Argumente 2/2013 Bundestagswahl

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ARGUMENTE 2/2013 Bundestagswahl Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift

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Juso-Bundesverband Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin August 2013

ISSN 14399785 Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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ARGUMENTE 2/2013 Bundestagswahl

Impressum Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim SPD-Parteivorstand Verantwortlich Sascha Vogt und Jan BĂśning Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-BundesbĂźro, Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de Verlag Eigenverlag Druck braunschweig-druck GmbH Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.


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INHALT

Intro: Und jetzt alle: Gerechtigkeit! Zur Bundestagswahl 2013 ............................ 5 von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Magazin Die folgenden Artikel wurden durch ein Call for Paper zu „Zeit für Gerechtigkeit“ eingeworben und ausgewählt. Homo Gerechticus ................................................................................................... 9 von Katharina Oerder, Doktorandin Psychologie, Juso-Bundesvorstand, Peter Beule, Doktorand Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaftler und Lena Oerder, Doktorandin Rechtswissenschaft, Juso-Vorstand Köln Wie die Linken die Moral entdeckten – und die Mitte sie aus dem Blick verlor 16 von Rainer Freudenthaler, Student der Medien- und Kommunikationswissenschaft Universität Mannheim, SPD Stuttgart Ist Hans verrückt? Über das Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Demokratie ................... 22 von Katharina Schenk, promoviert an der Universität Leipzig im Fachbereich Philosophie zum Themenkomplex Gemeinwohl und Glück Mehr Gleichheit wagen ..........................................................................................26 von Moritz Rudolph, stellv. Vorsitzender Jusos Nordost

Schwerpunkt Programm für den linken Politikwechsel .............................................................. 33 von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender

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Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? ...................................................... 39 von Aiko Wagner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „German Longitudinal Election Study (GLES)“, Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) „E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft................. 46 von Prof. Dr. Gesche Joost, Professorin für Designforschung und Mitglied im Kompetenzteam von Peer Steinbrück für den Bereich Netzpolitik Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone: Was leistet das Regierungsprogramm? ................................................................ 52 von Dr. Björn Hacker, stellvertretender Vorsitzender des Fachausschusses Europa der SPD Berlin und Referent in der Friedrich-Ebert-Stiftung Umsteuern für Bildung und Gerechtigkeit ........................................................... 58 von Dr. Carsten Sieling, MdB Wohnen muss bezahlbar bleiben ......................................................................... 64 von Felix von Grünberg, Vorsitzender des Mieterbundes und Landtagsabgeordneter der SPD in NRW It’s the women’s vote, honey. ............................................................................... 69 von Nancy Haupt und Elisa Gutsche, Projektgruppe Junge Frauen im SPD-Parteivorstand Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? ...................................................................................... 77 von Daniela Kaya, Mitglied im Bundesvorstand der SPD-AG Migration und Vielfalt, Autorin

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Die Würde der Arbeit – SPD-Politik für Beschäftigte .......................................... 85 von Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG BAU und zuständig für den Bereich Arbeit und Soziales im Kompetenzteam von Peer Steinbrück Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? .......................................................... 90 von Anita Tiefensee, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hertie School of Governance Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa: Was EuropäerInnen von der Bundestagswahl erwarten ..................................... 95 von Daniel Cornalba, Vizepräsident der Young European Socialists, Nationalsekretär für den Arbeitsbereich Europa des MJS France Mit Essen spielt man nicht! ................................................................................. 101 von David Hachfeld, Referent für Handelspolitik bei Oxfam Deutschland Auch Kevin muss können dürfen! ....................................................................... 105 von Mareike Strauß und Amina Yousaf, Mitglieder im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen

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INTRO: UND JETZT ALLE: GERECHTIGKEIT! ZUR BUNDESTAGSWAHL 2013 von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion

Einleitung zum Schwerpunkt

Am 22. September sind fast 62 Millionen BundesbürgerInnen berechtigt und aufgerufen den 18. Deutschen Bundestag zu wählen. Plakate, Flyer und Großflächen, Sondersendungen und TV-Duelle zeugen von der kommenden Entscheidung. Eine nervöse Spannung im Land ist deswegen derzeit kaum zu spüren. Der Wahlkampf gilt vielen als gewohntes und manchmal skurriles Ritual einer konsolidierten Demokratie in relativem Wohlstand. Ist die Wahl also nur ein Popstar-Casting für Erwachsene? Wer sich die entpolitisierte, oft seicht psychologisierende und bisweilen erschreckend lethargische Berichterstattung über die Bundestagswahl anschaut, könnte leicht diesen Eindruck gewinnen. Ganz so, als gelte es im September nur darüber zu entscheiden, wessen tägliches Erscheinen im abendlichen Nachrichtenprogramm den Fernsehzuschauern zumutbarer erscheint. Tatsächlich geht es aber um weit mehr: Es geht um eine Grundsatzentscheidung über Lebensumstände, Rechte und Freiheits-

grade von über 80 Millionen Menschen in diesem Land (von den Lebensumständen hunderter Millionen anderer EuropäerInnen ganz zu schweigen). Oft werden vor Wahlen Richtungsentscheidungen beschworen, das gehört zur Mobilisierung dazu. Allerdings: In jüngerer Vergangenheit war diese Einschätzung niemals so zutreffend wie heute. Das konservative und das rot-grüne Lager verorten die Probleme dieses Landes in jeweils anderen Bereichen. Ihre programmatischen Profile dienen den Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen in diesem Land. Sie bieten andersgeartete, teils gar gegensätzliche Lösungen an. Das Gesicht dieses Landes wird durch die Entscheidung am 22. September entscheidend geprägt werden, das steht fest. Mindestlohn, Steuerpolitik, Rente und Bürgerversicherung, Bildungsinvestitionen, Entgeltgleichheit, Mietenbremse oder doppelte Staatsbürgerschaft: Nur mit der SPD besteht die Chance, dass die gesellschaftlichen Wunden aus der zunehmenden sozialen Spaltung schrittweise heilen. Schwarz-Gelb will und wird tiefere Kerben schlagen.

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Wir Jusos haben in den letzten Jahren an der programmatischen Konsolidierung der SPD intensiv mitgewirkt, Reformdebatten angestoßen und auch manchen Kompromiss geschmiedet. Wir haben uns sprichwörtlich als Trümmerfrauen und männer einer nach der Wahlniederlage 2009 erschütterten und programmatisch förmlich entstellten SPD verdingt. Nicht alle Trümmer konnten wir beseitigen; manche Brocken waren zu groß, andere zu verschüttet, dritte wiederum wurden von Anderen vor dem Wegräumen geschützt. Trotz alledem hat die SPD (auch mit unserer Hilfe) aus den Trümmern ein neues Haus errichtet, das sich sehen lassen kann. Bis zum 22. September suchen wir nach weiteren BewohnerInnen. Dieses Heft ist als eine Art Inventur der gesellschaftlichen Herausforderungen und Konflikte im Deutschland des Jahres 2013 angelegt, verbunden mit der kritischen Würdigung der Lösungsvorschläge der SPD. Die AutorInnen durchleuchten die zentralen Reformbaustellen der Gegenwartsgesellschaft und zeigen auf, ob die SPD die richtigen Werkzeuge zur Hand hat. Wir fragen: Wird sich das Leben in diesem Land für die Mehrheit der Menschen real und spürbar verbessern, wenn die SPD ab September in diesem Land regiert? Wenn ja: warum? Diese Perspektive trägt unserer Überzeugung Rechnung, dass politischer Machterwerb niemals Selbstzweck sein kann und Machtbegehren ohne politisches Ziel immer scheitern muss. Wahlsiege und Regierungswechsel sind stets Mittel, um gesellschaftliche Mehrheiten für fortschrittliche und emanzipatorische Politik in Parlaments- und Regierungsmehrheiten

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zu überführen. Sie sollen dazu dienen, die richtigen Leute mit den richtigen Lösungen an die wichtigen Stellen zu bringen. Dafür kämpfen wir als Teil der Sozialdemokratie. Darum geht es am 22. September. Deutschland im Sommer 2013. Es ist Zeit für einen Politikwechsel. Zeit für Gerechtigkeit!

Die Beiträge im Einzelnen Sascha Vogt zeigt in seinem Beitrag auf, wie die SPD sich in den letzten vier Jahren einer Re-Sozialdemokratisierung unterzogen hat. In diesem Prozess spielten die Jusos eine erhebliche Rolle. Das Regierungsprogramm enthält nach längerer Zeit erstmals wieder viele Juso-Positionen. Es wird anhand unterschiedlicher Kernbereiche des Programms deutlich gemacht, inwiefern die SPD-Positionen für einen klaren Kurswechsel hin zu linker Politik stehen. Welchen messbaren Beitrag leisten SpitzenkandidatInnen für die Stimmentscheidung der WählerInnen tatsächlich, fragt Aiko Wagner. Er hinterfragt die gängige Personalisierungsthese wonach politikfremde Charaktereinschätzungen von politischen Führungspersonen einen zunehmend gravierenderen Einfluss erhalten hätten. Parteien blieben vielmehr die relevanteren Bewertungsobjekte für die Bürgerinnen und Bürger. Die SpitzenkandidatInnen übten einen kleinen, aber in Pattsituationen womöglich entscheidenden Einfluss aus. Visionen für die Ausgestaltung der vernetzten Gesellschaft entwirft Prof. Dr.

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Gesche Joost. Die digitale Entwicklung hält viele Chancen für Bürgerinnen und Bürger bereit, jedoch stellt die Überwindung der digitalen Spaltung eine große Herausforderung dar. Der Beitrag zeigt auf, welche politischen Diskurse dringend geführt werden müssen, um die richtigen Rahmenbedingungen für eine vernetzte Gesellschaft zu setzen. Ob digitale Arbeitswelt, vernetztes Engagement oder digitale Technologien – alle Bereiche zeigen, dass die Partizipation aller insbesondere von seitens der Politik umfassende Anstrengungen erfordert. Die politische „Insellage“ Deutschlands in der Europadebatte beschreibt Dr. Björn Hacker. In keinem anderen Land werde die Refinanzierungskrise der Staaten im Euroraum so einseitig zur Schuldenkrise verklärt wie hierzulande. Er erläutert, wie es der Opposition trotz eines breiten Fundus’ an alternativen Ideen nicht gelang, dem dominanten Krisendiskurs der Bundesregierung, vieler Medien und der Mainstream-Ökonomie eine Alternative entgegen zu setzen. Wie ein Paradigmenwechsel für ein soziales und demokratisches Europa aussehen kann skizziere der Europateil des SPD-Wahlprogramms. Der Bundestagsabgeordnete Dr. Carsten Sieling kritisiert in seinem Beitrag die verfehlte Finanz- und Steuerpolitik der schwarz-gelben Bundesregierung und stellt die Alternativen der SPD vor. Für ihn hat Steuer- und Finanzpolitik eine dienende Funktion für die Erfüllung der zentralen Aufgaben unseres Gemeinwesens. Chancen zur Finanzierung der notwendigen Zukunftsinvestitionen in Bildung, Infrastruktur, ökologische Modernisierung und zur Finanzierung des Sozialstaats müssten

durch eine Verbesserung der Staatseinnahmen genutzt werden. Wichtig seien dabei die Reform der Einkommenssteuer, eine Rückführung der Abgeltungssteuer in die Einkommensbesteuerung und das Heranziehen großer Vermögen durch Reformen in der Erbschaftssteuer sowie der Wiedereinführung der Vermögensteuer. Wohnungsnot und steigende Wohnkosten sind gerade im Wahlkampf wieder vermehrt in die Aufmerksamkeit der Politik gerückt. Der Vorsitzende des Mieterbundes und Landtagsabgeordnete der SPD in NRW, Felix von Grünberg beschreibt Forderungen des Mieterbundes an die Politik, um Wohnen wieder bezahlbar zu machen. Nancy Haupt und Elisa Gutsche beschreiben in ihrem Beitrag ein Konzept, mit dem die SPD die Stimmen von Frauen (zurück) gewinnen soll. Junge Frauen, die sich 2009 von der SPD abgewandt werden, sollen mit den richtigen Konzepten wieder von der SPD-Politik überzeugt werden. Nur wer TESH ist (also die richtigen Themen hat, echte Einbindung verspricht, neutrale Sprache verwendet und eine ehrliche Haltung zu Frauenpolitik an den Tag legt) kann heute noch überzeugen, argumentieren die beiden Willy-Brandt-Haus Mitarbeiterinnen. Den Weg der SPD zu einem progressiven Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland analysiert Daniela Kaya. Trotz der historischen Verortung im Internationalismus und des Bekenntnisses zum republikanischen Nationenverständnis sei die Programmatik der SPD zu Nation und Pluralismus seit langem ambivalent. Anhand einer Analyse

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der zentralen Programmbausteine der Integrationspolitik seit dem Berliner Programm 1989 zeigt sie das Changieren der SPD zwischen paternalistischen Assimilationsappellen einerseits und einer modernen Diversitätspolitik andererseits. Trotz Fortschritten in einzelnen Feldern fehle es der Partei diesbezüglich noch an einer Gesellschaftsvision. Der zukünftige Arbeitsminister Klaus Wiesehügel beschreibt in seinem Artikel die immer weiter verbreiteten schlechten Arbeitsbedingungen für viele Beschäftigte und beschreibt seine Vorstellungen von der Würde der Arbeit. Erwerbsarbeit werde entwertet, weil sie immer schlechter bezahlt wird. Deswegen fordert er den gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro, einheitlich, in allen Branchen und überall. Erwerbsarbeit werde aber auch entwertet, weil sie unsicherer geworden ist. Dem möchte er mit einer Regulierung der Leiharbeit und Maßnahmen gegen den Missbrauch von Werkverträgen vorgehen. Die Würde des Menschen und die Würde der Arbeit seine für die Sozialdemokratie immer unverzichtbar. Dazu gehört für ihn auch die Demokratisierung der Wirtschaft. Die Transformation von der Leistungsin die Erbengesellschaft analysiert Anita Tiefensee in ihrem Beitrag. Sie beschreibt die zunehmende Konzentration von Vermögen in den Händen weniger, oft durch Erbschaft begünstigter Menschen und die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung. Sie schlägt vor die steuerpolitischen Vorschläge der SPD um eine beherzte Erbschaftssteuerreform zu ergänzen.

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Daniel Cornalba blickt aus Sicht der europäischen NachbarInnen auf die anstehende Bundestagswahl. Er beschreibt die verheerenden Folgen der Politik der Regierung Merkel für viele Menschen in Europa und deckt zusätzlich den Versuch auf, dieses Treiben als alternativlos hinzustellen. Cornalba berichtet von den Hoffnungen, die viele EuropäerInnen in die SPD setzen, und zählt auf welche Probleme die SPD angehen müsste um diese zu erfüllen. Die weltweiten Auswirkungen von Nahrungsmittelspekulationen beschreibt David Hachfeld von Oxfam Deutschland in seinem Beitrag „Mit Essen spielt man nicht“. Organisationen wie Oxfam oder Attac setzen sich schon seit längerem gegen Nahrungsmittelspekulationen und die daraus resultierenden Hungersnöte für die Ärmsten der Armen ein. Oxfam fordert beispielsweise Obergrenzen für den Wert der von Händlern gehaltenen Rohstoffderivate um Fehlentwicklungen auf dem Terminmarkt endlich einzuschränken. Wie stark Bildungschancen in Deutschland immer noch von der Herkunft abhängen erläutern Mareike Strauß und Amina Yousaf. Sie bemängeln die mangelnde Ausfinanzierung der öffentlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland und die Lücken in der Studienfinanzierung. Strauß und Yousaf fordern nicht nur institutionelle und finanzielle Verbesserungen, wie sie das SPD-Regierungsprogramm etwa hinsichtlich Gebührenfreiheit, Durchlässigkeit, Ganztagsschulen, inklusiver Bildung, Ausbildungsplatzgarantie oder einer BAföG-Reform vorsieht. Sie mahnen zudem eine neue Kultur des Lehrens und Lernens an. l

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HOMO GERECHTICUS von Katharina Oerder, Peter Beule und Lena Oerder, ???

Magazin

Wie eine heiße Welle breitet sich das Gefühl im Körper aus. Heiße Wut, Ohnmachtsgefühle, das dringende Bedürfnis dagegen anzugehen. Ungerechtigkeit zu erleben, sie mit ansehen zu müssen, ist schwer zu ertragen. Ein unbändiges Gefühl der Ungerechtigkeit ist es, das viele Menschen in die Politik getrieben hat: Das Bedürfnis an einer ungerechten Welt etwas zu ändern, etwas zu verbessern, die Welt gerechter zu machen.

schaft auf großen Plakatwänden mit ihrer Interpretation von Gerechtigkeit: „Ist es gerecht, dass Sandra bessere Chancen hat als Laura? Nein. Ist es gerecht die Steuern zu erhöhen? Nein“, heißt es dort, und beschreibt damit das Gegenteil dessen, was wir uns unter Gerechtigkeit vorstellen. Aber auch das sozialdemokratische Verständnis von Gerechtigkeit hat sich in den letzten Jahren immer wieder gewandelt.

Mit „Zeit für Gerechtigkeit“ ziehen wir Jusos nun in den Wahlkampf. Mit der inneren Überzeugung, dass es so nicht weitergehen kann, dass die Zeit für Gerechtigkeit nun endlich gekommen ist.

Soziale Gerechtigkeit

Aber auch andere Parteien werben – gerade im Wahlkampf – damit, mit ihren Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Gerechtigkeit ist in der Öffentlichkeit durchweg positiv besetzt, keine Partei würde für weniger Gerechtigkeit eintreten. So wirbt beispielsweise die neoliberale, CDU/FDPnahe Initiative Neue Soziale Marktwirt-

Die wichtigste Gerechtigkeitskategorie der Sozialdemokratie ist die der „sozialen Gerechtigkeit“. Es waren die durch die Industrialisierung hervorgebrachte „soziale Frage“ und die erstarkende Arbeiterbewegung, in der sich die Verbindung der Begriffe „sozial“ und „Gerechtigkeit“ vollzog. Seither hat sich das Grundverständnis von sozialer Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit herausgebildet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist sie zum Grundwert des Sozialstaats schlechthin geworden. Sie beinhaltet eine breite soziale Sicherung und Gleichheit, gleiche Rechte und Chan-

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cen und die dafür erforderliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen von oben nach unten. Im Kern geht es bei in der Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit immer um die Grundfrage des Verhältnisses zwischen Markt und Staat/Politik. Im Zuge des Aufschwungs marktradikaler Theorien und Politikansätze beginnend in den 1970er Jahren ist die Kategorie der sozialen Gerechtigkeit intellektuell ins Hintertreffen geraten. Auch das sozialdemokratische Verständnis von Gerechtigkeit blieb davon nicht unberührt. Der Ansatz des Dritten Weges setzte auf „mehr Markt“ und ließ die Frage der gerechten Verteilung weitgehend außen vor. Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung schaffe hohes Wachstum, das, wenn auch nicht allen, so doch der großen Mehrheit zugute komme. Ungleichheit galt eher als ein die Wirtschaft belebendes Element. Kennzeichen des neoliberalen Vormarsches war auch, dass andere Begriffe von Gerechtigkeit gegen die soziale Gerechtigkeit gesetzt wurden, mit dem Ziel, das Verhältnis von Markt und Staat in Richtung „mehr Markt“ zu verschieben. So gebrauchen die Marktradikalen „Leistungsgerechtigkeit“, um den Sozialstaat auszuhebeln. Oft missbraucht wird in diesem Sinne auch „Generationengerechtigkeit“, um sie gegen vorgeblich „alte Verteilungsfragen“ auszuspielen. Dabei geht es immer um dasselbe: Besitzstandswahrung der Kapitalseite. Auch bei Sozialdemokraten war den 1990er Jahren immer wieder „Chancengerechtigkeit“ und weniger sozialer Gerechtigkeit die Rede.

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seit von von Die

„Chancengesellschaft“ drohte den „demokratischen Sozialismus“ als Leitbild abzulösen. Der breite Angriff aus marktliberalkonservativer Warte gipfelte schließlich in der perfiden Argumentation, soziale Gerechtigkeit sei nicht mehr als eine leere Formel, ihre Verfechter wollten nur Neid schüren, eine Ausbeutung fände heute von unten nach oben statt: fleißige Leistungsträger durch asoziale Leistungsempfänger. Seit uns der Kapitalismus mit der Finanzmarkt- und Bankenkrise eine lange Nase gezeigt hat, der Marktradikalismus an die Wand gefahren ist und sich Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eingestehen müssen, dass die Linke Recht behalten hat, hat sich der Wind allerdings gedreht. Heute wird immer mehr deutlich, dass das Konzept der „Chancengerechtigkeit“ nicht taugt, um den Begriff der sozialen Gerechtigkeit abzulösen. Denn ist es gerecht, nur den zur Chance Befähigten, der egoistisch Bildung, sozialem Aufstieg und Prestige hinterherjagt, Anerkennung zukommen zu lassen und Armut als selbstverschuldetes Schicksal hinzunehmen? Nein, sagt die Sozialdemokratie (mittlerweile wieder) und mit ihr auch die meisten anderen Menschen. Was aber ist dann gerecht, und warum empfinden wir so? Was bedeutet nun eigentlich Gerechtigkeit? Gerechtigkeitsdefinitionen Eine (westliche) Definition, auf die sich viele Menschen einigen können, lautet: „Gerechtigkeit bedeutet, jedem das zu geben, was ihm gebührt“ – worüber wir uns dann schnell wieder uneinig sein können: Was gebührt mir? Muss ich mir „verdie-


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nen“, was mir gebührt oder stehen mir gewisse Dinge einfach zu? Gebührt mir das gleiche wie dir – egal ob ich vielleicht etwas ganz anderes brauche als du? Distributive Gerechtigkeit Distributive Gerechtigkeit beschreibt die Gerechtigkeit der Verteilung von Gütern. Eine Sonderumfrage im Rahmen des sozio-ökonomischen Panels im Jahr 2003 bestätigt für Deutschland die Auffassung, dass Gleichheit, Leistung und Bedürfnisse von der Bevölkerung als gleichzeitig nebeneinander gültige Gerechtigkeitskriterien betrachtet werden. Diese drei Auffassungen von Gerechtigkeit scheinen es zu sein, die wir immer wieder zur Beurteilung verschiedener Situationen heranziehen, die sowohl staatliche Leitlinien vorgeben als auch in der Sozialdemokratie in jeweils verschiedenen Situationen unsere Handlungsmaximen sind. „Jede/r kriegt was er verdient“ ist das Motto der Leistungsgerechtigkeit (eaquity). Dieses Prinzip wird beispielsweise bei der Entlohnung von Arbeit und auch in der Rentenversicherung angewandt. „Jede/r kriegt was er braucht“ heißt es nach dem Verständnis der Bedürfnisgerechtigkeit (need), die zum Beispiel die Grundidee der Krankenversicherung beschreibt (auch wenn dieses Prinzip in einigen Bereichen bereits ausgehöhlt wurde). Gerecht ist, wenn „Jede/r das gleiche kriegt“ sagt die Gleichheit (equity). Nach dieser Idee wird beispielsweise das Kindergeld verteilt. Zumindest rhetorisch war dem Staat stets jedes Kind gleich viel Wert (auch wenn diese Argumentation durch die

hohen Steuerfreibeträge für Besserverdienende eine reine Farce war). Auch wenn es natürlich noch weitere Gerechtigkeitsbegriffe gibt, die die Distribution von materiellen oder immateriellen Gütern beschreibt (Umweltgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit), sind diese meist einer der oben beschriebenen Spielarten zuzuordnen. Prozedurale Gerechtigkeit Bei der prozeduralen Gerechtigkeit hingegen steht nicht das Ergebnis, sondern der Prozess, der zur Entscheidung führt, im Mittelpunkt. Auch Entscheidungen, die für die eigene Person oder Gruppe mit einem ungünstigen Ergebnis verbunden sind, werden akzeptiert, wenn das Verfahren, das zu dieser Lösung geführt hat, als gerecht wahrgenommen wurde (Tyler & Folger, 1980). Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um Stuttgart 21. Die Sympathien für die Gegner des Bahnhofbaus brachen in dem Moment weg, als sich die Mehrheit der BürgerInnen in einem als gerecht empfundenen Verfahren (Volksentscheid), FÜR den Bau des Bahnhofes aussprach. Auch der große Wunsch nach „Transparenz“ in der Politik, der bei Umsetzung in den politischen Prozess auch nicht zwangsläufig zu anderen Ergebnissen führt – wie Stuttgart 21 gezeigt hat –, kann durch dieses Streben nach prozeduraler Gerechtigkeit zumindest ansatzweise erklärt werden. Justizielle Gerechtigkeit Unter justizieller Gerechtigkeit werden gemeinhin angemessene Gesetze sowie

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eine faire Rechtsprechung verstanden. Doch wann sind Gesetze „richtig“, wann ist Rechtsprechung ausgewogen? Schnell erinnern wir uns an den oft zitierten Satz, Recht haben und Recht bekommen sei nicht das gleiche. Ist es auch nicht. Man kann einen Anspruch zugesprochen bekommen, obwohl man ihn eigentlich gar nicht hat – und umgekehrt. Manchmal ist der Fall klar. Und wenn das passiert, wenn Recht haben und Recht bekommen auseinander fallen, empfinden wir das als ungerecht. Manchmal aber, und das geschieht vor den Gerichten weit öfter als man meinen könnte, ist der Fall eben gar nicht klar. Justizielle Gerechtigkeit kann nicht in jeder Lebenslage eine objektive Gerechtigkeit widerspiegeln. Dies ist unabhängig von der philosophischen Frage einleuchtend, ob es eine objektive Gerechtigkeit überhaupt gibt. Unser Anspruch an Gesetze und Rechtsprechung muss daher sein, dass sich diese so häufig wie möglich, so nah wie möglich einer objektiven Gerechtigkeit annähern. Dies wird durch verschiedene Rechtsprinzipien und Verfahrensregeln versucht. Die von uns selbst gesetzten Normen spiegeln folglich wider, was wir als Gerechtigkeit (vor dem Gesetz) empfinden. Zunächst fällt dabei auf, dass zivilrechtliche Gerechtigkeit, beispielsweise aus Verträgen oder Erbe, von uns gänzlich anders gehandhabt wird, als die Gerechtigkeit im Strafrecht. In letzterem haben wir nämlich die Vorstellung, dass es gerecht ist, wenn nicht jede einzelne Person individuell Vergeltung gegenüber ihren PeinigerInnen üben muss. Das darf sie gar nicht. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass Gerechtigkeit am besten durch den Staat ausgeübt werden kann. Deshalb klagt im Strafrecht keine individuell geschädigte

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Partei die angeschuldigte Person an, sondern die Staatsanwaltschaft. Das leuchtet ein, hält man sich vor Augen, dass im Strafrecht nicht in erster Linie individuelle Unrecht an einer einzelnen Person vergolten wird, sondern die Tatsache, dass die TäterInnen sich gegen die Rechtsordnung und damit gegen gesellschaftliche Vereinbarungen gestellt haben. Denn wenn Personen andere verletzen, betrügen oder ihnen etwas stehlen, dann ist dies nach unserem Verständnis ein Angriff auf unser Zusammenleben. Dieses zu schützen, ist Aufgabe des Staates. Das empfinden wir als gerecht. Im Zivilrecht hingegen haben wir ein anderes Gerechtigkeitsverständnis. Hier gilt die Dispositionsmaxime, was bedeutet, dass es den einzelnen Parteien frei steht zu bestimmen, ob sie überhaupt ein Verfahren einleiten wollen. Obwohl man es als ungerecht empfinden kann, wenn Menschen für sich selbst nachteilige Verträge schließen, oder sie Forderungen erfüllen, die eigentlich gar nicht bestehen, wird nicht „im Namen des Volkes“ Klage erhoben. Hier sehen wir die Rechtsordnung offenbar nicht so sehr in Gefahr, dass wir von staatlicher Seite eingreifen müssten. Die Parteien müssen sich nicht nur selbst an die Gerichte wenden, sondern Beweise vorbringen. Wer dies nicht kann oder will, muss eben mit der Situation leben. Das empfinden wir als gerecht. Gerechte-Welt-Glaube Das Bedürfnis, in einer gerechten Welt zu leben, in der prinzipiell jeder das bekommt, was „ihm gebührt“, ist ein basales soziales Motiv von Menschen (Lerner, 1977, 1980). Wir glauben an motivierende


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Sinnsprüche wie: „Jeder kriegt was er verdient“ oder „alles gleicht sich irgendwann aus“. Tatsächlich erleben wir jedoch tagtäglich Ungerechtigkeiten: eine ungerechte Abfuhr, einen unfreundlichen Kollegen; oder noch schlimmer: Krankheit, Gewalt oder gar Tod. Diese folgen keinem glaubhaften Schema. Die gerechte Welt ist daher keine Tatsache, sondern lediglich eine Hoffnung, und allzu oft nur noch eine Illusion. Nichtsdestotrotz wollen wir Menschen sie aufrechterhalten, um drohende Kontrollverluste und Gefühle der fundamentalen Sinnlosigkeit abzuwehren (vergl. Montada & Lerner, 1998 ). Dieses Bedürfnis des „Gerechte-Welt-Glaubens“ geht so weit, dass wir uns nicht nur wünschen, dass jeder kriegt was er verdient, sondern auch, dass jeder verdient was er bekommt. Solche Erklärungsmuster können unter Umständen sogar zu lasten der „Wahrheit“ gehen. So lassen sich beispielsweise „blaming the victim“-Muster erklären. Arbeitslosigkeit? Wahrscheinlich hat sich da jemand nicht rasiert oder nicht gut genug gearbeitet. Sexuelle Belästigung? Die hatte doch bestimmt einen viel zu kurzen Rock an. Irgendeinen Grund muss es ja geben, gäbe es nämlich keinen, könnten mir solche schrecklichen Situationen auch jederzeit passieren, ohne dass ich mich dagegen schützen kann. Entsprechende Untersuchungen können also zeigen, dass es sich bei dem „Gerechtigkeitsmotiv“ von Menschen nicht allein um eine prosoziale Form des Strebens nach Gerechtigkeit handelt, sondern dass diese durchaus aufs Spiel gesetzt werden kann, für eine „gerechte Wahrnehmung“ der Situation (Montada, 1998).

Handlungsrelevanz von Gerechtigkeit Die Gerechtigkeitsforschung kann zeigen, dass auch Kosten-Nutzen-Verteilungen, von denen Ökonomen unterstellen, Menschen würden nur nach ihrer eigenen, persönlichen Vorteilsrechnung handeln, nicht greifen. Menschen denken und handeln eben nicht als homo oeconomicus, sondern in Kategorien von Gerechtigkeit! Anders als häufig angenommen, ist Gerechtigkeit für viele Menschen keine theoretische, sondern eine ganz reale, handlungsrelevante Größe, an Hand derer Entscheidungen getroffen werden. So genannte „Green Justice“-Forschung kann zum Beispiel zeigen, dass sowohl emotionales als auch kognitives (Un)Gerechtigkeitsempfinden Auswirkungen auf (umweltrelevantes) Handeln haben kann (Ittner et al., 2002). Auch die Social Dilemma-Forschung zeigt, wie wichtig „Gerechtigkeit“ für Urteile und Handlungen von Menschen ist. Ein soziales Dilemma stellt Beispielsweise die Nutzung von Automobilen oder Flugzeugen dar. Während es für einzelne Personen deutlich komfortabler ist, mit dem Auto zur Arbeit oder in den Urlaub zu fahren, anstatt das Fahrrad oder ÖPNV zu nutzen, erscheint es für die Allgemeinheit (und so eigentlich auch wieder für jeden einzelnen) im Hinblick auf saubere Luft und Lärmreduzierung angemessener, auf solche Verkehrsmittel zu verzichten. Ähnlich angelegt funktioniert auch „Free Riding“, also das Phänomen, dass Menschen (oder Institutionen) von etwas profitieren, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Beispiele hierfür sind Beschäftigte, die nicht bereit sind, einer Gewerkschaft

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beizutreten und einen Mitgliedsbeitrag zu entrichten, aber von den gewerkschaftlich erstrittenen Lohnerhöhungen profitieren. Auf der Ebene der Institutionen ist das Nicht-Ratifizieren des Koyoto-Protokolls durch die USA ein Beispiel dafür, wie ein Land, in dem verantwortungsbewusster Umgang mit der Umwelt kleingeschrieben wird (das also selbst maßgeblich für das Problem mitverantwortlich ist), von den Auswirkungen des Protokolls profitiert. Solche Geschichten lassen uns wieder mit einem brennenden Gefühl der Ungerechtigkeit zurück. Selbst Personen, dies kann in Studien gezeigt werden, für die Gerechtigkeitsmotive und das Erreichen gemeinsamer Ziele einen sehr hohen Stellenwert haben, sind überraschenderweise nicht mehr bereit zu kooperieren bzw. entpuppen sich als unerbittliche Defekteure, wenn sie mit „Free Riding“ konfrontiert sind. Sie stellen in dem Moment das gemeinsame Ziel zurück, um vorrangig den Freifahrer zu sanktionieren, da er ihr Gerechtigkeitsempfinden massiv verletzt. Ein subjektives „Gerechtigkeitsurteil“ – das ist gerecht, das ist ungerecht – kann sich dabei entweder auf einen individuellen Vergleich (dieses Jahr habe ich mehr gearbeitet als letztes Jahr, deshalb ist es gerecht, wenn ich mehr Geld bekomme) oder soziale Vergleiche (mein Arbeitskollege bekommt mehr als ich, das ist ungerecht) beziehen. Klar ist, dass gerade in der Wahl dieser Referenzgruppe ein wichtiger Faktor bzw. eine Variable in der Gerechtigkeitswahrnehmung von Menschen liegt. Einem Vorstandsvorsitzenden der Sparkasse, dessen Gehalt gedeckelt werden soll, erscheint dies wahrscheinlich ungerecht,

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wenn er sich mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank vergleicht. Vergleicht er sich jedoch mit seinen eigenen Angestellten, wird ihm sein Gehalt schon eher gerecht erscheinen. In dieser Erkenntnis liegt für die Sozialdemokratie Chance und Risiko zugleich, wenn es darum geht, die richtige Referenzgruppe zur Klärung unserer Vorstellung von Gerechtigkeit zu finden. Schlussfolgerung Welche Schlussfolgerungen können aus den oben beschriebenen Prinzipien sowie Wahrnehmung von Gerechtigkeit gezogen werden? Gerechtigkeit ist relativ (Referenzgruppe), das bedeutet, die Politik muss den Rahmen (die Relation) für das Gerechtigkeitsempfinden setzten. Menschen haben ein Gerechtigkeitsempfinden; Politik muss handeln. Gerechtigkeit hat verschiedene Bezugsrahmen (Leistung, Bedürfnis, Gleichheit, prozedurale Gerechtigkeit). Die Politik hat die Aufgabe, den Bezugsrahmen entsprechend ihres Wertekanons zu wählen. In unterschiedlichen Situationen halten wir in der Sozialdemokratie unterschiedliche Bezugsrahmen für angemessen. Die entsprechende Handlungsmaxime gibt uns in der Sozialdemokratie die soziale Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit). Gerechtigkeit ist nicht bloß eine abstrakte Norm, sondern die Menschen haben ein Empfinden für Gerechtigkeit. Das sozialdemokratische Gerechtigkeitsverständnis muss also von den Menschen ver-


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standen werden, muss bei ihnen ankommen. Dies zu transportieren ist eine politische Aufgabe, die im Wahlkampf auch emotional geleistet werden kann und muss – denn Gerechtigkeit ist Emotion. Auch Ungerechtigkeit ist Emotion, die sich ebenso gut (vielleicht sogar besser) bedienen lässt. Menschen haben den Wunsch, Ungerechtigkeit nicht zuzulassen (aggressives Reagieren gegen „Free Riding“). Auch das ist eine Chance für soziale Gerechtigkeit. Schließlich ist das Streben nach Gerechtigkeit nicht naiv, nicht bloße Traumtänzerei, das Bedürfnis nach einer gerechten Welt ist in den Menschen angelegt (Gerechte-Welt-Glaube). Diesen Wunsch wollen wir bedienen – denn auch wir glauben, dass eine gerechte Welt möglich ist. Es ist Zeit für Gerechtigkeit. l

Literatur Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world. A fundamental delusion. New York: Plenum Press. Lerner, M. J. (1977). The justice motive in social behavior. Some hypotheses as to its origins and forms. Journal of Personality, 45, 1 – 52. Montada, L. (1998), Gerechtigkeitsmotiv und Eigeninteresse. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 3,413 – 430. Ittner, H. (2002), Verkehrspolitische Engagements und Mobilitätsentscheidungen: Eine Frage von Moral, eigenem Nutzen oder Lebensstilen? Trier: Universitätsbibliothek Trier. Tyler, T.R./Folger, R. (1980). Distributional and procedural aspects of satisfaction with citizen-police encounters. Basis and Applied Social Psychology, 1, 281 – 292. Montada, L. & Lerner, M.J. (1998). Responses to Victimizations and Belief in a Just World. New York: Plenum Press.

