NOIR - Ausgabe 22: Straße der Freiheit - wo endet unser Horizont?

Page 5

KULTUR

BLUTTROPFEN UND LACHTRÄNEN Wissenschaft ist trocken, öde und langweilig, könnte man meinen. Nicht so beim Science Slam: Da wird sogar der zweibeinige Präsenzmelder zur Showeinlage. Text: Silke Brüggemann | Layout: Pascal Götz

I

m Roxy in Ulm erklingt an diesem Abend die Titelmelodie der Kindersendung Löwenzahn. Dabei ist das Publikum eigentlich aus dem Alter herausgewachsen. Wir sind beim Science Slam. Hier treten Wissenschaftler gegeneinander an und erklären ihr Spezialgebiet auf lockere Art. »Hallo, ich bin der Falko und erzähle euch etwas über Nanotechnologie«, beginnt Falko Brinkmann. Er hat ein Verfahren entwickelt, das Bluttests mit nur einem Bluttropfen ermöglicht. Nach seinem Vortrag wirft der Slammer einen Eimer voller PapierBluttropfen ins Publikum. Beim Science Slam hat jeder Redner zehn Minuten Zeit, um ein selbst erarbeitetes wissenschaftliches Thema zu präsentieren. Mit Fachjargon und steifen Vorträgen ist hier niemandem geholfen. Der Vortrag soll so lustig und anschaulich wie möglich sein. Das Publikum muss nämlich hinterher eine Detailfrage beantworten können, um Kino-Karten und Gummibärchen zu ergattern. Im Laufe des Abends verschwindet jedes Vorurteil über den grauen, ausschließlich theoretisch denkenden Wissenschaftler. Was bleibt, sind die vielen Ahas und Witze, die aus einem Science Slam eine abwechslungsreiche Comedy-Show machen. Vor Überraschungen ist man nie gefeit: Ingenieur Rakesh Kasturi verbindet Physik mit Kochen und erklärt, dass die perfekten Pommes »außen eine Blondine und innen weich wie ein Plüschtier sind«. Mathematiker Martin Becker verbindet Mathematik mit einer Abenteuergeschichte à la Indiana Jones. Peter Knoll, Spezialist für Gebäudeoptimierung, verzichtet als Einziger auf Powerpoint-Bildchen und erzählt eine span-

nende Geschichte über die Abgründe intelligenter Gebäude und die Dummheit ihrer Benutzer. Diese »zweifüßigen Präsenzmelder« können beim pflichtbewussten Ausschalten von Lichtern ganze Versuche zunichte machen. Nach sechs Vorträgen kommt die Stunde der Wahrheit: Das Publikum muss den Gewinner bestimmen. Wer den lautesten Beifall bekommt, gewinnt. Es ist extrem schwierig, das Publikum einzuschätzen«, findet Klaus Schmeh, Informatiker und Experte für Kryptographie. Er forscht über das Voynich-Manuskript, ein 500 Jahre altes Buch, das in einer unbekannten Schrift geschrieben wurde. Genau diese Spannung, sich jedes Mal einem neuen Laienpublikum auszusetzen, ist es, was Schmeh an Science Slams liebt. Das Publikum klatscht, jubelt, stampft und lacht Tränen. Man kann den Gewinner mit bloßem Ohr kaum heraushören. Aber bei Jens Nickels war es laut Computerauswertung am lautesten. Der Medieninformatik-Student aus Ulm hat während seiner Bachelorarbeit eine Sicherheitslücke bei Google entdeckt, bei der jeder AndroidSmartphone-Besitzer zur Zielscheibe von Datendieben werden konnte. Diesen Abend hat Nickels seine Betreuer auf die Bühne geschleppt und mit ihnen eine Love-Story erzählt mit verteilten Rollen, selbst gebastelten Requisiten und absurden Sprüchen wie »Angreifer haben immer Hüte auf«. An diesem Abend werden die Zuschauer nach Hause gehen und wissen, was ein »zweibeiniger Präsenzmelder« ist und dass man nie ahnt, was ein Science Slam am Ende offenbart.

NOIR Nr. 22 (Se ptember 2 011)

110818_Layout_JZ.indd 3

3 28.08.11 17:45


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.