipation für Kinder und Jugendliche sind sie nicht geeignet. Auch darf Beteiligung hier nicht mit Demokratiebildung verwechselt werden. Zwar gibt es gute Gründe, Kinder und Jugendliche durch spielerische Praxis an die Funktionsweisen parlamentarische Demokratie heranzuführen. Der Versuch, die Anliegen der Betroffenen in einem Abwasch gleich noch mitzubehandeln ist jedoch mittelfristig zum Scheitern verurteilt, da das Projekt und die Beteiligten von den überbordenden Erwartungen regelrecht erschlagen werden. Etwas Besseres als Kinder- und Jugendparlamente ist möglich!

Beteiligung als gesellschaftliche Verteilungsfrage Das Bemühen um Partizipationsformen, die tatsächlich dem Individuum und seinen Anliegen gerecht werden, bietet beidseitige Vorteile. Beteiligung gerecht zu organisieren bedeutet nicht weniger als die Umverteilung von Lebenschancen und gesellschaftlichen Freiräumen und ist damit ein ur-jungsozialistisches Anliegen. Damit wir

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nicht aus den Augen verlieren, über welche beispielhaften Anliegen wir eigentlich sprechen: die Gestaltung von Spielplätzen, Schulhöfen, Grünanlagen und Sportstätten, also den nutzerInnenorientierten Umbau des öffentlichen Raumes. Die kinderund jugendgerechte Gestaltung der lokalen Verkehrsinfrastruktur, also die Optimierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Den Zugang zu Bibliotheken, Museen, dem Internet und anderem, also die (Rück-)eroberung von Kultur, Medien, Informationen und Kommunikation. Den Erhalt von Jugendfreizeiteinrichtungen und die Gestaltung von Kitas, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen, also die Gewährleitung von Freiräumen, die im Idealfall auch noch selbstbestimmt verwaltet sind. Das sind keine Kleinigkeiten, schon gar nicht für kleine und nicht mehr ganz so kleine Menschen, die als kompetente ExpertInnen in eigener Sache ernst genommen werden müssen. Erst recht, wenn sie ihre Anliegen selbst nur unzureichend formulieren, geschweige denn durchsetzen können. Sie haben deshalb das Recht, unkompliziert Unterstützung zu erfahren.

fordern die Umsetzung ein und sorgen für einen stetigen Informationsfluss. ●

Der Geltungsbereich des Kinder- und Jugendhilfegesetzes – von 0 bis 27 Jahren – muss vollumfänglich mit Angeboten bedient werden. Auch Kita-Kinder und junge Erwachsene haben handfeste Anliegen, die unsere Unterstützung verdienen.

Beteiligung ist keine freiwillige Leistung. Viele Kommunen leiden unter regelrecht explodierenden Kosten für gesetzliche Pflichtleistungen, z.B. Hilfen zur Erziehung. Diese Mehrkosten dürfen nicht länger über Einsparungen bei Kinder- und Jugendarbeit und -beteiligung ausgeglichen werden. Ihre Finanzierung muss gesetzlich gesichert werden.

Es empfiehlt sich, die Kinder- und Jugendbeteiligung durch eine Querschnittsfinanzierung aller lokalen Resorts abzusichern, was der Vielfältigkeit der Anliegen gerecht wird und politisches Bewusstsein in den Behörden schafft. Aus der finanziellen Verantwortung muss dann zwangsläufig auch Verantwortung für die Sorgfältigkeit der Befassung der Anliegen erwachsen.

Lokale Qualitätsstandards für Beteiligungsprozesse müssen gemeinsam mit den Betroffenen erarbeitet und eingehalten werden.