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WIE DIE LINKEN DIE MORAL ENTDECKTEN – UND DIE MITTE SIE AUS DEM BLICK VERLOR von Rainer Freudenthaler, Student der Medien- und Kommunikationswissenschaft Universität Mannheim, SPD Stuttgart

Dieses Jahr feierte die SPD ihren 150. Geburtstag. Gleichzeitig befindet sie sich im Wahlkampf zur Bundestagswahl, und damit mitten im Deutungskampf darum, welche Politik als normativ richtig und als politisch realistisch gesehen werden kann. Dabei fehlt es häufig nicht an Vertrauen in die moralische Richtigkeit sozialdemokratischer Politik, viel häufiger wird einerseits die Umsetzbarkeit sozialdemokratischer Forderungen in Frage gestellt, oder der Wille sozialdemokratischer PolitikerInnen, ihre Versprechen auch einzulösen. Sozialdemokratische Politik ist heute auf einen Hoffnungsvorsprung angewiesen, den sie sich im Wahlkampf erst noch erarbeiten muss. Darum ist es interessant, die historische Entwicklung der Rolle moralischer Argumentation innerhalb linker Politik zu betrachten, um zu sehen, dass weder der Appell an das Mögliche immer typisch links war, noch der

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Rückgriff auf Sachzwänge immer typisch für bürgerliche Politik. Dieser Blick in die Geschichte zeigt, dass die Öffnung linker Diskurse für moralische Argumentation als Teil der Demokratisierung der Bewegung der Arbeitenden gesehen werden kann – und dass der Verweis auf vermeintliche geschichtliche Notwendigkeiten heute oft nur dazu dient, einer demokratischen Diskussion der moralischen Grundlagen der eigenen Politik aus dem Weg zu gehen. Die sozialistische Öffnung zur Moralphilosophie Heutzutage fällt es schwer, sich daran zu erinnern, dass die Orientierung an einer offenen, gestaltbaren Zukunft nicht schon immer eine genuin linke, sozialdemokratische Position war: Wie so verschiedene AutorInnen wie Laclau und Mouffe (2006) oder Habermas (1995) eindrucksvoll nachzeichnen, war im

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19. Jahrhundert innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ein Marxismus bestimmend, der davon ausging, den objektiven Gang der Geschichte aus den Widersprüchen des Kapitalismus ablesen zu können, und damit die eigene Politik an vermeintlichen geschichtlichen Notwendigkeiten orientieren zu können. Vor diesem Hintergrund erschien eine eigenständige Moralphilosophie nicht notwendig, sogar unmöglich: Da gesellschaftliche Moral als geschichtlich bedingt gesehen wurde, wurde die Aufgabe der Politik als wissenschaftliches Ablesen des geschichtlich notwendigen Handelns verstanden, und eine moralische Diskussion bestenfalls als ideologische Ablenkung. Wie Mouffe und Laclau zeigen, geriet diese Anschauung bereits zu Zeiten der zweiten Internationale ins Wanken – wenn das objektive Interesse der Arbeitenden Massen Maßstab sozialistischer Politik sein sollte, warum wählten diese nicht konsequent sozialistische Parteien, und warum waren sozialistische PolitikerInnen weit uneiniger über die historisch notwendige Politik, als dies die Theorie vorhersah? Diese latente Krise des Marxismus verschärfte sich Anfang des 20. Jahrhunderts, als die politische Entwicklung des Westens nahelegte, dass der Kapitalismus sich mit Hilfe des Wohlfahrtsstaates weit genug stabilisieren konnte, dass sein Untergang in absehbarer Zeit als unwahrscheinlich erschien. Gleichzeitig zeigten westliche Demokratien Möglichkeiten zur Reform, die einen sozialdemokratischen Reformismus zu bestätigen schienen – dabei aber das prinzipielle Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitenden und Besitzenden nicht in Frage stellten. Die Erfahrung des totalitären Sozialismus der Sowjetunion auf der

anderen Seite zeigte, dass das blinde Vertrauen darauf, dass sozialistische Parteien die objektiven Interessen der Arbeitenden erkennen könnten und immer vertreten würden, naiv war. Damit ging dem Marxismus sowohl die historische Legitimation als auch der Anspruch, objektive Interessen direkt aus der historischen Situation ableiten zu können, verloren. SozialistInnen und SozialdemokratInnen reagierten auf verschiedenste Weise auf diese Entwicklung: Einerseits durch eine Abwendung vom Marxismus und Hinwendung zu anderen politischen Strömungen, vor allem zu linksliberalen und keynesianischen Argumentationen. Andererseits, indem verschiedene postmarxistische Strömungen sich einer moralischen Begründung linker Politik zuwandten: Wenn sich normative Maßstäbe nicht einfach aus der historischen Situation ableiten ließen, war es an der Zeit, diese moralisch zu begründen. Habermas (1995 und 1998) beispielsweise begann, die kritische Theorie normativ zu unterfüttern, indem er moralische Urteile vom gesellschaftlichen Diskurs abhängig machte. Moralisch richtig ist für ihn, was in einem zwanglosen Diskurs Zustimmung finden würde. Da dieser zwanglose Diskurs unter realen Bedingungen nie vollständig gegeben ist, ist es Aufgabe der demokratischen Institutionen, Einschränkungen und Verzerrungen des demokratischen Diskurses problematisierbar zu machen und damit den Einfluss von Macht und Geld zurückzudrängen. Für Laclau und Mouffe wiederum ist die Bildung gesellschaftlichen Konsenses

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weniger wichtig als die Ermöglichung gesellschaftlichen Dissenses und der Herausbildung alternativer Identitäten – wenn es keine vereinende Identität eines Proletariats mehr gibt, die gesellschaftliche Veränderungen vorgeben könnte, muss es vielmehr jeder gesellschaftlichen Gruppe möglich sein, sich eigene Identitäten und davon abhängige Interessen herauszubilden und diese im demokratischen Konflikt mit anderen Interessengruppen zu vertreten. Analytische MarxistInnen wie Cohen (1995 und 2009) wiederum bemühen sich nun, analog zur liberalen Philosophie, zunächst komplett losgelöst von konkreten historischen Situationen für universalistische Gerechtigkeitsmaßstäbe der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit und sozialer Fürsorge zu argumentieren, bevor deren Möglichkeit zur Umsetzung diskutiert wird. Was die genannten TheoretikerInnen, bei allen Differenzen, gemeinsam haben, ist die Betonung der Wichtigkeit, dass demokratische Institutionen Spielräume für alternative Politikentwürfe schaffen und den diskursiven Raum bereitstellen, diese Alternativen zu diskutieren. An die Stelle historischer Gegebenheiten tritt die Aufgabe der Politik, in die Gesellschaft gestaltend einzugreifen – und den Bürgern die Möglichkeit zu geben, an dieser Gestaltung teilzuhaben. Demokratie wird damit nicht mehr nur Mittel zur Durchsetzung sozialistischer Politik, sondern selbst Ziel linker Politik, da nur im demokratischen Diskurs legitime politische Ziele herausgebildet werden können.

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Die Spaltung des Liberalismus Was heute ebenfalls häufig vergessen wird, ist, dass der Liberalismus seinen Anfang in der Moralphilosophie hatte. Für DenkerInnen wie David Hume und Adam Smith war der freie Markt kein Selbstzweck, sondern verbunden mit dem Anspruch, dass sich auf ihm die moralische Autonomie der StaatsbürgerInnen verwirklichen ließe, dass die Unsichtbare Hand des Marktes zu tatsächlich moralisch überlegenen Ergebnissen führt. Amartya Sen (2007 und 2009) weist vor diesem Hintergrund darauf hin, dass Smith Eingriffen in den Markt nicht prinzipiell ablehnend gegenüber stand, sondern diesen, sofern er sie moralisch gerechtfertigt sah, zustimmte. Gleichzeitig unterschätzte er wohl die Ungleichheit, die der aufkommende Kapitalismus erzeugte. Habermas (1995) spricht in diesem Zusammenhang nicht umsonst von der „Vernunftutopie der Aufklärung“: Die Idee, dass sich eine Gesellschaft aus relativ gleichen und freien BürgerInnen durch einen weitestgehend unregulierten Markt verwirklichen ließe, stieß schon im 19. Jahrhundert auf die Realität von Massenarmut und Ungleichheit der frühkapitalistischen Gesellschaft. Die Vernunft des Marktes und die Vernunft der Moral traten deutlich auseinander. Dem Liberalismus blieben zwei Reaktionen: Einerseits die, teilweise widerspenstige, Anerkennung des im 20. Jahrhundert sich immer weiter ausbreitenden Sozialstaats, und der Versuch, diesen mit liberalen Prinzipien in Einklang zu bringen – John Rawls (1971) und Amartya Sens (2009) Beiträge zum Sozialliberalismus

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beispielsweise versuchen, Gerechtigkeitsprinzipien aus der moralischen Autonomie des Einzelnen demokratisch zu begründen und einen Freiheitsbegriff zu etablieren, der von den Lebenschancen der Einzelnen ausgeht, statt sich mit der formalen Freiheit der Besitzenden zu begnügen. Übereinstimmend mit Habermas betont Sen dabei die Bedeutung des demokratischen Aushandelns solcher Wertmaßstäbe: Da in einer pluralistischen Gesellschaft verschiedenste normative Ansprüche aufeinandertreffen, muss für ihn das demokratische Aushandeln von Kompromissen solche Konflikte mindern. Andererseits fanden sich AutorInnen wie Friedrich August von Hayek (1993), die einfach einen immer geringeren moralischen Anspruch an den freien Markt forderten: Der Markt solle nun nicht mehr an den Ergebnissen gemessen werden, die er erzeugt, sondern anhand einer Verfahrensgerechtigkeit, die auf die Konsequenzen marktwirtschaftlicher Verfahren keine Rücksicht mehr nimmt – Einkommensungleichheit, Armut, sogar Monopole sind aus dieser Sicht hinzunehmende Übel, die man in Kauf nehmen muss. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft wird nicht mehr an externen Maßstäben gemessen, sondern nur noch daran, inwieweit sie mit marktwirtschaftlichen Prinzipien übereinstimmt. Die Orientierung an anderen Prinzipien, beispielsweise an sozialer Gerechtigkeit, wird dabei von Hayek als nicht nur nicht wünschenswert, sondern funktional unmöglich erklärt: Jeder Versuch, soziale Gerechtigkeit zu definieren und politisch durchzusetzen führe automatisch in den Totalitarismus. Ziel liberaler Politik solle daher sein, solche Sozialpolitik unmöglich

zu machen – einerseits durch ein Verfassungsrecht, das die Gestaltungsmöglichkeiten des Staates beschränkt, andererseits durch Förderung eines Steuerwettbewerbs zwischen Staaten, der die steuerlichen Spielräume demokratischer Staaten weiter einschränken soll (Vgl. Hayek 1991). Francis Fukuyama (1992) führte diese Abkehr von der Moralphilosophie noch weiter, indem er die Behauptung aufstellte, Kapitalismus und liberale Demokratie stellten das Ende der Geschichte dar. Damit tauchte der Geschichtsdeterminismus, von dem sich die politische Linke mühsam losgesagt hatte, plötzlich als Geschichtsphilosophie des freien Marktes wieder auf. Nach dem Fall der Sowjetunion konnte diese Philosophie, wonach die immer weitere Ausbreitung und Entgrenzung der Marktwirtschaft historisch gegeben und jede Kritik daran unzeitgemäß und unrealistisch sei, lange Zeit beinahe Hegemonie für sich beanspruchen (Naomi Klein (2007) konnte diese Entwicklung sehr gut nachzeichnen). Auch die europäische Sozialdemokratie war an diesem Prozess nicht unbeteiligt. Der Vorwurf an die SPD, dass unter Schröder linke Politikgestaltung fast komplett hinter der Anpassung an (vermeintliche) weltwirtschaftliche Gegebenheiten zurücktrat, ist schwer zu entkräften (sehr differenziert dargelegt beispielsweise in Ulrich Beck (2005)). Möglichkeiten und Notwendigkeiten in der aktuellen Politik In den Jahren seit der Finanzkrise 2007 lässt sich relativ deutlich beobachten, wie sehr die Definition dessen, was als möglich, und was als notwendig angesehen wird, selbst Teil des gesellschaftlichen Dis-

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kurses ist. Politische Alternativen für unmöglich zu erklären ist heutzutage die Ausweichstrategie, um das moralisch Unbegründbare zum Notwendigen zu erklären. So galt eine strengere Regulierung des Bankensektors jahrelang als unmöglich, die Deregulierung als notwendig. Nach Ausbruch der Krise kehrte sich diese Stimmung für kurze Zeit komplett – die ReRegulierung des Bankensektors wurde zur allgemein anerkannten Notwendigkeit, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer wurde plötzlich – wenn auch halbherzig – sogar von der CDU vorangetrieben. Die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in Deutschland galt der CDU lange Zeit als Notwendigkeit, ein Atomausstieg wie geplant als unmöglich – was sich über Nacht komplett umkehrte. Die Tendenz, die eigene Politik als unausweichlich zu deklarieren, fand sich schon unter Schröder – aber unter Angela Merkel wurde daraus das einzig bestimmende Prinzip. Was als machbar gilt, kann sich über Nacht ändern, und wird sogleich notwendig – im Kanzleramt wird einfach jeden Tag aufs Neue entschieden, was morgen als realistisch gilt. Dabei sollte die SPD nicht unterschätzen, dass ein solcher Kurs für WählerInnen durchaus attraktiv sein kann – was auf der einen Seite als dreiste Wankelmütigkeit und undemokratischer Führungsstil wirken kann, kann auf der anderen Seite auch als Führungsstärke und politische Expertise angesehen werden. Zynischer Weise könnte es gerade die Undurchsichtigkeit

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von Merkels Führungsstil sein, die den Eindruck bestärkt, Politik sei so unüberschaubar, dass nur noch das Regierungskabinett den Überblick behalten kann. Dennoch sollte die SPD sich davor hüten, diesen Politikstil zu kopieren. Als „etwas bessere CDU“ könnte die Sozialdemokratie längerfristig kaum glaubhafte Politik machen. Stattdessen liegt es an der Sozialdemokratie, zu zeigen, dass Politik aus der öffentlichen Diskussion darüber bestehen kann, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Die partizipative Erarbeitung des Wahlprogramms im Bürger-Dialog verspricht die Beteiligung der BürgerInnen. Es liegt an der SPD, in der politischen Praxis zu zeigen, dass sie dieses Versprechen auch einlösen kann – nicht nur durch mittelfristige politische Entscheidungen, sondern auch durch längerfristige Weichenstellungen, die die Gestaltungsspielräume der Politik wieder erweitern und diese gleichzeitig unter stärkere demokratische Kontrolle bringen. Wie Beck (2012) und Habermas (2011) zeigen, ist es gerade in der aktuellen Krise des Euroraums wichtig, einerseits die Möglichkeiten europäischer Institutionen zur demokratischen Gestaltung der Politik auszubauen, da eine Stabilisierung des Sozialstaats auf rein nationalstaatlicher Ebene längerfristig an der zwischenstaatlichen Konkurrenz scheitern würde. Andererseits ist eine solche Politik nur verantwortbar, wenn sie mit einer Stärkung der europäischen Legislative und einer stärkeren Beteiligung der BürgerInnen Europas einhergeht. Dem steht momentan eine weitverbreitete Europaverdrossenheit entgegen, die auf der Erfahrung gründet, dass europäische Institutionen bisher we-

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der ausreichend demokratisch legitimiert, noch in der Lage sind, sozialpolitische Weichenstellungen vorzunehmen, es sei denn zur Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen. Wenn es der Sozialdemokratie gelingt, die realistische Hoffnung auf ein demokratischeres und sozialeres Europa zu wecken, würde sie damit nicht nur die Tradition demokratischer linker Politik bestärken, sondern könnte zur Erneuerung der europäischen Demokratie beitragen. l Literatur Beck, U. (2005). Was zur Wahl steht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Hayek, Friedrich August von (1993). Law, legislation and liberty: a new statement of the liberal principles of justice and political economy. London: Routledge. Klein, N. (2007). Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH. Laclau, E., Mouffe, C. (2006). Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag, 3. Auflage. Sen, A. (2007). Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, 4. Auflage. Sen, A. (2009). The Idea of Justice. Harvard: Harvard University Press.

Beck, U. (2012). Das deutsche Europa: Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise. Berlin: Suhrkamp Verlag. Cohen, G. A. (1995). Self-Ownership, Freedom and Equality. Cambridge: Press Syndicate of the University of Cambridge. Cohen, G. A. (2009). Why not Socialism? Princeton: Princeton University Press. Fukuyama, F. (1992). Das Ende der Geschichte: Wo stehen wir? München: Kindler. Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, J. (1998). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, J. (2011). Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp Verlag. Hayek, Friedrich August von (1991). Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 3. Auflage.

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IST HANS VERRÜCKT? Über das Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Demokratie von Katharina Schenk, promoviert an der Universität Leipzig im Fachbereich Philosophie zum Themenkomplex Gemeinwohl und Glück

Es war einmal ein junger Mann, der bekam, als er seinen Meister verließ, einen Klumpen Gold zum Lohn, der so groß war, wie sein eigener Kopf. Hans, so hieß der junge Mann, hatte an dem Klumpen ganz schön zu schleppen. Auf seiner Reise nach Hause, die nicht eben kurz war, tauschte er deswegen den lästigen Klumpen zuerst gegen ein geschwind trabendes Pferd, alsbald dann gegen eine flattrige Gans und immer so weiter, bis er schließlich mit leeren Händen, aber sehr glücklich bei seiner Mutter in der Heimat anlangte. Aus diesem Grimmschen Märchen können wir, neben der glänzenden Unterhaltung durch die unerwarteten Wendungen Hänschens, zweierlei ziehen: Zum einen die Wahrheit, dass materieller Besitz in keinem Fall ein Garant für Glück ist, zum anderen – und das macht die Sache besonders spannend – zeigt uns Hans im Tauschen, dass wir die Möglichkeit haben, selbst den Weg zu unserem Glück zu wählen, ja sogar selbst zu bestimmen, wo der Weg hinführen sollen. Hans tauscht den lästigen Brocken einfach ein und gewinnt auf diese Weise selbst handelnd seine Freiheit zurück. Eine inspirierende Vorstellung!

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Dass materieller Besitz keine Garantie für Glück im Sinne eines andauernden Gefühls von Lebenserfolg ist, ist eine alte, man kann fast schon sagen, traditionelle Aussage. Schon Diogenes von Sinope, der berühmte Kyniker, der in einer Tonne lebte, verzichtete weitgehend auf Besitz. Und auch andere Philosophen, wie etwa Platon, der in seiner Staatsutopie den Wächterstand vom Besitz befreite, erkannten frühzeitig die Gefahren des Besitzens. Besitz als Last, denn wer viel hat, kann nicht nur viel verlieren, sondern muss sich auch um viel kümmern. Auch jenseits der philosophischen Schulen war diese Ansicht verbreitet, man denke nur an das Gebot der Besitzlosigkeit für die meisten Mönche. Kurz und gut: Es kann einen sogar einigermaßen verwundern, dass das viel zitierte Buch „The spirit level. Why Equality is Better for Everyone“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett in den Industriestaaten für kaum übersehbare Aufregung sorgte. Aber mal ehrlich: Würden Sie, wenn Sie jetzt noch einmal Hans auf seiner Reise zu seiner Mutter begleiten würden, nicht auch an irgendeinem Punkt sagen: „Halt,


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stopp – hör doch endlich mal auf zu tauschen Du Depp, sonst stehst Du am Ende mit leeren Händen da!“ Nein? Dann sind Sie vermutlich Teil einer aussterbenden Spezies, denn fast alle Menschen, die ich bisher kennen lernen durfte, wünschen sich, auch wenn sie es nicht so explizit sagen, vor allem eins: Sicherheit. Und diese ist – das ist ein Fakt – wesentlich von materieller Sicherheit, also Geld, bestimmt. Jede und jeden treibt das bange Gefühl um, abgehängt zu werden oder zumindest abgehängt werden zu können. Jede und jeder kennt den bangen Blick auf den Lebenslauf der eigenen Freunde und Freundinnen und die heimlichen Gedanken darüber, ob man nicht doch noch ein Praktikum mehr hätte in Angriff nehmen sollen. All diese Ängste sind auf eine gewisse Art luxuriös, das macht sie jedoch keineswegs zu weniger relevanten Ängsten. Fest steht, dass unsere Gesellschaft zu einem immer größer werdenden Teil aus Menschen besteht, die nicht nur heimlich Hans ein „Halt, stopp!“ zuflüstern würden, sondern die ganz entschieden in seinen Weg sprängen. Menschen, die so verzweifelt um das bisschen Geld kämpfen, das sie zum täglichen Leben brauchen, dass ihnen ein junger Mann, der seinen Goldklumpen gegen die Freiheit tauscht, um unbeschwerter laufen zu können, wie ein Affront vorkommen muss. Warum ist das so? Das Märchen „Hans im Glück“, so habe ich Eingangs geschrieben, lehrt uns zwei grundsätzliche Dinge: Die Volksweis-

heit, dass Geld allein nicht glücklich macht – und eine Tatsache, die heute oft mit der Redewendung ,Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied‘ zum Ausdruck gebracht wird. Die Freiheit, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können, selber Autor oder Autorin seines Lebens zu sein, ist die – betrachtet man ihre lange Geschichte – treibende Kraft der Sozialdemokratie und ihrer Gedankenvorläufer. Weg mit den vorbestimmenden Merkmalen Herkunft und Geschlecht, weg mit den klassengebundenen Lebensungerechtigkeiten. Ich bestimme wie ich lebe! Für sein Leben selbst verantwortlich zu sein, bedeutete zunächst und lange Zeit ein neues Maß an Freiheit – und Gleichheit. Endlich waren bestimmte Dinge nicht mehr nur einer ganz bestimmten Schicht oder Gruppe vorbehalten. Die Arbeiter gründeten eine Vielzahl von Vereinen, in denen sie all das taten, was zuvor für die Oberschicht reserviert war. Frauen errangen den Zugang zu Universitäten und das Wahlrecht. Ein emanzipiertes, ein kämpferisches Ich schien lange der Motor der sozialdemokratischen Bewegung zu sein – und ein Garant für jedermanns Glück. Andere Staaten wurden vom individuellen Streben nach Glück weit eher erfasst. Ein verheißungsvolles Symbol in der Ferne waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die als erstes Land der Welt in ihren Gründungsdokumenten ein Recht auf Glück festschrieben. Der Beginn eines Nimbus, der bis heute den Reiz des sogenannten Landes der unbegrenzten Möglichkeiten ausmacht, auch wenn die soziale Mobilität in kaum einem anderen Land nachweislich so niedrig ist, wie in den Vereinigten Staaten.

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Es scheint zunächst so, als sei mit der Entfesselung des Ichs auch ein neues Wir entstanden. Kollektiv kämpfen zunächst Meister, dann Handwerker und schließlich Industriearbeiter für ihre Rechte. Die Freiheit nimmt zu, die Unterschiede zu den oberen Schichten werden durch den Kapitalismus immer weiter abgeschmolzen. Man kann sagen: Der Ausbruch aus der malthusianischen Falle begann mit dem Kapitalismus. Thomas Malthus hat die Kraft des technischen Fortschritts und des investitionsgetriebenen Wachstums nicht erkannt. Von 1900 bis etwa 1975 kann man den fulminanten Aufstieg einer ganzen Klasse beobachten. Dieser Artikel könnte nun also mit der Feststellung enden, dass die Emanzipation des Ichs zu immer größerer Gleichheit führt, und dass das Ende der Geschichte eine Welt der Gleichen ist. Die Welt zeigt uns jedoch ein ganz anderes Gesicht. Zunehmende Ungleichheit, die ihr kaum fassbares Ausmaß in Zahlen wie dem GiniKoeffizienten manifestiert. Im Godesberger Programm war es, als die historische Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine entscheidende Wandlung erfuhr. Die Gleichheit wurde gegen die Gerechtigkeit eingetauscht. Zwar verschwand die Gleichheit nicht vollständig aus dem sozialdemokratischen Gedächtnis, sie wurde von nun an aber am liebsten als Teil einer endlosen Schlange von Komposita gebraucht. Chancengleichheit ist das wohl bekannteste Beispiel. Und auch den marxschen Geschichtsdeterminismus haben die SozialdemokratInnen – hier kann man sagen zum Glück – mittels des Godesberger Programms in der Mottenkiste verstaut.

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Was ist mit der Gleichheit geschehen? Die Gleichheit fiel der immer größeren Individualisierung zum Opfer. Man kann auch sagen: Das immer stärker werdende Ich hat sein eigenes Kind, die zunehmende Gleichheit, aufgefressen. Während man 1900 noch fast zwei Jahrzehnte vom Frauenwahlrecht entfernt war, genossen in den 1960er Jahren immer mehr Menschen den wachsenden Wohlstand. Die Produkte wurden immer individueller, es herrschte Überfluss – und demokratische Teilhabe. Dies ist nun vielleicht eine überraschende Korrelation, es lässt sich jedoch zweifelsfrei zeigen, dass die historisch größte Wahlbeteiligung der Bundesdeutschen am 19. November 1972 verzeichnet wurde. Sie war von der auch schon beachtlichen Marke von 78,5 Prozent zur ersten Bundestagswahl 1949 auf 91,9 Prozent geklettert. Ein Zufall? Nein! Der breite Wohlstand der 1960er Jahre machte diese umfassende Teilhabe erst möglich. Seit 1972 können wir einen kontinuierlichen Rückgang der Wahlbeteiligung beobachten. Den aktuellen Tiefstand erreichte die Bundesrepublik 2009 mit 72,5 Prozent. Ist das bloße Politikverdrossenheit? Ist es einfach immer mehr Menschen egal, was in unserem Land passiert? Ist es Faulheit, oder ist es das viel zitierte Misstrauen gegenüber den PolitikerInnen, wie es in den Medien allzu oft kolportiert wird? Nein! Es ist die einfache Tatsache, dass die Freiheit, sein Leben zu gestalten, zunehmend von den eigenen finanziellen Kräften abhängt.


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Gestalten, AutorIn des eigenen Lebens sein, das bedeutet wählen zu können – im privaten und im öffentlichen Raum. Dazu braucht es, das lässt sich an allerhand Beispielen zeigen, finanziellen Spielraum. Gute Gesundheitsversorgung, gute Bildung, gute Kinderbetreuung, sicheren und erschwinglichen Wohnraum, flächendekkender ÖPNV, bezahlbarer Strom. Die Liste der Bereiche, aus denen der Staat sich im Glauben an die Kompetenz des Marktes und die individuellen Kräfte immer weiter zurückgezogen hat, könnte noch fortgesetzt werden. Jede und jeder ist seines eigenen Glükkes Schmied. Was Hänschen noch als Freiheitsversprechen verstand, wird für die Generation, die nach 1972 das Wahlrecht erlangt, zur Drohung. Du trägst die Verantwortung für dein Leben, deine Erfolge und dein Versagen. Du musst dich um deinen Lebenslauf, deine Wohnung, deine Gesundheit, die Versorgung deiner Kinder, deine Weiterbildung, deinen Kontostand und deine Stromrechnung sorgen. Und so kämpft meine Generation bisher wohl am deutlichsten in einem Strudel aus Praktika, Teilnahmebescheinigungen und Sprachzertifikaten um den individuellsten und detailreichsten Lebenslauf. Das Ich, das im Kollektiv der Interessen der Arbeiter erstarkte, wurde sich selbst zum Feind. Gleichheit wurde als abgegriffen, verstaubt, vielleicht sogar als bedrohlich empfunden. Wir wollen frei sein. Selbst handeln, selbst bestimmen, selbst an unserem Leben schmieden. Am Ende der Selbstverwirklichungstheorie steht jedoch oft eine traurige Bilanz. Wir wollen unverwechselbare Individuen sein – trotzdem bedauern wir die Konsequenzen der Ellen-

bogengesellschaft. Die existenzielle Angst, die immer mehr Menschen spüren, schränkt uns in unserer Freiheit ein. Die alte Trias der Sozialdemokratie, deren sich bedingendes Gefüge lange verkannt wurde, geriet mit Godesberg immer mehr ins Wanken. Es ist Zeit zurück zu rudern. Wir müssen die Gleichheit zurück ins Boot, mindestens aber zurück in die praktische sozialdemokratische Politik holen! Erst ein starkes Wir ermöglicht ein starkes Ich. Gleichheit als Gleichheit von Zugängen verstanden ist ein wesentlicher Teil der Sozialdemokratie. Gleichheit als eine Gleichheit von Fähigkeiten etwas tun oder wählen zu können ist nicht nur eine reizvolle Quelle größtmöglicher Individualität, sondern auch die Basis für eine stabile Demokratie. Gleichheit – das klingt für viele nach Gleichschaltung, Gleichmacherei und nach dem Ende der Individualität. Für uns SozialdemokratInnen und demokratische SozialistInnen sollte Gleichheit jedoch der Schlüssel zu dem sein, was wir unseren Markenkern nennen: Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit, und auch das wussten die antiken Denker schon, ist die allumfassende, die oberste Tugend. Alle anderen Grundwerte sind Teilaspekte, wenn auch sehr wichtige. Es kann ohne Sozialstaat, ohne die Umverteilung und die Ermöglichung gleicher Zugänge keine Demokratie geben, zumindest keine substantielle. Gleichheit ist kein illusorisches Projekt. Gleichheit ist die normative Basis der Demokratie. Deswegen muss Gleichheit durch den Staat geschaffen werden. Das Wir entscheidet. So lautet der Wahlkampfslogan der SPD. Man kann also hoffen, dass das, was Hänschen gelernt hat, Hans auch noch lernen kann. l

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MEHR GLEICHHEIT WAGEN von Moritz Rudolph, stellv. Vorsitzender Jusos Nordost

Prächtig gedieh die Ungleichheit im neoliberalen Treibhaus der vergangenen Dekaden; doch war es wohl eher Unkraut, das da wuchs. Eine Gegenbewegung ist längst überfällig – sozial, politisch und ökonomisch. Umverteilt wird immer; nur von wem zu wem, das ist zu allen Zeiten offen. In den vergangenen Jahren – den neoliberalen – kannte der Mittelfluss in den OECD-Staaten vor allem eine Richtung: Von unten nach oben. Derzeit wird jedoch wieder ernsthaft über die gegenläufige Bewegung diskutiert: François Hollande boxte in Frankreich einen Spitzensteuersatz von 75 % durch, die SPD will ebenfalls Vermögende stärker besteuern, Obama prescht auch immer mal wieder mit Derartigem vor; Bündnisse wie „umfairteilen“ oder „Appell für eine Vermögensabgabe“ entfalten zivilgesellschaftlichen Druck in Richtung Umverteilung von oben nach unten; das neoliberale Gefüge der Vorkrisenzeit scheint – zumindest diskursiv – ins Wanken zu geraten. Das ist gut so; und dringend notwendig.

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Mehr Gleichheit wagen Argumente 2/2013

Gleichheit ist Glück Reichtum ist eine feine Sache. Umfassend entfaltete Produktivkräfte ermöglichen eine Bedürfnisbefriedigung auf hohem Niveau; das schafft Wohlstand und die Möglichkeit zur freien Entfaltung des Individuums; Reichtum birgt daher ein gewaltiges emanzipatorisches Potenzial. Doch liegt der Schlüssel zur Entfaltung dieses Potenzials in der Verteilungsfrage. Konzentriert er sich in den Händen weniger, verliert Reichtum sein emanzipatorisches Gesicht; er wird zum Siechtum. In ihrer vielbeachteten Studie „The Spirit Level“ (deutsche Ausgabe: „Gleichheit ist Glück“) wiesen Wilkinson/Pickett – gestützt auf umfassendes empirisches Material – nach, dass gleiche Gesellschaften bei Lebensqualitätsindikatoren durchweg besser abschneiden als ungleiche: Kriminalitäts- und Selbstmordrate, Lebenserwartung, psychische Krankheiten, Vertrauen, Säuglingssterblichkeit, soziale Mobilität, Bildung etc.: Der Schlüssel zum guten Leben liegt im Verhältnis zwischen den oberen und den unteren 20 % einer Gesellschaft. Ab einer gewissen Schwelle beeinflusst vor allem die relative Vermögensver-


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teilung – weniger der absolute Wohlstand – die Lebensqualität. Die Pointe: Nicht nur die Armen, auch Reiche profitieren von egalitären Gesellschaften. Anders als in Johannesburg oder Sao Paulo sollten sie sich in Helsinki und Stockholm kaum zur Errichtung scharfer (materieller und symbolischer) Schutz- und Trutzburgen zur Verteidigung gegen den Ansturm der Armen veranlasst sehen. Sozialer Druck und Statusgerangel verlieren an Notwendigkeit, je weiter sich die soziale Schere schließt; es lebt sich stressfreier. Das egalitäre Finnland etwa, dessen Pro-Kopf-Einkommen unter dem US-amerikanischen Durchschnitt liegt, schneidet deutlich besser ab als die Vereinigten Staaten – nicht nur verglichen mit den ärmsten AmerikanerInnen; auch Reiche leiden an der Ungleichheit. Doch steigert Gleichheit nicht nur Lebensqualität und gesellschaftliche Stabilität, sie ist überdies ein Gebot ökonomischer Vernunft. „Die Rückkehr der Bourbonen“ (Steindl) Reifen kapitalistischen Ökonomien wohnt stets eine stagnative Tendenz inne. Oligopolisierung und ein säkularer Trend zu fallenden Investitionsraten verlangsamen den Akkumulationsprozess mit zunehmender Entwicklung der Produktivkräfte. Der Nachkriegsboom war daher für den postkeynesianischen Ökonomen Josef Steindl „eine große Überraschung“, die im Kern durch eine nachfrageorientierte, keynesianische Wirtschaftspolitik ermöglicht wurde. Jedoch bereitete die neoliberale Konterrevolution (= die „Rückkehr der Bour-

bonen“, die man in keynesianisch-revolutionärer Manier bereits endgültig vom Thron gestoßen zu haben glaubte) der erstaunlichen Prosperitätsphase vor etwa dreieinhalb Jahrzehnten ein jähes Ende. Die Wirtschaftspolitik arbeitete von nun an angebotsorientiert, bemühte sich autistisch um Preisstabilität, deregulierte, liberalisierte, privatisierte und schwächte die Verhandlungsmacht von Arbeit. Im Verbund mit einer erhöhten Sparneigung der privaten Haushalte infolge (relativ) abnehmender Konsumbedürfnisse reifer kapitalistischer Ökonomien führte dies geradewegs in eine „neue Stagnationspolitik“. Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen sank; Nicht-Lohneinkommen (Vermögenseinkommen) stiegen rasant an. Die Steuerlast verschob sich von den Gewinnen zu den Löhnen und dämpfte die expansive Wirkung der öffentlichen Investitionen. Insbesondere in Europa verlangsamte sich das Wachstum deutlich. Steindl forderte daher, die „Bourbonen wieder von ihrem Thron zu vertreiben“ und an die Errungenschaften der keynesianischen Revolution anzuknüpfen. Im Kern geht es dabei um Umverteilung von oben nach unten und von den Vermögens- zu den Lohneinkommen. Untere Einkommensgruppen weisen eine signifikant höhere Konsumneigung auf, während höhere Einkommenssegmente eher zum Sparen tendieren. Letzteres gilt ebenso für Vermögenseinkommen im Vergleich zu Lohneinkommen. Eine Verschiebung der (funktionalen und persönlichen) Einkommensverteilung zugunsten der Reichen und Vermögensbesitzer destabilisiert die Konsumnachfrage. „Entsparen“ muss daher auf der wirtschaftspolitischen Tagesordnung stehen, um den stagnativen Tendenzen entge-

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genzuwirken; oder um sie zumindest hinauszuzögern.

Stagnation und Siechtum wären die Konsequenz.

Mit Steindl können wir festhalten: Je fortgeschrittener eine kapitalistische Ökonomie, umso mehr ist sie auf Gleichheit angewiesen, um Wachstum zu generieren.

Lesen wir nun Steindl durch die Elsenhanssche Brille, so können wir festhalten, dass Gleichheit uns vor stagnativ-neofeudalen Tendenzen bewahrt, die drauf und dran sind, uns in die schlechte alte Zeit zu katapultieren und demokratietheoretisch äußerst bedenkliche Konsequenzen hervorzubringen drohen. Wählen wir also besser den Weg der egalitären Moderne anstatt uns vom Neoliberalismus in die Vormoderne treiben zu lassen.

