Report "30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima"

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FOLGEN VON TSCHERNOBYL UND FUKUSHIMA

ihnen wegen Metastasen, andere wegen gefährlich großem Wachstum oder der Nähe des Tumors zu lebenswichtigen Organstrukturen.11 Die Gesamtzahl von Kindern mit bestätigten Schilddrüsenkrebsdiagnosen liegt somit mittlerweile bei 116 (Stand Februar 2016). Ihre Schilddrüsen mussten operativ entfernt werden. Bei 50 weiteren Kindern besteht der akute Verdacht auf ein Schilddrüsenkarzinom. Sie warten noch auf eine Operation. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Schilddrüsenkrebs zwar prinzipiell zu den malignen Erkrankungen mit einer guten Prognose gehört, eine Krebserkrankung jedoch unabhängig von der Prognose für die betroffenen Patienten und ihre Familien stets einen schweren Schicksalsschlag darstellt. Nach einer Operation, die natürlich auch mit gewissen Risiken einhergeht, sind lebenslange Nachkontrollen sowie die dauerhafte Einnahme von Schilddrüsenhormonen notwendig, verbunden mit regelmäßigen Arztbesuchen, Blutabnahmen sowie klinischen und sonographischen Untersuchungen. Auch besteht das Risiko eines erneuten Tumorwachstums im Sinne eines Rezidivs. Eine Bagatellisierung der Schilddrüsenkrebsfälle ist also keinesfalls gerechtfertigt. Besonders besorgniserregend ist bei der Betrachtung der bisherigen Ergebnisse der Hauptuntersuchung die Tatsache, dass die Krebserkrankung bei mindestens 16 Kindern im Zeitraum zwischen der Erst- und der Zweituntersuchung auftrat. Auch die Anzahl der anderen pathologischen Schilddrüsenbefunde nahm im Verlauf zu: Während im Erstscreening die Rate an Knoten und Zysten in der Schilddrüse noch bei 48,5% lag, fand man solche Veränderungen in der Nachuntersuchung bei 59,3% der Kinder. Das bedeutet, dass bei 36.408 Kindern, bei denen im ersten Screening noch gar keine Schilddrüsenanomalien gefunden wurden, nun Zysten oder Knoten festgestellt wurden – bei 348 von ihnen sogar so große, dass eine weitere Abklärung dringend notwendig wurde. Zusätzlich wurde bei 782 Kindern mit kleinen Zysten oder Knoten im Erst-Screening in der Nachuntersuchung ein so rasches Wachstum festgestellt, dass weitergehende Diagnostik eingeleitet werden musste. Die Familien dieser Kinder müssen fortan mit der Sorge leben, dass bei ihren Kind in einigen Jahren eine Krebserkrankung festgestellt wird, machen sich Vorwürfe und fragen, weshalb nicht mehr zum Schutz ihrer Kinder getan wurde, bzw. wird. Anhand der Daten der Hauptuntersuchung sollte eine Berechnung der Inzidenz, also der jährlichen Neuerkrankungsrate, nun möglich sein. Leider werden viele Daten bezüglich der neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebsfälle von den Behörden zurückgehalten, so dass nicht bekannt ist, welcher Abstand zwischen

11  Fukushima Medical University. „The 22nd Prefectural Oversight Committee Meeting for Fukushima Health Management Survey“. 15.02.16. http://fmu-global.jp/survey/proceedings-of-the-22nd-prefectural-oversightcommittee-meeting-for-fukushima-health-management-survey

Erst- und Zweitscreening lagen. Geht man davon aus, dass zwischen den beiden Untersuchungen wie vorgesehen 2 Jahre liegen, dann ist von einer jährlichen Inzidenz von derzeit 3,6 neuen Fällen pro Jahr pro 100.000 Kinder auszugehen. Zur Erinnerung: die jährliche Inzidenz für Schilddrüsenkrebs bei Kindern lag in Japan vor den Kernschmelzen von Fukushima bei 0,35 pro 100.000. Dieser Anstieg in der Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern um mehr als das Zehnfache lässt sich nicht mehr mit einem sogenannten „Screening-Effekt“ begründen.

4. 3.  Prognosen Gleichzeitig legt die Zahl der bislang noch nicht untersuchten Kinder nahe, dass über die jährliche Inzidenz hinaus noch mit einem weiteren Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle zu rechnen ist. Mehr als 67.000 strahlenexponierte Kinder aus der Präfektur Fukushima wurden erst gar nicht in die Untersuchung eingeschlossen, mehr als 160.000 Kinder warten weiterhin auf ihre Zweituntersuchung. Eine weitere besorgniserregende Tatsache ist, dass außerhalb der Präfektur Fukushima Kinder erst gar nicht untersucht wurden – obwohl bekannt ist, dass der radioaktive Niederschlag mit Jod-131 bis in die nördlichen Stadtteile von Tokio reichte und Hunderttausende weiterer Kinder in den Tagen und Wochen nach Begin n der Atomkatastrophe von erhöhten Strahlenwerten betroffen waren. Ohne Reihenuntersuchungen werden die zusätzlichen Krebsfälle, die in dieser Bevölkerung zu erwarten sind, nie mit der gefährlichen Strahlung in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden können und Krebsfälle evtl. zu spät entdeckt werden. Besonders bedrückend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Behörden die betroffene Bevölkerung wider besseres Wissen nicht durch die Vergabe von Jodtabletten vor den schädlichen Wirkungen des Jod-131 schützten. Die unabhängige Untersuchungskommission des japanischen Parlaments hält in ihrem offiziellen Bericht fest: „Obwohl der positive Effekt einer rechtzeitigen Verabreichung von Jodtabletten vollständig bekannt war, waren die Kommandozentrale für nukleare Notfälle und die Regierung der Präfektur nicht in der Lage, die Öffentlichkeit richtig zu beraten.“12 Schwer verständlich ist auch die Tatsache, dass die japanische Regierung die zulässige Höchstgrenze für die Strahlenexposition von Kindern am 19. April 2011 auf 3,8 μSv pro Stunde anhob (entsprechend 20 mSv pro Jahr bei einer durchschnittlichen Exposition von 14 Stunden am Tag).13 Erst nach Protesten von Elternorganisationen, WissenschaftlerInnen und ÄrztInnen hob die Regierung die neuen Richtlinien am 27. Mai 2011 wieder auf und kehrte

12  The National Diet of Japan. „The official report of The Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission of the National Diet of Japan“. 05.07.12. http://www.nirs.org/fukushima/naiic_report.pdf 13  MEXT. „Notification of interim policy regarding decisions on whether to utilize school buildings and outdoor areas within Fukushima Prefecture“. 19.04.11. www.mext.go.jp/english/incident/1306613.htm 71


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