Kinder und Jugendliche haben eigene Lebenswirklichkeiten und somit eigene Anliegen. Sie können nicht pauschal mit den Anliegen anderer Gruppen vermischt werden. Einrichtungen wie

Was ist also zu tun? ●

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Lokale Drehscheiben (z.B. Kinderund Jugendbüros) müssen verpflichtend geschaffen werden. Diese müssen über ausreichende Ressourcen verfügen, um flexibel und einzelfallorientiert Unterstützung zu leisten und diese proaktiv vor Ort anbieten zu können. Diese Drehscheiben erfüllen eine Scharnierfunktion zwischen Kindern und Jugendlichen einerseits sowie Politik und Verwaltung andererseits und übersetzen die Anliegen in tätiges Handeln,

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Mehrgenerationenhäuser und Methoden wie Runde Tische können deshalb für Kinder und Jugendliche kaum bedarfsgerechte Angebote sein. Die praktische Erfahrung der Selbstwirksamkeit im politischen Raum ist eine unbezahlbare Erfahrung. Werden Kinder und Jugendliche gleichberechtigte Partner im politischen und institutionellen Geschehen, so eröffnen sich für sie Handlungs- und auch Lernfelder, die ihnen bis heute versperrt blieben. Im Aushandlungsprozess erweitern sie ihr Handlungsrepertoire und erschließen somit wertvolle Aneignungs- und Bildungskompetenzen. Diese Umstände machen Demokratie erlebbar und wirken im besten Sinne emanzipativ – für Kinder, Jugendliche und letztlich die gesamte Gesellschaft. Lasst uns also aufhören, dieses Potenzial weiterhin zu verschenken. ●

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NICHT ALLE HIPSTER. JUGENDKULTUREN HEUTE. von Gabriele Rohmann, Mitbegründerin des Archiv der Jugendkulturen e. V. in Berlin, Projektleiterin von „New Faces“ und „Culture on the Road“

Jugend und Jugendkulturen als gesellschaftlich definiertes Moratorium für junge Menschen sind ein relativ junges Phänomen. Die ersten Jugendkulturen entwickelten sich in Deutschland vor rund 100 Jahren in den größeren Städten. In Berlin rief ein Lehrer an einem Steglitzer Gymnasium zusammen mit Schülern den „Wandervogel“ ins Leben, auf den Rummelplätzen und Straßen bildeten Jugendliche der Arbeiterklasse die „Wilden Cliquen“. Seither sind eine Fülle von Szenen entstanden, von denen die meisten heute noch bestehen: in den 1930er-Jahren die „SwingJugend“ und die „Edelweißpiraten“, in den 1950er-Jahren die „Halbstarken“, „Rock'n'Roller“ und „Existentialisten“, in den 1960er-Jahren „Rocker“, „Heavy Metals“ „Beatniks“, „Hippies“, „Teds“, „Mods“ und „Skinheads“, in den 1970er-Jahren die „Punks“, „Gothics“ und der „HipHop“, in den 1980er-Jahren schließlich die „Hardcore-Szene“, „Popper“ und

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„Technos“; in den 1990er-Jahren kamen Dancehall-Music, Manga, Jesus Freaks und Visual kei hinzu. Und den vielfältigen Ideen der jungen Menschen sind auch im Jahr 2012 keine Grenzen gesetzt. Heute gibt es unzählige Crossover-Styles, mit denen Jugendliche ihre Vorlieben für Musik, Kleidung, politische Haltungen und Freizeitverhalten zum Ausdruck bringen oder sich mit einer der geschätzt 30 eindeutigeren Szenen wie Hip-Hop, Punk oder Skinhead identifizieren. Hipster, die kurzweilig hier und da mit dem Trend gehen, aber nicht wirklich einen Stil bilden, sind letztlich nur ein Randphänomen. Circa 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen verorten sich in Szenen wie Visual kei, Manga, Gothic, Punk oder Hip-Hop, die einzelnen Stile sind aber auch für viele der übrigen 75 bis 80 Prozent präsent und können in der Einbindung einzelner Stilelemente wie Musik oder Kleidung prägend sein.