Kein Fußbreit dem Feudalismus Kapitalismus ist, wenn die KapitalistInnen nachts nicht ruhig schlafen können, weil sie Sorgen haben, dass ihnen die ArbeitInnen aufs Dach steigen und (idealiter produktivitätsorintierte) Lohnsteigerungen durchboxen, die die kurzfristigen Profite schmälern, aber die Massennachfrage ausweiten, Absatzerwartungen stabilisieren und Investitionen stimulieren. Der Kapitalist ist eine eigenartige Figur, die eigentlich gar nicht sein will, was sie ist. Anstatt auf dezentralen Wettbewerbsmärkten agieren zu müssen, möchte sie viel lieber ein unbeschwertes Rentiersdasein führen; erst die Arbeiterbewegung macht sie zum realinvestiven Kapitalisten. Kapitalismus als „dezentrales System“ hängt daher „von der Gegenmacht der Vielen gegen die Bereicherung der Wenigen ab“ (Elsenhans). Wer hingegen die Verhandlungsmacht von Arbeit schwächt, ebnet Strukturen den Weg, die nicht kapitalistisch sind. Neoliberale sind daher beinharte AntikapitalistInnen. Doch hat dies nichts mit einer progressiven Aufhebung des Kapitalismus zu tun – über die sich durchaus diskutieren ließe –; vielmehr bläht sie neofeudale Strukturen auf. Gesellschaftliche Stratifizierung, Klientelismus, die Verschmelzung und Konzentration von politischer und ökonomischer Macht, Postdemokratie,

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Die Krise als Verteilungskrise Doch werden wir ein wenig konkreter: Ungleichheit bereitet nicht nur langfristig stagnativen Tendenzen den Boden, auch kurze, eruptive Entladungen angestauter Widersprüche haben hier ihre Ursache. Die gegenwärtige Krise ist eine Krise der Reichtumsverteilung. Wie schon in den 1920er Jahren erfuhr die (persönliche und funktionale) Einkommensverteilung im Vorfeld der Krise eine ungeheure Spreizung. Stöbern wir ein wenig nach dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Krise: Ungleichheit bläht Finanzmärkte auf. Das Kapital, „geil wie ein Bock“ (Marx), jagt auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten über den Erdball und forciert Instabilität auf den Finanzmärkten. Doch was mästet den geilen Bock? Polarisierte Einkommen, die sich zu konzentrierten Vermögen anhäufen, sind sein Treibstoff. „Finanzmaktinnovationen“ sind eher Ausdruck, weniger Ursache der Möglichkeit spekulativer Exzesse. Die aufge-


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blähten Finanzmärkte wiederum verschieben die Kräfteverhältnisse zugunsten der Vermögenden und das Spiel beginnt von vorn; ein Teufelskreis. Noch einmal: Das alles hat wenig mit Kapitalismus zu tun. Vermachtete Finanzmärkte sind eher ein Fingerzeit in Richtung Refeudalisierung der Gesellschaft. Die Regulierung von Finanzmärkten ist notwendig; doch um diese erstens machtpolitisch möglich und um zweitens spekulative Exzesse unmöglich zu machen, sollten wir ein wenig tiefer bohren und der Ungleichheit bereits im den Finanzmärkten vorgelagerten Raum des Verteilungskampfes die Stirn bieten. Denn nicht erst auf Finanzmärkten richtet Ungleichheit allerhand Schaden an. Der Unsinn entfaltet seine destruktive Kraft bereits in der damit verschlungenen Sphäre der Warenproduktion, -zirkulation und -konsumtion. Der entstandene Nachfragemangel infolge ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung wurde bereits weiter oben diskutiert. Nun mussten die entwickelten Volkswirtschaften darauf eine Antwort finden. Zwei Hauptstrategien kristallisierten sich in der Vergangenheit heraus: ein kreditgetriebenes Wachstumsmodell im angelsächsischen Raum und Südeuropa sowie ein exportgestütztes in Deutschland, China und Japan. Der Ausweg durch das Nadelöhr Kredit bzw. Export schuf gigantische globale Außenhandelsungleichgewichte, ermöglicht durch die Liberalisierung internationaler Kapitalflüsse in der Post-Bretton-WoodsÄra. Nicht Im- und Exporte bestimmten fortan die Wechselkurse; es durfte munter spekuliert werden; riesige Kapitalbrocken

rauschten über den Erdball. Das kann eine Zeit lang gut gehen; doch irgendwann, wenn die „capital flow bonanzas“ (Reinhart/Reinhart) allzu fette Blasen genährt haben und die schmerzhafte Korrektur der Ungleichgewichte ansteht, wird es bitter. Die (partielle) eruptive Entladung der Ungleichgewichte äußert sich in der globalen Krise. Stärker noch erleben wir derzeit einen beinharten und ökonomisch wie gesellschaftlich verheerenden Korrekturmechanismus in der Eurozone als Teil der weltweiten Ungleichgewichte. Die Explosion der privaten Haushaltsverschuldung in den USA steht im Zusammenhang mit der dümpelnden Einkommensentwicklung, die die (Konsum-)Nachfrage tendenziell zu destabilisieren droht. Als das Lohnwachstum der unteren Einkommensschichten ausblieb, wurde es kurzerhand durch wachsende Privatverschuldung der Armen ersetzt. Über kurz oder lang musste dieser „Privatkeynesianismus“ (Crouch) vor die Wand donnern. Der USImmobiliencrash, der ab 2006 ins Rollen kam, ist dessen allzu konkreter Ausdruck. Was lernen wir daraus? Ungleichheit wirkt krisentreibend und langfristig stagnativ; alle Wege der Vernunft führen uns daher zur Überwindung des ungleichen Zustands; es schlägt die Stunde der Umverteilung. Was tun? Doch werden wir noch etwas konkreter und ziehen wir einige Schlüsse aus der Analyse. Der klassische Besteckkasten redistributiver Politik hält hier allerhand

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Nützliches bereit; wir brauchen nur zuzugreifen:

Steuerflucht bekämpfen; Steueroasen trocken legen.

Einführung eines saftigen Spitzensteuersatzes. Warum nicht einmal 75 % wagen, wie sie in Frankreich wohl kommen werden. Dafür sollte er jedoch erst in reichlich hohen Einkommenssegmenten greifen, um nur wenige zu Spitzensteuersatzzahlern zu machen (1,5 – 3 % der Bevölkerung). Dies erleichtert Hegemonie und die Bildung strategischer Allianzen mit großen Teilen der Mittelklassen, die niemals in die Reichweite derartiger Steuersätze kommen und sich darüber auch keine Illusionen machen müssen.

Erbschaftssteuer drastisch erhöhen (dies ist eine zutiefst liberale Forderung zur Herstellung annähernd gleicher Startbedingungen; siehe USA und Großbritannien).

Erhebung einer einmaligen, europaweit koordinierten Vermögensabgabe. Rasche Durchsetzung ist hier geboten; die Krise stößt ein window of opportunity auf, um die Abgabe kommunikationsstrategisch an eine notwendige Kostenbegleichung infolge der Krise zu binden. Eine supranationale Erhebung und Verwendung auf europäischer Ebene wäre wünschenswert, könnte sie doch zur so dringend benötigten politischen und Fiskalunion beitragen; und überdies die Stellung des Europäischen Parlaments stärken. Allerdings legt das geltende EU-Primärrecht einer zentralisierten Steuererhebung einige Steine in den Weg. Eine Implementierung wird daher wohl (vorerst) auf nationalstaatlicher Ebene erfolgen müssen. Erhöhung der Kapitalertragssteuer. Einführung einer Finanztransaktionssteuer; Frankreich macht es seit August 2012 vor.

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EU-Mindeststeuersätze festschreiben, um ruinöses Steuerdumping zu verhindern. allgemein: Orientierung an der Zauberformel „produktivitätsorientierte Lohnpolitik“. Hierfür muss die Verhandlungsmacht von Arbeit gestärkt werden. Mindestlohn und Unterstützung der Gewerkschaften (politisch wie rechtlich) können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten. Doch Geld allein reicht nicht aus. Der Ungleichheit wird bereits in Sphären jenseits von Fiskus und Arbeitsmarktes der Weg geebnet. In Deutschland ist die Schule die schlagkräftigste Reproduktionsinstanz der Klassengesellschaft; und somit auch der Ungleichheit. Wer etwas mehr Gleichheit will, muss dem vormodernen dreigliedrigen Schulsystem ans Leder; eine ganztätige Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild könnte stattdessen als Vorbild dienen. Sicher, die Klassengesellschaft wird sich auch dann noch ihren Weg suchen. Einebnen lassen sich die Unterschiede wohl nicht, doch eine asymptotische Annäherung an die „Assoziation freier Individuen“ (Marx) ist allemal drin. Umso wichtiger wird eine ex-post Umverteilung über das Steuersystem.


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Hegemonie entfalten Wie wir es auch drehen und wenden; ob sozial, politisch, ökonomisch etc.: Der Schluss ist immer derselbe: Mehr Gleichheit durch Umverteilung brauchen wir jetzt. Doch werden nicht alle Feuer und Flamme sein in Anbetracht der damit verbundenen politischen Konsequenzen. Einige aus dem Lager der Opponierenden können wohl durch Offenlegung ihrer objektiven Interessenlage auf unsere Seite gezogen werden; dies betrifft große Teile der Mittelschichten. Hier ist jedoch Ideologie im Spiel; allerhand falsches Bewusstsein schwirrte und schwirrt durch den neoliberal strukturierten Raum des Politischen (sonst hätte die FDP niemals knapp 15 % holen können). Konsequente Ideologiekritik ist daher notwendig; die neoliberale Diskurshoheit beginnt bereits zu bröckeln, doch wartet hier wohl noch ein ganzer ideologischer Schutthaufen, der sorgfältig abgetragen werden muss. Auch der inklusive „Gleichheit ist Glück“-Ansatz, der Vermögende mit ins Boot holt und ihnen Sicherheit bietet, könnte die Grundlage für ein umfassendes hegemoniales Projekt sein. Und eigentlich ist Umverteilung von oben nach unten auch eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Warum also sind nicht alle längst auf unserer Seite? Einsichten in ökonomische Vernunftgebote führen nicht automatisch zu adäquatem Handeln der entscheidenden Akteure. Kalecki hat in seinem Aufsatz „Politische Aspekte der Vollbeschäftigung“ gezeigt, dass Unternehmer an eine Stär-

kung der Verhandlungsmacht von Arbeit nicht unmittelbar interessiert sind; schließlich wollen sie nicht Unternehmer, sondern Rentiers sein; das ist viel angenehmer. Selbst wenn Vollbeschäftigung makroökonomisch sinnvoll ist, fürchten sie deren Konsequenzen: Aufmüpfige Arbeiter bedeuten Stress; sie sind ihnen ein Dorn im Auge. Die Unternehmer werden daher alles daran setzen, ihrerseits Hegemonie zu entfalten – vielleicht im Verbund mit einigen Rentiers –, eine Ausweitung der Lohnquote zu verhindern und somit werden sie den Kapitalismus ein wenig zum Wanken bringen; er neigt sein Haupt bereits gewaltig in Richtung Feudalismus; die schlechten alten Zeiten drohen wiederzukehren. Also wird es doch nicht auf rein konsensuellem Wege möglich sein, Umverteilung durchzusetzen. Ideologiekritik hin, Aufklärung her – Ideen sind klassenbasiert und einige gewinnen, andere verlieren (kurzfristig). Die Zauberformel lautet daher konfrontative Hegemonie; sie setzt weder auf Avantgarde noch vertraut sie in einen allgemeinen postpolitischen Konsens. Stattdessen sucht sie nach einer breiten politischen Basis, um der Verhandlungsmacht von Arbeit den Rücken zu stärken und das Klassengleichgewicht wiederherzustellen. Dafür müssen wir uns jedoch von der Mär vom Ende von links und rechts verabschieden. Politik kann nicht zu Verwaltung erstarren; tut sie es doch, verfestigt sie in der Regel Klassenstrukturen zugunsten der Mächtigen; mit – wie oben gezeigt – sozial, politisch und ökonomisch verheerenden Konsequenzen. Scheuen wir uns daher nicht vor der Umverteilung; und trauen wir

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uns ruhig, das Kind beim Namen zu nennen: Es ist ein linkes Projekt. l Literatur Elsenhans, H. (2009): Kapitalismus kontrovers. Zerklüftungen im nicht so sehr kapitalistischen Weltsystem, Welt Trends Papiere, Potsdam. Kalecki, M (1987): Politische Aspekte der Vollbeschäftigung, in: Ders.: Krise und Prosperität im Kapitalismus, Marburg, S. 235f. Pickett, K./Wilkinson, R. (2009): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Hamburg. Steindl, J. (1952): Maturity and Stragnation in American Capitalism, Oxford. Steindl, J. (1988): Diskussionsbeitrag zur EG-Frage. In: Kurswechsel, 4 (3), S. 3–7. Stockhammer, A. (2011): Von der Verteilungs- zur Wirtschaftskrise. Die Rolle der zunehmenden Polarisierung als strukturelle Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise . In: http://www.wege-aus-der-krise.at/fileadmin/dateien/downloads/HINTERGRUNDMATERIAL/Studie_Stockhammer.pdf [10.06.2013].

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PROGRAMM FÜR DEN LINKEN POLITIKWECHSEL von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender

Schwerpunkt

Als „Linksschwenk“ oder gar als „Linksruck“ wurde das Regierungsprogramm der SPD bei seiner Verabschiedung von vielen Medien bezeichnet. Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück verortet es – etwas zurückhaltender – als „links von der Mitte“. Wer auch immer diese ominöse Mitte ist, sie scheint auf jeden Fall mit dem Programm zufrieden: Etliche zentrale Aussagen des Programms werden von einer großen Mehrheit der Menschen – gemessen an den Ergebnissen der Meinungsforschung – geteilt. Ein Widerspruch? Nur zum Teil. Denn erstens haben Finanzkrise und Co. in der Tat dazu geführt, dass auch der Zeitgeist ein Stück nach links gerückt ist. Zweitens gibt es anscheinend und erfreulicherweise eine Mehrheit für solidarische und sozial gerechte Politik – auch wenn das manchen auch in der SPD verwundern sollte. Und drittens eignen sich einige zugespitzte und gewollt skandalisierende Formulierungen

mancher JournalistInnen nicht immer zur Einordnung. Das Regierungsprogramm ist das Programm einer linken Volkspartei, es stellt eine Re-Sozialdemokratisierung der SPD dar, es ist in vielen Bereichen ein Erfolg für die Jusos, die für eine inhaltliche Erneuerung der SPD gekämpft haben, und es macht deutlich, wie eine Alternative – eben ein Politikwechsel – zu schwarzgelb aussehen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auch das war und ist freilich nicht selbstverständlich. Blicken wir zurück ins Jahr 2009. Mit gerade einmal 23 Prozent hat die SPD ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl eingefahren. Ein maßgeblicher Grund: Viele Menschen trauen der SPD nicht mehr zu, tatsächlich für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und bleiben deswegen der Wahl fern. Auch das Wahlprogramm ist voll des Zögerns und Zauderns und taugt neben vielen weiteren Ursachen nicht unbedingt zu einer Zuspit-

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zung, sondern verfestigt eher den Eindruck, dass die Fortsetzung der großen Koalition eine beschlossene Sache sei. Spätestens mit dem Dresdner Bundesparteitag im November 2009 macht sich die SPD auf den mühevollen Weg der Erneuerung, arbeitet die Vergangenheit auf und findet neue Positionierungen. Für uns Jusos war klar: Wir wollen eine Triebfeder für die Erneuerung sein, wir mischen uns in die Debatten über die Neuaufstellung der SPD ein. Wir entwerfen und diskutieren auf vielen Veranstaltungen eigene Ideen. Egal ob Arbeit, Bildung, Rente oder Steuern – wir bringen eigene Vorschläge in die Debatte, kämpfen in den Vorständen der Partei, auf Parteitagen und überall wo es sonst sinnvoll erscheint für einen neuen Kurs. Dabei halten wir engen Kontakt zu unseren Bündnispartnern außerhalb der SPD und lassen viele Vorschläge etwa von Gewerkschaftsjugend und anderen Jugendverbänden in die innerparteiliche Debatte einfließen. Doppelstrategie eben. Das alles war nicht immer einfach. Manche Debatten sind zäh. Manchmal fasst man sich an den Kopf. Und gelegentlich muss man auch Kompromisse eingehen. Aber alles in allem hat es sich gelohnt. Denn ohne Zweifel kann man nun sagen, dass es in den vergangenen 15 Jahren wohl kaum ein Regierungsprogramm gegeben hat, in dem so viele Positionen der Jusos enthalten sind. Im Vergleich zum Jahr 2009 lässt sich mit Fug und Recht behaupten: Die SPD hat sich auf die Positionen der Jusos zubewegt und nicht umgekehrt. Nahezu in allen Politikfeldern oder Kapiteln des Programms lässt sich ein solcher Kurswechsel deutlich machen, der übrigens auch im Hinblick auf die Sorge vieler, die nächste große Koalition stehe vor der

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Tür, deutlich macht, dass dies entweder nur unter maximalen Zugeständnissen der Union oder des Verlustes der Glaubwürdigkeit der SPD funktionieren könnte. Dieser Kurs- und mit der Regierungsübernahme dann auch eben Politikwechsel lässt sich an den folgenden Kernbereichen aufzeigen: 1. Der Kampf für gute Arbeit als Kernidentität der SPD umfasst anders als 2009 eben nicht nur die inzwischen zum Allgemeingut gehörende Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Dieser ist sicherlich weiterhin eine zentrale Forderung, dürfte aber nicht ausreichen, um prekäre Beschäftigung und vernünftige Löhne zu sichern. Deshalb tritt die SPD auch für eine umfassende Regulierung der Leiharbeit unter anderem durch die Durchsetzung des Equal-Pay-Grundsatzes und die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung ein. Letzteres ist gerade für junge BerufseinsteigerInnen enorm wichtig, kann damit eben der Arbeitgeber nicht mehr beliebig den Kündigungsschutz umgehen, sondern muss auch jungen Menschen eine sichere Perspektive geben. Zusätzlich soll eine Reform der Minijobs unter anderem durch eine Begrenzung der Zahl der Stunden dafür sorgen, dass diese nicht mehr für Millionen Menschen Dumpinglöhne bedeuten. Ebenso möchte die SPD der ausufernden Praxis, durch Werkverträge einen regulären Arbeitsvertrag zu ersetzen, einen Riegel vorschieben. Abgerundet wird dieser Katalog durch ein klares Bekenntnis zu einem Tariftreuegesetz sowie einer Reform der Zumutbarkeitskriterien beim Arbeitslosengeld II: Künftig sollen nur

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noch Jobs angenommen werden müssen, die nach dem ortsüblichen Lohn vergütet werden. Das komplette Maßnahmenbündel würde nicht nur dazu führen, die in den vergangenen Jahren erschreckend ausgeweitete prekäre Beschäftigung zurückzudrängen, es würde auch ganz allgemein die Position der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen stärken und damit dafür sorgen, dass die Politik ihren Teil zur Forderung nach Lohnsteigerungen für die Beschäftigten nachkommt. 2. Eine Kehrtwende vollzieht die SPD auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme und möchte allgemein das Prinzip der Solidarität stärken und die eingeleiteten Schritte zur Privatisierung zumindest zum Teil zurücknehmen. Das beginnt bei der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Einführung der Bürgerversicherung. Alle Menschen sollen einen guten Versicherungsschutz genießen, nach und nach sollen alle Gruppen in die Bürgerversicherung einzahlen. Das stärkt die Solidarität. Das gleiche Prinzip soll im Bereich der Pflegeversicherung gelten, außerdem ist hier eine Steigerung der Beitragssätze vorgesehen. Das ist angesichts der jetzt schon teilweise katastrophalen Bedingungen in der Pflege sowie der abzusehenden Herausforderungen auch mehr als notwendig. Innerparteilich am meisten umstritten, aber letztlich auch einer der vielleicht deutlichsten Kurswechsel ist in der Rentenpolitik zu sehen. Die umstrittene Rente mit 67 wird so lange ausgesetzt, bis es ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Beschäftigte gibt, zusätzlich sollen Verbesserungen bei der

Erwerbsminderungsrente dafür sorgen, dass Menschen aus gesundheitlichen Gründen ohne Rentenkürzung früher in den Ruhestand gehen können. Für Menschen, die lange Zeit gearbeitet haben, wird über eine Solidarrente sichergestellt, dass sie auch, wenn sie lange Jahre in prekären Jobs tätig waren, eine Rente deutlich über dem Niveau der Sozialhilfe erhalten. Das für die Jusos wichtigste Element ist und bleibt jedoch die Sicherung des Rentenniveaus und damit der Stopp der weiteren Privatisierung. Damit wird klargestellt, dass die solidarische umlagefinanzierte Rentenversicherung weiterhin die hauptsächlich tragende Säule bleiben soll. Finanziert wird das ganze übrigens über eine Demographiereserve, also einem leichten Vorzug der ohnehin vorgesehenen Steigerungen der Rentenbeitragssätze. 3. Hatte die rot-grüne Bundesregierung noch dafür gesorgt, dass massive Steuersenkungen die staatlichen Handlungsmöglichkeiten insbesondere bei den Kommunen eingeschränkt hatten, bekennt sich die SPD in ihrem Programm deutlich zu Steuererhöhungen für hohe Einkommen und Vermögen. Der Spitzensteuersatz soll auf 49 Prozent erhöht, Kapitaleinkünfte wieder genauso wie Arbeit besteuert und die Vermögensteuer eingeführt werden. Das ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit – schließlich sind die reichsten dieser Gesellschaft in den vergangenen Jahren immer reicher geworden. Das ist angesichts des Investitionsstaus auch eine Notwendigkeit, wenn man künftigen Generationen nicht die Zukunft verbauen möchte. Deswegen sol-

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len die zusätzlichen Einnahmen auch für Investitionen in Bildung, Infrastruktur und zur Stärkung der Kommunen eingesetzt werden. In allen diesen Bereichen hinkt Deutschland im europäischen Vergleich übrigens deutlich zurück – höchste Zeit also, das zu verändern. 4. Bildung ist zwar in vielen Bereichen Ländersache, das Wahlprogramm zeigt trotzdem die klaren Unterschiede zu schwarz-gelb auf. Neben den zusätzlichen finanziellen Mitteln (die Einnahmen der Vermögensteuer z. B. kommen ausschließlich den Ländern zur Finanzierung von Bildung zugute) soll auch das Kooperationsverbot fallen. Damit hätte der Bund wieder die Möglichkeit, gemeinsam mit den Ländern große Aufgaben zu stemmen. Ein weiterer Kernpunkt ist der Bereich der beruflichen Ausbildung. Allen Berichten und Bündnissen zum Trotz gibt es immer noch viel zu wenig Ausbildungsplätze, hier möchte die SPD mit einer Ausbildungsgarantie und der Einführung von branchenbezogenen Fonds oder Umlagen Abhilfe schaffen. Außerdem soll gemeinsam mit den Tarifpartnern die teilweise schlechte Ausbildungsqualität verbessert werden, indem zum Beispiel längere Ausbildungsgänge wieder stärker unterstützt werden. Und auch für Studierende soll sich etwas ändern: Das elitäre Deutschlandstipendium wird abgeschafft, dafür das BAföG verbessert, unter anderem durch eine stärkere Anerkennung ehrenamtlichen Engagements bei der Bemessung der Förderungshöchstdauer. Alles in allem wird deutlich, dass es in Sachen Chancen-

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gleichheit in der Bildung einen enormen Unterschied macht, wer regiert. 5. Endlich wird auch das Thema Gleichstellung offensiv angegangen. Das unsinnige Betreuungsgeld wird abgeschafft, stattdessen soll in einem Stufenplan flächendeckend und kostenfreie Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr zur Verfügung gestellt werden. Das betrifft zwar nicht nur Frauen, in der Realität aber leider immer noch zu häufig Frauen, da die Kinderbetreuung zwischen Frauen und Männern ungleich verteilt ist. Für die beruflichen Chancen mindestens ebenso wichtig ist die Einführung eines Entgeltgleichheitsgesetzes, das dafür sorgen soll, dass Frauen bei gleichem Job eben nicht mehr 23 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Und ebenso soll eine Quote bei Aufsichtsräten und Vorständen von börsennotierten Unternehmen dafür sorgen, dass endlich mehr Frauen in Chefetagen zu finden sind. Ein wichtiger Schritt nach vorn ist darüber hinaus die Abschaffung des Ehegattensplitting, das völlig unsinnig Milliarden verschlingt und traditionelle Rollenbilder verfestigt. Klar, volle Gleichstellung ist auch eine gesellschaftliche Einstellungsfrage. Die Politik kann aber Einfluss nehmen. Und das will die SPD – anders als die Union mit ihren freiwilligen Selbstverpflichtungen und Flexiquoten. 6. Bei aller berechtigten Kritik am eigenen Regierungshandeln in der Vergangenheit: Was schon rot-grün gewaltig nach vorne gebracht hat – nämlich die Liberalisierung und Öffnung der Ge-

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sellschaft – soll nun fortgesetzt werden. Ausgehend von der Idee einer offenen, toleranten und solidarischen Gesellschaft würde sich bei einem Wahlsieg der SPD auch gesellschaftspolitisch einiges tun. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft – deshalb brauchen wir eine Willkommenskultur und auch hierfür kann die Politik etwas tun. Etwa mit der Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für alle, die das wünschen. Mehrere Identitäten zu haben ist in einer Einwanderungsgesellschaft total normal – das sollte die Politik auch endlich akzeptieren. Dazu gehört auch die Einführung des Wahlrechts für Migrantinnen und Migranten – wer längere Zeit hier lebt, soll auch an demokratischen Entscheidungen beteiligt werden. Zu einer toleranten Gesellschaft gehört auch das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Auch Inklusion kann nicht von oben verordnet, aber von Politik beeinflusst werden, z. B. indem Mittel zum Umbau von Gebäuden bereit gestellt werden, oder indem bei der Jobvermittlung gezielter auf die Bedürfnisse aller Menschen geachtet wird. Und zu einer toleranten Gesellschaft gehört auch, homosexuelle Paare endlich mit allen anderen Paaren tatsächlich gleichzustellen und nicht immer erst dann zu reagieren, wenn das Bundesverfassungsgericht mal wieder ein Urteil gefällt hat. Eines braucht eine tolerante Gesellschaft aber garantiert nicht: Nazis. Deshalb ist es gut, dass die SPD auch die Extremismusklausel abschaffen möchte und so gesellschaftliche Initiativen gegen Nazis wieder besser gefördert werden können.

Man könnte nun noch viele weitere Punkte aufzählen. Die Ablehnung von Kampfdrohnen etwa. Die flächendeckende Einführung von Breitbandversorgung auch in ländlichen Räumen. Oder die Einführung des Wahlalters 16 auch bei Bundestags- und Europawahlen. In nahezu jedem Kapitel wird deutlich, warum es sich für einen Wahlsieg der SPD zu kämpfen lohnt, wenn man tatsächlich für gesellschaftliche Veränderungen einstehen möchte. Nun gibt es diejenigen die nicht glauben, dass das alles ernst gemeint ist und viele Punkte in Regierungsverantwortung nicht umgesetzt würden. Denen kann man dreierlei zurückrufen: 1. Mit der Fortsetzung der schwarz-gelben Bundesregierung wäre sogar ziemlich sicher, dass kaum einer der genannten Punkte umgesetzt würde. 2. Wohl kaum ein Wahlprogramm der vergangenen Jahre ist so intensiv diskutiert worden wie dieses. Das führt auch zu einer breiten und tief verwurzelten Mehrheit in der SPD für so ziemlich jeden Punkt. Es dürfte daher schwierig für wen auch immer sein, gravierend davon abzuweichen. 3. Natürlich kann es sein, dass im Zuge von Koalitionsverhandlungen oder neuen Rahmenbedingungen auch zu Regierungszeiten neue Debatten entstehen. Na und? Für gesellschaftlichen Fortschritt muss man immer kämpfen. Und es gibt diejenigen, die befürchten, dass große Teile des Programms auf dem Basar einer großen Koalition geopfert werden. Wenn man nichts dagegen tut, kann das geschehen. Aber erstens geht es jetzt

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erstmal darum, mit einem guten Programm ein möglichst gutes Ergebnis für die SPD zu erkämpfen. Und zweitens wird eigentlich aus jeder Zeile des Programms deutlich, dass damit keine große Koalition möglich ist. Deshalb geht es umso mehr darum, unsere Positionen im Wahlkampf nach vorne zu tragen und deutlich zu machen, was wir unter einem linken Politikwechsel verstehen! l

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KANZLERKANDIDATEN UND -KANDIDATINNEN: WIE BEEINFLUSSEN SIE DIE WAHLENTSCHEIDUNG? Von Aiko Wagner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „German Longitudinal Election Study (GLES)“, Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Das politische Personal entscheidet die Wahlen – Die Personalisierungsthese Die These von der Personalisierung der Politik geistert seit Längerem durch die Medien. Sie besagt, dass, erstens, das politische Personal stärkere Beachtung fände als politische Inhalte und Parteibewertungen, zweitens, dass die Bedeutung rollenferner Bewertungskriterien relevanter seien als dezidiert politische Eigenschaften und drittens, dass diese Ungleichgewichte zunähmen. Demnach würde der Souverän in erster Linie nicht mehr die Parteien, ihre Politikvorschläge und bisherigen Leistungen bewerten, sondern vorrangig die KandidatInnen. Flankiert wird dieser Befund von der Beobachtung, dass vor allem die Boulevardmedien ihre Berichterstattung

mehr auf die Personen konzentrierten als auf die inhaltlichen Aussagen der Parteiprogramme . Diese Konzentration der Medien auf die Kandidaten und Kandidatinnen in ihre Strategie aufnehmend, würden insbesondere die großen Parteien ihre Kanzlerkandidatin bzw. ihren Kandidaten stärker in den Vordergrund rücken. Diese Wandlung der Wahlkämpfe gälte nicht nur für Deutschland, sondern sei ein in fast allen Demokratien anzutreffendes Phänomen. Die drei kurz vorgestellten Sachverhalte – Fokussierung der Medien auf die Spitzenkandidaten unter Hervorhebung ihrer politikfernen Persönlichkeitsmerkmale, Betonung des Personals durch die Parteien und deren Relevanz für die Wahlentscheidungen – hängen inhaltlich natürlich stark zusammen. Die politischen Parteien kon-

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zentrieren ihre Wahlkämpfe genau dann stärker auf ihr Führungspersonal, wenn sie unterstellen, dass die Wählerinnen und Wähler (immer stärker) auf Spitzenkandidaten achten und ihnen für ihre Wahlentscheidung mehr Gewicht zumessen (Adam und Maier 2010). Zugleich drängt es sich aus Sicht der Wählerinnen und Wähler geradezu auf, die Bewertung von Parteien durch das Bewerten der Kandidaten zu ersetzen, wenn in den Medien vor allem Personal dargestellt wird und Inhalte vergleichsweise kurz kommen. Dieser Logik nach ist Personalisierung durch das Zusammenwirken dieser drei Elemente quasi zwangsläufig: Sie wäre somit ein stärker werdender und sich selbst verstärkender Prozess. Personenorientierung und Wahlentscheidung Dementsprechende Befunde finden sich in den Medien. So titelte Spiegel Online beispielsweise mit Blick auf den Wahlkampf 2009: „Union feiert die MerkelShow“, und führte aus, dass der Wahlkampf „nun mal in diesen Zeiten […] vor allem Inszenierung, Spektakel, Show“ sei (Spiegel Online, 06.09.2009). Zudem verdanke die Union 2009 „knapp ein Drittel ihrer Wähler der Person Merkel“ (Bartsch et al., Der Spiegel, 29.09.2009). Ähnliches scheint sich im momentanen Wahlkampf zu wiederholen. Allerdings wurden bereits frühere Wahlkämpfe als hochgradig personalisiert bezeichnet. Die Konfrontation von Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt 1980 habe laut ZEIT bereits ein „schlimmes Beispiel dafür geliefert, wie Polarisierung und Personalisierung jede Sachdebatte erschlagen“ könnten (Die Zeit, 24.10.1980). Und bereits Willy

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Brandts Wahlkämpfen wurde nachgesagt, in besonderem Maße Rücksicht auf die moderne Medienrealität genommen zu haben. In der Politikwissenschaft werden sich zum Teil widersprechende Ergebnisse berichtet. Einige verweisen auf den Umstand, dass die meisten der eine Personalisierung fördernden Faktoren, wie etwa die starke Position des Regierungschefs, auf Deutschland zutreffen , wenngleich das Wahlrecht eine Fokussierung auf das Spitzenpersonal weniger als in anderen Ländern begünstigt . Andere Autoren finden in empirischen Studien keine starke oder etwa zunehmende Personenorientierung des Wahlverhaltens . Wieder andere konstatieren, dass die KanzlerkandidatInnen in einigen Wahlen durchaus ergebnisrelevant gewesen seien, allerdings nicht in allen und auch nicht in zunehmendem Maße . Als allgemeiner Befund lässt sich festhalten, dass generalisierte Parteibewertungen im Mittel deutlich relevanter als KandidatInnenbewertungen sind . Träfe die Personalisierungshypothese hinsichtlich der Bedeutungszunahme der Personenbewertung für die Wahlentscheidung zu und evaluierten die BürgerInnen das Personal auch noch anhand weitgehend unpolitischer Kriterien, wären die erwähnten demokratietheoretischen Bedenken womöglich dennoch berechtigt. Die Politik liefe Gefahr, zu einem Schönheitswettbewerb zu verkommen, in dem bloße physische Attraktivität oder charismatische Ausstrahlung über die Zuweisung politischer Macht entscheiden und die KandidatInnen nur „attraktiv verpackte Waren [sind], hergestellt vom ‚image-Maker’, der die Öffentlichkeit manipuliert“ . Eine solche Entwicklung wäre auch darum be-

Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/2013


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denklich, da in der Bundesrepublik mit der relevanteren Zweitstimme nicht SpitzenpolitikerInnen gewählt werden, sondern politische Parteien. Andererseits griffe auch hier eine Untergangsprophetie der Demokratie zu kurz, denn sie würde die Mehrdimensionalität der Personenbeurteilung sowie die komplexitätsreduzierende Rolle von Personen im Prozess der Beurteilung der Wahloptionen verkennen. Wie beeinflussen KanzlerkandidatInnen die Wahlentscheidung? Wahlergebnisse in der Bundesrepublik sind einerseits also nicht durch die KanzlerkandidatInnen determinert. Andererseits widerspricht niemand der These, dass ein Teil des Wahlverhaltens der Bürgerinnen und Bürger durch sie mitbestimmt wird. Zwei demokratietheoretisch weniger bedenkliche Wege der Beeinflussung der individuellen Wahlentscheidung lassen sich unterscheiden: Erstens können die in den Medien sichtbaren Spitzenpolitiker als Entscheidungshilfe verwendet werden – in der politischen Psychologie und Sozialpsychologie spricht man von Heuristiken oder information shortcuts: Selbst im Internetzeitalter ist es mit großem (vor allem zeitlichen) Aufwand verbunden, sich über die Positionen der Parteien zu allen relevanten Themen zu informieren, um darauffolgend eine sachfragenorientierte Wahlentscheidung zu treffen. Daher können politisch weniger informierte Bürgerinnen und Bürger oder Personen, die sich vor dieser Zeitinvestition scheuen, auf die einfacher zugänglichen Bewertungen von Politikerinnen und Politikern zurückgreifen. Von Positionen zur Wirtschafts- oder Außenpolitik einer Kanzlerkandidatin bzw. eines kandidaten beispielsweise schließen Infor-

mationskosten sparende Wählerinnen und Wähler auf die Parteiposition. Zweitens muss die Gesamtbewertung von politischem Personal nicht vorrangig aus der Beurteilung von physischer Attraktivität oder menschlicher Sympathie resultieren. Die Bewertung eines Spitzenpolitikers kann ebenfalls von dezidiert politischen und politisch relevanten Kriterien abhängen. Dabei rücken sowohl die Lösungskompetenz für wichtige anstehende Probleme in den Blickpunkt als auch sogenannte rollennahe Persönlichkeitseinschätzungen wie Führungsstärke, Tatkraft und Integrität . Schaubild 1 stellt die Prozesse der Bewertungsgeneralisierung, Präferenzbildung und Entscheidung dar: Die spezifischen Beurteilungen der KandidatInnen hinsichtlich der vier Bereiche, in die sich laut der politikwissenschaftlichen Literatur die Evaluierung von SpitzenpolitikerInnen einordnen lässt, werden im ersten Schritt von den WählerInnen in eine allgemeine Einschätzung überführt. Diese generalisierte Bewertung dient als Grundlage für die Präferenzbildung – wer wird als KanzlerIn bevorzugt? Diese Präferenz geht dann in die Wahlentscheidung zugunsten einer der beiden großen Parteien ein. Ganz zentral ist dabei, dass auf jede dieser vier Entitäten die Parteineigung, also langfristige affektive Bindungen an die Parteien, einen erheblichen Einfluss ausübt. Sowohl die letztendliche Wahlentscheidung als auch Bewertungen und Präferenzen erfolgen demnach nicht ungefiltert oder entspringen einer quasi objektiven Beurteilung des Kandidaten oder der Kandidatin, sondern sind ganz zentral davon abhängig, ob eine Person der dazugehörigen Partei zuneigt oder nicht. Auch hierin zeigt sich wiederum die Relevanz des Objekts ‚Partei‘.

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Spezifische Bewertungen Generalisiserte Bewertungen

(Führungsstärke, Integrität, Kompetenz, Sympathie)

Kanzlerpräferenz

Wahlentscheidung

Schaubild 1: Generalisierung, Präferenzbildung und Entscheidungsfindung: Wie KandidatInnenorientierungen die Wahlentscheidung beeinflussen Quelle: Eigene Abbildung nach Wagner/Weßels

Wie wichtig die einzelnen spezifischen Bewertungsdimensionen sind, variiert zwischen den Wahlen. Für die letzten Bundestagswahlen lässt sich aber festhalten, dass die Gesamtbeurteilung der Kanzlerkandidaten zumeist politisch erfolgt: Wie kompetent wirkt der/die KandidatIn? Wie viel Vertrauenswürdigkeit, wie viel Tatkraft strahlt er oder sie aus? Nur selten waren rollenferne Bewertungen, wie die menschliche Sympathie, relevanter.

Bewertung der KanzlerkandidatInnen und Wahlergebnis Der Effekt der Parteibewertung ist für die individuelle Wahlentscheidung relevanter als die Beurteilungen der KanzlerkandidatInnen und letztere beeinflussen die Entscheidungen der WählerInnen, indem spezifische Bewertungen von rollennahen und rollenfernen Aspekten zu allgemeineren Evaluierungen generalisiert und diese in Präferenzen umgesetzt werden. Welches Ausmaß haben die KanzlerkandidatInnen nun auf das Wahlergebnis?

Partei

Ergebnis 2009

Modellvorhersage für 2009

Simulation 1

Simulation 2

Union

36 %

41 %

39 %

40 %

SPD

24 %

23 %

23 %

22 %

FDP

15 %

11 %

12 %

11 %

Grüne

11 %

12 %

12 %

12 %

Linke

13 %

14 %

15 %

14 %

Tabelle 1: Ergebnis der Bundestagswahl 2009 (Zweitstimmanteile an den Zweitstimmen für alle Bundestagsparteien) und Simulationsergebnisse Anmerkung: Anteile an den Stimmen, die für die Bundestagsparteien abgegeben wurden: Lesehinweis: 24 % aller Stimmen, die für die Bundestagsparteien abgegeben wurden, entfielen auf die SPD, die Modellvorhersage für 2009 liegt bei 23 %; Abweichungen von 100 % sind rundungsbedingt; Quelle für das Wahlergebnis: http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/ergebnisse/ bundesergebnisse/ [10.07.2013]. Quelle für die Modellvorhersage sowie die Simulationen stammen aus dem Nachwahlquerschnitt der „German Longitudinal Election Study (GLES)“.

