IPPNW-forum 158/2019 – Die Zeitschrift der IPPNW

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ippnw forum

das magazin der ippnw nr158 juni 2019 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Foto: © Lasse Lecklin

- Kampagne: Killerroboter stoppen - Gaza: Krieg gegen die Zivilbevölkerung - Fukushima 2020: Radioaktive Olympiade

Radioaktivität kennt keine Grenzen – Europa braucht den Atomausstieg


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Si e w o llen a uf d e m Mit In L au fe fo s r u nden n d um Fukus bleibe d e n Su hima, n? per- G zu den ak tive A U von Gesun r Str a dheits hlung w elt w folgen un d z eit v e radio u m A to rsorg t N e w sl m aus sti Si e d e et ter. eg r Ato m Er e r s jeweil ene r g cheint s am i e alle z w 15. de D a nn ei M o n s Mon b e s te l a a t ts. Int e l e n Si un t e r e r e s si e den ip p nw e r t N ? e w sle t t .de / bi er t /n ew s

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EDITORIAL

Grafik: @makrovektor / Freepik.com (geändert)

Sabine Farrouh verabschiedet sich aus dem Vorstand der deutschen IPPNW.

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ie Atomenergie ist in Europa noch nicht im letzten Kapitel angekommen. Denn obwohl mehrere Atomkonzerne vor der Pleite stehen und einige Regierungen den Ausstieg bereits beschlossen haben, möchten sich viele Staaten eine Hintertür zur Atomwaffentechnologie offenhalten.

Welche Länder steigen derzeit aus, welche planen oder bauen neue Reaktoren? Alex Rosen gibt einen Überblick über die Atomindustrie in den europäischen Ländern. Angelika Claußen schreibt über die Verstrickungen von militärischer und ziviler Atomindustrie. Am Beispiel des internationalen Atomkonzerns URENCO macht sie deutlich: Die Atomwaffenindustrie braucht die zivile Atomkraft. Das illustriert auch das Beispiel Großbritannien: Wie Ian Fairlie berichtet, versuchen Regierung und Konzerne hier, überalterte zivile Projekte abzustoßen, halten aber an Neuentwicklungen wie den kleinen Modularen Reaktoren oder dem Druckwasserreaktor Hinkley Point C fest. Claudio Knüsli von der IPPNW Schweiz findet es besorgniserregend, dass dortige Politiker*innen trotz Ausstiegsbeschluss immer wieder die Option neuer AKWs ins Spiel bringen. In Belgien, das auch zu den Atomausstiegskandidaten gehört, wird die Abschaltung der maroden Reaktoren in Tihange und Doel bis jetzt auch noch hinausgeschoben. Doch der Widerstand in der Region ist stark, wie Odette Klepper berichtet.

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ieses ist mein letztes Editorial als Verantwortliche für das IPPNW-Forum. Vor zehn Jahren, als Winfrid Eisenberg aus dem Vorstand ausschied, war ich plötzlich verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und für dieses Magazin. All die Veränderungen, Angelika Wilmens Hineinwachsen von der Verantwortlichen fürs Forum zur Pressesprecherin und ÖA-Referentin, den Relaunch des Forums und der Webseite, die Wechsel der „Frauen an Angelikas Seite“ und auch manchen Ärger haben wir gemeinsam gemeistert. Und auch so gemeistert, dass die Arbeit immer Freude gemacht hat, eine große Nähe und Vertrautheit entstanden ist. Das wird mir fehlen. Ich möchte mich hiermit bei allen – unseren Mitarbeiter*innen, bei allen Autor*innen und auch den Leser*innen – sehr herzlich bedanken. Ihr habt es geschafft, dass ich mit großer Wehmut aus der Redaktion ausscheide. Eure Sabine Farrouh 3


INHALT Brasilien: Demokratie in Gefahr

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THEMEN Brasilien: Demokratie in Gefahr...................................................................8 Israel/Palästina: Krieg gegen die Zivilbevölkerung.........................10 Manipulierte Wahlen in der Türkei ........................................................ 12 Weltweiter Widerstand gegen Killer-Roboter

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Esdras Beleza / CC BY-ND 2.0

Muss die NATO eine nukleare Allianz sein?.......................................15 Trauma: Lernen und arbeiten trotz Belastungen...............................16 Zum Umgang mit Digitalisierung und „Big Data“.......................... 18 Fukushima: Angriffe auf die Schilddrüsenkrebsstudie............... 19

Atomenergie: Europa steigt aus – oder?

SCHWERPUNKT

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Radioaktivität kennt keine Grenzen....................................................... 20 Europa steigt aus – oder?............................................................................. 22 Die militärischen Verstrickungen der URENCO............................... 25 Großbritannien: Geht die Atomenergie den Bach runter?......... 27 Schweiz: Atomausstieg mit Hindernissen........................................... 28 Belgien: Diskussion wird verweigert....................................................... 29

WELT

NATO: Nukleare Allianz von Anfang an?

Radioactive Olympics: Startschuss für die Kampagne .............. 30

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RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4


MEINUNG

Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der IPPNW.