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Punk als Wegbereiter für Milieuüberschreitung Bis in die 1970er-Jahre spielten gesellschaftliche Klassen bzw. später Milieus eine tragende Rolle, welchen Jugendkulturen sich junge Menschen anschlossen. ExistentialistInnen waren in der Regel GymnasiastInnen oder Studierende, Halbstarke kamen überwiegend aus der Arbeiterklasse. Hippies hatten oft einen bürgerlichen Hintergrund, Teds, Mods und Skinheads entstanden in den Arbeitervierteln Großbritanniens. Die Punk-Kultur der 1970er-Jahre markierte einen deutlichen Einschnitt in diese gesellschaftlichen Raster: In Großbritannien entwickelte sich vor dem Hintergrund einer hohen Jugendarbeitslosigkeitsquote von 25 Prozent die „NoFuture-Generation“ mit ihrem Anspruch des „Do-It-Yourself“ (DIY ) – auch in Abgrenzung zu den teuren Art-Rock-Konzerten von Bands wie Genesis oder Pink Floyd. „Gitarre, Bass und Schlagzeug, drei Akkorde – das ist Punk“ oder „Punk kann jeder“ waren das Credo der Jugendlichen. In den USA entstand in etwa zeitgleich eine eher avantgardistisch-künstlerische Punk-Strömung, die mit den Lebensverhältnissen der britischen Jugendlichen wenig zu tun hatte. Punk hat sich bis heute gehalten. Der Slogan „Punks not dead“ scheint sich immer wieder zu bestätigen. In Deutschland erfreut sich Punk in den letzten Jahren wieder stärkerer Aufmerksamkeit, von Jugendlichen verschiedener Herkünfte. Welche politische Brisanz Punk mit sich bringen kann, zeigt jüngst der staatliche Umgang mit der Punk-Band PussyRiots in Russland.

Generell sind seit den 1970er-Jahren die Szenen Milieu-durchlässiger geworden. In allen Szenen treffen Jugendliche unterschiedlicher Gesellschaftsschichten aufeinander, was nicht immer ohne Konflikte abläuft, aber auch und vor allem ein großes Potential zur interkulturellen Verständigung in sich birgt.

Hip-Hop immer noch ganz oben In den siebziger Jahren in den USA entstanden, hat sich Hip-Hop auf der ganzen Welt verbreitet und ist in Deutschland seit der Jahrtausendwende die meist konsumierte, aber auch gestaltete Jugendkultur. Die Angebote im Hip-Hop sind groß: Rappen, Sprayen, Djing, Breakdancen und Beatboxen bieten den Jugendlichen unterschiedliche und doch zusammenhängende Möglichkeiten, sich kreativ auszuprobieren. Das immer noch präsente Credo des „Eachoneteachone“ stiftet Szene-Zusammenhalt und erlaubt auch bildungsbenachteiligten Jugendlichen, Fähigkeiten im Umgang mit Sprache, Körper oder Kunst informell und kostenfrei zu erlangen. Das Do-it-yourself im Punk oder Each-one-teach-one im Hip-Hop liegen nicht weit auseinander. In beidem stecken emanzipatorische Potentiale, auch für die Jugendlichen, denen viele gesellschaftliche Angebote verwehrt sind.

Vereinnahmungsversuche von rechts Jugendkulturen entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern sind zugleich Spiegel und Seismograph gesellschaftlicher Verhältnisse – lokal und global. Daher finden sich auch in allen Jugendszenen ganz un-

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terschiedliche Meinungen und Haltungen – von politisch ganz links bis, eingeschränkt, ganz rechts. Machte noch in den 1990er-Jahren die Neonazi-Szene mit Rechtsrock-Konzerten im Hardrock-Stil oder wahlweise mit softem Gitarrensound eines Frank Rennicke mobil, so hat diese Szene ihre Strategien seit 2005 grundlegend geändert und versucht heute, Jugendliche im coolen Streetwear-Look von Thor Steinar oder Eric &Sons für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Auch rechte Streetart oder Graffiti kommen vor, allerdings können Rechtsextreme in der Hip-Hop-Szene weniger leicht Fuß fassen als vergleichsweise in der Skinhead-, Gothic- oder Techno-Szene. Dazu kommen ihre Vereinnahmungsversuche von politisch links geprägten Symbolen und Kultfiguren wie das Tragen von Che-Guevara-Shirts und seiner Ausrufung als „nationaler Held Lateinamerikas“ – was dem Werdegang von Che Guevara, in Argentinien geboren, auf Kuba im Widerstand, in Bolivien ermordet, selbstredend widerspricht. Die Vereinnahmungsversuche von rechts werden weitergehen. Längst haben Rechtsextreme erkannt, dass auch sie, zumindest nach außen, Trends und aktuelle Themen aufgreifen müssen, um neuen AnhängerInnen rekrutieren zu können.