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Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/2013


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Tabelle 1 zeigt das Wahlergebnis – Zweitstimmenanteile der im Bundestag vertretenen Fraktionen an allen Zweitstimmen der Bundestagsparteien – sowie eine Modellvorhersage. Dafür wurde die Wahlabsicht auf die Parteineigung, die wahrgenommene ideologische Distanz zwischen der jeweiligen Partei und Ego und die generalisierten Partei- und KandidatInnenbewertungen zurückgeführt.1 Vor dem Hintergrund, dass Wahlentscheidungen durch viele weitere Faktoren beeinflusst werden, ist die Vorhersage des Modells durchaus passabel. Die Abweichungen für die SPD, die Grünen und die Linke liegen bei unter 1,5 Prozentpunkten. Der Zweitstimmenanteil der Union wird deutlich überschätzt, der der FDP dagegen unterschätzt, was auf strategisches Stimmverhalten von WählerInnen hindeutet, die aus sog. aufrichtigen Motiven für die Unionsparteien gestimmt hätten, ihr Kreuz doch letztlich beim Wunschkoalitionspartner machten. Nichtsdestotrotz können diese Vorhersagen für eine kleine Simulation verwendet werden. Dazu wurde ermittelt, wie sich das Wahlergebnis verändert hätte, wenn der SPD-Herausforderer FrankWalter Steinmeier so populär wie die Kanzlerin Angela Merkel gewesen und Merkel wie der SPD-Spitzenmann bewertet worden wäre.2 Bekanntermaßen wurde Merkel 2009 sowohl absolut als auch im Vergleich zum Herausforderer von der Bevölkerung sehr gut bewertet (7,1 Punkte im Vergleich zu 6,3 Punkte für Steinmeier auf einer Skala von 1 bis 11). Tauscht man nun diese Einschätzungen aus, nimmt man also einmal an, die Merkelbewertungen hätten Steinmeier gegolten und umgekehrt, ergibt sich das Wahlergebnis aus der dritten Ergebnisspalte („Simulation 1“).

Aus der Perspektive des Personalisierungsparadigmas sind diese Ergebnisse ernüchternd. Die Unionsparteien hätten – wie aufgrund der nun im Mittel niedrigeren Bewertung ihrer Kandidatin zu erwarten war – wohl etwa knapp zwei Prozentpunkte weniger Zweitstimmen erhalten als in der Modellvorhersage für die Bundestagswahl 2009, also auf Basis der realen Umfragedaten. Allerdings hätte die SPD davon und durch den nun beliebter simulierten Spitzenkandidaten kaum profitiert: die Abweichungen bewegen sich lediglich im Nachkommabereich. Was bedeuten diese Ergebnisse für die anstehende Bundestagswahl? Nach dem ARD-DeutschlandTREND vom Juni 2013 sind 70 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit der politischen Arbeit der Kanzlerin sehr zufrieden oder zufrieden, 30 Prozent weniger oder gar nicht zufrieden. Für den Herausforderer Peer Steinbrück lauten die Zahlen 36 zu 59.3 Verwendet man die Salden (+40 bei Mer1

2

3

Es wurde ein konditionales Logit-Modell für WählerInnen einer der Bundestagsparteien geschätzt. Daten gewichtet mittels sozialstrukturellem, regionalstrukturellem und Transformationsgewicht; 1.483 Befragte. Konkret wurden schlicht die generalisierten Bewertungen (Kandidatenskalometerwerte) von Merkel auf Steinmeier übertragen und vice versa. Die Grenzen dieser Simulation sollten jedoch beachtet werden. So wurde nicht untersucht, welche Auswirkungen die KandidatInnenbewertungen auf andere Faktoren (zum Beispiel die Passung von KandidatIn und Partei) und auf die Mobilisierung hätte. So ist durchaus vorstellbar, dass ein beliebterer Kandidat oder eine beliebtere Kandidatin womöglich nicht den anderen Parteien Stimmen genommen, aber mehr Anhänger an die Wahlurne gelockt hätte. Vgl. http://www.infratest-dimap.de/umfragenanalysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2013/juni/ [10.07.2013].

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kel und –23 bei Steinbrück) als Kenngrößen im obigen Modell in einer zweiten Simulation, ergibt sich das in der letzten Spalte berichtete, simulierte Wahlergebnis („Simulation 2“).4 Natürlich sollte beachtet werden, dass 2013 nicht 2009 ist und sich demnach selbstredend nicht nur die Bewertungen der KandidatInnen der beiden großen Parteien geändert haben. Diese Simulation ist daher nicht als Prognose für den Wahlausgang, sondern lediglich als Gedankenexperiment zu verstehen. Sie sagt uns, wie sich die Kräfteverhältnisse 2009 dargestellt hätten, wenn der SPDKandidaten so beliebt gewesen wäre wie es momentan Steinbrück ist und wenn die Bewertung von Merkel der gegenwärtigen entsprochen hätte. Was erkennen wir nun? Wiederum ist der Unterschied nur marginal. Im Vergleich zur Vorhersage des Ursprungsmodells verlieren beide Volksparteien jeweils einen Prozentpunkt. Die Bundestagswahl 2009 wäre demnach mit den gegenwärtigen KanzlerkandidatInnen wohl ähnlich ausgegangen. Fassen wir zusammen: Die politikwissenschaftliche Forschung zeigt auf, dass Parteien noch immer die relevanteren Bewertungsobjekte für die Bürgerinnen und Bürger sind. Zudem sind politiknahe Bewertungskriterien wichtiger für die generalisierte Beurteilung der KandidatInnen als politikferne Kriterien. Hinsichtlich des Wahlverhaltens kann also Entwarnung gegeben werden – ein Trend demokratietheoretisch problematischer Personalisierung ist nicht erkennbar, vielmehr ist jede Wahl unterschiedlich. KandidatInnen machen jedoch einen Unterschied für das Wahlergebnis. Dieser bleibt allerdings recht überschaubar – sie

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bewegen das Wahlergebnis wohl eher im niedrigen einstelligen Bereich. Zwar sind wenige Prozentpunkte durchaus wichtig, können sie doch über Koalitionsmöglichkeiten und Mehrheitsverhältnisse, kurz: über Sieg und Niederlage entscheiden. Die präsentierten Simulationen zeigen aber, dass die SPD auch mit einem genauso beliebten Kandidaten wie Angela Merkel eine war (und ist) die Wahl 2009 zumindest nicht gewonnen hätte. Und auch die Wahl 2013 wird wohl nicht vorrangig durch das Duell zwischen Merkel und Steinbrück entschieden werden. l

4

Diese Salden, die theoretisch Werte von -100 bis +100 annehmen können, wurden in den Wertebereich von 1 bis 11 umgewandelt, der in den Umfragen gebräuchlich ist (mit -100 = 1, 0 = 6 und +100 = 11). Daraufhin wurden Zufallsvariablen erstellt, die den Saldo als Mittelwert (8,0 und 5,2) und ähnliche Standardabweichungen wie die empirischen Werte aus 2009 aufweisen.

Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/2013


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„E-MAIL IST TOTAL 90ER!“ – PERSPEKTIVEN EINER VERNETZTEN GESELLSCHAFT von Prof. Dr. Gesche Joost, Professorin für Designforschung und Mitglied im Kompetenzteam von Peer Steinbrück für den Bereich Netzpolitik

Wenn sich Kleinkinder heute vor den heimischen Fernseher stellen und mit der Wisch-Bewegung, die sie vom Smartphone kennen, das Programm wechseln wollen – spätestens dann wissen wir, dass wir in einer vernetzten Gesellschaft angekommen sind. An diesem Bild wird vieles deutlich: Zum einen, dass die Technik-Nutzung bestimmte Erwartungen an Logik und Bedienkomfort weckt – einfache Gesten werden zum Standard. Die Art der Nutzung verändert unsere Wahrnehmung und unsere Erwartungen an die Welt, die uns umgibt. Wer hat sich noch nicht intuitiv die „Rückgängig“Eingabe gewünscht, wenn der Kaffeebecher umfiel? Die Nutzung des Computers in all seinen heutigen Formen ist kaum mehr aus dem Leben wegzudenken – beeinflusst sie doch unsere Art zu kommunizieren, uns zu organisieren und zu informieren, zu arbeiten und unsere Freizeit zu gestalten. Zum

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anderen wird an dem Bild des Kindes vor dem Fernseher deutlich, dass die sogenannte „Generation Y“ der heute 20- bis 30-jährigen, die mit der Nutzung der digitalen Welt aufgewachsen sind, zum neuen Standard wird. Ihre Kinder werden uns fragen, wozu denn diese runde Scheibe am alten Telefon gut war. Und sie werden uns fragen, wie wir uns denn in Zeiten, bevor es soziale Netzwerke gab, überhaupt verabreden konnten. „E-Mail ist total 90er!“ – so eine 15-jährige Schülerin in einem meiner Forschungsprojekte an der Universität der Künste in Berlin auf die Frage, welche Medien sie denn täglich nutzen würde. Dagegen sehen viele von uns ganz schön alt aus. Die „Generation Y“ kommuniziert dezentral-vernetzt, mit vielen gleichzeitig über Facebook, Twitter & co. Sie sind immer im Loop der Neuigkeiten. Das ist Mikro-Kommunikation: schnell, kurz, stän-

„E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/2013


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dig. Das sind massive Veränderungen in unserem Alltag, die besonders viele junge Menschen betreffen – und die teilweise von der älteren Generation kaum nachvollzogen werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich junge Menschen heute im Netz bewegen – always online – ist für „Offliner“ fremd und ist ein Grund für eine digitale Spaltung unserer Gesellschaft in diejenigen, die das Netz als selbstverständliche Struktur in ihren Alltag integrieren, und diejenigen, die das Netz selten oder gar nicht nutzen. Einer solchen Spaltung müssen wir entgegentreten – denn eine vernetzte Gesellschaft bietet große Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger, z. B. auf gute Bildung oder Teilhabe an gesellschaftspolitischen Debatten. Dabei sollten wir nicht vergessen: Die Technik-Affinität und alltägliche Nutzung digitaler Technologien verläuft nicht entlang der Altersgrenze der jungen Generation, sondern ist quer dazu in allen Altersgruppen zu finden – bis hin zu älteren Menschen, die mehr und mehr aufgeschlossen und kompetent neueste Technologien nutzen. Eine Politik der vernetzten Gesellschaft bezieht sich daher nicht allein auf eine junge Generation, sondern knüpft an die alltägliche Erfahrungswelt aller an. In der vernetzten Gesellschaft liegt ein großes Potential für die Zukunft von Wirtschaft, Kultur, Bildung, Forschung und Technologie; es bedeutet aber auch Herausforderungen an die Politik, alle mit an Bord zu holen. Daher müssen wir immer wieder Anknüpfungspunkte und Schnittstellen für Partizipation gestalten. Grundbegriffe unseres politischen Handelns sind daher Vernetzung und Teilhabe, die soziale und technologische Strukturen betreffen.

Welche gesellschaftspolitischen Diskurse und regierungspolitischen Rahmenbedingungen müssen wir initiieren, um unsere Vision einer vernetzten Gesellschaft zu realisieren? Dazu gehören aktuelle Themen, etwa die gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität oder die Neuregelung des Urheberrechts. Aber auch unsere Reaktionen auf die Schattenseiten der vernetzten Gesellschaft – wie etwa das Cybermobbing, dem junge Menschen heute viel zu oft ausgesetzt sind – entscheiden über die Wahrnehmung von politischer Kompetenz in Netzfragen. Gleichzeitig müssen wir die großen Potentiale der Vernetzung politisch und gesellschaftlich ermöglichen: Open Data und Open Government – bieten freien Zugang zu öffentlich relevanten Daten ohne bürokratische Hürden; die Zukunft der Bürokratie Open Access – ermöglicht die freie und direkte Verfügbarkeit wissenschaftlicher Publikationen; eine Revolution für die Wissenschaft, die schon vielerorts begonnen hat. Open Innovation – initiiert eine offene Zusammenarbeit an Zukunftsthemen über die Grenzen von Institutionen hinweg; die Zukunft des Fortschritts. Digitale Arbeit Die „Generation Y“ ist eine der treibenden Kräfte, um die digitale Revolution zum Nutzen aller Gesellschaftsschichten umzusetzen. Sie verändern auch die Arbeitswelt. Vielfach sind die fachlichen Qualifikationen dieser Generation hervor-

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ragend, sie ist technikaffin sozialisiert und ihre Vorstellung von einer erfüllenden Arbeit ist gleichzeitig hoch. Sie verlangt flexible Arbeitsstrukturen, deren Grundvoraussetzungen eine ausgewogene Work-LifeBalance, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Möglichkeit der heterogenen Karrierepfade in unterschiedlichen Lebensphasen sind (z. B. internationale Bildungsaufenthalte, private Auszeiten und „Sabbaticals“). So können Modelle entstehen, die zu einer nachhaltigen Arbeitskultur führen – weg von der BurnoutFalle. Die digital vernetzten Arbeitsstrukturen ermöglichen hier oftmals insofern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, als dass das Arbeiten zeitlich und räumlich unabhängiger wird. Gleichzeitig müssen jedoch die sozialen Sicherungssysteme auf diese Flexibilität und Heterogenität reagieren können. Die Erwerbsbiografien der jungen Generation sind häufig durch Diskontinuitäten gekennzeichnet, durch Praktika und Freelancer-Tätigkeiten, durch „Auszeiten“ und Neuorientierungen. Vernetztes Engagement Diese Generation ist mit den Möglichkeiten der dezentralen, vernetzten Kommunikation aufgewachsen und äußert zum Teil Skepsis gegenüber hierarchischen, dauerhaften Organisationen wie den politischen Parteien. Für sie gilt es insbesondere, Formate der Teilhabe zu schaffen. Ihr soziales Engagement ist vielfach über digitale Plattformen und dezentrale Formate organisiert. Es ist situations- und themenbezogen, temporär, Community-orientiert und mit Spaß verbunden. Das Engagement ist besonders in Großstädten und Ballungsräumen weniger auf das lokale

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Umfeld und die Nachbarschaft bezogen, sondern kann global vernetzt stattfinden. Der Erfolg des Engagements wird online direkt erlebbar gemacht: bei betterplace.org kann der Nutzer oder die Nutzerin direkt den Projektfortschritt und damit virtuell die Wirkung der Spende nachverfolgen, bei kickstarter.com kann der Nutzende durch seine (Mini-)Investition Startups die nötige Starthilfe geben und sich somit direkt an der Wirtschaftsförderung beteiligen. Dadurch entsteht eine gemeinsame Verantwortung und ein gemeinsames Risiko, das diese Community verbindet. Diese Art der (digitalen) Schnittstellen zur aktiven Beteiligung wollen wir zukünftig verstärkt auch als politisches Instrument nutzen. Dadurch würde auch der Begriff des politischen Engagements neu verhandelt werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, Schnittstellen und Formate der Beteiligung weiter zu entwickeln oder neu zu gestalten, und zwar unter massiver Einbeziehung der unterschiedlichen Nutzergruppen und Communities. Nur durch einen Dialog mit der „Netzgemeinde“ und der Berücksichtigung der Wissenstands der netzpolitisch Informierten kann es gelingen, zu gemeinsamen Schnittstellen und Formaten zu kommen, die analoges und digitales, dezentrales und lokales, parteipolitisch organisiertes und temporär-themenorientiertes Engagement verbinden. Ziel unseres politischen Engagements ist daher eine Haltungsänderung: weg von der Politikverdrossenheit. Menschen die Möglichkeit zu geben, sich nach ihren eigenen Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten zu beteiligen, ist eine der wichtigsten Aufgaben für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Immer weniger junge Menschen durchlaufen eine parteipolitische So-

„E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/2013


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zialisation; sie sind nicht vertraut mit den lokalen Organisationsstrukturen und traditionellen Beteiligungsformaten am politischen Geschehen. Gleichzeitig wächst jedoch die Nachfrage nach einem individuellen, sinnvollen sozialen Engagement – wo kann ich mich beteiligen? Hier müssen wir Angebote schaffen. Die „Digitale Revolution“ gestalten

digitale Produkte sind dezentral herstellbar, die Finanzierung erfolgt durch Venture Capital und oftmals gibt es Verbindungen zur Kreativwirtschaft. Diese hoch dynamische Startup-Kultur stellt ein zusätzliches Feld für die Innovationsentwicklung in Deutschland dar, dem besondere Aufmerksamkeit gelten muss. Insbesondere in der Kreativwirtschaft sind die Akteure als selbständige Kleinstunternehmen oder Ein-Mann- oder Eine-Frau-Unternehmungen organisiert und leben leider genau so häufig in prekären Verhältnissen. Diese Lebensmodelle müssen in Deutschland eine bessere Unterstützung erfahren, so dass sich ihr sozialer Status verbessern kann, nicht nur da der Kreativwirtschaft in Deutschland ein hohes Wirtschaftspotential vorausgesagt wird. Diese Selbständigen bilden eine eigene Kategorie von Freiberuflern, die eigene Rahmenbedingungen brauchen.

Der Fortschritt digitaler Technologien birgt ein großes Potential für die Innovationsentwicklung in Deutschland: es entstehen neue Produktionsprozesse, die dezentral vernetzt organisiert sind. So können beispielsweise Entwürfe von Produkten über das Netz geteilt, verändert und dezentral produziert werden – entweder durch lokale Handwerksbetriebe im traditionellen Sinne, oder aber durch neue Herstellungsverfahren wie 3D Druck. Plattformen wie etsy.com bieten neue Distributionswege für (kunst-)handwerkliche Produkte in kleiner Stückzahl, die individuell von Selbständigen hergestellt und auf der Plattform kollektiv vertrieben werden, Jovoto.com bietet die Plattform für kollaborative Projektentwicklungen weltweit. Hier entstehen neue Geschäftsmodelle und Produktionsabläufe, die in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden.

Mittelständische Unternehmen müssen verstärkt dabei unterstützt werden, den Anschluss an die Digitalisierung zu finden, wo es sinnvoll und angemessen ist. Die Digitalisierung von Arbeits-und Produktionsprozessen, der strategische Einsatz neuer Technologien und das zugehörige Know-how sind Zukunftsfaktoren, die es zu unterstützen gilt.

Gleichzeitig entwickelt sich rund um digitale Technologien eine lebendige Startup-Szene, die besonderer Förderung und Begleitung bedarf und ein hohes, dynamisches Innovationspotential hat. Die Struktur solcher Startups unterscheidet sich meines Erachtens in vielen Punkten von denen anderer KMUs: die Zyklen der Unternehmensgründung und Erfolgsgeschichten sind häufig wesentlich kürzer,

Die Entwicklung der „Sharing Economy“ bedarf gesonderten Augenmerks, da sich hier potentiell eine alternative Wirtschaftsform entwickelt – eine, die auf der Idee des Teilens statt des Besitzens beruht. Zum Teil gehen Angebote der Sharing Economy mit einer Kritik am ungezügelten Massenkonsum und an der Anhäufung immer neuer Industrieprodukte einher. Gleichzeitig entwickeln sich neue Ge-

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schäftsmodelle, die zum Teil auf alternativen (Tausch-)Währungen basieren und der eine Community zugrunde liegt. Das gemeinsame Nutzen von Ressourcen, von der Vermietung der privaten Wohnung auf Airbnb bis zu Car-Sharing Services, liegt vielen Angeboten und Plattformen zugrunde. Diese Community-basierten Dienstleistungen haben ein großes Zukunftspotential und integrieren zum Teil nicht-kommerzielle Formen des sozialen Engagements und der gesellschaftspolitischen Positionierung (z. B. Food-Sharing Services, FixMyStreet, Adopt-a-Hydrant). Potentiale vernetzter Bildung Die Vernetzung von Schulen und Hochschulen über das Internet bietet die Möglichkeit, Bildungsangebote strukturell zu erweitern. Schulen stellen auf digitale Lehrinhalte um und bringen Schülerinnen und Schülern bei, wie sie das Netz zur Informationssuche effizient nutzen können. Universitäten weltweit nutzen das Netz, um ihre Lehrangebote global zu Verfügung zu stellen und damit den Zugang jenseits lokaler Grenzen, kultureller und sozialer Rahmenbedingungen zu ermöglichen. MOOCs (massive open online courses) sind die Online-Formate, die interaktive Lerninhalte im Netz abbilden und die auch in Deutschland an einigen Universitäten bereits etabliert wurden. Das führt zu einer neuen Durchlässigkeit des Bildungssystems, so dass auch sozial schwachen Schichten oder Menschen, die außerhalb von Universitätsstädten leben, die Option geboten wird, an Lerninhalten zu partizipieren und sich weiterzubilden. Der Zugang zu Universitäten wird damit erweitert, gleichzeitig müssen sie sich aber auch neu positionieren und ihr Alleinstellungs-

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merkmal als Bildungseinrichtung behaupten. Eine Differenzierung wird damit einhergehen können und müssen. Der Diskurs mit den akademischen Einrichtungen im nationalen wie internationalen Kontext muss daher intensiviert werden, in den auch „Bildungsnehmer“ eingebunden werden. Eines der zentralen Ziele der SPD ist es, eine bessere Durchlässigkeit des Bildungssystems zu ermöglichen. Die Barriere der sozialen Herkunft kann durch vernetzte Bildung gemindert werden. Aufgabe unserer Gesellschaft ist es daher, Medienkompetenz zu vermitteln und den Zugang zum Internet auf breiter Basis zu ermöglichen. Um diese Potentiale einer vernetzten Gesellschaft umsetzen zu können, bedarf es zunächst der grundlegenden digitalen Infrastruktur: den Zugang zum Netz. Der Breitbandausbau ist daher eines der vorrangigen politischen Ziele, um auch ländliche Regionen Deutschlands einzubeziehen – denn gerade hier können die Vorteile der digitalen Arbeit, Bildung und politischen Partizipation zum Standortvorteil werden. Neben diesen ganz konkreten Vorhaben geht es aber darüber hinaus auch darum, den gesellschaftspolitischen Diskurs zur vernetzten Gesellschaft zu intensivieren. Dies wird gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Datenskandale um PRISM und TEMPORA eklatant deutlich – mit den Enthüllungen ging ein massiver Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in das Netz einher. Daher ist die Debatte um Bürgerrechte und den Schutz privater Daten dringend notwendig, gekoppelt mit einem massiven Eintreten von politischer Seite, um für ein freies und offenes Netz in

„E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/2013


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Europa und weltweit einzutreten. Die Möglichkeiten einer vernetzten Gesellschaft sind immens – wir müssen sie gesellschaftlich und politisch wach und vorausschauend begleiten. l

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HOLT DEUTSCHLAND VON DER INSEL! ANTWORTEN DER SPD AUF DIE KRISE DER EUROZONE: WAS LEISTET DAS REGIERUNGSPROGRAMM? von Dr. Björn Hacker, stellvertretender Vorsitzender des Fachausschusses Europa der SPD Berlin und Referent in der Friederich-Ebert-Stiftung

Betrachtet man die vergangenen über drei Jahre Krisenmanagement in der Eurozone, erkennt man eine erstaunliche Inselposition Deutschlands. Hier wurde wie in kaum einem anderen Land der systemische Charakter der Krise zu spät, bei einigen Akteuren bis heute gar nicht erkannt. Hier verfing das populistische und falsche Bild der angeblich faulen Südeuropäer, die über ihre Verhältnisse gelebt und so eine Staatsschuldenkrise verursacht hätten. Und hier gefällt man sich in der Rolle einer Nation, deren relative wirtschaftliche Stärke auf marktliberale Reformpolitiken der jüngeren Vergangenheit zurückzuführen sei, die man

nun mit erhobenem Zeigefinger anderen Mitgliedstaaten als best practice andienen kann. Die Hauptverantwortung für den so beschriebenen Kurs aus falschem Krisenverständnis, einseitigen Schuldzuweisungen und selbstgefälligem Sendungsbedürfnis ist der Deutschen Bundesregierung zuzuschreiben. Sie hat 2010 die Krise als „griechisches Problem“ verharmlost, die schließlich unumgängliche Reaktion einer Refinanzierungshilfe nur lavierend und mit harten Konditionen der Austerität belegt zugestanden und zeitgleich die deutsche Mitverantwortung umgedeutet in die Geschichte eines Erfolgsmodells. Diese sehr

Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone:

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Was leistet das Regierungsprogramm? Argumente 2/2013


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deutsche Erzählung des Krisenhergangs und eines alternativlosen Rezepts zu ihrer Überwindung wurde der Bundesregierung aber von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit abgekauft. Die Inselposition Deutschlands in der Krise erklärt sich durch eine breite institutionelle und gesellschaftliche Unterstützung des hier skizzierten Krisengeschehens. Nur so konnte dieser Blick auf die Krise Dominanz im deutschen Diskursraum erlangen und maßgeblich die europäische Krisenpolitik beeinflussen. Akteure des dominierenden Krisendiskurses Zu den einflussreichen Akteuren in der Diffusion dieses Weltbilds gehört eine Mehrheit deutscher Ökonomen, die auch nach dem Fall von Lehman Brothers und der globalen Finanzkrise an die Selbstregulierungskräfte des freien Marktes glaubt. Während man außerhalb der deutschen Grenzen keine Neo-Keynesianer aufspüren muss, um Bewegung in der Zunft der Volkswirte im Sinne eines New Economic Thinking feststellen zu können, bleiben die deutschen Kolleginnen und Kollegen größtenteils in der Neoklassik verhaftet. Hier glaubt man daran, dass Staaten sich aus einer Rezession heraussparen können und wenn Defizite in der Architektur der Währungsunion zugestanden werden, so wird über mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsmarktrigiditäten und laxe Haushaltsführung lamentiert. Auch die deutschen Medien tragen Verantwortung für die Festigung eines sehr spezifischen Blicks auf die Krise. Dies lag und liegt teilweise an einer offensichtlichen Überforderung politischer Journalistinnen

und Journalisten, die komplexen ökonomischen Sachverhalte verstehen und bewerten zu können. Oft erschien es wohl einfacher, die auf Brüsseler Krisengipfeln produzierten Scheinlösungen als Erfolge darzustellen, als sie kritisch auseinanderzunehmen und zu hinterfragen. Und jene Journalistinnen und Journalisten, die sich seit Jahren in den Wirtschaftsredaktionen mit der Thematik beschäftigen, sind in Deutschland mehrheitlich von einer mikroökonomischen, betrieblichen Sicht auf die Dinge geprägt, wohingegen – die in dieser Krise ungleich relevanteren – makroökonomischen Zusammenhänge und Kreisläufe nur von einigen wenigen ins Feld geführt werden. Gravierender allerdings als journalistische Versäumnisse zu einem mehrdimensionalen Krisenverständnis ist der ebenfalls beobachtbare affirmative Journalismus jener Medienvertreterinnen und -vertreter, die aus der Krise einen Gegensatz von Staaten, politischen Grundannahmen und Kulturen herbeischreiben. Die solventen Länder des Nordens gegen die klammen Staaten des Südens in Europa auszuspielen, nützt in einer gemeinsamen Währungsunion wirtschaftlich niemandem und ist schädlich für das politische Klima. Und wenn Journalistinnen und Journalisten sich zur Verteidigung deutscher Interessen gegenüber anderen Staaten aufschwingen, muss gefragt werden, ob sie das Gemeinwohl noch im Blick haben oder billiger Stimmungsmache durch Bedienung altgedienter Klischees erliegen. Die Opposition in der Krise Wenn die Regierung und die sie stützende schwarz-gelbe Koalition zusammen mit dem Gros der zur Krisenanalyse rele-

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vanten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und der Mehrheit der deutschen Medienvertreterinnen und -vertreter auf der Insel sitzt, bleibt noch der Blick auf die parlamentarische Opposition und hier insbesondere auf die größte Oppositionspartei, die Sozialdemokratie. Und auch hier muss konstatiert werden, dass eine alternative Erzählung zum öffentlich dominierenden Krisendiskurs es lange sehr schwer hatte durchzudringen. Die SPD hat zwar seit Beginn der Krise einen umfangreichen Fundus an alternativen Konzepten zu ihrer Überwindung erstellt, kontrovers diskutiert, mit den europäischen Schwesterparteien abgestimmt und bis zur baldigen Regierungsübernahme archiviert. Aber die Partei zuckte jedes Mal zusammen (und zurück), wenn es um die deutschen Haftungssummen, wenn es um die Kosten der Rettungspolitik für den „deutschen Steuerzahler“ – wie es die Medien plakativ nennen – ging. Aufgestellte Gegenpositionen zum Krisenmanagement der Regierung wurden dann häufig revidiert. In der Bilanz zeigte sich die größte Oppositionspartei in der Krise so als tastend, vorsichtig, letztlich unentschlossen. Dem gegenüber erscheint die blind durch die Krise tapsende Regierungskoalition in der Öffentlichkeit plötzlich als entschieden, ihre verfehlte Europapolitik als geradlinig und vertrauenswürdig. Schlimmer noch als die Angst vor dem Gegenwind der Öffentlichkeit beim Beziehen unorthodoxer Positionen: Inhaltlich ist der Glaube an den Staat als –„schwäbische Hausfrau“, an das Sparund Konsolidierungsmantra, das zwischenstaatliche Wettbewerbsprinzip und Wirtschaftswachstum infolge sozialer Entschlackung auch im linken politischen Lager fest etabliert worden. Der Neoliberalismus in den Köpfen ist – trotz Finanzkrise –

längst nicht durch ein neues Narrativ ersetzt. Drei Baustellen Europas Umso wichtiger ist die klare Positionierung der SPD im Wahlkampf. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017 spricht in unmissverständlicher Diktion die drei wichtigsten Baustellen des europäischen Integrationsprozesses an: Ökonomisch mit der Forderung nach einer gemeinsam gestalteten Wirtschaftspolitik der Euro-Länder in Form einer europäischen Wirtschaftsregierung. Hier sollen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte frühzeitig erkannt und austariert werden. Als konkretes Instrument soll ein europäischer Schuldentilgungsfonds eingerichtet werden, der ein gemeinsames Schuldenmanagement ermöglicht und die Staaten von einem Teil ihrer Schuldenlast befreit. Das Wahlprogramm steht zu den strengen Auflagen für die Steigerung nationaler Haushaltsdisziplin, stellt aber fest, dass nun auch eine gemeinsame Haftung „kein Tabu“ mehr bleiben dürfe (S. 105). Ein deutliches Bekenntnis zur in der EU angestrebten Bankenunion wird abgelegt, das eine gemeinsame Bankenaufsicht und europäische Abwicklungsregeln einschließlich eines Restrukturierungsfonds umfasst. Ein zentraler Punkt ist die Forderung nach einer europäischen Wachstumsstrategie, „die wirtschaftliche Innovation mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Erneuerung zusammenbringt“ (S. 26). Durch die konkreten Maßnahmen der Vermögensbesteuerung, der Ausgabe von Projektanleihen, der Umschichtung von Strukturfondsmitteln, der Aufwertung der Europäischen Investitionsbank und aus

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Mitteln der Finanztransaktionssteuer soll ein europäischer Investitions- und Aufbaufonds gespeist werden. Mit diesem sollen zum einen akute Probleme wie etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit angegangen werden, zum anderen Investitionen in die Zukunft, in Bildung, Forschung und Infrastruktur ermöglicht werden. Für den gemeinsamen Binnenmarkt soll die Steuerharmonisierung vorangetrieben werden durch verbindliche Steuer-Mindeststandards für Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen. Steuerhinterziehung und unfairer Steuerwettbewerb sollen unterbunden werden. Sozialpolitisch wird zentral die Ermöglichung einer europäischen Sozialunion gefordert, die auf den sozialen Rechten der EU-Grundrechtecharta basiert. Mit einer sozialen Fortschrittsklausel in den Verträgen soll festgeschrieben werden, dass soziale Grundrechte nicht den Freiheiten des Binnenmarktes untergeordnet werden dürfen: „In Europa muss gelten: gleiche Lohnund Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ (S. 105). Besonders geschützt vor marktlichen Eingriffen werden soll die öffentliche Daseinsvorsorge, etwa durch die Ablehnung eines Privatisierungszwangs öffentlicher Unternehmen. Die Sozialsysteme der Einzelstaaten sollen nicht vereinheitlicht werden, aber gemeinsame Standardsetzung soll Dumpingprozesse unterbinden. Dafür wird ein Sozialer Stabilitätspakt vorgeschlagen, der konkrete Ziele und Vorgaben für die Höhe nationaler Sozial- und Bildungsausgaben entsprechend der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung ebenso enthält, wie die Verpflichtung zur Einführung existenzsichernder Mindestlöhne in allen EU-Staaten, gemessen am jeweiligen nationalen

Durchschnittseinkommen. Darüber hinaus soll die Wirtschaftsdemokratie auf europäischer Ebene durch Erweiterung der Spielräume für Mitbestimmung, Betriebsräte und sozialen Dialog ausgebaut werden. Demokratischer werden soll die EU, indem schrittweise das nationale Modell der Gewaltenteilung auf die transnationale Ebene übertragen wird. Bereits zur Europawahl 2014 soll eine gemeinsame Spitzenkandidatin bzw. ein gemeinsamer Spitzenkandidat in allen EU-Ländern für die jeweiligen Parteifamilien antreten. Die Mehrheitsfraktion im Europäischen Parlament soll diesen dann zum Präsidenten der Europäischen Kommission wählen. „Der nächste Europawahlkampf kann in seiner neuen Form bereits der Anfang einer umfassenden Debatte über die Richtung der EU sein“ (S. 106). Auch die vorgeschlagene europäische Wirtschaftsregierung soll parlamentarisch kontrolliert sein. Langfristig soll die Kommission zu einer europäischen Regierung ausgebaut werden, die vom Europäischen Parlament gewählt und kontrolliert wird. Der Rat soll dann als eine zweite Kammer fungieren, der Gesetze gleichberechtigt mit dem Europäischen Parlament beschließt. Überprüfen will die SPD die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips. Bevor ein Konvent vertragliche Reformschritte ausarbeitet, sollen alle Spielräume der bestehenden Verträge ausgeschöpft werden. Was fehlt? An einigen Stellen hätte man sich die Formulierung des Alternativprogramms zum derzeitigen Krisenmanagement noch

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mutiger und im Detail konkreter gewünscht. Eurobonds scheinen als Begriff für gemeinschaftliche Anleihen verbrannt, weniger nötig sind sie dennoch nicht. Immer wieder wird in das Programm eingeflochten, dass man zu den verabredeten strengen budgetären Auflagen in der neuen Struktur der Wirtschaftsgovernance steht; Solidarität dürfe keine Einbahnstraße sein, „sondern muss an Anstrengungen der Krisenstaaten für tragfähige Haushalte geknüpft sein“ (S. 26). Hier wäre es angebracht, über neue Formen der Solidarität und Reformverbindlichkeit nachzudenken, etwa durch eine Abkehr vom bestrafenden Charakter europäischer Regelwerke und Sanktionen hin zu einem belohnenden und antizyklisch funktionierendem System, wie es etwa eine Fiskalkapazität für die Eurozone ermöglichen könnte. Während die Maßnahmen für die Stärkung der sozialen Dimension umfassend dargestellt und vorstellbar sind, bleibt die geforderte europäische Wirtschaftsregierung ebenso im nebulösen wie die Ermöglichung einer europäischen Vermögensbesteuerung zur anteiligen Finanzierung des europäischen Investitions- und Aufbaufonds. Denkbar wäre hier eine Übernahme des detailliert berechneten Marshallplans des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewesen. Ähnlich unklar ist die Einsatzbereitschaft eines Restrukturierungsfonds für Banken, der durch eine Bankenabgabe finanziert werden soll. Diese Passage deutet ebenso wie die zurückhaltenden Formulierungen für die europäische Bankenaufsicht (nur große Banken) und den Verzicht auf Forderungen zur Einlagensicherung auf eine im Hintergrund weiter mitschwingende Angst der SPD vor möglichen Transferzahlungen Deutschlands an andere Staaten der Währungsunion hin. Dies steht im

Widerspruch zum klaren Bekenntnis zum Erhalt der Währungsunion und der Zustimmung zu einer Haftungsgemeinschaft. Im Hinblick auf die Stärkung der demokratischen Legitimation fokussiert das Wahlprogramm mit der Europawahl auf die kurze und mit der europäischen Gewaltenteilung auf die lange Frist. Wie sich in der mittleren Frist eine „parlamentarisch kontrollierte Wirtschaftsregierung“ (S. 105) umsetzen lässt, wird dagegen nicht näher erörtert. Wegweisend könnten in diesem Zusammenhang Überlegungen zur Zusammenarbeit der nationalen Parlamente mit dem Europäischen Parlament, unter Umständen auch im Rahmen eines sog. Euro-Parlaments sein. Paradigmenwechsel für ein soziales und demokratisches Europa Insgesamt überzeugt der Europateil des Regierungsprogramms durch die Benennung der Versäumnisse und Leerstellen im vorherrschenden Krisenmanagement, das unmissverständliche Bekenntnis zu einer Vertiefung der europäischen Integration und der Betonung des sozialen Charakters künftig zu ergreifender Maßnahmen. Normativ wird hier ein Wechsel von einer primär auf Währungspolitik und Wettbewerb gegründeten Gemeinschaft zu einer politischen Union im Sinne einer erneuerten sozialen Marktwirtschaft in Europa angekündigt. Dies ist der Paradigmenwechsel, den die EU dringend benötigt. Nur wenn den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit über die Gründe der Krise in einem unvollständigen und einseitig auf die Erweiterung des Marktes ausgerichteten Integrationsgebäude erklärt werden, kann eine ehrliche Debatte um die richtigen Lö-