Potentiale für die politische Bildung Gerade wegen der Gefahren und Aktivitäten der RechtsextremistInnen sollten wir den Potentialen von Jugendkulturen für die politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen einen hohen Stellenwert beimessen. Das gehört zum Selbstverständnis des Archivs der Jugendkulturen und seiner Projekte. 1997 gegründet, be-

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treibt das Archiv ein umfangreiches Forschungs-, Informations- und Bildungszentrum in Berlin, berät, vernetzt, konzipiert und realisiert Projekte, Ausstellungen und Bildungsangebote. Seit 2002 haben wir mit dem Projekt „Culture on the Road“ in Berlin und im gesamten deutschsprachigen Raum an hunderten Schulen, Jugendeinrichtungen und Ausbildungsstätten mit tausenden Jugendlichen und Erwachsenen über Szene-spezifische Workshops mit authentischen und kompetenten Szene-Vertreterinnen und -Vertretern zu Themen wie Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie, aber auch und vor allem zur Förderung von Anerkennungskulturen gearbeitet. Das Projekt setzt bei dem an, was junge Menschen interessiert: Freizeit, Musik, Mode, Lifestyle. Mode, Musik, die Gestaltung der Freizeit sind auch Bestandteile von Jugendkulturen. Gleichzeitig setzen sich junge Menschen in den Szenen auch mit gesellschaftlichen Prozessen auseinander und verarbeiten diese in Songs, Zeitschriften, Internetportalen. Bei Culture on the Road wird dazu gearbeitet, zielgruppenorientiert, partizipativ, authentisch, kompetent.

Antisemitismus und Jugendkulturen: Das Projekt New Faces Aus der langjährigen Erfahrung mit Culture on the Road haben wir das Folgeprojekt „New Faces – Mit Kultur und Medien gegen Antisemitismus“ gestartet. In diesem Projekt arbeiten junge in Berlin lebende Israelis mit jungen BerlinerInnen über Techno/House, Punk, HipHop, Fanzines, Fotografie, Video, Comic, Streetart oder Theater mit Jugendlichen und Erwachsenen zu Antisemitismus heute und präsen-

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tieren die Ergebnisse in multimedialen Wanderausstellungen. Dass das Thema Antisemitismus traurige Relevanz hat, hat neben den Studien zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Gewaltund Konfliktforschung und des Berichts der ExpertInnenkommission Antisemitismus des Deutschen Bundestags auch die neueste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung verdeutlicht. Antisemitismus zieht sich durch sämtliche gesellschaftliche Milieus und Altersklassen, auch unter Jugendlichen, angefangen bei „Du Jude“ als Schimpfwort über die mit gefährlichem Halbwissen gespickte Sicht auf den Nahost-Konflikt und die schnell in Antisemitismus kippende Kritik an der Politik des Staates Israel oder von Schuldabwehr getriebenen Schlussstrichdebatten zum Thema Nationalsozialismus. Die interkulturelle Begegnung junger Menschen aus Deutschland und Israel, die jugendkulturelle Interessen verbinden, schafft einen positiven Bezug zwischen Menschen. Jugendkulturen wirken als Türöffner und innovativer Faktor für die politische Jugendund Erwachsenenbildung. ●

Mehr Informationen zum Archiv der Jugendkulturen unter www.jugendkulturen.de Mehr Informationen zu den Projekten Culture on the Road und New Faces unter www.culture-on-the-road.de Mehr Informationen zu unserer Ausstellung „Der z/weite Blick“ zu Diskriminierungen in Jugendkulturen unter www.der-z-weite-blick.de Weiter Publikationen von Gabriele Rohmann: Spaßkultur im Widerspruch. Skinheads in Berlin (1999), Entre Fronteras. Jugendkulturen in Mexiko (Hg. mit Manfred Liebel, 2006), Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen (Hg., 2007).

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SCHÖN WAHNSINNIG von Alena Thiem und Yvonne Franck, Gründerinnen von AnyBody Deutschland

Schönheit ist seit Menschengedenken etwas, das es zu erstreben gilt. Gleichzeitig sind unsere Schönheitsideale ständiger Veränderung unterworfen. Modische Trends haben den Menschen seit jeher Hilfsmittel angeboten, um den damit einhergehenden Anforderungen an das eigene Äußere zu folgen: von gepuderten Perücken über Korsagen, Hüft- und Schulterpolster bis hin zu Baggypants, HighHeels und Skinnyjeans. So, wie sich die Mode früher von Jahrhundert zu Jahrhundert und heute von Saison zu Saison ändert und erneuert, tut es auch das körperliche Schönheitsideal und hat es seit jeher getan: von Cleopatras Nase, Adonis und den „Rubens-Frauen“ über Arnold Schwarzenegger, Barbie und 90-60-90 bis hin zu den neuzeitlichen Topmodels. Wenn es sich folglich um vergängliche Phänomene handelt, die mal die eine und mal eine andere Ausprägung haben – woher kommt dann die Aufregung um den aktuellen „Schönheitswahn“? Ist das Wort „Schönheitswahn“ an sich nicht schon übertrieben und letztlich nichts weiter als eine leere Worthülse für eine Situation, die gar nicht problematisch (weil vergänglich) ist?

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Knapp 50 % der in Deutschland lebenden Mädchen zwischen 11 und 15 finden sich zu dick, ergab eine Studie der Weltgesundheitsorganisation, die regelmäßig das Gesundheitsverhalten von Schulkindern weltweit untersucht.1 Bei den Jungen sieht es mit gut 34 %, die sich als zu dick empfinden, etwas milder aus. Deutschland liegt mit diesen Zahlen nicht nur weit über dem europäischen Durchschnitt, sondern nimmt auch insgesamt den traurigen ersten Platz für sich ein. In keinem anderen Land der Welt sind 11bis 15-Jährige so unzufrieden mit ihrem eigenen Körper. Nun ist die Pubertät eine Lebensphase, in der sich der Körper verändert, sich vom kindlichen Abbild entfernt und immer mehr der Statur eines Erwachsenen annähert. Damit gehen naturgemäß Unsicherheiten und auch Unzufriedenheiten einher. Nicht nur der Körper, auch der Geist muss in diesem Alter entscheidende Entwicklungsschritte meistern und ein ständiges Sich-Vergleichen überstehen. Doch während wir dem Geist eine Weiterentwicklung erlauben und sie fördern, ist bei Mädchen paradoxerweise im Hinblick auf den

1 Vergleiche hierzu: www.hbsc-germany.de

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Körper das Gegenteil der Fall: mit der Annäherung an einen weiblichen Erwachsenenkörper beginnen viele Mädchen damit, sich von dem gängigen Schönheitsideal zu entfernen. Wir leben in einer Zeit, in der das anzustrebende Ideal ein schlaksiger Kindskörper mit schmalen Hüften, schlanken Schenkeln und großem Kopf ist – dabei gerne garniert mit den Brüsten einer erwachsenen Frau und hin und wieder auch mit einem runden Po. Wir leben somit in einer Zeit, in der Mädchen spätestens ab dem 11. Lebensjahr lernen, dass ihr Körper zunehmend „hässlicher“ wird. Und wir bieten unseren Mädchen und Frauen und inzwischen auch Jungs und Männern jeden Alters allerlei Hilfsmittel an, den Prozess des körperlichen Wachsens aufzuhalten oder rückgängig zu machen. Bei diesen Hilfsmitteln handelt es sich jedoch nicht mehr allein um die oben genannten modischen Kleiderstile, die selbstredend einen großen Einfluss auf das Empfinden von Schönheit haben. Stattdessen haben wir das Sortiment um Diätprogramme, Wundercremes und Schönheitsoperationen erweitert, deren Konsum und Inanspruchnahme etwas Alltägliches geworden ist. Und während die soundsovielte Diät ihren versprochenen „Erfolg“ langfristig missen lässt, weil das Konzept einer Diät an sich nicht aufgeht,2 während keine Creme der Welt jemals Falten oder Cellulite verschwinden lassen wird, weil das natürlich und medizinisch schlichtweg ausgeschlossen ist, lernen insbesondere Mädchen und Frauen, auf ewig mit ihrem Körper unzufrieden zu sein. Und immer häufiger sogar: ihn zu hassen. An diesem Gefühl werden letztlich auch ein Silikonbusen oder eine „verjüngte Vagina“ nichts ändern können – im Gegenteil: Durch die zunehmenden „Errungenschaften“ der ästhetischen Chirurgie werden immer mehr Kör-