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sungen zu ihrer Überwindung geführt werden. Nur wenn die in Brüsseler Krisengipfeln produzierten Scheinlösungen ins rechte Licht gerückt werden und die Mitverantwortung Deutschlands am Entstehen der Krise, etwa durch Jahre der lohnpolitischen Zurückhaltung, thematisiert wird, kann ein symmetrischer Anpassungsprozess begonnen werden. Nur wenn der Glaube an die Selbstregulierungskräfte des freien Marktes und das Austeritätsdogma als Erfolgskonzept ersetzt werden durch eine rahmende und regulierende politische sowie sozial schützende Hand und Investitionsimpulse ermöglicht werden, wird es gelingen aus der Krise herauszuwachsen und das europäische Sozialmodell zu festigen. Ein Wahlprogramm muss und kann nicht alle offenen Fragen beantworten. Wichtig erscheint vor allem, dass die an einigen Stellen sich noch bemerkbar machende Angst vor einem alternativen Politikangebot zugunsten des enthaltenen mutigen Bekenntnisses „für ein besseres Europa“ (S. 103) schwindet. Eine alternative Politik wird stets mit dem Mainstream anecken und von zögerlichen Reaktionen auf den Marktplätzen der Republik, Kritik in den Medien und schwankenden Umfragewerten begleitet sein. Hannelore Kraft hat in Nordrhein-Westfalen bewiesen, wie man in Wahlen mit einer Akzentverschiebung vom unbedingten Kürzungsprogramm hin zur Konsolidierung mit Augenmaß durch Investitionen in die Zukunft bei den Wählerinnen und Wählern punkten kann. Diese Chance gilt es für Europa zu nutzen, indem Deutschland von seiner zunehmend einsamen Inselposition befreit wird. l

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UMSTEUERN FÜR BILDUNG UND GERECHTIGKEIT von Dr. Carsten Sieling, MdB

Hunderte junge Menschen aus ganz Europa – unter ihnen viele Jusos – protestieren Anfang Juli dieses Jahres zusammen mit Sigmar Gabriel vor dem Bundeskanzleramt gegen Angela Merkels Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung der europaweiten Jugendarbeitslosigkeit. Anstatt die dramatische Lage von Millionen junger Europäerinnen und Europäer zu verbessern, flüchtet sich Merkel in abstrakte Gesten und Gipfelshows, während sich Europa nach fast vier Jahren „Deutschunterricht“ kaputtspart. Deutschland dagegen eine Insel der Glückseligen? Griechenland, Spanien und selbst Frankreich: Weit weg? Im Gegenteil: Die Bröckelrepublik Deutschland ist längst Realität. I. Wo wir herkommen Die verfehlte Finanz- und Steuerpolitik der schwarz-gelben Bundesregierung, begleitet von konjunkturbedingten Einnahmeausfällen, hat die Handlungsfähig-

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keit des Bundes, der Länder und der Kommunen in Deutschland massiv geschwächt. Die Hoffnung, dass durch Steuersenkungen und staatliche Ausgabenkürzungen Wachstum und Beschäftigung zunehmen, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die Finanzbasis der öffentlichen Haushalte in Deutschland erodiert zunehmend, die Verschuldung wächst bis zur drohenden Handlungsunfähigkeit, überall fehlt das nötige Geld für Bildung, Infrastruktur, ökologische Modernisierung und zur Finanzierung des Sozialstaats. Die Ungerechtigkeit in der Verteilung hat deutlich zugenommen: Die unteren und mittleren Einkommen sind zu stark belastet; die Reichen werden geschont. Mit anderen Worten: Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands ist gefährdet! Während der Staat in den letzten Jahren immer ärmer geworden ist, hat sich das private Vermögen in Deutschland vervielfacht. Immerhin Einzug in den Entwurf des vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung hat die Tatsache gefunden, dass das Nettovermögen des deutschen Staates zwischen Anfang 1992

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und Anfang 2012 um über 800 Milliarden Euro zurückgegangen ist. Gleichzeitig hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte von knapp 4,6 auf rund 10 Billionen Euro mehr als verdoppelt. Auch die internationale Finanzkrise hat diesen Trend nicht gestoppt, sondern eher verschärft. So kam es u. a. durch die staatlichen Rettungsmaßnahmen zu einer Verschiebung privater Forderungen und Verbindlichkeiten in staatliche Bilanzen, wodurch sich das private Nettovermögen zeitgleich zum Anstieg der Staatsverschuldung allein zwischen 2007 und 2012 um 1400 Milliarden Euro erhöht hat. Angesichts von Steuereinnahmen von insgesamt über 600 Milliarden Euro in diesem Jahr scheinen die Befürworter von Steuersenkungen wieder an Zuspruch zu gewinnen, als hätte es die internationale Finanzkrise und die damit einhergehenden milliardenschweren Konjunktur- und Bankenrettungspakete nicht gegeben. Auch in der medialen Berichterstattung hat man den Anstieg der Steuereinnahmen euphorisch zur Kenntnis genommen. Mit Superlativen wie Rekordsteuereinnahmen wird hierbei der Eindruck erweckt, der Staat würde Bürgerinnen und Bürger inzwischen über Gebühr belasten. Lassen wir uns nicht täuschen! So erfreulich das gestiegene Aufkommen auch sein mag. Dieses Bild ist falsch. Denn erstens liegt das Steueraufkommen tatsächlich noch ca. 40 Milliarden Euro unter dem vor der Krise 2008/2009 für das Jahr 2012 veranschlagten Wert. Ohne die Krise wären die Steuereinnahmen deutlich höher ausgefallen. Zweitens deuten die Schätzungen für 2014 bereits an, dass sich die Aufkommensgewinne nicht wiederholen. Schließ-

lich sind Superlative wie Rekordsteuereinnahmen in der Regel wenig aussagekräftig. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) weist in seiner Steuerschätzung 2012 – 2016 richtigerweise darauf hin, dass die bundesrepublikanische Steuergeschichte allein in 52 von 61 Jahren Rekordeinnahmen verzeichnen konnte, was in einer nominal wachsenden Wirtschaft durchaus folgerichtig ist. Tatsächlich dürfte die gesamtwirtschaftliche Steuerquote 2013 nach den aktuellen Konjunkturprognosen bei gut 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Das ist nicht mehr als in der Vergangenheit und im internationalen Vergleich eher niedrig. Dem internationalen Steuerwettbewerb folgend sind unter anderem die Steuersätze in Deutschland gesunken. Zahlreiche Steuerreformen zugunsten von Unternehmen, Vermögensmillionären und Beziehern hoher Einkommen haben dabei in der Folge nicht etwa zu mehr Steuergerechtigkeit und einem Anstieg auskömmlicher Arbeitsverhältnisse geführt, sondern stattdessen kumulierte Steuerausfälle in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro verursacht. Ohne die Steuersenkungen hätten Bund, Länder und Kommunen wesentlich mehr Geld in ihren Kassen, müssten deutlich weniger Kredite aufnehmen und hätten damit im Ergebnis eine niedrigere Zinslast zu tragen. Dies hat nicht nur zu einem ganz erheblichen Modernisierungs- und Sanierungsbedarf geführt, der allein im kommunalen Bereich auf rund 700 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 beziffert wird, sondern ebenfalls zu einem ungesunden Privatisierungsdruck, der weder zu einer merklichen Verbesserung bei der öffentlichen

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Daseinsvorsorge noch zu einer Lösung der strukturellen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte geführt hat. Im Gegenteil: Die Verschuldung der Kommunen hat sich in den Jahren nach der Finanzkrise noch einmal deutlich verschärft, und seitdem Jahr 2000 sogar versechsfacht. Während die Kreditmarktschulden häufig unverändert blieben, stieg der Umfang der Kassenkredite der Gemeinden und Gemeindeverbände seit 2002 von 10,7 Milliarden Euro kontinuierlich auf über 44 Milliarden Euro. Kassenkredite, die eigentlich nur der kurzfristigen Überbrückung von Liquiditätsengpässen dienen sollen, sind damit faktisch längst zu einem Instrument kommunalen Schuldenmanagements geworden. Nimmt man diese Entwicklungen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite ernst, liegt der Schluss nahe, dass nicht die Ausgaben zu hoch, sondern die Einnahmebasis für die als notwendig erachteten öffentlichen Aufgaben zu niedrig sind. Bis 2016 sieht der Bundeshaushalt keine Nettokreditaufnahme mehr vor. Entsprechend wird man die Frage beantworten müssen, ob und wie lange es noch möglich ist, auf wichtige staatliche Einnahmen zu verzichten, ohne in Zukunft gegen die Vorgaben der grundgesetzlichen Schuldenbremse zu verstoßen. II. Für eine gerechte Steuerpolitik Steuer- und Finanzpolitik hat eine dienende Funktion für die Erfüllung der zentralen Aufgaben unseres Gemeinwesens. Sie ist weder Selbstzweck noch darf sie starken Gruppen und Eliten der Gesellschaft außerordentliche Vorteile verschaffen. Die Hoffnung, durch Steuersenkun-

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gen und staatliche Ausgabenkürzung mehr Wachstum und Beschäftigung zu generieren, hat sich nicht erfüllt. Die Wahrheit ist: Chancen zur Finanzierung der notwendigen Zukunftsinvestitionen in Bildung, Infrastruktur, ökologische Modernisierung und zur Finanzierung des Sozialstaats wurden vergeben. Nach Jahrzehnten einseitig marktorientierter Politik geht es in den nächsten Jahren um die Stärkung von Bildung, des Gemeinwesens, der Infrastrukturen und sozialstaatlichen Aufgaben. Die zentrale Aufgabe zukunftsgerichteter deutscher Politik liegt daher in der Wiederherstellung der finanziellen Stabilität durch Entschuldung sowie in einer nachhaltigen wirtschaftlichen und ökologischen Modernisierung auf Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Die Stärkung der Handlungsfähigkeit von Staat und Kommunen dient damit vor allem auch den Menschen, die durch geringes Einkommen und eingeschränkte Teilhabechancen in Arbeit und Bildung besonders auf staatliche Hilfen angewiesen sind: Denn nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Hier setzt unser Konzept an. 1. Reform der Einkommensteuer Wir müssen die Fehlentwicklung bei der personellen Einkommenverteilung aufhalten. Denn nicht nur bei den Vermögen, sondern auch bei den Einkommen hat die Spreizung im internationalen Vergleich stark zugenommen, da einerseits die Gehälter der Gutverdiener überdurchschnittlich gestiegen sind und andererseits die Niedrigverdiener von der ohnehin nicht besonders starken allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt wurden. Die Mittel-

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schicht ist geschrumpft. Dabei haben sich nicht nur die Markteinkommen deutlich auseinanderentwickelt, sondern auch die verfügbaren Einkommen nach Steuern und Sozialtransfers. Um diesem Trend entgegenzuwirken, schlagen wir eine moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes von 42 Prozent auf 49 Prozent für zu versteuernde Einkommen ab 100.000 Euro bzw. 200.000 Euro bei Eheleuten vor. Gleichzeitig wollen wir das Ehegattensplitting für zukünftige Ehen durch eine Individualbesteuerung mit Unterhaltsabzug umgestalten und so den geänderten Rollenbildern in unserem Land Rechnung tragen. Kapitalerträge sollen über eine erhöhte Abgeltungsteuer stärker herangezogen werden. 2. Rückführung der Abgeltungssteuer in die Einkommenbesteuerung Unser Ziel ist die synthetische Besteuerung von Kapital- und Erwerbseinkommen. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Einkünfte, die ohne Leistung erzielt werden, teils deutlich geringer besteuert werden, als Arbeit, die mit dem Kopf oder den Händen geleistet wird. Deshalb muss die bestehende Abgeltungssteuer in die Einkommenbesteuerung rückgeführt werden, damit Dividenden, Erlöse aus Wertpapiergeschäften und Zinseinkünfte gegenüber Arbeitseinkommen nicht länger steuerlich privilegiert werden. Um eine Privilegierung hoher und höchster Einkommen auszugleichen, reicht eine Anhebung des Abgeltungssteuersatzes von 25 auf 30 Prozent nicht aus. Dividenden, Zinseinkünfte und Erlöse aus Wertpapiergeschäften müssen künftig wieder dem individuellen Einkommensteuersatz unterworfen werden. Die Über-

gangszeit mit der Möglichkeit, Altverluste bis zum Jahr 2013 vorzutragen, ist abzuschaffen. Dabei soll im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten die Regelung erhalten bleiben, dass im Zusammenhang mit dem Kapitalvermögen entstehende besondere Aufwendungen weiterhin pauschal abgegolten werden. Seit der Einführung der Abgeltungssteuer ist ihr Aufkommen um fast 5 Milliarden Euro zurückgegangen. Selbst unter Einbeziehung gegenläufiger Faktoren, wie dem derzeit niedrigeren Zinsniveau und teils abweichender Berechnungsgrundlagen, kann so mit Mehreinnahmen von deutlich über 1 Milliarde Euro gerechnet werden. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Steuergerechtigkeit in Deutschland und schaffen zusätzliches Aufkommen, das für die Finanzierung einer solidarischen Bürgerversicherung im Gesundheitswesen verwendet werden könnte. 3. Große Vermögen heranziehen – Reform der Erbschaftssteuer, Wiedereinführung der Vermögensteuer Noch immer wird der Vermögensbestand in Deutschland im weltweiten Vergleich weit unterdurchschnittlich besteuert. Dies zeigt sich nicht nur bei der Vermögensteuer. Bei der Erbschaftssteuer ergibt sich ein ähnliches Bild. Gegenwärtig werden in Deutschland zwar jedes Jahr bis zu 200 Milliarden Euro vererbt. Dennoch liegen die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer gerade einmal bei rund vier Milliarden Euro. Das ist im Vergleich mit Nachbarländern wie Frankreich nicht nur besonders wenig, sondern mit Blick auf andere Steuern auch besonders ungerecht. Daher werden wir uns nicht nur für einen Erhalt, sondern vor allem auch für eine

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verfassungsfeste Reform der Erbschaftsund Schenkungssteuer einsetzen. Kleinere und mittlere Erbschaften und Schenkungen im Familienkreis müssen auch künftig steuerfrei bleiben, hohe Erbschaften sind endlich angemessen zu besteuern. Hierfür sind zunächst die von der schwarz-gelben Koalition eingeführten Begünstigungen zugunsten von reichen Erben zurückzunehmen. Gleichzeitig sind Vergünstigungen bei der Erbschaftssteuer viel stärker an den dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen zu koppeln. Eingetragene Lebenspartner sollen hingegen Ehegatten bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer gleichgestellt werden. Die Vermögensteuer wird in Deutschland seit dem Jahr 1997 nicht mehr erhoben. Mit einem Steuersatz von 1 Prozent für natürliche Personen (0,5 Prozent für Betriebsvermögen und 0,6 Prozent für Körperschaften) bei Freibeträgen von pro Person in Höhe von 120.000 DM, konnte die öffentliche Hand jährlich umgerechnet ca. 4,6 Milliarden Euro einnehmen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Jahr 1995 das geltende Recht für verfassungswidrig, bei dem Immobilienvermögen besser behandelt wurde als anderes Vermögen. Die derzeit regierenden Parteien Union und FDP verweigern eine verfassungskonforme Neuregelung der Vermögensteuer. Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass die Vermögensteuer, die vollständig den Ländern zukommt, wieder eingeführt werden muss. Diese wollen wir dabei so gestalten, dass Personengesellschaften und Unternehmen nicht in ihrer Substanz belastet werden. Eine Arbeitsgruppe, die sich derzeit mit der Ausgestaltung befasst, geht davon aus, dass sich selbst bei großzügigen

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Freistellungen beim persönlichen und familiären Gebrauchsvermögen und bei einem niedrigen Steuersatz von 1 Prozent, ein bundesweites Aufkommen von ca. 10 Milliarden Euro erzielen lässt. Dies wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. III. Bildungsrepublik Deutschland Dass die Forderung nach einer fairen Lastenverteilung nicht immer auf Gegenliebe stößt, ist uns Sozialdemokraten dabei ebenso bewusst, wie die in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptierte Erkenntnis, dass man die Sicherung des sozialen Zusammenhalts und die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit von Kommunen und Ländern nicht ohne zusätzliche Anstrengungen wird erreichen können. Dies gilt insbesondere im Bildungsbereich. Denn um es klar zu sagen: Auch wenn die derzeitige Lage vieler Jugendlicher in unseren südeuropäischen Nachbarländern an Dramatik wohl nicht zu überbieten ist, kennen wir auch in Deutschland das Problem der verlorenen Generation: Noch immer verfügen 7,5 Millionen Menschen in Deutschland nicht über notwendige Lese- und Schreibkompetenzen. Rund 2,2 Millionen junge Erwachsene unter 35 haben keinen Berufsabschluss und bleiben überwiegend in gering bezahlten Hilfstätigkeiten. Das ist nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen, sondern auch mit Blick auf unser volkswirtschaftliches Gesamtinteresse ein Skandal. Denn gerade eine gute Berufsausbildung und stetige Qualifizierung und Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die Grundlage für

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wirtschaftlichen Erfolg und die Sicherung der Fachkräftebasis in der Zukunft. Schon heute leiden neben vielen jungen Menschen viele Unternehmen unter der Unterfinanzierung des Bildungssystems: Sie müssen ihre Auszubildenden zusätzlich schulen, weil diese nicht genügend auf den Arbeitsalltag vorbereitet sind. Und sie suchen händeringend nach qualifizierten Fachkräften, während gleichzeitig im Jahr 2012 in Deutschland 6,5 % aller Schüler ihre Schulzeit ohne einen Abschluss beendeten. Studien bezifferten die Kosten für den Fachkräftemangel allein im Jahr 2011 auf 30 Mrd. Euro. Um gerade jungen Menschen einen reibungslosen Start in ihren Lebensweg zu ermöglichen, müssen wir die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft sukzessive verringern. Da insbesondere finanzielle Hürden soziale Benachteiligungen verstärken und Menschen von Bildung fernhalten, kämpfen wir für die gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Hochschule.

litätsverbesserung von Lehre und Studium, für die Ausweitung des Hochschulpakts und für die Weiterentwicklung eines bedarfsgerechten BAföG und SchülerBAföG investieren. Davon soll der Bund 10 Mrd. Euro und die Länder 10 Mrd. Euro bereitstellen (die Länder durch Stärkung ihrer finanziellen Handlungsfähigkeit). Ziel muss es sein, die staatlichen Bildungsausgaben mindestens auf OECD-Durchschnitt zu heben. Dem Ziel von sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung kommen wir mit 20 Mrd. Euro mehr pro Jahr einen großen Schritt näher und schaffen damit die Grundlage für einen wirklichen Bildungsaufbruch in Deutschland. Die protestierenden Jugendlichen vor dem Kanzleramt hatten Föne mitgebracht. Motto: „Europa braucht mehr als Merkels heiße Luft.“ Zeit für frischen Wind für Bildung und Gerechtigkeit! l

Um dies zu erreichen, werden wir das bildungsfeindliche Betreuungsgeld abschaffen. Die bis zu 2 Mrd. Euro, die dafür mittelfristig jährlich anfallen würden, werden wir komplett in den Ausbau von Kitas und Tagespflege investieren. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz muss umfassend eingelöst werden, damit nicht länger der Zufall des Wohnorts oder die Höhe der Kita-Gebühren über Bildungschancen der Kinder entscheidet. Darüber hinaus wollen wir ab 2014 schrittweise aufbauend bis zu jährlich 20 Mrd. Euro mehr für Erzieherinnen und Erzieher, für Ganztagsschulden, zur Qua-

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WOHNEN MUSS BEZAHLBAR BLEIBEN von Felix von Grünberg, Vorsitzender des Mieterbundes und Landtagsabgeordneter der SPD in NRW

In letzter Zeit steht die Diskussion über wohnungspolitische Probleme, Wohnungsnöte und drastisch steigende Wohnkosten wieder stärker im Fokus der Öffentlichkeit und der Parteien. Aufgrund der aktuellen Entwicklung auf den Wohnungsmärkten in einigen Großstädten erwartet der Deutsche Mieterbund, dass die politischen Versprechen auch zeitnah umgesetzt werden. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Wohnungsmarkt in Deutschland vielerorts sehr uneinheitlich ist. Neben einigen Schrumpfungsregionen ist in einigen Großstädten, Ballungsgebieten oder Universitätsstädten immer wieder von einer sich weiter ausbreitenden Wohnungsnot die Rede. Insgesamt fehlen heute schon mehr als 250.000 Mietwohnungen. Parallel dazu erhöht sich das Wohnungsangebot im Verhältnis jedoch nicht angemessen. Gerade auf den angespannten Wohnungsmärkten geht preiswerter Wohnraum vielfach verloren. Die Wohnungsbaufertigstellungen bewegen sich in den letzten vier Jahren auf einem historischen Tiefstand. Gründe hierfür sind hohe Baulandpreise, gestiegene Baukosten, die schlechtere steuerliche

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Abschreibung und die Begrenzung der Fördermöglichkeiten. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage in bestimmten Regionen sind bei Neuvertragsmieten Mietsprünge von bis zu 40 % keine Seltenheit mehr. Dies führt zunehmend dazu, dass sich junge Familien, Haushalte mit geringem Einkommen, aber auch Normalverdiener das Wohnen in manchen Städten nicht mehr leisten können. Aber nicht nur die Nettomiete steigt. Auch die steigenden Kosten für Energie machen sich immer mehr bemerkbar. So haben die Wohnkosten für die Mieterinnen und Mieter bereits heute Rekordniveau erreicht, denn auch die Nebenkosten sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Der Anteil der Ausgaben für Miete und Energie an den Gesamtausgaben eines Haushaltes liegt durchschnittlich bei 34,1 %; bei Haushalten mit einem Einkommen bis 1.300 Euro bei rund 45 %. Nach EU-Definition sind die Haushalte, die mehr als 40 % des verfügbaren Haushaltseinkommens für ihre Miete aufbringen müssen, als finanziell überlastet anzusehen. Das trifft in Nordrhein-Westfalen


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auf 16,8 % der Haushalte zu, in den Kernstädten sind es 20 %.

schutzzeiten bei Umwandlung von Mietin Eigentumswohnungen).

Außerdem sind die hohen Neuvertragsmieten die Vergleichsmieten von Morgen, weil bei der Berechnung der ortsüblichen Vergleichsmiete nur die in den letzten vier Jahren erhöhten Bestandsmieten und die Neuvertragsmieten berücksichtigt werden. Dadurch drohen auch hohe Preissteigerungen in bestehenden Mietverhältnissen.

Darüber hinaus setzen wir uns ein für die Abschaffung von § 559 BGB. Nach dieser Vorschrift kann der Vermieter nach Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen die jährliche Miete um 11 % der für die Wohnung aufgewendeten Kosten erhöhen und das auf Dauer. Diese Quote ist festgelegt worden als die Zinsen bei 8 % lagen; jetzt liegen sie nur noch bei 3 %. Der Vermieter kann damit einen immer höheren Betrag zur Tilgung seines Darlehens verwenden, während der Mieter einseitig benachteiligt wird. Vor diesem Hintergrund halten wir auch die Forderung der SPD, die Modernisierungskosten in Höhe von 9 % auf den Mieter umzulegen, für nicht ausreichend.

Der Deutsche Mieterbund fordert deshalb die Einführung einer Kappungsgrenze bei der Wiedervermietung. Diese sollte bei maximal 5 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Auch für bestehende Mietverträge fordern wir eine Kappungsgrenze, damit Wohnen für die Mieterinnen und Mieter nicht unbezahlbar wird. Durch das 1. Mietrechtsänderungsgesetz wurden die Bundesländer ermächtigt, Gebiete auszuweisen, in denen auf Grund der schwierigen Wohnungssituation die Mieterhöhungsmöglichkeit auf 15 % (statt 20 %) in drei Jahren reduziert wird. Der Deutsche Mieterbund fordert eine bundesweit einheitliche Begrenzung der Mietpreise auf 15 % Prozent in vier Jahren. Die in diesem Zusammenhang von der Landesregierung untersuchte Gebietskulisse kann im Übrigen auch herangezogen werden für den Erlass einer Neuregelung der Zweckentfremdungsverordnung (Leerstehenlassen von Wohnraum und Umwandlung in Büroraum), durch die der Wohnungsmangel und damit die Verteuerung der Wohnkosten eingedämmt werden kann. Gleiches gilt für eine Neuregelung zur Kündigungssperrfristverordnung (längere Kündigungs-

Selbstverständlich sind die energetische Sanierung von Wohngebäuden und der damit verbundene Klimaschutz im Interesse des Deutschen Mieterbundes. Dennoch kommt es für die Akzeptanz der Energiewende bei den Mieterinnen und Mietern entscheidend auf die sozialgerechte Verteilung der Kosten und Belastungen an. Die Anwendung der Vorschrift des § 559 BGB führt zu Mietpreissprüngen, die sich durch eine Heizkostenersparnis, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten bemerkbar machen. Die Anknüpfung an die reinen Modernisierungskosten, ohne den Erfolg der Modernisierungsarbeiten zu berücksichtigen, halten wir außerdem für falsch. Zudem bleibt für Mieterhöhungen nach einer Modernisierung den Vermietern im frei finanzierten Wohnungsbau immer noch die Mieterhöhung nach § 558 BGB bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete. Allerdings bilden bislang nicht alle Miet-

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spiegel den energetischen Zustand hinreichend ab. Für einen Übergangszeitraum, bis sich Energieeffizienz und energetische Qualität der Wohnung bei der ortsüblichen Vergleichsmiete widerspiegeln, soll der Vermieter deshalb einen Zuschlag auf die bisherige Miete verlangen können. Im Zusammenhang mit dem 1. Mietrechtsänderungsgesetz ebenfalls umgesetzt wurde der Minderungsausschluss des Mieters bei energetischer Modernisierung. Diese Vorschrift ist nicht mit dem vom Gesetzgeber vorgesehen Prinzip von Leistung und Gegenleistung zu vereinbaren. Außerdem ist in der Praxis die Abgrenzung der Modernisierung zur Instandsetzung kaum nachzuvollziehen. Wir fordern deshalb die Abschaffung dieser Vorschrift. Die in einigen Regionen bestehende Wohnungsnot erzeugt vor allem bei sozial Schwachen einen enormen Druck. Gerade der Rückgang an öffentlich geförderten Wohnungen führt noch zu einer Verschärfung dieses Problems. So hat sich der Bestand dieser Wohnungen von 1,5 Mio. im Jahr 1992 auf heute 650.000 mehr als halbiert. Durch das Auslaufen der Bindungen und die zunehmende vorzeitige Kreditrückzahlung sinkt der Bestand jährlich um durchschnittlich 46.000 Mietwohnungen. Aus der aktuellen Studie des Pestel-Institutes geht hervor, dass in Nordrhein-Westfalen mehr als 1,17 Mio. Sozialwohnungen fehlen. Wenn pro Jahr mit den bisherigen Mitteln nur 4.200 Wohnungen gebaut werden können, zeigt dies welche Dimension diese Entwicklung langfristig haben wird. Wird dieser Prozess nicht gestoppt, dann wird es in einigen Jahren aufgrund des Auslaufens der Preis- und/oder Belegungsbindungen keine Sozialwohnungen

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mehr geben. Die Ursache dafür liegt vor allem darin, dass es an Unternehmen fehlt, die in Sozialwohnungen investieren, weil die hier erzielbaren Renditen im Vergleich zu denen des freien Wohnungsbaus eher gering sind. Dies hat auch Auswirkungen für die Kommunen. Sie müssen ihren Transferleistungsempfängern die Miete zahlen, zu der diese auch tatsächlich eine Wohnung finden. Können die Kommunen nicht auf preiswerte, öffentlich geförderte Wohnungen zurückgreifen, steigen daher bei engen Wohnungsmärkten die Transferleistungskosten enorm an. Die Kommunen werden daher auf den Wohnkosten einer immer größer werdenden Zahl von Transferleistungsempfängern sitzen bleiben. Dies ist angesichts der katastrophalen Haushaltslage einiger Städte und Gemeinden nicht akzeptabel. Andererseits sind die im Jahr 2012 bereitgestellten Wohnungsbaufördermittel im Umfang von 250 Mio. Euro nicht verbaut worden. Dies liegt vor allem daran, dass aufgrund der niedrigen Zinsen Investoren lieber freifinanziert als öffentlich gefördert bauen. Für 15-jährige Darlehen (bisherige Dauer der Wohnungsmarktdarlehen im öffentlich geförderten Wohnungsbau) sind Bankzinsen schon für 2,5 bis 3 % Zinsen zu erhalten. Für den öffentlich geförderten Wohnungsbau muss man bisher 0,5 % Zinsen und 0,5 % Verwaltungskostenbeitrag zahlen. Für eine Zinsdifferenz von 1,5 bis 2 % erzielte der Bauherr aber oft das Doppelte an Miete anstatt der bisherigen Bewilligungsmiete von 5,25 Euro in Düsseldorf, Bonn und Köln für öffentlich geförderte Wohnungen. Für eine frei finanzierte Wohnung wäre auf diesen Märkten eine Miete zwischen 11 und 13 Euro durchaus erzielbar.


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Diese hohen Mieterlöse führen dazu, dass die Bauherren auch höhere Grundstückspreise akzeptieren mit der Folge, dass diese so stark steigen, dass der öffentlich geförderte Wohnungsbau auf diesen Grundstücken immer unvorteilhafter wird. Wir fordern deshalb, dass die Kommunen eigene Instrumente zur Marktregulierung einsetzen. Hierzu gehört auch die Stärkung der kommunalen Wohnungsbauunternehmen. Sie sollten die öffentlich geförderten Wohnungen bauen, für die das Land NRW immerhin 450 Mio. Euro an Fördergeldern zur Verfügung stellt. Leider mussten viele kommunale Unternehmen bisher ihre Gewinne an die Kommunen zum Haushaltsausgleich übertragen und hatten dadurch nicht genügend Eigenkapital zum Bau öffentlich geförderter Wohnungen. Der Deutsche Mieterbund sieht daher auch die Landesregierung in der Pflicht im Hinblick auf die Umstellung der bisherigen Förderrichtlinie. Statt 20 % Eigenkapital bei 15-jähriger Bindungsfrist sollte das Eigenkapital auf 10 % reduziert werden bei 30-jähriger Bindungsfrist. Darüber hinaus sollte die Förderung der Wohnungen pro Wohneinheit von 1.500 qm Wohnfläche wegen der gestiegenen Bauund Grundstückskosten ansteigen und bei 2.300 qm liegen. Ein weiteres Problem sind die fehlenden und für öffentlich geförderte Wohnungen viel zu teuren Grundstücke. Auch hier könnten die Kommunen ihre Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. So sollte bei der Erstellung von Bebauungsplänen immer auch auf Verdichtungsmöglichkeiten geachtet werden. Außerdem kann mit einer „sozial

gerechten Bodennutzung“, wie sie beispielsweise in München praktiziert wird, vorgeschrieben werden, dass 30 % der zusätzlichen Bauflächen für öffentlich geförderten Wohnungsbau ausgewiesen werden. Will der Bauherr diese Flächen nicht selbst bebauen, kann er sie zu einem angemessenen Preis zum Beispiel an ein kommunales Wohnungsbauunternehmen veräußern. Die Vergabe städtischer Grundstücke für Neubaumaßnahmen darf darüber hinaus nicht immer nach dem Höchstgebot erfolgen. Das bedeutet, dass Grundstücke auch nach sozialen und stadtentwicklungspolitischen Kriterien vergeben werden müssen. Eine weitere Forderung des Deutschen Mieterbundes ist die Erhöhung des Wohngeldes. Mieterhöhungen und hohe Energiekosten haben die Wohnkostenbelastung vieler Mieterhaushalte auf Rekordniveau steigen lassen. Trotzdem ist die Zahl der Wohngeldempfänger in Deutschland im Jahr 2011 gesunken. Mitverantwortlich hierfür ist eine Änderung des Wohngeldgesetzes, das zum 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist. Die Bundesregierung hat mit der Begründung, die Heizkosten seien gesunken, die sog. Heizkostenkomponente aus dem Wohngeldgesetz ersatzlos gestrichen. Diese Begründung ist aus heutiger Sicht nicht mehr tragbar. So liegen die Preise für Öl, Strom, Gas und Fernwärme über den Preisen von 2008 und 2009 und drastisch über den Preisen von 2010. Deshalb halten wir eine Erhöhung des Wohngeldes um 10 % für gerechtfertigt. Darüber hinaus fordern wir eine Aktualisierung der Einkommensgrenzen und der Höchstbeträge und die Einführung einer Energiekomponente.

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Eine weitere Herausforderung ist der demographische Wandel. Der Anteil älterer Menschen nimmt immer mehr zu. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der über 65-Jährigen sich bis 2030 auf knapp 30 % und bis 2060 auf rund ein Drittel der Bevölkerung erhöhen wird. Damit diese Menschen solange wie möglich selbstbestimmt in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben können, setzen wir uns ein für den Ausbau und die Schaffung von barrierefreien bzw. barrierearmen Wohnungen. So gibt es aktuell etwa 550.000 altengerechte Wohnungen in Deutschland. Dem steht nach einer Untersuchung des Instituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung für das Bundesbauministerium aber ein kurzfristiger Bedarf an altengerechten Wohnungen um das Vier- bis Fünffache gegenüber. Die Verwahrlosung von Wohnungen finanzmarktgetriebener Wohnungsunternehmen ist ebenfalls ein Problem, das seit den 1990er Jahren immer wieder auftritt. Insbesondere in weiten Teilen des Ruhrgebietes kaufen internationale Finanzinvestoren große Wohnungsbestände auf, um dadurch eine maximale Rendite zu erzielen. In diesem Zusammenhang setzt sich der Deutsche Mieterbund für eine erweiterte Wohnungsaufsicht ein, die an die Daseinsfürsorge des Wohnens anknüpft und damit über die Gefahrenabwehr hinausgeht. Zahlreiche Kommunen sind verschuldet. Freiwillige Aufgaben werden mangels finanzieller und personeller Ressourcen oft nicht mehr ausgeübt. Wir fordern deshalb die Wohnungsaufsicht den Kommunen als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung zu übertragen. Außerdem zahlen zahlreiche dieser Wohnungs-

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unternehmen aufgrund steuerlicher Umgehungstatbestände keine Grunderwerbssteuer. Dies hat zur Folge, dass einige Wohnungsbestände immer wieder ihren Eigentümer wechseln. Wir fordern deshalb eine entsprechende Anpassung des Steuerrechts, damit auch diese Unternehmen in Zukunft bei der Grunderwerbssteuer zur Kasse gebeten werden. l


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IT’S THE WOMEN’S VOTE, HONEY. von Nancy Haupt und Elisa Gutsche, Projektgruppe Junge Frauen im SPD-Parteivorstand

Die Themen Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit spielen im Bundestagswahlkampf 2013 bisher keine große Rolle. Unserer Meinung nach tut sich die SPD damit keinen Gefallen. Denn: Wir erleben gerade einen feministischen Frühling. Geschlechterpolitisch relevante Themen prägen die Medienlandschaft und mobilisieren wie selten zuvor. Juli 2013. Bis zur Bundestagswahl sind es nur noch wenige Wochen. Die Zustimmungswerte der CDU erreichen ungeahnte Höhen, die der SPD stagnieren bei unter 30 Prozent, neueste Umfragen zeichnen das düstere Bild von 22 Prozent. Das Horrorszenario vor unseren Augen: die Wiederwahl der schwarz-gelben Koalition und damit: vier weitere verschwendete Jahre mit einer Regierung, die einfach nicht mehr zur heutigen Zeit passt. Doch was ist dagegen zu tun? Wie können wir vier weitere Jahre politischer Untätigkeit verhindern? Wie kann es die SPD schaffen, als bestimmende Kraft in den Bundestag einzuziehen?

Gender-Gap im Wahlergebnis Die Mehrheit der Deutschen ist weiblich: 31,8 Millionen Frauen sind am 22. September aufgerufen, ihr Kreuz zu machen. Möglichst viele sollen dies bei der SPD tun. Wir wollen einen Gender-Gap im Wahlergebnis, wir wollen mehr Frauen als Männer überzeugen. Denn: Die SPD war immer dann am stärksten, wenn Frauen der alten Tante ihre Stimme gaben. 2009 hat die SPD die größte Niederlage ihrer Geschichte einstecken müssen, auch weil sie die Frauen, insbesondere die jungen, nicht überzeugen konnte. Sie verlor bei den Frauen 13,5 Prozent. Die größten Verluste hatten wir bei den jungen Wählerinnen: im Vergleich zu 2005 wählten 21 Prozent weniger junge Frauen sozialdemokratisch. Fragen über Fragen Doch wie ist die Lage 2013? Was hat sich seit 2009 getan? Wie werden Frauen angesprochen? Welche Themen bewegen Frauen heute? Können wir „Frauen“ überhaupt als homogene Gruppe sehen?

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Zuerst die guten Nachrichten: Beim Thema Geschlechtergerechtigkeit ist die SPD am besten von allen im Bundestag vertretenen Parteien aufgestellt. Wir haben die Ideen und die Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit. Wir haben mit dem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 entscheidende Reformansätze vorgelegt. Ausgehend vom ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung haben wir umfassende und konsistente Konzepte entwickelt, um in diesem Land das Thema Geschlechtergerechtigkeit auf den richtigen Weg zu bringen. Die schlechte Nachricht: Das wird im Wahlkampf bisher kaum thematisiert. Dabei liegen die entscheidenden Tools bereit. Die SPD hat sich in den vergangenen vier Jahren wie keine andere Partei auch intern mit dem Thema Gleichstellung und Chancengleichheit beschäftigt. Verschiedene Initiativen wurden ins Leben gerufen, um vor allem die weiblichen Mitglieder sichtbar zu machen, bzw. diese zu stärken. Nach der verlorenen Bundestagswahl 2009 setzte der SPD-Parteivorstand auf Initiative vieler engagierter junger Frauen die Projektgruppe junge Frauen wieder ein. Diese regte zum einen den Austausch innerhalb des Parteivorstanden an, zum anderen suchte sie den Kontakt in die Bundestagsfraktion, die Gewerkschaften, die Stiftungen und zu anderen gesellschaftlichen AkteurInnen.