perstellen zu Baustellen und als veränderungswürdig erklärt.3 Der Hass auf den eigenen Körper kann extreme Ausmaße annehmen und tut dies in Form von Essstörungen immer mehr. Es ist schwierig, hierzu verlässliche Zahlen zu finden, denn häufig sind diese Krankheiten über einen gewissen Zeitraum gut zu verstecken – insbesondere im Fall von Bulimie. Außerdem gelten Schlanksein und Abnehmen als eine Form von Selbstkontrolle oder Verständnis von Perfektion und werden in unserer leistungsorientierten Gesellschaft entsprechend honoriert und gelobt.4 Der Idealkörper bestimmt folglich nicht allein über Schönheit, sondern auch über Erfolg in Beruf und Leben ganz allgemein. Das Konzept hat eine einschüchternde Wirkung, unter der insbesondere Mädchen leiden. Denn in gesellschaftlicher und ebenso marktwirtschaftlicher Sicht wirken diese Mechanismen erheblich: Sind unsere Mädchen und Frauen tagein, tagaus mit ihren individuellen Zweifeln und dem Optimieren ihres eigenen Körpers beschäftigt, werden wir sie nicht in Führungspositionen und Aufsichtsräten sehen.5

2 „Wenn Diäten tatsächlich funktionieren würden, müssten wir sie ja nur ein einziges Mal machen.“, sagt immer wieder Susie Orbach, Gründerin von AnyBody UK und EndangeredBodies. Zum Beispiel hier: http://videos.arte.tv/de/videos/interview-mit-susie-orbach--3796422.html 3 Zum Weiterlesen über Intimchirurgie bei Frauen http://www.taz.de/Debatte-Frauen/!83974/ und bei Männern http://www.sueddeutsche.de/leben/schoenheitsoperationen-fuer-maenner-nachhilfe-fuers-bestestueck-1.1147129 4 Zum Weiterlesen: http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2011-12/eltern-familie-essstoerung 5 Zum Weiterlesen: Laurie Penny Fleischmarkt. Edition Nautilus, 2012.

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Noch nie waren Schönheitsideale so einseitig und so omnipräsent wie heute. Abertausende digital bearbeitete Bilder sprechen täglich zu uns, und das in einer viel mehr unterbewussten und mächtigeren Sprache, als es ein gesprochenes oder geschriebenes Wort vermag. Noch nie waren die Ideale so maßgebend. Darum ist „Schönheitswahn“ eine vollkommen richtige und berechtigte Bezeichnung für den aktuellen Zustand.6 Dieser Entwicklung muss etwas entgegengehalten werden. Jeder Mensch verdient es, seinen Körper mögen zu dürfen. Ebenso verdient es jeder Körper, gesund ernährt und gepflegt – sprich: liebevoll behandelt – zu werden. Wir müssen (wieder?) verstehen lernen und lehren, dass wahre Schönheit ein sehr vielfältiges Konzept ist, das sich über die digital nachbearbeiteten Ideale hinweg, die von Plakatwänden herab auf uns herunterschauen, weit in den Horizont hinein erstreckt. Wir müssen neue Vorbilder schaffen für die Heranwachsenden, für die Heidi Klums „arbeitet-an-euch-dann-könnt-ihr-es-schaffen“Topmodels das Maß aller Dinge sind. Eine Abkehr vom Predigen einseitiger Ideale jeglicher Art, stattdessen realistische und vielfältige Abbilder von echten Menschen in den Medien – das wären Schritte in die richtige Richtung. Mit diesen großen und gleichzeitig simplen Zielen hat sich als Teil des internationalen Netzwerks EndangeredBodies – Körper in Gefahr – die Initiative AnyBody Deutschland gegründet. ● 6 Zum Weiterlesen: http://www.guardian.co.uk/ lifeandstyle/2012/jun/10/body-image-anxietyeva-wiseman

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Schön wahnsinnig Argumente 4/2012

Kontakthinweis: kontakt@anybodydeutschland.de www.endangeredbodies.org www.facebook.com/AnyBody.Deutschland Twitter: @AnyBody_de


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Notizen

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Notizen

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Abschnitt Argumente 4/2012


Argumente 4/2012 Jugend und Bildung Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

Postvertriebsstück G 61797 Gebühr bezahlt

Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Dezember 2012

ISSN 1439-9784 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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