Hour ihres Lebens befinden, die Teilnahme an ehrenamtlicher Parteiarbeit zu ermöglichen. Beim jährlich in Berlin stattfindenden Barcamp Frauen kommen bis zu 250 Frauen und Männer zusammen, um einen Tag lang über alle möglichen Facetten von Geschlechtergerechtigkeit zu diskutieren. Hinzu kommt der „Rote Frauensalon“, der sich an engagierte und erfolgreiche Frauen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik richtet und neue Schnittstellen zwischen SPD und Bürgerinnen schafft. Aktionsplan Gleichstellung Neben diesen neuen Kommunikationsformen hat die SPD natürlich auch ihre gleichstellungspolitischen Inhalte ausdifferenziert. Sie sollen ein schlüssiges Konzept für ein ganzes Frauenleben bilden, allerdings je nach Unterzielgruppe priorisiert werden. Die Inhalte dürfen sich nicht widersprechen, der alten Einsicht folgend, dass man Zielgruppen nicht addieren und demnach jeder erzählen kann, was sie hören will. Wir unterscheiden vier verschiedene Gruppen von Frauen5:

Die SPD ist weiblicher Im Frühjahr dieses Jahres launchte das SPD-Fem.Net. Eine Vernetzungsseite speziell für weibliche Mitglieder, die die Möglichkeit geben soll, unattraktive und zeitintensive Ortsvereinsstrukturen zu ergänzen, um Frauen, die sich in der Rush-

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Erarbeitet durch die Arbeitseinheit „Zielgruppe Frauen“ des WBH.


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Junge Frauen

Frauen in der Familienphase

Ausbildungsqualität

Kitas statt Betreuungsgeld

Ausbildungsgarantie

Betreuungsqualität

Mindestausbildungsvergütung

Reform des Kindergeldes Familienarbeitszeit

Leitbild Partnerschaftlichkeit Selbstbestimmung Weiterentwicklung Elterngeld

Vereinbarkeit von Familie und Beruf und von Kind und Karriere Erzieher/-innenberuf aufwerten Leitbild Partnerschaftlichkeit Leitbild der Frau als Gestalterin des eigenen Lebens

Genau das hat die SPD-Bundestagsfraktion mit dem Aktionsplan Gleichstellung geschafft. Die Bundestagsfraktion legt damit erstmals widerspruchsfreie Ideen vor, die ein existenzsicherndes und eigenständiges Leben für Frauen ermöglichen soll. Von einer Reform der Minijobs und des Ehegattensplittings, über den qualitativen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung bis hin zu besseren Aufstiegschancen für Frauen und der Einführung eines Gesetzes zur Entgeltgleichheit, setzt der Aktionsplan überall da an, wo

Berufstätige Frauen

Ältere Frauen

Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit

Anerkennung

Verbindliche Frauenquote

Engagement/ Aktives Alter

Überwindung Ehegattensplitting

Aufstieg ermöglichen für Nachkommen; bessere Bildung

Reform Minijobs Zeitsouveränität erhöhen (z. B. mehr verbindliche Zeiterfassung; flexible Arbeitszeitmodelle) Vereinbarkeit Beruf/Pflege

Gemeinschaft

Gesicherte Renten Gesundheit/ Pflege Sicherheitsgefühl im privaten und öffentlichen Raum

Rückkehrrecht in Vollzeit nach befristeter Teilzeit

Frauen vor entscheidenden Weichenstellungen ihres Lebens stehen und bietet eine echte Alternative zur derzeitigen Politik von CDU/CSU und FDP. Girlsteam im Merkel-Camp Richten wir aber unseren Blick auf den aktuellen Wahlkampf. Denkt man an Merkel, kommt einem eines nicht in den Sinn: progressive Frauenpolitik. Aber man hat starke Frauen vor Augen. Angela Merkel als erste Kanzlerin der Bundesrepublik.

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Ursula von der Leyen als starke Ministerin, die nicht selten die alte-Herren Partei vor sich her treibt. Die Kanzlerin umgibt sich sprichwörtlich mit einem Girls-Team: Ihre engsten Beraterinnen sind Frauen. Ihre Büroleiterin Beate Baumann begleitet sie seit über einem Jahrzehnt. Eva Christiansen ist Chefin des Planungsstabes im Kanzleramt und berät Merkel in ihrem medialen Auftreten. Was eint diese Frauen? Neben ihrem Parteibuch sicher auch ein anderer Blick auf die Politik und ein anderer Habitus. Von Machtgebaren und der Hysterie ihrer männlichen Kollegen sind diese drei kilometerweit entfernt. Das wirkt auf viele Frauen attraktiv. Und die SPD? Sie war mal der Motor des Fortschritts, was ist davon heute geblieben? Bebel und die Frau im Sozialismus? Nachdem Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten erklärt wurde, legte er fest, dass sein Kompetenzteam zur Hälfte aus Frauen und zur Hälfte aus Männern bestehen soll. Soweit so gut. Das Kompetenzteam steht, sein Versprechen hat Peer gehalten. Doch schauen wir uns die Sache genauer an. Das Kompetenzteam Manuela Schwesig: das Gesicht der SPD für Frauen und Familie. Sie ist natürlich im Kompetenzteam vertreten und zuständig für die Themen Frauen, Familie, Aufbau Ost, Demografie und Inklusion. Yeah! Allein das Thema „Frauen“ ist eine riesige Baustelle, bei der es um nichts weniger als gesellschaftliches Umdenken geht.

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Moderne wagen Das Thema „Frauenpolitik“ sollte nicht mit „Familienpolitik“ zusammengedacht werden, da wir so genau das reproduzieren, was wir eigentlich vermeiden sollten: Frauen und ihre Zuständigkeit für Familie zusammenzudenken. Die SPD will modernere Rollen und mehr Freiheit für Frauen und Männer. Unser Lösungsvorschlag: Ordnet die Ressorts neu! Was hat ein Equal-Pay-Gesetz denn mit Familienpolitik zu tun? Oder die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention mit einer Frauenquote für Aufsichtsräte? Feminismus = Mobilisierung Wäre es nicht an der Zeit gewesen, die Themen „Gleichstellung“ und „Geschlechtergerechtigkeit“ moderner zu besetzen und anderen Ressorts zuzuordnen? Jetzt ist es nur eines von vielen und wird damit dem Zeitgeist nicht gerecht. In der Politik, in den Medien, abends an der Bar: Überall haben geschlechterpolitische Themen Hochkonjunktur: der Hastag „Aufschrei“ erhielt nun gar den Grimme-Online-Award in der Kategorie „Spezial“. Die Empörung über eine Entscheidung des Gesundheitsausschusses im Bundestag, die Rezeptpflicht für die Pille danach beizubehalten, drückte sich auf Twitter rasend schnell in „wiesmarties“ aus. Feministische Themen haben in diesem Jahr ein Mobilisierungspotenzial, wie man es vorher kaum kannte. Will die SPD es schaffen, diese Bundestagswahl zu gewinnen, muss sie es lernen, diese Themen auch glaubhaft zu besetzen.


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Ein Blick über den Tellerrand Wagen wir den Blick in die USA. 2013 lassen sich alle größeren Parteien vom Präsidentschaftswahlkampf Barack Obamas inspirieren. Warum auch nicht? Schließlich haben Frauen die US-Präsidentschaftswahlen 2012 entschieden, dem Amtsinhaber eine zweite Amtszeit gesichert. Die Kampagne der Demokraten hatte als Zielgruppe junge Frauen im Blick und hat es geschafft mit feministischen Themen zu punkten und massiv Wählerinnenstimmen zu gewinnen. Barack Obama gewann die Wahl. Warum? Wegen der geistreichen, klugen, den richtigen Tonfall treffenden Kampagne. Julia und ihre kleine Schwester Elli Um Frauen zu erreichen, wurde „the life of Julia“ ins Leben gerufen. Anhand von Julia erklärt die Kampagne, wie Obamas Politik das Leben von Frauen, egal in welchem Alter, zum positiven beeinflusst. Glücklicherweise hat Obama einige Erfolge aus seiner ersten Amtszeit vorzuweisen, zum Beispiel den Lilly Ledbetter Fair Pay Act von 2009, der die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern garantiert und den Affordable Care Act, der eine Krankenversicherung für alle Amerikanerinnen und Amerikaner gewährleistet, die für Verhütungsmittel bezahlt. Gerade mit diesen beiden Themen konnte er bei jungen Frauen punkten. Hier möchten wir erwähnen, dass es für viele Frauen unerheblich ist, wie viele Frauen denn nun in den Aufsichtsräten sitzen. Was wichtig ist: sichere und gute Jobs, unbefristete Arbeitsverträge, um das Leben zu planen (ja, auch den Nachwuchs), sozia-

le Sicherheit und eine Gesellschaft, in der man als Frau nicht automatisch den Kürzeren gezogen hat. Die SPD-Bundestagsfraktion macht das übrigens anhand von „Elli“ auf den Seiten der SPD-Bundestagsfraktion. „Elli verdient mehr“ findet ihr hier: www.spdfraktion.de/elli-verdient-mehr/. Anhand des Lebens der fiktiven Figur „Elli“ wird online und in einem Flyer die Geschlechterpolitik der SPD-Bundestagsfraktion anschaulich erklärt. Wir begleiten „Elli“ durch ihr Leben – von der Kindheit, über Ausbildung, Familie und Karriere, bis ins Rentenalter. Es wird gezeigt, wie die gleichstellungspolitischen Konzepte der SPD-Bundestagsfraktion positive Impulse für Frauen und Männer im Land geben, eine eigenständige Existenzsicherung aufzubauen. Peer, Barack und Hillary Landauf, landab war nach der Ernennung Peer Steinbrücks zum Kanzlerkandidaten zu lesen, dass er gerade bei jüngeren Wählerinnen nicht ankomme und diese eher Merkel wählen würden. Sicher, Steinbrück ist nicht Obama und Deutschland nicht die USA. Doch wir als junge Frauen möchten uns damit nicht zufrieden geben. Uns reicht es nicht, dass es ein paritätisch besetztes Kompetenz-Team gibt, in dem Frauen dann doch wieder für Frauen und Familie zuständig sind. Wie wäre es denn mal mit einer weiblichen Außenministerin? Obama hat nicht gezögert und Hillary Clinton zu seinem Aushängeschild in der Welt gemacht. Nicht nur wir hoffen, dass sie 2016 zur nächsten US-Präsidentin gewählt wird.

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… und der passende Tonfall

Die richtigen Themen

Nicht allein die Themen machten den Wahlkampf so spannend, sondern auch deren Kommunikation. Unterstützung im Wahlkampf bekam der Amtsinhaber zum Beispiel von Lena Dunham, der Autorin und Hauptdarstellerin der fantastischen Serie „Girls“. Sie ist eine der coolsten und glaubwürdigsten jungen Frauen, die die USA gerade zu bieten hat, und sie engagierte sich in einem wunderbaren und famosen Spot für Obamas Wiederwahl. Neben Lena Dunham setzten sich viele andere Frauen aus Medien und Kultur für die Wiederwahl Barack Obamas und für dessen politische Agenda ein.

Frau ist nicht gleich Frau. Jede Frau hat eine andere Lebensrealität. Die Zielgruppe Frauen darf nicht als homogene Masse, sondern muss differenziert betrachtet werden. Unsere Inhalte müssen konkrete Lösungen für reale Lebensprobleme sein.

Was also können wir von der amerikanischen Präsidentschaftswahl und von Obama in Bezug auf die Wählergruppe der jungen Frauen lernen? Was sollte „unser“ Kandidat anders machen, damit er wirklich UNSER Kandidat wird? Wir brauchen mehr TESH6 Wer mehr Frauen erreichen möchte, muss TESH werden. Wer TESH ist, erreicht die Frauen. Wer die Frauen erreicht, gewinnt erst ihr Herz und dann ihre Stimme. TESH wird, wer die richtigen Themen hat, Frauen einbindet, die richtige Sprache hat und die passende Haltung dazu. Frauen haben ein Gespür dafür, ob man nur ihre Stimme haben will oder tatsächlich für ihre Anliegen kämpft. Viele Frauen haben der SPD den Rücken gekehrt, sie sind skeptisch, ob sie „zurückkehren“ sollten. Sie wollen umworben und überzeugt werden.

Daher schlagen wir vier Untergruppen vor: Junge Frauen, Frauen in der Familienphase, Berufstätige Frauen und Ältere. Frauenpolitik ist Gesellschaftspolitik. Frauenpolitik ist Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik, Wirtschaftspolitik und noch vieles mehr. Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen stellen sich andere Fragen. Niemand würde auf die Idee kommen, Politik für Männer unter dem Sammelbegriff „Männerpolitik“ zu denken und einen 18-jährigen Auszubildenden in einen Topf mit dem 60-jährigen Vorstandsvorsitzenden, der sich kurz vor der Rente befindet, zu stecken. Junge Frauen haben andere Ansprüche und Erwartungen an Politik als Frauen in der Familienphase oder als Frauen, die mit beiden Beinen in der Berufstätigkeit stehen. Eine junge Studentin interessiert sich vielleicht mehr für ihre reproduktiven Rechte – z. B. den rezeptfreien Zugang zur Pille danach oder die Streichung des § 218 StGB – als für eine Reform der Minijobs. Frauen in der Familienphase stellen sich Vereinbarkeitsfragen, die für Frauen, die bereits in Rente sind, so nicht mehr aufkommen. Das sind also völlig unterschiedliche Zielgruppen.

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Erarbeitet durch die Arbeitseinheit „Zielgruppe Frauen“ des WBH.


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Frauen einbinden

Die richtige Haltung

Frauen wollen Frauen sehen. Die Entscheidung des Kanzlerkandidaten, dass die Hälfte des Kompetenzteams Frauen sind, ist gut. Entscheidend wird sein, wie stark die benannten Personen es schaffen, eigene Akzente zu setzen. Eine Frau, die für ein Thema Mitglied des Kompetenzteams geworden ist, sollte auch die volle Kompetenz inklusive der Beinfreiheit für das Thema erhalten.

Authentisch sein. Eine harte Linie fahren. Gerade in der Geschlechterpolitik. Nicht nachgeben und Haltung bewahren. Mindestens eine der Autorinnen dieses Textes hatte ihre Zweifel, was Peer und sein Verhältnis zu Gleichstellungspolitik angeht. Doch seit dem Auftritt von Getrud Steinbrück auf dem Parteikonvent sind diese verflogen. Ein Mann mit dieser Frau – der hat die richtige Haltung und möchte in dieser Gesellschaft etwas verändern. Peer Steinbrück hat die Frauen angesprochen. Er hat sich festgelegt, eine verbindliche Quote einzuführen, das Ehegattensplitting zu reformieren, ein Gesetz zur Entgeltgleichheit durchzusetzen. Die Erwartungen sind hoch – doch wir sind uns sicher, dass er diese Erwartungen erfüllen wird. Peer Steinbrück geht es um eine gerechtere Gesellschaft.

Wir wissen aus der Team-Forschung, dass bei einem Geschlechteranteil von unter 20 % die Produktivität und Kreativität von Einzelpersonen und die Innovationskraft des gesamten Teams stark ausgebremst wird. Erst bei einem Frauenanteil von mindestens 30 % wird die Schwelle überschritten, wo die weibliche Perspektive objektive und subjektive Wirkung entfalten kann. Die richtige Sprache Geschlechtergerechte Sprache ist anstrengend, aber alternativlos. Wollen wir Frauen und Männer erreichen, müssen wir Frauen UND Männer ansprechen. Generalklauseln sind billige Ausreden. Frauen (aber auch Männer) sind nicht zu gewinnen mit komplizierten, trockenen und toten Satzkonstruktionen. Frauen wünschen eine lebendige Sprache. Die Sprache der Politik wirkt oftmals abgehoben und distanzierend. Nicht die wohlfeile Formulierung reizt, sondern echte Gefühle, Leidenschaft und Einsatz. Lieber eine kantige Formulierung als eine zur Unkenntlichkeit geschliffene Abfassung.

Viele Politiker und auch Politikerinnen sehen Frauen als die Erwerbsreserve für die Beseitigung des Fachkräftemangels oder als Gebärmaschinen, um den demografischen Wandel mit einer Armee Babys zu stoppen. Das darf nicht der Ansatz der SPD sein. Wählerinnen haben ein feines Gespür dafür, wann jemand ehrlich ist und wann sie angelogen werden. Für die weibliche Zielgruppe bedeutet das: durch innere Haltung die richtigen Inhalte nach außen kommunizieren, um bei Frauen Vertrauen zu erzeugen, damit sie ihr Kreuz wieder bei der SPD machen. Schlusswort Wir als Frauen, vor allem aber als junge Menschen, wünschen uns einen Kandidaten, der es schafft, den Tonfall unserer Ge-

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neration zu treffen und der unsere Sorgen, Ängste, Träume und Wünsche verstehen kann und vielleicht sogar weiß, wie es sich anfühlt, manchmal machtlos vor den gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit zu stehen. Wir wünschen uns von unserem Kandidaten visionäres und progressives Denken und Handeln. Barack Obama hat es geschafft, 2012 genau das zu verkörpern und damit das Vertrauen junger Frauen zu gewinnen. Peer Steinbrück hat das Potential das auch zu schaffen. l

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DIE SPD AUF DEM WEG ZU EINEM PROGRESSIVEN SELBSTVERSTÄNDNIS IM PLURALEN DEUTSCHLAND? von Daniela Kaya, Mitglied im Bundesvorstand der SPD-AG Migration und Vielfalt, Autorin7

1. Ausgangslage In aller Regelmäßigkeit verkünden konservative Kräfte in Deutschland: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ Zuletzt erklärte dies Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2010, fünf Jahre nach Inkrafttreten des rotgrünen Zuwanderungsgesetzes. Jenes markiert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik. Die Abkehr vom deutschen Gastarbeiter-Modell. „Das deutsche Gastarbeiter-Modell ist gescheitert, absolut gescheitert“ kann Angela Merkel also nur gemeint haben. Denn eine Politik des Multikulturalismus hat es bis dato in Deutschland nicht gegeben. Eine multikulturelle Gesellschaft sehr wohl. Viel zu lange war Deutschland ein Einwanderungsland wider Willen. Heute sind wir eine Einwanderungsgesellschaft. Dennoch ist die Behauptung des gescheiterten Mul-

tikulturalismus ein wiederkehrendes Motiv in der politischen Auseinandersetzung. Heute finden wir eine Mischform von multikultureller und integrationsgeleiteter Politik in Deutschland vor – so wie in vielen anderen Einwanderungsgesellschaften. Das Merkel-Zitat macht deutlich: Es geht um die Deutungshoheit. Um sie zu erlangen und (neue) Wählermilieus (wieder) zu erreichen, ist es für die Sozialdemokratie unumgänglich, das Versprechen der sozialen Gerechtigkeit für die Einwanderungsgesellschaft zu erneuern. Inwiefern ihr das im Wahlprogramm gelingt, wird hier untersucht.

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u. a. (2013): Deutschland neu erfinden. Impulse für die Neuausrichtung sozialdemokratischer Integrationspolitik. Rotation Vorwärts Verlag.

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2. Quo vadis SPD? Für sozialdemokratische Diversitätspolitik wird im Wahlprogramm wie folgt erklärt: „Deutschland ist ein offenes Land. Wir setzen uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein. Integrationspolitik neu zu denken heißt letztlich auch, den Begriff der Integration zu überwinden und durch den selbstverständlichen gesellschaftlichen Anspruch auf Teilhabe und Partizipation zu ersetzen.“ (58) Die Überwindung des Integrationsbegriffs ist zukunftsweisend. Er verkörpert eine rückwärtsgewandte Perspektive. Mit ihm ist der Imperativ der Anpassung und der individuellen Bringschuld von Einwanderern verbunden. Er hat einen paternalistischen Anstrich. Progressive Politik hingegen nimmt Gesellschaftsstrukturen in den Blick: Welche Gelegenheitsstrukturen bietet eine Gesellschaft, damit jede/r unabhängig von sozialer Herkunft, Ethnizität und Geschlecht gleichberechtigt teilhaben kann? Welche Barrieren bestehen? Wie können sie abgebaut werden? Sozialdemokratische Gesellschaftspolitik, die sich an den eigenen Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, muss ein kohärentes Konzept der sozialen Gerechtigkeit im Sinne von Lebenschancengleichheit8 entwickeln. Der Wille zur Überwindung der Integrations-Perspektive ist hierfür die Voraussetzung. Neben dem Aspekt der Teilhabe muss die SPD hierfür auch das Feld der Anerkennungspolitik gestalten. Anerkennung und Teilhabe – Leitgedanken sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik Die politische, rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung heterogener

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Identitäten aller Gesellschaftsmitglieder als Gleiche ist Voraussetzung für die Schaffung von Teilhabegerechtigkeit. In diesem Sinne hat Anerkennungspolitik weitgehende politische und rechtliche Implikationen. Soziale Ungleichheit wird auch diskursiv hergestellt. Dabei dienen Selbst- und Fremdbilder der normativen Legitimierung und Begründung sozialer Hierarchien. Politische Akteure bedienen die Klaviatur immer wieder kehrender Motive, scheinbarer Alltagsgewissheiten, und formen so Diskurse der Ungleichheit. In ihnen zeigt sich eine Kontinuität vorherrschender Deutungsmuster seit den 1950er Jahren. Für Deutschland werden die Bilder des kriminellen Ausländers, der vollständig anderen und unvereinbaren Kultur von Einwanderern und damit einer Überfremdung sowie die des integrationsunwilligen Ausländers diskursiv behandelt. Hinzu kommen Bilder der Belastung durch Einwanderung gepaart mit der Forderung nach Begrenzung von Einwanderung und der Topos des Missbrauchs von Sozialleistungen. Ebenso wie die Bewertung nach Nützlichkeit von ausländischen Arbeitskräften (Mikler 2006: 568). Die Forderung nach Überwindung des Integrationsbegriffs kann die SPD nur selbst einlösen, indem sie ihre Politik narrativ begleitet. Dafür muss sie die Stellvertreter-Debatten um angebliche Integrationsverweigerer oder die deutsche Leitkultur entschlüsseln. Unsere Gesellschaft verhandelt darin die Kernfrage, was wir heute als Deutschsein verstehen wollen, wer dazu 8

Zum Begriff der Lebenschancengleichheit: Wolfang Merkel et. al. (2006).

Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? Argumente 2/2013


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gehören soll und wer nicht. Anders ausgedrückt: Sind Fatma und Luigi ebenso typisch deutsch wie Peter und Silke? Aufgabe der SPD ist es, klar zu machen, dass solche Versuche der Grenzziehung nicht Schritt halten mit der vielfältigen Realität in Deutschland. Daher muss die SPD neue Erzählungen entwickeln, vom Deutschsein, von der deutschen Geschichte als Einwanderungsland. Hierfür sollte die SPD im Jahr ihres 150. Jubiläums beispielsweise die Rolle der Pluralität in ihrer Geschichte sichtbarer machen. Um die Köpfe und Herzen zu erreichen, wird es beispielsweise nicht ausreichen, die Öffnung der Mehrstaatigkeit für alle zu fordern. Die SPD muss ihre Forderung in ein modernes Selbstbild einbetten. Identifikationsräume für Ein- und Mehrfachzugehörigkeiten anbieten. Dafür muss die SPD eine Großerzählung entwickeln, die Zutrauen und Mut in die Einwanderungsgesellschaft schafft. Nur so kann die doppelte Staatsbürgerschaft konsequent heraus aus der konservativen „Schmuddelecke“ der Sicherheits- und Ordnungspolitik gehievt werden und dort ankommen, wo sie hingehört: im Selbstverständnis eines multikulturellen Deutschlands. Ausgehend von dem Postulat gleicher Chancen der Teilhabe an allen materiellen wie immateriellen Ressourcen müssen sich politische Maßnahmen daran messen lassen, inwiefern sie zu einer am Ergebnis orientierten tatsächlichen Chancengleichheit für Menschen mit und ohne Migrationsbiographie beitragen. Teilhabe sollte als Zielvorstellung also ungeachtet von Gruppenzugehörigkeiten, Geschlecht, Alter oder anderer Merkmale auf die Herstellung von Lebenschancengleichheit ausgerichtet sein. Hierzu zählen allgemeine Po-

litiken für gute Bildung, Ausbildung und Arbeit. Hinzukommen spezifische Maßnahmen, die darauf abzielen, strukturelle Hürden abzubauen. Wie ist das Programm vor diesem Hintergrund nun einzuordnen? Welche Fortoder Rückschritte haben sich vollzogen? Hierzu folgt zunächst eine Skizzierung einschlägiger Beschlüsse.9 3. Programm Genese – vom Berliner Programm bis zur Zukunftswerkstatt Integration10 Das Verhältnis der SPD zur Rolle der Nation ist programmatisch komplex. Seit ihrer Gründung verstand sich die SPD als Teil einer internationalen ArbeiterInnenbewegung, die sich im Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus bewegt. In der Programmatik der SPD findet sich kontinuierlich das republikanische Nationenverständnis wider. Allerdings zeigt die Nachzeichnung der Beschlüsse, dass sich die SPD noch in einer Suchbewegung befindet hinsichtlich der Frage, wie der Staat mit Diversität umgehen sollte. Bereits im Berliner Grundsatzprogramm von 1989 findet sich unter der Überschrift: „Solidarität zwischen Kulturen“ eine erste programmatische Positio9

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Quellen: Berliner Grundsatzprogramm, Berliner Rede von Bundespräsident Johannes Rau, Wahlmaifest 2005, Hamburger Grundsatzprogramm, Regierungsprogramm 2009, Deutschlandplan, Beschlüsse des Bundesparteitages 2010 und 2012, Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, Beschluss des Parteivorstandes von 05/2011, Bericht der Zukunftswerkstatt Integration 2009 – 2011. Vgl. Kaya 2013.

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nierung. Vielfalt wird bejaht und die Realität multikultureller Gesellschaften in ganz Europa anerkannt: „In der Bundesrepublik leben Menschen unterschiedlicher Nationalität, Kultur und Religion zusammen; die Länder Europas sind multikulturell geworden.“ (ebd. 24). Fehlende Zugänge zur gesellschaftlichen Partizipation werden kritisiert (ebd.). Gleichwohl hatte die Perspektive auf Einwanderer und ihrer Kinder einen eher paternalistischen Anstrich. 18 Jahre später ist ein programmatischer Wandel im Hamburger Programm (2007) nachzulesen. Darin vollzieht sich ein eindeutiger Perspektivwechsel auf Einwanderer und Neudeutsche. Anders als zuvor im Berliner Programm fällt die Sicht auf Einwanderer unter der Überschrift „Integration und Einwanderung“ nunmehr ambivalent aus. Besondere Betonung findet der ökonomische Nutzen durch Einwanderung für Deutschland. Die Einsicht in „gemeinsame Anstrengungen“ wird explizit mit Forderungen nach individuellen Integrationsleistungen verbunden. Wobei unklar bleibt, was die sozialdemokratische Deutung des Begriffs Integration ist. Die Ausführungen sind vom Zeitgeist des Forderns und Förderns geprägt, wobei das Fordern überwiegt (ebd. 36). Insgesamt findet sich hier der Mainstream-Diskurs einer Defizit-Perspektive auf Einwanderer und Bindestrich-Deutsche wieder. Bereits im Wahlprogramm „Vertrauen in Deutschland – das Wahlmanifest der SPD“, zwei Jahre zuvor (2005), kündigte sich die tendenzielle Problemperspektive auf die Einwanderungsgesellschaft an. Das Augenmerk lag in diesem Programm auf Restriktionen und die Defizite der „Perso-

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nen ausländischer Herkunft“ (sic!). Die Kernforderungen beziehen sich auf die Ablehnung von Parallelgesellschaften und Zwangsverheiratung sowie Bekenntnissen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, zur Sprachförderung und der Einführung staatlichen Islam-Unterrichts. Für die folgende Bundestagswahl (2009) legte die SPD sowohl das Wahlprogramm „Sozial und demokratisch. Anpacken für Deutschland“ als auch den so genannten Deutschlandplan des Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeier vor. Anders als im vorangegangenen Wahlprogramm wurde hier eine positive Perspektive auf die deutsche Einwanderungsgesellschaft eingenommen. Integration wurde hierin erstmals als Politik der Chancengleichheit verstanden, bei der es um die Förderung von Potenzialen und um eine Kultur der Anerkennung geht. Kernforderungen waren die interkulturelle Öffnung der Verwaltung sowie eine proaktive Einbürgerungspolitik. Anders als zuvor wurde nun der Gestaltungsauftrag der Politik angenommen. „Gelingende Integration“ wurde nicht mehr ausschließlich als zu erbringende Individualleistung von EinwanderInnen und PostmigrantInnen gesehen. Gleichzeitig fand wieder ein Rekurs statt: Integration wird mit Sicherheitspolitik verknüpft. Im Deutschlandplan des Kanzlerkandidaten Steinmeier wird der Ansatz Integration durch Bildung aufgegriffen und mit Blick auf den volkwirtschaftlichen Nutzen argumentativ untermauert. Institutionell wird ein Bundesministerium für Bildung und Integration vorgeschlagen. Dieser bemerkenswerte Vorschlag findet sich in keinem späteren Programmtext wieder.

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Seit dem Jahr 201011 unternimmt die SPD merklich große Anstrengungen, um sich programmatisch neu aufzustellen. Jüngst gründete sich auf Beschluss des Bundesparteitages 2011 die Bundes-AG Migration und Vielfalt. Unter dem Eindruck der Sarrazin-Debatte beschloss der Bundesparteitag 2010 die Resolution „Ohne Angst und Träumereien. Gemeinsam in Deutschland leben.“ Sie verkörpert den inhaltlichen Widerspruch zwischen einem Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft und dem Verständnis von Integration als vornehmlich soziale Frage (Aufstiegsversprechen) einerseits und der Defizit-geleiteten Sichtweise auf Einwanderung mit Augenmerk auf die Integrationspflicht von „Zuwanderern“ andererseits. Bemerkenswerterweise hat man für die Resolution auf die gleichnamige Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau aus dem Jahr 2000 zurückgegriffen. Sie lieferte kaum zukunftsweisende Impulse: „Zuwanderungspolitik“ wurde darin ausschließlich über ihren volkswirtschaftlichen Nutzen legitimiert. Einwanderer und Neudeutsche wurden problembehaftet konnotiert.12 Integration vornehmlich mit Anstrengung assoziiert. Im Jahr 2011 wurde eine Reihe von programmatischen Beiträgen veröffentlicht. Im Februar 2011 setzte das Positionspapier Integration der Bundestagsfraktion einen programmatischen Kontrapunkt zur vorangegangenen Resolution. Indem Integration als Frage von Zugehörigkeit und als sozialpolitische Aufgabe definiert, sowie der Querschnittscharakter des Politikfeldes durchdekliniert wurde, fand eine Abkehr vom 2010 begonnen negativen

Mainstreamdiskurs statt. Das Positionspapier markiert die Fortsetzung der 2009er Papiere um Frank-Walter Steinmeier. Nach dem gescheiterten Ausschlussverfahren von Thilo Sarrazin (April 2011) fasste der Parteivorstand im Mai 2011 den Beschluss „Für Gleichberechtigung und eine Kultur der Anerkennung“. Hierin wurde die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit proklamiert, die sich zu einer Kultur der Anerkennung und Teilhabe bekennt. Darüber hinaus wurde darin eine aktive Hinwendung zur interkulturellen Öffnung der SPD formuliert. Damit nahm der Parteivorstand eine inhaltliche Abkehr von der im Dezember 2010 auf dem Bundesparteitag beschlossenen Resolution vor. Im Frühjahr 2012 legte schließlich die Steuerungsgruppe der Zukunftswerkstatt Integration das Ergebnis ihrer 2-jährigen Arbeit unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer modernen Integrationspolitik. Anregungen zur programmatischen Positionsbestimmung aus der Zukunftswerkstatt Integration 2009 – 2011“ vor. Der 50-seitige Bericht umfasste programmatische Impulse zu den folgenden Schwerpunkten: Bildung, Wirtschaft und Arbeit, Kommune und soziale Stadt, Migrationsrecht und Verwaltung, Politik und Partei sowie Religion – Schwerpunkt Islam. Besonders her11

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Am 30.08.2010 veröffentlichte der SPD-Politiker Thilo Sarrazin das Buch „Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ Deutsche-Verlags-Anstalt. Laut Media Control wurden bis Januar 2012 1,5 Mio. gebundene Exemplare verkauft. Beispielsweise: „Ich kann verstehen, wenn nicht nur Mädchen und junge Frauen Angst vor der Anmache oder Einschüchterung durch Cliquen von ausländischen Jugendlichen haben.“ (ebd.).

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vorzuheben sind die Kernelemente in den Feldern Bildung, Migrationsrecht und Verwaltung sowie Politik und Partei. Bildung als soziale Frage in der Einwanderungsgesellschaft. Zudem wird ein Leitbild einer serviceorientierten Verwaltung im Migrationsrecht skizziert. Denn die integrationsorientierte Servicefunktion, also der Dienstleistungscharakter der Behörden, steht „mitunter noch in der Tradition des Fremdenrechts.“ (SVR 2011: 77 f.). 4. Wahlprogramm 2013: Gleichberechtigte Teilhabe – Für eine moderne Integrationspolitik Das Wahlprogramm reiht sich ein in die Linie des Steinmeier-Papiers (Chancenpolitik, Interkulturelle Öffnung, proaktive Einbürgerungspolitik), der Positionierung der Bundestagsfraktion (Zugehörigkeit und Sozialpolitik stehen im Fokus; der Querschnittscharakter des Politikfeldes wird angepeilt) und der Steuerungsgruppe (u. a. Bildung als soziale Frage, serviceorientierte Verwaltung). Im Wahlprogramm fehlen ein konsequenter Querschnittscharakter und eine progressive Begriffspraxis. Außerdem bleibt es teilweise zurück hinter weitergehenden Beschlüssen. Die Forderungen für eine moderne Teilhabepolitik im Einzelnen, exemplarisch kommentiert (58 – 60): •

„Gemeinsam mit den Ländern wollen wir deshalb die Ausländerbehörden zu Willkommensbehörden, zu Anlaufund Leitstellen für Integration und Einbürgerung weiterentwickeln.“ (58) Bereits die Steuerungsgruppe der Integrationswerkstatt schlug einen Organisati-

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onswandel der Ausländerbehörden vor, hin zu einer serviceorientierten Verwaltung. Wie die Willkommensbehörden ausgestaltet werden sollen, bleibt im Wahlprogramm unklar: Orientiert sich die SPD damit am kanadischen Modell der Welcome Center, die in Trägerschaft von MigrantInnenorganisationen liegen, oder am Hamburger Modell? Auch die Frage nach einer generellen Umstrukturierung bleibt offen: Möchte die SPD das Politikfeld aufwerten, indem es an ein Bundesministerium angegliedert oder in die Funktion der Staatsministerien aufgewertet wird? •

Die SPD möchte „den Öffentlichen Dienst weiter für Menschen mit Migrationshintergrund öffnen und ihren Anteil an der Gesamtbeschäftigtenzahl signifikant erhöhen. Mit weiteren Modellversuchen werden wir prüfen, ob auch die anonymisierte Bewerbung geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen.“ (59) Bereits im Steinmeier-Papier bekannte sich die SPD zu einer interkulturellen Öffnung des öffentlichen Dienstes. Die SPD-Bundestagsfraktion fasste danach einen weitergehenden Beschluss hierzu: „Bewerbungsverfahren sind entsprechend der Zielrichtung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes anonymisiert durchzuführen, damit Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund bei Bewerbungen nicht von vornherein von Vorstellungsgesprächen ausgeschlossen werden. Es sind die notwendigen gesetzlichen Anpassungen vorzunehmen.“ Und: „Um Diskriminierung zu beseitigen, sollten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft verbindliche Zielvereinbarungen, die zum Inhalt haben, den Anteil

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von Menschen mit Migrationshintergrund an den Beschäftigten zu erhöhen, getroffen werden. Der öffentliche Dienst sollte hierbei eine Vorreiterrolle übernehmen“.13 Insofern bleibt das Wahlprogramm hinter aktuellen Positionierungen zurück. •

Das Programm Soziale Stadt soll wieder umfänglich wirken und unter Einbeziehung der MigrantInnenorganisationen sollen die lokalen Bündnisse für Teilhabe und sozialen Zusammenhalt wieder gestärkt werden. MigrantInnenorganisationen können über die kommunale Arbeit hinaus eine Brückenfunktion einnehmen und einen Beitrag zur politischen und sozialen Partizipation von Personen mit Migrationsbiographie leisten. MigrantInnenorganisationen sind in Zeiten von Islamkonferenz, Integrationsgipfel und nationalen Aktionsplänen gefragt wie nie. Sie sollen und wollen als professioneller Akteur an der Gestaltung der deutschen Einwanderungsgesellschaft mitarbeiten. Daher positionierte sich die SPD-Bundestagsfraktion im Herbst 2012 für tragfähige Förderstrukturen bundesweiter MigrantInnenorganisationen.14 Dieser Aspekt bleibt im Wahlprogramm unberührt.

Deutschland soll vom Einwanderungsland zum Einbürgerungsland werden.

Die doppelte Staatsbürgerschaft soll im Regelfall akzeptiert und die Optionspflicht abgeschafft werden.

Ausländische Studierende, die in Deutschland einen Hochschulabschluss oder eine vergleichbare Qualifikation (z. B. Meisterprüfung) erwer-

ben, soll ermöglicht werden, ohne Einschränkungen in Deutschland zu arbeiten. •

Die SPD möchte das kommunale Wahlrecht nach einem fünfjährigen legalen Aufenthalt einführen.

Die Qualität der Integrationskurse soll – die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte eingeschlossen – weiter verbessert werden.

Der Familiennachzug soll erleichtert werden.

5. Fazit Die Bewertung des Wahlprogramms 2013 fällt ambivalent aus: Die Hinwendung zu einer Gesellschaftspolitik, die sich dem Anspruch auf Teilhabe verpflichtet, ist ein begrüßenswerter Fortschritt. Sie passt sich hervorragend in das Leitmotiv eines neuen Miteinanders ein. In diesem Sinne beschreitet die SPD den richtigen Weg. Der Perspektivwechsel weg vom Integrationsbegriff hin zu einer kohärenten Gesellschaftspolitik muss aber noch normativ aufgeladen werden. Bislang fehlt es an einer überzeugenden Diversitätspolitik aus einem Guss. Noch fehlt es an einer Gesellschaftsvision. l

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Drucksache 17/9974: Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt. Drucksache 17/10200: Änderungsantrag der Fraktion der SPD im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Jahr 2012.

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Literatur Kaya, Daniela (2013): Deutschland neu erfinden. Impulse für die Neuausrichtung sozialdemokratischer Integrationspolitik. Rotation Vorwärts Verlag Merkel, Wolfang et. al. (2006): Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa. Wiesbaden. Mikler, Anja (2006): Migrationsdiskurse politischer Eliten: Identitätspolitik durch einen Diskurs der Ungleichheit? Eine diskursanalytische Untersuchung von Migrationsdiskursen in der Bundesrepublik Deutschland 1999 – 2002. Dissertation, Universität Dortmund. Rau, Johannes (2000): Ohne Angst und Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben. Berliner Rede des Bundespräsidenten. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) (2011): Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten mit Integrationsbarometer. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1989): Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom ProgrammParteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin („Berliner Programm“). Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2005): Vertrauen in Deutschland – das Wahlmanifest der SPD.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2011): Beschlüsse des ordentlichen Bundesparteitages der SPD in Berlin, 4.-6. Dezember 2011. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundwertekommission beim Parteivorstand (2011): Gleichberechtigt zusammenleben Grundwerte sozialdemokratischer Integrationspolitik: demokratisch, pluralistisch und sozial. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Parteivorstand (2011): Für Gleichberechtigung und eine Kultur der Anerkennung. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Parteivorstand (2012): Auf dem Weg zu einer modernen Integrationspolitik. Anregungen zur programmatischen Positionsbestimmung aus der Zukunftswerkstatt Integration 2009 – 2011. Ergebnisbericht der Steuerungsgruppe. SPD-Bundestagsfraktion (2011): Gleichberechtigt miteinander leben. Positionspapier Integration. Themenreihe, Februar 2011. SPD-Bundestagsfraktion (13.06.2012). Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt, Drucksache 17/9974, 17. Wahlperiode, Deutscher Bundestag. SPD-Bundestagsfraktion (2012): Änderungsantrag der Fraktion der SPD im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Jahr 2012, Drucksache 17/10200, 17. Wahlperiode, Deutscher Bundestag.

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2007): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2009): Sozial und Demokratisch. Anpacken. Für Deutschland. Das Regierungsprogramm der SPD. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2010): Ohne Angst und Träumereien. Gemeinsam in Deutschland leben. Resolution des Bundesparteitages.

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DIE WÜRDE DER ARBEIT – SPD-POLITIK FÜR BESCHÄFTIGTE von Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG BAU und zuständig für den Bereich Arbeit und Soziales im Kompetenzteam von Peer Steinbrück

In den deutschen Medien ist ein Stimmungswandel zu beobachten. Über viele Jahre beschäftigten sich Print-, Rundfunk- und Fernsehbeiträge mit „faulen“ Arbeitslosen, „Sozialabzocke“, „überhöhten“ tariflichen Leistungen und vielem mehr. Die Grundtendenz bei vielen Beiträgen war klar: Die Errungenschaften, für die Generationen von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten durchaus erfolgreich gekämpft hatten, waren mitschuldig an hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit. Seit einiger Zeit hat sich das Bild gewandelt. Berichte über unzumutbare Arbeitsbedingungen beim größten Versandhändler Amazon, die Ausbeutung von Menschen über (Schein-) Werkverträge bei einem Hersteller deutscher Luxusautos oder zuletzt die unwürdige Beschäftigung in der Fleischzerlegung zeigen, dass der radikale Wandel der Arbeitswelt dramatische Folgen im deutschen Sozialgefüge hat und

dass diese Entwicklung auch vielen zu denken gibt, von denen man es früher nicht unbedingt erwartet hätte. Die Berichterstattung macht nun einer breiten Öffentlichkeit deutlich: Wir haben es mit einer tiefgreifenden Entwertung von Erwerbsarbeit zu tun. Und diese Entwertung hat verschiedene Facetten. Erwerbsarbeit wird entwertet, weil sie immer schlechter bezahlt wird. Das WSI der Hans-Böckler-Stiftung hat unlängst bekanntgegeben, dass Deutschland den siebtgrößten Niedriglohnsektor in der Europäischen Union hat. Vor uns liegen Litauen, Lettland, Estland, Rumänien, Polen und Zypern. Und dann kommt unser Land, ein Land, das sich gleichzeitig mit dem Titel des Exportweltmeisters schmückt. Mittlerweile arbeiten rund 23 % der Beschäftigten im Niedriglohnbereich. 6,8 Millionen Menschen verdienen weniger als 8,50 Euro. Rund 1,3 Millionen Menschen müssen sich trotz Arbeit staatliche Unterstützung holen.

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Im Berliner Stadtbezirk Schöneberg wirbt ein Friseurgeschäft mit einem Preis für den Haarschnitt von 6,95 Euro. Wohlgemerkt: Der Friseurberuf erfordert eine Ausbildung von drei Jahren. Bei einem Haarschnitt für 6,95 Euro kann man nur vermuten, wie viel Lohn für den Friseur oder die Friseurin übrigbleibt. Wie muss sich ein Mensch fühlen, der eine lange Ausbildung absolviert hat und jeden Tag hart arbeitet, wenn sein Fachwissen und Können derart verramscht wird? Deswegen brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro, einheitlich, in allen Branchen, in Ost und West. Die Union will das nicht, die FDP schon gar nicht. Sie wollen differenzieren, nach Branchen und nach Regionen. Sie vergessen dabei einen ganz entscheidenden Punkt: Der Mindestlohn muss gewährleisten, dass Arbeit zum Leben reicht. Dabei geht es um die Würde des Menschen und seiner Arbeit. Und die Würde des Menschen und seiner Arbeit kann man nicht differenzieren, nicht nach Branchen und nicht nach Regionen. Diesen Grundzusammenhang haben Merkel und von der Leyen nicht verstanden, oder schlimmer, wahrscheinlich ist es ihnen egal. Vor kurzem wurde ein tariflicher Mindestlohn für das Friseurhandwerk vereinbart, der stufenweise eingeführt wird. Ab 2015 soll ein einheitlicher Mindestlohn von 8,50 Euro gelten. Dieser tarifliche Mindestlohn gilt aber erst einmal nur in den Betrieben, die Mitglied des Innungsverbandes sind. Im Saarland beispielsweise sind aber nur 190 der 1.000 Friseurbetriebe Mitglied der Innung. Deswegen wird die Allgemein-

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verbindlichkeit des Tarifabschlusses angestrebt. Dafür gibt es aber derzeit noch zu hohe Hürden. Niedriglöhne sind in den Betrieben weit häufiger, in denen es keine Tarifbindung gibt. Und die Tarifbindung befindet sich seit vielen Jahren im Sinkflug. Derzeit arbeiten noch 61 % der westdeutschen Beschäftigten und nur noch 49 % der ostdeutschen Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb. Das ist ein Grund, warum insgesamt der Druck auf die Löhne massiv zugenommen hat und warum wir über viele Jahre eine schlechtere Reallohnentwicklung hatten, als in allen anderen unserer Nachbarländer. Aufgrund dieser Entwicklung ist die Behauptung von Konservativen und Liberalen auch Unsinn, der gesetzliche Mindestlohn sei ein Eingriff in die Tarifautonomie. Die massive Tarifflucht vieler Betriebe macht den Mindestlohn notwendig und stellt eine Ergänzung des Tarifvertragssystems dar. Tarifflucht darf sich nicht lohnen. Deshalb werden wir die Bedingungen erleichtern, unter denen ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich werden kann und damit für alle Arbeitgeber und Beschäftigten einer Branche gilt. Derzeit müssen als Voraussetzung 50 % der Beschäftigten einer Branche in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten. Dieses Quorum wird immer seltener erreicht. Nur etwas mehr als 500 von insgesamt rund 68.000 gültigen Tarifverträgen sind heute allgemeinverbindlich, eine größere Zahl darunter übrigens im Baugewerbe. Die SPD wird deshalb das 50 %-Quorum durch Kriterien ersetzen, die das öffentliche Interesse an der Allgemeinverbindlichkeit konkretisieren. Wenn wir die Zahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge steigern, stärken wir damit auch die Tarifautonomie.

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Erwerbsarbeit wird aber auch entwertet, weil sie unsicherer geworden ist. Diese Entwicklung geht über alle Branchen. Im produzierenden Gewerbe ebenso wie im Handwerk und im Dienstleistungsbereich. Es geht einerseits um die massive Ausweitung von Leiharbeit. Die Deregulierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Rahmen der Hartz-Reformen hat nicht zum erhofften Ziel geführt, Arbeitslose schneller in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Der so genannte Klebeeffekt liegt unter 15 % der Leiharbeitsverhältnisse. Stattdessen wurden größere Teile der Stammbelegschaften durch unsichere, schlechter bezahlte Leiharbeit ersetzt. Dem Lohndumping wurde Tür und Tor geöffnet. Die tariflich vereinbarten Zuschläge für Leiharbeit sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung, die gesetzliche Durchsetzung von equal pay und equal treatment ersetzen sie aber nicht. Sie ist überfällig. Und dann geht es um den Missbrauch von Werkverträgen: die alte Masche in Branchen, in denen Leiharbeit verboten ist, die neue Masche der Arbeitgeber, denen selbst Leiharbeit zu teuer geworden ist. Wir brauchen eine klarere, einfacher nachweisbare gesetzliche Regelung, wo ein Werkvertrag aufhört und illegale Arbeitnehmerüberlassung beginnt. Vor allem muss der Missbrauch einfacher und stärker kontrolliert und durch Staatsanwälte verfolgt werden, die sich in der Materie auskennen. Und es geht um die Millionen Menschen, die nur einen befristeten Vertrag bekommen. Jeder zweite neue Arbeitsvertrag wird nur noch befristet abgeschlossen. Vor kurzem hat die IG Metall die Ergebnisse

ihrer Beschäftigtenbefragung veröffentlicht, an der sich mehr als eine halbe Million Beschäftigte beteiligt haben. Auf die Frage, was sie mit guter Arbeit verbinden, antworteten die meisten nicht „ein gutes Betriebsklima“ oder „eine interessante Arbeit“. 99 % halten einen unbefristeten Arbeitsvertrag für entscheidend. Ich bin sicher, vor 20 Jahren sah die Priorität noch anders aus, weil sich dieses Problem für die meisten überhaupt nicht stellte. Es geht für viele heute schlicht um Planungssicherheit, ohne die Sorge, wie es in einem Jahr weitergeht. Gerade von jungen Menschen wird verlangt, sie sollten vorsorgen, Wohneigentum schaffen, eine Familie gründen und sich am besten auch noch ehrenamtlich engagieren. Gleichzeitig sind es gerade junge Menschen, die von einem befristeten Vertrag in den anderen geschoben werden. Das passt nicht zusammen. Und deswegen werden wir die sachgrundlose Befristung abschaffen. Sie hat nicht mehr Beschäftigung gebracht, sondern mehr unsichere Beschäftigung. Und letztlich wird Erwerbsarbeit oft nachträglich entwertet, wenn man sie unverschuldet verliert. Ein Viertel der Menschen, die arbeitslos werden, bekommt gar kein Arbeitslosengeld mehr, sondern rutscht direkt in Hartz IV. Sie zahlen zwar Beiträge in die Arbeitslosenversicherung, schaffen es aber nicht, die notwendige Zeit in Arbeit zu bleiben, die einen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründet. Eine Folge von zunehmender prekärer Beschäftigung, von Leiharbeit, Niedriglohn und Befristungen. Darum müssen wir uns kümmern. Indem wir prekäre Beschäftigung zurückdrängen; und indem wir die Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung wieder verbessern. Das

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steht in unserem Wahlprogramm. Für manche mag das ein Detail sein, für sehr viele Menschen bedeutet es mehr Schutz gegen Abstieg und Existenzangst. Das sind wichtige Maßnahmen, um zentrale Sicherungsversprechen unserer Arbeitsgesellschaft und unseres Sozialstaates wieder mit Leben zu füllen. Leistung lohnt sich und wenn Du unverschuldet in Not gerätst, wird Dir geholfen und Du musst Dir keine Sorgen um Deine Existenz machen. Die Würde des Menschen und die Würde der Arbeit ist für die Sozialdemokratie immer unverzichtbar und auch durch eine starke Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben gewährleistet worden. Die Würde des Menschen und seiner Arbeit verlangt die Demokratisierung der Wirtschaft. Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund sozial verantwortbaren Wirtschaftens stehen, nicht kurzfristige Gewinninteressen. Mehr Demokratie im Betrieb zu wagen ist deshalb eine zentrale Herausforderung der nächsten Jahre. Das betrifft mehrere Ebenen: die Mitbestimmung der Arbeitnehmerbank in den Aufsichtsräten, die Rechte der Betriebsräte sowie Dialog- und Beteiligungsmöglichkeiten der Beschäftigten. Uns allen ist die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Politik in schlechter Erinnerung, als etwa Nokia in Bochum oder AEG in Nürnberg die Tore schlossen und die Produktion ins Ausland verlagerten, weil sich dort noch etwas billiger – aber nicht besser – produzieren ließ. Wir müssen die Rechte der Betriebsräte und Gewerkschaften in den Aufsichtsräten stär-

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ken, indem wir einen gesetzlichen Mindestkatalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte festlegen. Dazu muss die Entscheidung über Einrichtung, Schließung oder Verlagerung von Produktionsstandorten gehören. Zugleich wollen wir den Schwellenwert für die Geltung der paritätischen Mitbestimmung von derzeit 2.000 auf 1.000 Beschäftigte senken. Und wir müssen endlich unterbinden, dass Unternehmen mit Sitz in Deutschland eine ausländische Rechtsform wie die „Limited“ wählen, um das hiesige Mitbestimmungsrecht zu umgehen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erleben Mitbestimmung und Teilhabe in erster Linie über die Interessenvertretung im Betrieb. Betriebsräte helfen und unterstützen in vielen konkreten Fragen oder Problemen. Sie sind Ansprechpartner und Vertrauenspersonen und übernehmen häufig auch Managementaufgaben. Die Betriebsräte leisten einen unverzichtbaren Beitrag für mehr Demokratie und Ausgleich im Betrieb. Die Rechte der Betriebsräte zu stärken, hilft damit auch den Unternehmen, denn ein erfolgreiches Unternehmen lebt von seinen gut ausgebildeten und motivierten Beschäftigten. Die massive Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsformen setzt die Stammbelegschaften und die Betriebsräte zunehmend unter Druck. Der günstigere Mitarbeiter nebenan, der die gleiche Arbeit macht, aber nur die Hälfte bekommt, stellt immer auch ein Drohpotential dar. Es ist deshalb dringend notwendig, die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei Fremdbeschäftigung im Betrieb deutlich zu stärken. Das betrifft Umfang und Dauer von Leiharbeit ebenso wie das

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Zustimmungsverweigerungsrecht beim Einsatz von Werkverträgen. Und natürlich müssen Leiharbeitsbeschäftigte bei der Bestimmung der zu wählenden Betriebsratsgröße mitzählen. Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre wird sein, den Wert der Arbeit wiederherzustellen. Denn in den letzten 20 Jahren hat sich ein massiver Kultur- und Wertewandel in unserer Arbeitsgesellschaft vollzogen. Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft wie die gerechte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg, Teilhabe und Mitbestimmung werden zunehmend außer Kraft gesetzt und durch das Recht des Stärkeren ersetzt. Das ist in einer kapitalistischen Wirtschaftsweise nicht überraschend, aber die Bundesrepublik war mit dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, den so genannten „weichen“ Standortvorteilen, immer auch wirtschaftlich erfolgreich. Dieser Erfolg ist gefährdet. Auch deshalb müssen wir das, was in den letzten Jahren aus dem Ruder gelaufen ist, wieder in geordnete Bahnen lenken. Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist Ausdruck politischer Verantwortung im Interesse der Menschen, aber auch der vielen Unternehmen, die sich an die Regeln halten. Das war früher einmal politischer Konsens. Heute entziehen sich Union und FDP mit ihrer schon grotesken Tatenlosigkeit jeglicher Verantwortung für die Gestaltung politischer Rahmenbedingungen. Das ist auch eine Chance. Denn die Sozialdemokratie hat klare politische Alternativen benannt, für die ich als Person stehe. Wir brauchen Taten, die die Würde der Arbeit wiederherstellt! l

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VON DER LEISTUNGSZUR ERBENGESELLSCHAFT? von Anita Tiefensee, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hertie School of Governance*

Wer sich anstrengt wird belohnt. Dieses Mantra wird nun schon seit Jahrzehnten ins Feld geführt, wenn es um das Thema (Um-)Verteilung geht. Das heißt, wer sich (weiter-)bildet und fleißig arbeitet erhält ein adäquates Einkommen und gesellschaftliches Ansehen. All jene, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können und auf Unterstützung vom Staat angewiesen sind, haben sich nach dieser Logik also nicht genug angestrengt, werden im Zweifel sogar als faul gebrandmarkt. Einflussfaktor Elternhaus Mal ganz abgesehen davon, dass starke Schultern mehr tragen können als Schwache, und dies gerade in einem Sozialstaat auch praktisch gelebt werden sollte, ist spätestens seit PISA bekannt, dass (schulischer) Erfolg nicht nur vom Leistungswillen oder gar der Begabung des Kindes abhängt. Ausschlaggebend ist, in welchem Elternhaus es groß geworden ist. Bereits bei der Empfehlung für die weiterführende

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Schule werden Kinder aus sogenannten bildungsfernen Haushalten bei gleicher Leistung benachteiligt (Bos et al. 2012). An die Uni/Hochschule schaffen es dann aktuell von 100 Kindern mit AkademikerInneneltern 77, von 100 Kindern mit Nicht-AkademikerInneneltern sind es 23 (Middendorff et al. 2013). Dies hat natürlich Auswirkungen auf den beruflichen Werdegang und das damit verbundene Einkommen. Für Kinder aus AkademikerInnenhaushalten kommen neben der geistigen und finanziellen Unterstützung in der Schulzeit bei der Jobsuche weitere fördernde Aspekte hinzu, wie ein erlernter Habitus oder gute Kontakte der Eltern, die häufig türöffnend wirken. Eine Person aus einer bildungsfernen Familie hat somit bei gleichem Einkommen in der Regel (relativ gesehen) mehr dafür leisten müssen. Das Elternhaus bestimmt aber nicht nur das eigene Einkommen sondern, gerade auch das Vermögen. Dessen Besitz kann neben erweiterten Konsummöglichkeiten * Der Artikel gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder und nicht die der Institution.

Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? Argumente 2/2013


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u. a. auch Einkommensausfälle stabilisieren und der Alterssicherung, der (Aus)Bildung von Kindern und der intergenerationalen Übertragung dienen. Der Besitz von Vermögen schafft somit eine finanzielle Unabhängigkeit, und das Vorhandensein von hohen Vermögen geht häufig mit einer wirtschaftlichen und politischen Machtposition einher (Grabka und Frick 2007 und Hauser 2009). Im Jahr 2007 belief sich das Nettogesamtvermögen der Personen in privaten Haushalten in Deutschland auf rund 6,1 Billionen Euro.15 Die Konzentration des Vermögens nahm in den vergangenen Jahren zu. Zwischen 2002 und 2007 stieg der Gini-Koeffizient16 des individuellen Nettovermögens von 0,777 auf 0,799. Die oberen 10 Prozent der Bevölkerung hielten im Jahr 2002 57,9 Prozent am Gesamtvermögen, fünf Jahre später waren es bereits 61,1 Prozent. Die unteren 70 Prozent verfügten hingegen 2002 über 10,3 Prozent und 2007 sogar nur noch über 8,8 Prozent. Die unteren 30 Prozent besitzen nach wie vor kein bzw. ein negatives Nettovermögen (Frick, Grabka und Hauser 2010 und Abbildung 1). Das verfügbare Ein-

kommen ist hingegen wesentlich weniger konzentriert (vgl. Grabka, Goebel, Schupp 2012). Materielles Vermögen erwirbt man entweder durch Sparen des eigenen Einkommens oder durch Schenkungen und Erbschaften. Diese werden in den nächsten Jahren gerade in Westdeutschland aus den seit den 1950er Jahren akkumulierten Vermögen bestehen. Braun, Pfeiffer und Thomschke (2011) prognostizieren die generationenübergreifenden Übertragungen zwischen 2011 und 2020 auf 1,7 Billionen Euro oder 174 Milliarden Euro jährlich. Immobilienbesitz wird den größten Anteil (ca. 50 Prozent) am Erbe ausmachen. Die Höhe der Erbschaft steigt laut der Prognose mit dem Einkommen. Geringverdiener erben zudem seltener. Es erben also vor allem diejenigen hohe Beträge, die es sich finanziell leisten konnten bereits überdurchschnittliche Vermögen aus ihrem laufenden Einkommen anzusparen. Mit einer abnehmenden Kinderzahl wird das Erbschaftsvolumen zudem auf einen kleineren Teil der Bevölkerung verteilt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die Vermögensungleichheit weiter zunehmen dürfte. Vor dem Hintergrund dieser Fakten stellt sich nun natürlich die Frage, wie sie 15

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Abbildung 1 Quellen: SOEP, Berechnungen des DIW Berlin

Grundlage dieser Berechnung (sowie der folgenden in diesem Absatz) ist das Sozio-oekonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Das dort erhobene Vermögen enthält keine PKWs oder Hausrat. Zudem wird der obere Rand der Verteilung trotz Hocheinkommensstichprobe immer noch untererfasst. Ein Wert von 0 bedeutet, dass das Vermögen auf alle Personen gleich verteilt ist. Ein Wert von 1 heißt, dass das gesamte Vermögen einer einzigen Person gehört.

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mit dem eingangs beschriebenen Mantra „Wer sich anstrengt wird belohnt“ zu vereinbaren sind. Der Weg über den vermeintlich klassischen Bildungsaufstieg ist mit vielen Hindernissen übersät. Er kann zwar zu einem hohen Einkommen und sicherlich auch zu einem gewissen Vermögen führen, aber die wirklich hohen Vermögen werden mittlerweile in der Regel von der vorherigen Generation übernommen.17 Sowohl Schenkungen als auch Erbschaften beruhen in der Regel nicht auf Leistung, sondern auf verwandtschaftlichen Verhältnissen. Ein Kind hat somit Glück oder Pech in eine wohlhabende oder eine arme Familie geboren zu werden. Natürlich zählen im Leben nicht nur materielle Dinge, sondern vor allem auch Liebe und Geborgenheit, die Eltern sowie das persönliche Umfeld völlig unabhängig von Einkommen und Vermögen geben können. Zudem wird in Deutschland eine materielle Grundsicherung vom Staat gewährleistet. Gesellschaftliche Teilhabe bedeutet allerdings weit mehr, sie funktioniert bei uns aktuell nur bedingt ohne materielle Ressourcen. Zudem gehen, wie bereits erwähnt, hohe Vermögen häufig mit einer wirtschaftlichen und politischen Machtposition einher, die über demokratische Wahlen hinausgehen. Was macht die SPD? Für die SPD steht „bei der Besteuerung von Erbschaften […] die Steuergerechtigkeit im Vordergrund“. Sie will deshalb „die missbräuchliche Ausnutzung von steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten einer geringen Zahl reicher Erben nicht länger hinnehmen“ und „Begünstigungen bei der Erbschaftsbesteuerung künftig viel stärker an den dauerhaften Erhalt von Ar-

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beitsplätzen koppeln“ (SPD 2013, S. 68). Sehr begrüßenswerte Forderungen. Die Union lehnt eine Erhöhung der Erbschaftssteuer „entschieden ab“ (CDU/CSU 2013, S. 27). Genau diese Debatte sollte allerdings, gerade auch von der SPD, geführt werden. Der maximale Steuerbetrag für Ehegatten/LebenspartnerInnen und Kinder liegt aktuell bei 30 Prozent (§§ 15 und 19 Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, ErbStG). Dieser greift allerdings erst ab einer Erbsumme von 26 Millionen Euro pro Person – Freibeträgevon500.000 Euro für Ehegatten/LebenspartnerInnen bzw. 400.000 Euro für jedes Kind sind hierbei bereits berücksichtigt (§§ 16 und 19 ErbStG).18 Ein Beispiel: Liegt die Erbsumme pro Person bei 500.000 Euro zahlen Ehegatten/LebenspartnerInnen überhaupt keine Erbschaftssteuer und Kinder müssen 11 Prozent von 100.000 Euro abgeben (also 11.000 Euro). Bei selbst genutzten Immobilien gibt es für Ehegatten/ LebenspartnerInnen und Kinder zudem Sonderreglungen, die unabhängig vom Wert der Immobilie zu Steuerfreiheit führen können (§ 13 ErbStG). Wird Betriebsvermögen oder land- und forstwirtschaftliches Vermögen geerbt, kann die zu zahlende Erbschafssteuer bereits aktuell auf bis zu zehn Jahre zinslos gestundet werden, sofern dies zur Erhaltung des Betriebs notwendig ist (§ 28 ErbStG).

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Von den 10 reichsten Deutschen sind bereits über 2/3 Erben (Manager Magazin 2012). Die Erbschaftssteuer kann aktuell maximal 50 Prozent betragen. Dies betrifft alle übrigen Erben, die nicht in eine der folgenden Kategorien fallen: Ehegatten/LebenspartnerInnen, Kinder, EnkelInnen, Eltern, Geschwister. Der Freibetrag liegt für diese Gruppe bei 20.000 Euro (§§ 15, 16 und 19 ErbStG).

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Die Steuereinnahmen aus der Erbschaftssteuer, die den Ländern zugute kommen, beliefen sich im Jahr 2012 auf 4,3 Milliarden Euro. Die Kraftfahrzeugsteuer brachte im Vergleich fast doppelt so viel ein – 8,4 Milliarden Euro (Bundesministerium der Finanzen 2013). Im Jahr 2010 (das ähnliche Steuereinnahmen verzeichnete) waren lediglich etwa 10 Prozent der Erbfälle erbschaftssteuerpflichtig. Dies liegt an den hohen Freibeträgen innerhalb des familiären Bereichs (Braun, Pfeiffer und Thomschke 2011). Auch hierüber sollte die SPD eine ehrliche Debatte führen. Zwar machen gewisse Freibeträge mit Sicherheit Sinn, da gerade Haushalte, die über keinerlei Vermögen verfügen, erst durch eine Erbschaft in die Lage versetzt werden, Vermögen aufzubauen (Künemund und Vogel 2011). Aber über die Höhe der Freibeträge sollte die SPD noch einmal nachdenken und verschiedene Szenarien und ihre Verteilungswirkungen durchrechnen. Dabei sollten vor allem Auswirkungen auf das Immobilien- und Betriebsvermögen berücksichtigt werden sowie eventuelle Ausweicheffekte. In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Insgesamt sollte die SPD in der Debatte um die Erbschaftssteuer viel mehr betonen, dass es gerecht und zudem ökonomisch sinnvoll ist, wenn leistungslos ererbtes Vermögen angemessen besteuert wird. Chancengleichheit ist bekanntlich am ehestens gegeben, wenn möglichst alle Kinder von Anfang an von (frühkindlicher) Bildung profitieren. Dies kostet Geld. Mal ganz abgesehen davon, dass Menschen durch Bildung die Welt und ihre Möglichkeiten ganz anders wahrnehmen und nut-

zen können, ist es zudem ökonomisch sinnvoller, in Bildung als später dann in Sozialleistungen zu investieren. Eine Debatte um die Erbschaftssteuer hat also nichts mit Neid oder gar Enteignung zu tun, sondern mit ökonomischer Vernunft und vor allem mit Gerechtigkeit. Den Übergang von einer Leistungs- in eine Erbengesellschaft kann niemand in der Sozialdemokratie wirklich wollen. Lasst uns darüber diskutieren, in was für einer Gesellschaft wir zukünftig leben wollen und lasst uns dabei nicht nur das ich (und meine Familie) betonen, sondern das WIR! l

Literatur Bos, W., I.Tarelli, A.Bremerich-Vos, K.Schwippert (2012): IGLU 2011 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Waxmann. Berlin. Braun, R., U. Pfeiffer und L. Thomschke (2011): Erben in Deutschland – Volumen, Verteilung und Verwendung. Deutsches Institut für Altersvorsorge GmbH. Köln. Bundesministerium der Finanzen (2013): Steuereinnahmen nach Steuerarten 2010 – 2012. http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/ DE/Standardartikel/Themen/Steuern/ Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/ 2-kassenmaessige-steuereinnahmen-nachsteuerarten-1950-bis-2012.html [27.06.2013]. CDU/CSU (2013): Gemeinsam erfolgreich für Deutschland. Regierungsprogramm 2013 – 2017. Frick, J.R., M.M. Grabka, R. Hauser (2010): Die Verteilung der Vermögen in Deutschland. Edition Sigma. Berlin. Grabka, M.M. und J.R. Frick (2007): Vermögen in Deutschland wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen. In: DIW Wochenbericht LXXVII (45), 665 – 672.

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Grabka, M.M., J. Goebel, J. Schupp (2012): Höhepunkt der Einkommensungleichheit in Deutschland überschritten? DIW-Wochenbericht. 79(43). 3 – 15. Hauser, Richard (2009): Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland in den letzten Dekaden. In: Druyen, Thomas; Lauterbach, Wolfgang; Grundmann, Matthias (Hg.). Reichtum und Vermögen. Zur gesellschaftlichen Bedeutung der Reichtums- und Vermögensforschung. VS-Verlag, Wiesbaden. S. 54 – 68. Künemund, H. und C. Vogel (2011): Erbschaften und Vermögensungleichheit. Vortrag zur Frühjahrstagung 2011 der Sektion Wirtschaftssoziologie (MS). Manager Magazin (2012): Die 500 reichsten Deutschen. Manager Magazin spezial. Middendorff, E., B. Apolinarski, J. Poskowsky, M. Kandulla, N. Netz (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2013. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn, Berlin. SPD (2013): Das WIR entscheidet. Das Regierungsprogramm 2013 – 2017.

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EIN ANDERES DEUTSCHLAND IN EINEM ANDEREN EUROPA: WAS EUROPÄERINNEN VON DER BUNDESTAGSWAHL ERWARTEN von Daniel Cornalba, Vizepräsident der Young European Socialists, Nationalsekretär für den Arbeitsbereich Europa des MJS France

Vor einem Jahr im Juni 2012 gewannen die SozialistInnen mit François Hollande die Präsidentschaftswahl. Dieser erste Schritt in Richtung eines Wandels in Frankreich und einer Umorientierung Europas, so wichtig er sein mag, bedeutet noch kein Sieg unserer Ideen für ein anderes, soziales und ökologisches Europa. Soziale Gerechtigkeit, nachhaltiges Wachstum, Umverteilung, ständige Demokratisierung: All diese Ziele sind nur dann in Europa zu erreichen, wenn im September 2013 in Deutschland und kurz danach im Juni 2014 in ganz Europa wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen eine Mehrheit zusammen mit unseren linken KoalitionspartnerInnen gewinnen.

Europa braucht eine Alternative Wenn 57 % der Jugendlichen in Griechenland arbeitslos sind, mehr als 50 % in Spanien, 30 % in Irland, 26 % in Frankreich und allgemein 26,5 Millionen Menschen in Europa keine Arbeit finden; wenn tausende von ArbeiterInnen dazu gezwungen sind, im Ausland eine bessere Zukunft zu suchen; wenn Gehälter in Portugal oder Griechenland wegen Sparmaßnahmen um 50 % reduziert werden; wenn im Namen der „Konsolidierungspolitik“ – sagen wir es einfach: der Sozialabbaupolitik – Grundbestandteile der Demokratie, wie Medien, Sozialversicherungen, Bildung, Kultur, Zukunftsinvestitionen, schlicht und einfach gestrichen werden, wie soll dann Europa auf irgendeiner Weise noch eine Hoffnung darstellen?

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Wenn man Merkel oder Schäuble zuhört (das mag ab und zu vorkommen), gäbe es gegenüber dieser heutigen Lage keine andere mögliche Politik.

wirtschaftlichen Lage. Ist das wirtschaftliche Kompetenz? Wo Konservative dauerhafte Rezession bieten, wollen wir nachhaltiges Wachstum.

Sparpolitik oder Chaos. „Politik für Wettbewerbsfähigkeit“ oder Niedergang. Mit Merkel erhält die berühmte Parole von Thatcher ein neues Leben: „There is no Alternative.“ Keine Alternative.

Wozu sollten wir denn überhaupt noch wählen, wenn es nur eine einzige Politik gibt? Wo bleibt die Demokratie, wenn nicht gewählte Institutionen wie die Troika (Internationaler Währungsfonds, Europäische Kommission und Europäische Zentralbank), aufgrund einer vermeintlichen „Expertise“ einer demokratisch gewählten Regierung ihre Politik diktieren?

Diese Ansicht ist besonders in der Europapolitik durch ihre Institutionalisierung in den europäischen Verträgen mit der Unterstützung der heutigen europäischen Kommission unter Barroso zu beobachten: Es gäbe keine andere Möglichkeit als von der griechischen Regierung Massenentlassungen im öffentlichen Sektor zu verlangen, Gehälter zu kürzen und soziale Hilfen zu streichen. Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Museen werden geschlossen oder wenn möglich privatisiert. Es gibt keine Alternative! 1600 Milliarden konnte man für Banken finden, um „Europa zu retten“. Ein „Marschallplan“ aber gegen Jugendarbeitslosigkeit und für nachhaltiges Wachstum, wie es Hollande oder Steinbrück vertreten, das ist völlig unmöglich. Höchstens 6 Milliarden für die nächsten zwei Jahre. Dabei handelt es sich hier nicht nur um eine Frage der internationalen Solidarität. Die Zukunft der europäischen und insbesondere der deutschen Wirtschaft hängt von der Nachfrage der anderen europäischen Länder ab. Drastische Kürzungen, massive Entlassungen und weniger Investitionen bedeuten auch weniger Konsum, weniger Importe, weniger Nachfrage und damit die allgemeine Verschlechterung der

Wo bleibt denn die Demokratie, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) ohne jegliche demokratische Legitimität oder Kontrolle die Währungspolitik Europas entscheidet? Die „Stabilität“ der Preise kann nicht das einzige Ziel darstellen und die letzten Entscheidungen gegen die angebotsorientierte Politik der Konservativen haben es auch gezeigt. Nachhaltiges Wachstum und Arbeitslosigkeitsbekämpfung dürfen in den Statuten der EZB nicht vergessen werden. Wo bleibt die Demokratie, wenn das europäische Parlament entmachtet bleibt? Wie können wir uns noch wundern, dass die Beteiligung an Europawahlen und das Vertrauen in die EU ständig sinken? Wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen stehen für Demokratie. Es ist unsere Aufgabe, eine Alternative zu verkörpern: Eine Auswahl soll es bei einer Wahl immer geben!

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Willy Brandt hat es bereits in seiner Regierungserklärung 1969 erörtert: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, „wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten“. Er fügte hinzu: „Demokratie ist ein Prozess.“ Den wollen wir heute weiterführen.

Die Rechtsextremen nutzen das aus: Wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen müssen eine politische Alternative auf nationaler und europäischer Ebene darstellen, die Reichtümer umverteilt und nachhaltiges Wachstum ermöglicht. So können wir diesen rechtsextremen Parteien die Wurzeln herausreißen.

Wie Sigmar Gabriel vor kurzem in Madrid auf einer Pressekonferenz mit Alfredo Rubalcaba (PSOE) klarmachte, ist es diese Jugend, die wir heute ausbeuten, zertreten, missachten, die morgen Europa weiterentwickeln soll. Wie soll sie es tun, wenn für sie Europa nur noch Sparpolitik, soziale Unsicherheit und alternativlose Entscheidungen bedeutet?

Vor dem Hintergrund der heutigen Lage (soziale Krise, konservative Mehrheit in Europa, Aufstieg von rechtsextremen Bewegungen) ist unsere völlige Mobilisierung und unerschütterliche Entschlossenheit für die kommenden Wahlen in Deutschland und Europa notwendig. Wahlen 2013 und 2014: Zeit für einen Wandel

Die Gefahr für die Demokratie ist groß 18 % der Jugendlichen wählten 2012 bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich Marine Le Pen (Front National). Neonazis sind seit den letzten landesweiten Wahlen im griechischen Parlament vertreten. Antieuropäische, ausländerfeindliche, rechtsextreme Parteien gewinnen nach und nach in den meisten europäischen Staaten an Einfluss, besonders in den Staaten, wo Sparpakete oktroyiert worden sind. In Ungarn ist diese Ideologie bereits an der Macht. Wenn Zukunftsperspektiven und Solidarität nicht mehr auf der Agenda stehen, und wenn Konservative und Liberale als Antwort zur heutigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krise nur noch Sparmaßnahmen bieten, wie können wir uns noch wundern, dass Menschen langsam keine Hoffnung mehr in die Politik setzen und sogar den etablierten Parteien den Rücken kehren?

Die deutschen SozialdemokratInnen stehen seit 150 Jahren für soziale Gerechtigkeit. Für Bildung. Für Umverteilung. Für Nachhaltigkeit. Das SPD-Regierungsprogramm 2013 – 2017 zeigt, dass diese Grundziele der Sozialdemokratie nicht vergessen wurden. Macht euch bewusst, dass der Wandel, den ihr erkämpft, für ganz Europa Konsequenzen haben wird. Mindestlohn Die Entscheidung in Deutschland einen Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen, ist nicht nur eine gute Nachricht für alle ArbeiterInnen in Deutschland, die demnächst von einer besseren Verteilung der Gewinne profitieren werden. Es ist auch ein Schritt in Richtung eines sozialen Europa, ein Beispiel für andere Nachbarn und ein Weg, um die europäische Wirtschaft durch Nachfrage anzukurbeln.

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Steuerpolitik Die Vorschläge der SPD im Bereich Steuerpolitik bilden einen Fortschritt für eine gerechtere Umverteilung des Wohlstands. Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes „von 42 bzw. 45 Prozent auf 49 Prozent für zu versteuernde Einkommen ab 100.000 Euro bzw. 200.000 Euro bei Eheleuten“ (SPD-Regierungsprogramm 2013 – 2017, S. 67) illustriert die Rehabilitierung der Idee, dass Steuern nur progressiv erhoben werden dürfen. Kurzgefasst: Je reicher man ist, desto mehr soll man auch für die Gemeinschaft beitragen. Eine gerechtere Besteuerung der Erbschaften sowie die Abschaffung der steuerlichen Privilegien, die CDU und FDP in Deutschland und die UMP unter Nicolas Sarkozy in Frankreich geschaffen haben, gehören auch zu einer sozialdemokratischen Politik, die Ungleichheiten nicht toleriert. Diese Umorientierung der Steuerpolitik auf mehr Gleichheit und Gerechtigkeit soll in Europa weitergeführt werden. Sie öffnet Perspektiven für eine wahre Steuerharmonisierung in der EU etwa durch eine europaweite Vermögenabgabe, wie sie das Europaparlament im Juni 2012 empfahl, und die ständige Bekämpfung jeglicher Art von Steuerdumping, die in manchen Mitgliedstaaten leider noch der Fall ist. Die Implementierung von „einheitliche(n) Mindeststeuersätzen und Mindestbemessungsgrößen bei Ertrags- und Unternehmenssteuern“ (Idem, S.71) werden wir gemeinsam gegen Konservative und Neoliberale verteidigen, Steueroasen restlos trockenlegen. Wir SozialdemokratInnen müssen immer wieder sagen, dass Solidarität, Wohlfahrt, Daseinsvorsorge, Beschäftigungspolitik oder Bildung finan-

ziert werden müssen, und dass dafür jede und jeder je nach Reichtum ihren/seinen Beitrag leisten muss. Energiewende Nach dem Atomausstieg 2010 schauen viele Staaten in Europa und in der Welt auf Deutschland. Diese Energiewende, falls sie erfolgreich ist, könnte zu einem Modellbeispiel für weitere Länder werden. Der Wille der SPD, eine sozialverträgliche Energiewende ohne ständige wahltaktische Änderungen voranzutreiben, indem zum Beispiel bis 2020 40 bis 45 Prozent und bis 2030 75 Prozent des Stromanteils aus erneuerbaren Quellen stammen, könnte die notwendige europäische Energiewende dynamisieren. Die von François Hollande und Peer Steinbrück gewollte gemeinsame Europäische Energiepolitik könnte somit kurzfristig verwirklicht werden. Die Entwicklung von gemeinsamen Infrastrukturen und Netzen sowie die europaweite Gebäudesanierung würden die öffentlichen und privaten Energiekosten reduzieren, zudem weitere Investitionen ermöglichen und im Endeffekt kohlenstoffarmes Wachstum und viele Arbeitsstellen in ganz Europa schaffen. Bändigung des Finanzkapitalismus Die Bändigung des Finanzkapitalismus und klare Regeln für Finanzmärkte stehen in diesem Programm im Vordergrund: durch strenge Regulierung der Märkte, Transparenz, Finanztransaktionssteuer, Trennung von Investment- und Geschäftsbanken oder darüber hinaus durch die Stärkung des Genossenschaftswesens. Auch hier soll Deutschland mit einer linken Mehrheit ab September 2013 gemein-

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sam mit Frankreich für eine Kultur der Nachhaltigkeit und eine Rückkehr zur Realwirtschaft im Interesse der Menschen in Europa arbeiten. Diese Beispiele – es gäbe noch andere – zeigen, welche konkreten Folgen ein Sieg der SPD in den nächsten Bundestagswahlen in ganz Europa hätte. Währenddessen scheint Angela Merkel jegliche progressive Vorschläge – sei es der französischen Sozialisten, des Europaparlamentes oder der SPD – für ein anderes Europa bremsen zu wollen. Das heißt zwar nicht, dass durch dieses Programm die Idealgesellschaft, die wir uns erträumen, auf einmal Wirklichkeit werden wird. Weitere politische Kämpfe müssen noch geführt werden, um uns auch völlig von den neoliberalen Einflüssen zu befreien, die ab und zu unsere älteren Geschwister infiziert haben. Dieses Regierungsprogramm bleibt jedoch eine gute Basis, um einen Wandel in Deutschland zu ermöglichen, um eine bessere Umverteilung des Wohlstands zu implementieren. Es ist eine Antwort auf die soziale und ökologische Krise, die wir kennen, und eine Perspektive für die Jugend: für Bildung, Beschäftigung und Zukunftsinvestitionen. Die Europawahlen 2014 geben uns die Möglichkeit, diesen Wandel auf Europaebene fortzuführen. Der Sieg der deutschen SozialdemokratInnen 2013 soll uns dabei helfen. Aber darüber hinaus stellt sich die Frage: Welche Europäische Union wollen wir? Wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen stehen für eine demokratische EU: Es ist jetzt Zeit, dem Europaparlament das Initiativ- und volle Mitentscheidungsrecht zu eröffnen.

Europa soll die Möglichkeit haben, seine Politik durchzuführen. Wie können wir weiterhin akzeptieren, dass das Budget der Union nicht einmal 1 % des europäischen BIPs entspricht, verglichen mit 20 % in den USA? Europa braucht eigene Ressourcen: durch eine Finanztransaktionssteuer, durch eine europäische Körperschaftsteuer und eine sogenannte „Greentax“, die sowohl das Budget aufstocken als auch unsere Gesellschaften in Richtung Nachhaltigkeit orientieren würde. Priorität des künftigen Budgets muss die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit haben, insbesondere der Jugendlichen durch eine Garantie auf Jugendbeschäftigung unter 30 und das Verbot ausbeuterischer Praktika. Zudem muss die EU langfristig vom Einfluss der Finanzmärkte befreit werden. Darum müssen Bildung und Zukunftsinvestitionen aus der Berechnung der Staatsschulden ausgeschlossen werden. Für uns sind Bildung und Zukunft keine Last, sondern eine Chance. Für Staaten, die bereits wegen ihrer Verschuldung unter dem Druck der Märkte stehen, müssen Eurobonds entwickelt werden. Die EZB müsste zuletzt auch dazu beitragen, die Teufelskreise der Spekulation zu stoppen, indem sie, wie an Privatbanken, auch an Staaten direkt Geld verleiht. Es ist inakzeptabel, dass Privatbanken, die für Wirtschaftskrise eine besondere Verantwortung tragen, sich zu Lasten der verschuldeten Staaten bereichern können. Das können wir moralisch und wirtschaftlich nicht tolerieren. Zudem sollten wir uns nicht scheuen, unsere Werte zu vertreten. Die Rechte der ArbeiterInnen müssen wir als SozialdemokratInnen und Sozialis-

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tInnen verteidigen und erweitern, während Konservative und Liberale sie in den letzten Jahren ständig angegriffen haben. So ist zum Beispiel die Reduzierung der Arbeitszeit sowie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Bereichen Teil der europäischen sozialdemokratischen Agenda.

Der ehemalige sozialistische Premier Minister Léon Blum (1936 – 1938) sagte: „Links zu sein heißt zunächst empört zu sein“. Die Gründe unserer Empörung sind immer noch da: Die Ungleichheiten bestehen fort, die Ungerechtigkeit steigt. Mehr denn je brauchen wir einen Wandel; und GenossInnen, die ihn tragen.

Soziale und ökologische Normen sollten wir ständig vertreten. Auch und besonders in unseren Handelsabkommen. Wir können es nicht weiter dulden, dass europäische Firmen Produktionsstellen und ganze Industrien in Europa schließen, um außerhalb der EU unsere sozialen und ökologischen Normen zu umgehen. Das Verbot der Kinderarbeit, Menschenrechte und Umweltschutz wollen wir als InternationalistInnen überall entschlossen unterstützen. Unsere Handelsabkommen sollen diesen Werten auch entsprechen.

Also: Es ist längst Zeit, dass das „Wir“ entscheidet. Europa und Deutschland brauchen im September einen Wandel. l

Schließlich hat die Parti Socialiste die Wahlen 2012 gewonnen, weil sie eine Hoffnung für die Franzosen verkörpern konnte. Die heutige Ungeduld, die zu spüren ist, besteht darin, dass die Mehrheit unserer MitbürgerInnen auf diesen Wandel nicht länger warten kann. Der Sieg der SPD und der SPE (Sozialdemokratische Partei Europas) in den nächsten Wahlen und der Erfolg der linken Parteien allgemein hängen von der Fähigkeit ab, diese Alternative in ihrem Programm und in ihrer Politik zu verkörpern. Gegen den Fatalismus der Rechten, die die Machtlosigkeit der Politik organisieren, müssen wir die Rückeroberung der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für nachhaltiges Wachstum und gerechtes Zusammenleben organisieren. Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa:

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MIT ESSEN SPIELT MAN NICHT! von David Hachfeld, Referent für Handelspolitik bei Oxfam Deutschland

Seit einigen Jahren gleicht der Weltmarkt für Agrarrohstoffe einer Achterbahn. 2008, 2011 und 2012 jagte eine Preisspitze die andere, binnen Monaten verdreifachten sich die Kurse von Weizen und Mais, jeweils gefolgt von massiven Einbrüchen. Für in Armut lebende Menschen, die bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Essen aufwenden müssen, sind die Folgen katastrophal. Wenn das Haushaltseinkommen nicht mehr reicht, sind Frauen und Kinder meist die Ersten, die Hunger leiden. Auch kleine bäuerliche Betriebe sind betroffen, denn angesichts der massiven Preisschwankungen werden Investitionen zum unberechenbaren Risiko. Stürzen die Preise zum Zeitpunkt der Ernte ab, droht der Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen. Hohe und stark schwankende Preise haben viele Ursachen. Missernten, Klimawandel, wachsender Fleischkonsum, Biospritförderung und andere Faktoren beeinflussen Angebot und Nachfrage und damit die Preise. Doch die Preis-Rallye der letzten Jahre lässt sich nicht alleine aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage erklären. Viele Experten und Organisationen

wie die Welternährungsorganisationen schreiben der Zunahme von spekulativen Geschäften eine Mitverantwortung zu.19 Und selbst interne Studien von Finanzinstituten wie der deutschen Bank und der Allianz weisen auf diese Risiken hin.20 Über Jahrzehnte hinweg wurden die Agrarterminbörsen vor allem von realen Händlern von Nahrungsmitteln zur Absicherung gegen Preisschwankungen genutzt. Heute hingegen werden mehr als zwei Drittel der Weizenkontrakte an der Chicagoer Börse von Finanzspekulanten gehalten. Das Volumen der Weizen-Kontrakte, die an den US-Terminbörsen gehandelt werden, ist 70mal größer als die gesamte US-Ernte. 19

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Für eine Studienübersicht siehe Markus Henn, WEED (2013): Evidence on the Negative Impact of Commodity Speculation by Academics, Analysts and Public Institutions, online unter http://www2.weed-online.org/uploads/ evidence_on_impact_of_commodity_ speculation.pdf [10.07.2013]. Siehe foodwatch (2013): Konzernforscher warnten: Spekulation treibt Preise, online unter http://www.foodwatch.org/de/informieren/ agrarspekulation/aktuelle-nachrichten/ konzernforscher-warnten-spekulation-treibtpreise/?sword_list[0]=konzernforscher.[10.07.2013].

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Die Dominanz von Finanzspekulanten ist besonders problematisch, weil sich viele von ihnen bei ihren Geschäften nicht an Marktdaten, sondern an marktfremden Impulsen oder am Verhalten anderer Händler orientieren. Die Preissignale der Terminmärkte haben immer weniger mit dem Geschehen auf den realen Märkten zu tun. Es kommt zur vermehrten Blasenbildung. Anders als oft behauptet wird, versorgt diese Form der Spekulation die Landwirtschaft auch nicht mit neuem Investitionskapital. Stattdessen treiben sie, als Folge der zunehmenden Schwankungen, die Kosten für Absicherungsgeschäfte in die Höhe. Seit der Jahrtausendwende wurden die globalen Finanzmärkte sukzessive dereguliert – auch auf massiven Druck der Finanzlobby hin. Die Rohstoffmärkte waren davon ebenfalls betroffen. Infolge dieser Entwicklung bildete sich ein neuer, gewaltiger Geschäftszweig für Banken und Kapitalanlagegesellschaften heraus: Fonds, die es großen wie kleinen Anlegern ermöglichen, auf die Entwicklung von Rohstoffpreisen zu wetten, schossen wie Pilze aus dem Boden und wurden als neue Anlageklasse vermarktet. Und institutionelle und private Kapitalanleger, stets auf der Suche nach neuen rentablen Anlagemöglichkeiten, nahmen diese Chance gerne wahr. Das in Rohstofffonds angelegte Kapital stieg von 20 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf 321 Milliarden im Jahr 2012 an. Etwa 57 Milliarden Euro entfallen dabei auf Agrarrohstoffe. Während Investoren, die ihr Geld in Rohstofffonds stecken, erhebliche Risiken eingehen und nicht selten auch deutliche Verluste abschreiben müssen, befinden sich

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Mit Essen spielt man nicht! Argumente 2/2013

Banken und Fondsgesellschaften in einer komfortableren Situation. Als Anbieter und Verwalter von Rohstofffonds bringen sie meist kein oder nur wenig eigenes Kapital in einen Rohstofffonds ein. Deshalb hängen ihre Einnahmen weniger von den Preisentwicklungen ab, sondern speisen sich vor allem aus den Verwaltungsgebühren der Fonds. Wenn die Fondsgesellschaften mit Depotbanken und Anlageberatern zusammenarbeiten, die zur selben Konzerngruppe gehören, können sie außerdem noch mit Einnahmen aus Depotbank- und Beratungsgebühren rechnen. Diese Gebühren fallen immer an, egal ob die Preise steigen oder fallen. Sie werden in den Bilanzen der Fonds als Geschäftsausgaben ausgewiesen und letztendlich von den Investoren bezahlt. Die Höhe dieser Gebühren liegt bei ca. 0,5 bis 2 Prozent pro Jahr, bezogen auf das Volumen des von Investoren angelegten Kapitals. Die Sätze klingen niedrig, doch angesichts der Größe der Fonds kommen beachtliche Summen zusammen: 2012 haben die deutschen Finanzinstitute, die Nahrungsmittelrohstofffonds anbieten, mindestens 116 Millionen Euro durch verschiedene Formen von Verwaltungsgebühren eingenommen. Die höchsten Einnahmen erzielte dabei mit mindestens 62 Millionen Euro die Allianz. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die zum Konzern gehöhrende Investmentgesellschaft PIMCO, die einen der weltweit größten Rohstofffonds verwaltet: Der PIMCO Commodity Real Return Strategy Fund hatte 2012 ein Gesamtvolumen von 16,31 Milliarden Euro. Die Deutsche Bank verwaltet mindestens 34 Investmentfonds, die Agrarrohstoffderiva-


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te halten. Organisiert sind sie über mehrere Tochtergesellschaften, unter anderem die DWS und das Bankhaus Sal. Oppenheim. Darunter befindet sich auch der größte Fonds, der ausschließlich auf Agrarrohstoffe setzt: der PowerShares DB Agriculture Fund. Die Einnahmen aus der Verwaltung dieser Fonds beliefen sich 2012 auf mindestens 40,84 Millionen Euro. Die Fondsgesellschaften der anderen deutschen Finanzinstitute nahmen 2012 zusammen 13,49 Millionen Euro aus der Verwaltung der Anlagen ein. Spekulanten in die Schranken! Wenn Menschen infolge künstlicher Preissprünge hungern, wird ihr fundamentales Menschenrecht auf Nahrung verletzt. Angesichts der vielen fundierten Hinweise darauf, dass spekulative Anlagen in Agrarrohstoffen problematische Auswirkungen auf die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln haben können, sollte ein verantwortungsvolles Finanzinstitut das Vorsorgeprinzip ernst nehmen und auf das Anbieten eben dieser Produkte verzichten. Oxfam fordert die deutschen Banken und Versicherungen auf, einen Ausstieg aus der Spekulation mit Nahrungsmitteln zu beschließen und schnellstmöglich umzusetzen. Agrarrohstoffe sollten in keinem Investmentfonds enthalten sein. Doch die Vehemenz und Kompromisslosigkeit, mit denen die Allianz und die Deutsche Bank als Schwergewichte im deutschen Markt an dem Geschäft mit der Nahrungsmittelspekulation festhalten, machen deutlich, dass auch auf politischer Ebene gehandelt werden muss. Sowohl in den USA als auch in der EU wird derzeit, ausgelöst durch die Fehlentwicklungen auf

den Terminmärkten in den letzten Jahren, über die Einführung von Positionslimits diskutiert. Diese würden Obergrenzen für den Wert der von Händlern gehaltenen Rohstoffderivate festsetzen. Allianz und Deutsche Bank sperren sich jedoch gegen diese Bestrebungen. In den Augen der Deutschen Bank würden solche Obergrenzen „die Fähigkeit der Banken einschränken, auf die Bedürfnisse ihrer Kunden zugeschnittene Geschäfte anzubieten“, sie seien daher „kritisch zu sehen“. Angesichts der Probleme von Menschen in armen Ländern, die sich bei Preisexplosionen ihr Essen nicht mehr leisten können, sollten die Interessen der Anlagekunden der Konzerne allerdings nachrangig sein. Positionslimits würden tatsächlich bestimmte Geschäfte einschränken. Doch sie sind keineswegs ein neues Instrument. Vielmehr waren die Terminmärkte in den USA über viele Jahrzehnte mittels Positionslimits reguliert, ohne dass dies erkennbare Probleme für das ordentliche Funktionieren der Märkte dargestellt hätte. Erst seit der Jahrtausendwende wurden diese Positionslimits aufgeweicht und durch umfangreiche Ausnahmen ausgehöhlt – mit der Folge, dass Finanzspekulanten die Märkte dominieren konnten und die Preisvolatilität bis dahin unbekannte Ausmaße annahm. Heute geht es um die Korrektur dieser Fehlentwicklung. Auch mit Positionslimits könnten Banken und Finanzdienstleister ihren Kunden noch verschiedenste Geschäfte anbieten – nur eben nicht in einem Umfang, der das Verhältnis der Akteure an den Märkten aus dem Gleichgewicht bringt. Oxfam fordert die Bundesregierung, die EU und die G20-Staaten auf, mit ef-

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fektiven Gesetzen und starken Aufsichtsbehörden gegen Exzesse auf den AgrarTerminmärkten sowohl präventiv als auch reaktiv vorzugehen. So könnten diese Märkte auch ihre Kernfunktionen der Absicherung und Preisfindung wieder erfüllen. Dafür sind Positionslimits, Berichtspflichten für Händler und eine Einschränkung des Handels mit fragwürdigen Finanzprodukten nötig. Auch Bürgerinnen und Bürger müssen der Nahrungsmittelspekulation nicht tatenlos zusehen. Sie können Aktionen und Kampagnen unterstützen, damit Banken, Versicherungen und Pensionsfonds ihr Rohstoff-Portfolio auf den Prüfstand stellen und zurückfahren. Kundinnen und Kunden von Banken, Fonds und Versicherungen sollten sich über die mögliche Beteiligung ihrer Finanzinstitute an fragwürdigen Spekulationsgeschäften erkundigen, von ihren Kundenbetreuer/innen Aufklärung über Anlagestrategien und Versicherungsrücklagen einfordern und gegebenenfalls den Wechsel zu einem anderen Anbieter prüfen.

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⇒ www.oxfam.de/gegenspekulation

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AUCH KEVIN MUSS KÖNNEN DÜRFEN! Warum Bildung noch immer von der Herkunft abhängt – und sogar vom Vornamen von Mareike Strauß und Amina Yousaf, Mitglieder im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen

Vor wenigen Jahren sorgte eine Studie einer Erziehungswissenschaftlerin aus Oldenburg für Schlagzeilen: Darin wurden Grundschullehrer/innen danach gefragt, welche Erwartungen sie an Vornamen haben – mit dem Ergebnis, dass bestimmte Vornamen die Bildungschancen massiv beeinträchtigen können. Kinder mit Namen wie Kevin, Mandy oder Justin werden als weniger leistungsstark eingeschätzt als Kinder mit Namen wie Charlotte, Jakob oder Marie. Denn schon Namen gäben Aufschluss auf den sozialen Hintergrund von Kindern, so eine Begründung von Befragten. Eine Reaktion trifft das wohl sehr plakativ: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“, antwortete eine Befragte (Kaiser). Vorurteile über Namen und daraus resultierendes „Schubladendenken“ und Beeinflussung der Förderung und Bewertung sind Anzeichen für die ungleichen Chancen in unserem Bildungssystem. Ein Bildungssystem, in dem vor allem die Herkunft über die Bildungschancen entscheidet.

Doch gleiche Bildungschancen sind Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Denn gute Bildung ist Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben, die Entwicklung von Fähig- und Fertigkeiten und nicht zuletzt Garant für gute Berufschancen. Deshalb dürfen sie auch kein romantisches Zukunftsbild oder gar gesellschaftliches Feindbild mehr sein! Das bedeutet, dass alle über ihre individuellen Bildungsbiographien frei entscheiden können sollten. „Alle müssen können dürfen“ ist Voraussetzung und Ziel zugleich. Nur wenn Strukturen geschaffen werden, die darauf ausgerichtet sind, individuelle Stärken zu fördern, die Fähig- und Fertigkeiten junger Menschen zu erkennen und zu unterstützen, dann kann auch gewährleistet werden, dass niemand aufgrund seiner/ihrer Herkunft, aufgrund von Behinderungen, chronischer Krankheiten oder aufgrund von Geschlecht diskriminiert, ausgebremst oder bevorzugt wird. Die im Juni erschienene 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) lässt viele Rückschlüsse in Bezug auf die Durchlässigkeit im Bildungssystem zu. Der „Bildungstrichter“ ist ein markan-

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tes Bild für die soziale Selektivität des Bildungssystems. Es zeigt besonders anschaulich, wie unterschiedlich die Bildungschancen von Kindern aus akademischen Elternhäusern (mindestens ein Elternteil hat einen Hochschulabschluss) gegenüber Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern sind. Von der Primarstufe bis zur Studienaufnahme wird der Trichter enger – vor allem für diejenigen aus nicht-akademischen Haushalten. Die Ergebnisse der Sozialerhebung sind erschreckend: Kinder aus akademischen Elternhäusern besuchen 1,8-mal so oft eine gymnasiale Oberstufe wie diejenigen aus nicht akademischen Elternhäusern, von denen überhaupt nur 43 Prozent den Übergang zur Sekundarstufe II schaffen. Noch deutlicher ist der Unterschied beim Hochschulzugang: Nur 23 Prozent der Kinder aus nicht-akademischen Haushalten nehmen ein Studium auf. Dieser Anteil ist bei jungen Menschen mit akademischem Hintergrund 3,3-mal so hoch. Die Herkunft bestimmt noch immer die Bildungschancen. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun! Wir wollen, dass alle ihren Bildungsweg individuell gestalten können – und zwar unabhängig davon, woher sie kommen. Ein gerechtes Bildungssystem kann nicht von jetzt auf gleich geschaffen werden. Die Politik muss auf mehreren Ebenen ansetzen: Es muss deutlich mehr in Bildung investiert werden und die Rahmenbedingungen und die soziale Infrastruktur müssen gestärkt werden. Außerdem muss ein Wandel stattfinden im Verständnis dessen, was gutes Lernen und Lehren bedeuten. Das bedeutet im Einzelnen:

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Bildung staatlich ausfinanzieren! Ein wichtiger Schritt hin zu einem gerechteren Bildungssystem ist, dass dessen staatliche Finanzierung deutlich steigt. Die Bildungsausgaben in Deutschland liegen noch immer deutlich unter dem, was tatsächlich für die Ausfinanzierung des Bildungssystems gebraucht würde. Und auch unter dem, was andere Länder investieren. Im OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“, der im Juni diesen Jahres erschien, steht es wieder einmal geschrieben: Die Bildungsausgaben in Deutschland prozentual gemessen am BIP liegen genau zehn Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt: 2010 wurden in Deutschland 5,8 Prozent des BIP für formale Bildungseinrichtungen ausgegeben, im OECDDurchschnitt waren es 6,8 Prozent, in Norwegen beispielsweise sogar 7,6 Prozent (OECD, 2013). Die SPD will deshalb jährlich 20 Mrd. Euro mehr in Bildung investieren, um dem Ziel einer staatlichen Ausfinanzierung endlich näher zu rücken. Durch sinkende Geburtenraten wird die Anzahl der Schüler/-innen in den nächsten Jahren sinken. Das darf nicht dazu führen, dass an den Bildungsausgaben gekürzt wird. Vielmehr muss das Geld im Sinne der demografischen Rendite genutzt werden, also im System bleiben und so dazu beitragen, dass gute Lehre und gute Infrastruktur und somit auch gute Bildungschancen geschaffen werden. Eine Finanzierung von Bildungseinrichtungen über Bildungsgebühren, seien es Kindertagesstätten oder Hochschulen, wirkt nachweislich sozial selektiv und ist daher keine Alternative. Studiengebühren wurden in den letzten Jahren sukzessive

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abgeschafft und bestehen nur noch in Form von Studienkonten oder Langzeitgebühren in einigen Bundesländern. Wo noch Gebühren existieren, gleich an welcher Stelle im Bildungssystem, müssen sie schleunigst abgeschafft werden. Vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung ist eine Selektion aufgrund der finanziellen Möglichkeiten von Eltern nicht akzeptabel. Die richtigen Rahmenbedingungen schaffen! Für eine solidarische, offene Gesellschaft und ein gerechtes Bildungssystem, wie wir sie uns vorstellen, ist es nötig, dass nicht nur die Institutionen an sich ausfinanziert werden, sondern auch die soziale Infrastruktur. Die Sozialdemokratie hat in den 1970er Jahren eine Öffnung der Bildungslandschaft vorangetrieben. Durch das BAföG als Vollzuschuss hat sie dafür gesorgt, dass Hochschulen für die breite Gesellschaft zugänglich wurden. Das BAföG ist das zentrale Element für einen Aufstieg durch Bildung. Doch es ist längst nicht mehr das Studienfinanzierungsinstrument Nummer eins, sondern liegt hinter Unterstützungen durch die Eltern und dem eigenen Verdienst. Nur rund ein Drittel der Studierenden erhält BAföG – ein BAföG, was nach der Regelstudienzeit ausläuft, das Studierende verschuldet ins Leben starten lässt und dadurch zusätzlichen Druck verursacht. Die 20. Sozialerhebung des DSW zeigt aber, dass für über 80 Prozent der Studierenden gerade aus bildungsfernen oder sozial benachteiligten Familien ein Studium ohne den Bezug von BAföG nicht möglich ist. Um weiterhin den Aufstieg durch Bildung zu gewährleisten,

braucht es eine umfassende Reform des BAföG, die auch die Struktur neu ordnet. Dabei muss auch das BAföG für Schüler/ -innen wiederbelebt und wieder zu einem Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit werden! Um jungen Menschen ein unabhängiges Leben zu ermöglichen, welches sich an ihren Bedürfnissen orientiert, muss sichergestellt sein, dass sie auf eigenen Beinen stehen und in ihren eigenen vier Wänden leben können! Wohnungsnot ist vielerorts ein reales Problem, steigende Mieten und teure Courtagen für Makler/-innen übersteigen häufig das Budget junger Menschen. Studierende stehen immer wieder spätestens zum Start des Wintersemesters vor dramatischen Engpässen, was nicht selten in Turnhallen-Notunterkünften gipfelt. Dabei ist die Wohnraumsituation kein alleiniges Problem der sogenannten Metropolen. Auch in kleineren Städten wird bezahlbarer Wohnraum immer weiter aus den Zentren in weniger attraktive äußere Stadtteile oder Vororte verdrängt. Wir wollen, dass mehr in den Bau von Studierendenwohnheimen und sozialen Wohnungsbau investiert wird. Ein Bund-Länder-Programm zum Bau von 250.000 zusätzlichen Wohnheimplätzen, wie die SPD es umsetzen will, wäre dafür ein guter Anfang. Ebenso setzt sich die SPD dafür ein, dass steigende Mietpreise durch eine Obergrenze gedeckelt werden und dass die Courtage für Makler/-innen von denen gezahlt wird, die die Makler/-innen engagieren. Ein neues Verständnis von Lernen und Lehren! Die Ökonomisierung der Bildung, die Einengung des Bildungsbegriffs auf Be-

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schäftigungsfähigkeit, die Fokussierung auf Abschlüsse und internationalen Wettbewerb ist tief verwurzelt im politischen Handeln und dies spiegelt sich auch in den Reformen der letzten Jahre wider. Wir wollen ein anderes, ein besseres und gerechteres Bildungssystem, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. In unserer Vorstellung soll Bildung vor allem dazu befähigen, kritisch zu hinterfragen, solidarisch zu handeln und sich unabhängig von Herkunft frei zu entfalten. Doch junge Menschen stehen ständig unter Strom, sind gestresst, nicht selten folgen gesundheitliche Probleme. Und das beginnt schon in der frühen Kindheit: Bereits in der Grundschule leiden Schüler/innen unter Stress und Leistungsdruck. Rund zwei Drittel der Zweit- und Drittklässler/-innen fühlen sich laut einer Studie des Kinderschutzbundes durch die Schule gestresst. Zu viele Tests, zu viele Hausaufgaben überfordern Kinder im jungen Alter und lassen die Schulzeit zur Belastungsprobe werden. Zudem werden in der Grundschule die Weichen für den zukünftigen Bildungsweg gestellt, was zusätzlichen Leistungs- und Erwartungsdruck bei den Schüler/-innen, aber vor allem auch bei Eltern erzeugt. Durch die Einteilung in drei Schularten wird schon früh über die Bildungsbiographien von Kindern entschieden. Und einmal entschieden, sind die Chancen gering, zwischen den Schulformen zu wechseln. Denn nur drei Prozent der Schüler/-innen wechseln überhaupt während der Sekundarschulzeit die Schulform, vor allem in niedrigere Schulformen. Die Durchlässigkeit ist im Endeffekt nur nach unten gegeben (Dombrowski/Solga, 2009). Um ein wirklich gerechtes System zu schaffen, muss die

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Gemeinschaftsschule wieder zentral in die bildungspolitische Debatte gerückt und als einzige Schulform etabliert werden. Und auch Hochschulen sind zu Orten des „Bulimie-Lernens“ geworden, zu Orten, in denen junge Menschen einem Abschluss hinterherhetzen und wo kritisches Denken und eigene Interessen kaum noch eine Rolle spielen. Wir wollen, dass individuelle Förderung und gute Lehre in den Fokus bildungspolitischer Anstrengungen gerückt werden. Die Bildungsforschung hat viel dazu geforscht, wie besseres Lernen und Lehren funktionieren kann. Fächerübergreifendes Lernen, Lernen anhand konkreter Projekte oder problembasiertes Lernen sind keine neuen Erfindungen.21 Beispielsweise wurde problemorientiertes Lernen als Form des entdeckenden und interdisziplinären Lernens bereits 1976 an der Medizinischen Fakultät der Universität Maastricht, in den letzten Jahren auch an Hochschulen wie der Universität Bochum oder der Charité Berlin im Bereich Medizin eingeführt. Konzepte liegen auf dem Tisch, allein der politische Wille, sie umzusetzen, fehlt bislang. Die SPD will laut Regierungsprogramm mehr Ganztagsschulen schaffen, die es ermöglichen, Schule nicht nur als Unterricht, sondern auch als Ort sozialen Zusammenlebens, der Förderung eigener Schwerpunkte und der Gestaltung von Freizeit durch breite Angebote zu fördern. Außerdem legt sie einen Schwerpunkt auf gute Lehre: Sie will 21

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Ausführliche Gedanken dazu finden sich im Buch „Lernen neu lernen: Alternativen zur Ökonomisierung“ von Marie-Christine Reinert und Kerstin Rothe.


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im Bereich der Lehre an Hochschulen den Qualitätspakt Lehre deutlich stärken.

sion von guter Bildung, eine Vision einer gerechten Gesellschaft.

Ein gutes Bildungssystem versetzt junge Menschen in die Lage, ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen zu lernen und sich einen Überblick über Möglichkeiten zur weiteren (Aus-)Bildung zu verschaffen. Es soll Schüler/-innen ermutigen, ihren Weg zu gehen, ihren Interessen zu folgen, und gleichzeitig aber auch (finanzielle) Sicherheit geben und die entsprechenden Kapazitäten zur Verfügung stellen. Berufliche wie akademische Bildung bieten auf ihre Art verschiedene Qualifikationen, die gleichwertig nebeneinander stehen. Alleine auch aus dieser Logik heraus muss uneingeschränkte Durchlässigkeit bestehen! Lebenslanges Lernen, wie es nicht erst seit der Bologna-Reform immer wieder propagiert wird, kann nicht bedeuten, dass irgendwann eine künstliche Grenze der weiteren Qualifikation erreicht ist. Vielmehr muss es bedeuten, dass es jederzeit möglich ist, sich weiter zu bilden, egal ob im beruflichen oder akademischen Feld. Das muss auch für Kevin gelten! Und für Mandy! Und für Marie!

In einigen Bereichen findet eine Öffnung statt: Das Verständnis von inklusiver Bildung nimmt zu, auch wenn die Mittel und Maßnahmen zur Umsetzung noch immer zu wünschen übrig lassen. Außerdem studieren so viele junge Menschen wie nie zuvor; erstmals wurde im Wintersemester 2011/2012 die halbe Millionen-Grenze geknackt.

Studien wie PISA, das Engagement der Bildungsstreikbewegung der letzten Jahre und nicht zuletzt auch die Diskussion um die Schulzeitverkürzung von Gymnasien auf 8 Jahre haben in den letzten Jahren verschiedene und unterschiedlich zu bewertende punktuelle Reformen zur Folge gehabt. Doch was ausbleibt, ist eine breite Diskussion darüber, was für uns eigentlich ein gutes Bildungssystem ist. Welche Idee von Bildung, welche Ziele wir verfolgen und welche Aufgaben ein Bildungssystem in unserer Gesellschaft übernehmen sollte. Was wir brauchen ist eine Vision. Eine Vi-

In einem sozialdemokratischen Verständnis muss Bildung die höchste Priorität eingeräumt und Chancengleichheit im Bildungssystem endlich geschaffen werden. „Aufstieg durch Bildung“ forderte die SPD unter Willy Brandt – und schaffte die Öffnung des Bildungssystems. Dazu gehörte vor allem eins: Mut! Das Regierungsprogramm zur Bundestagswahl zeigt viele gute Punkte auf, die ein gerechteres Bildungssystem schaffen können: Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule, mehr Durchlässigkeit, mehr Ganztagsschulen, inklusive Bildung und eine Ausbildungsplatzgarantie, ein starkes BAföG für Schüler/-innen und Studierende – all das sind viele gute Forderungen, die Voraussetzungen für mehr soziale Gerechtigkeit sind. Es braucht vor allem Mut, um diese Forderungen wirklich umzusetzen – und noch weiter zu gehen. Schwarz-Gelb hat in den letzten Jahren das Gegenteil bewiesen. Die Bundesregierung hat keine Antworten auf die sozialen Fragen, keine Vision, das Bildungssystem weiterzuentwickeln, und ein elitäres Gesellschaftsbild, das sich mit gleichen Bildungschancen für alle nicht vereinen lässt. Deshalb ist es an der Zeit, diese Regierung abzuwählen. Damit alle können dürfen. l

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Literatur Beisenkamp, Anja et al. (2012). Elefanten-Kindergesundheitsstudie 2011. Im Internet verfügbar: https://dl.dropbox.com/u/13038373/ ELEFANTEN/ElefantenKindergesundheitsstudie%202012.pdf. Dombrowski, Rosine, Solga, Heike (2009). Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung, Online verfügbar: http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf [10.07.2013]. Kaiser, Astrid. Vornamensstudie, im Internet http://astrid-kaiser.de/forschung/projekte/ vornamensstudien.php [10.07.2013]. Middendorff, Elke et al. (2013). Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung. Bonn/Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. OECD (2013), Education at a Glance 2013: OECD Indicators. OECD Publishing. im Internet verfügbar: http://dx.doi.org/10.1787/eag-2013-en Reinert, Marie-Christine, Rothe, Kerstin (2011). Lernen neu lernen: Alternativen zur Ökonomisierung. Berlin: Vorwärts.

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