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Je weiter man zurückblickt und die weltpolitischen Ereignisse einzuordnen versucht, desto klarer erblickt man den roten Faden, der sich durch sämtliche beinahe epochalen US-Kriege in den letzten drei Jahrzehnten zieht.

abei sind zwei sich ergänzende Ziele erkennbar: Erstens die Zerschlagung von großen Staaten wie Jugoslawien, die sich auf dem Eurasischen Korridor mit Russland verbünden könnten. Und zweitens Regime Change und/oder Zerschlagung von großen Staaten mit bedeutenden Ölreichtümern, die potentiell eine echte Gefahr für die Stellung des Dollars als Weltwährung darstellen könnten. Nie zuvor ist der Weltöffentlichkeit so übel aufgestoßen, welchen wirkungsmächtigen Hebel der Dollar als Weltgeld für die einzig verbliebene Supermacht darstellt, um den Rest der Welt durch Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen zu können. Über 80 Prozent des Welthandels werden über Dollar abgewickelt. Und der Dollar hat nachweislich deshalb die gegenwärtige beinahe unerschütterliche Monopolposition inne, weil der gesamte Ölhandel auf dem Weltmarkt an diese Währung gekoppelt ist. Gelänge es einem Bündnis von US-kritischen Ölstaaten, sich für die Abwicklung ihrer Ölexporte in Euro oder in Renminbi zu entscheiden, würde die wichtigste Machtsäule der USA wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.* Dies ist der Hauptgrund für Regime Changes in den missliebigen Ölstaaten oder gar für deren Zerschlagung. Vor unseren Augen betreiben die USA gegenwärtig zielstrebig und unverhohlen einen Regime Change in Venezuela und sind dabei, die Weltgemeinschaft systematisch und mit allen propagandistischen Mitteln auf einen heißen Krieg gegen Iran einzustimmen. Der Hauptprofiteur des amerikanischen Dollarimperialismus ist neben dem US-Finanz- und Energiesektor der US-militärindustrielle Komplex. Im Falle Iran geht es nicht nur um Regime Change, sondern auch um die Zerstückelung des Landes. Davon profitieren auch Israel und Saudi-Arabien, weshalb sie bereit sind, einen US-Krieg gegen Iran politisch, finanziell und logistisch uneingeschränkt zu unterstützen. Israels Stärke beruht auf seinem Monopol als einziger Atommacht in der Region und der Schwäche der arabisch-islamischen Staaten durch ihre Zersplitterung. Saudi-Arabien würde bei einer Zerstückelung Irans auf Dauer zur regionalen Supermacht aufsteigen. * Vgl. Mohssen Massarrat (2017): Braucht die Welt den Finanzsektor? 5


N ACHRICHTEN

Clara Tempel aus der Haft entlassen

Bundestag verabschiedet Antrag gegen BDS-Bewegung

Umfrage: Deutsche sind gegen neue Atombomber

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ie Abrüstungsaktivistin Clara Tempel wurde am 28. März 2019 nach einer Woche Haft aus dem Frauengefängnis Hildesheim entlassen. Tempel hatte am 12. September 2016 gemeinsam mit weiteren Aktivist*innen die Startbahn des Atomwaffenstandortes in Büchel blockiert. Dafür war sie in mehreren Instanzen wegen Hausfriedensbruchs zu 30 Tagen Geldstrafe verurteilt worden. Tempel weigerte sich, die Geldstrafe komplett zu zahlen. Sie entschied sich, für die letzten sieben Tagessätze ins Gefängnis zu gehen. Trotz der internationalen Ächtung von Atomwaffen durch 122 Staaten halte Deutschland weiter an diesen Massenvernichtungswaffen fest. „Alle reden über Zivilcourage. Doch bei schweren Völkerrechtsverstößen, da handelt niemand und alle weisen die Verantwortung weit von sich“, so Tempel. Durch die Blockade der Startbahn sowie der Zufahrten zum Fliegerhorst Büchel konnten keine Tornados starten und mehrere hundert Angestellte der Bundeswehr ihre Arbeit nicht aufnehmen. Mit der Entscheidung, ins Gefängnis zu gehen, möchte Tempel ein Zeichen setzen. „Ich denke, dass der Weg zu einer besseren Welt in unserer Gesellschaft zum Teil durch die Gefängnisse führen muss […] da – meiner Meinung nach legitimer – Protest und Widerstand in unserer Gesellschaft illegalisiert und kriminalisiert wird.“ In Büchel lagern aktuell etwa 20 Atombomben, die im Ernstfall von deutschen Piloten geflogen werden sollen.

it großer Mehrheit hat der Bundestag am 17. Mai 2019 einen Beschluss gegen die Boykottbewegung BDS verabschiedet. BDS-Unterstützergruppen sollen demnach kein Geld mehr aus Bundesmitteln erhalten. „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch“, hieß es zur Begründung des gemeinsamen Antrag von Union, SPD, FDP und Grünen. Die IPPNW hatte zuvor an die Abgeordneten appelliert, dem Antrag nicht zuzustimmen. Die ärztliche Friedensorganisation hält eine pauschale Einstufung der BDS als „antisemitisch“ für nicht nachvollziehbar. Der Antrag verhindere einen Diskurs über Menschenrechte, die anhaltende Verletzung von Völkerrecht und mögliche Lösungen. In einem offenen Brief anlässlich von „70 Jahren Grundgesetz“ an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages warnten Friedens- und Menschenrechtsorganisationen zudem vor der Gefährdung des Rechts auf Meinungsfreiheit. In Deutschland werde das Recht, sich frei zu äußern, im Bereich Israel/Palästina zunehmend eingeschränkt. Die BDS-Bewegung verlangt ein Ende der Besatzung, die Gleichberechtigung arabisch-palästinensischer Bürger*innen Israels und ein Recht auf Rückkehr für palästinensische Flüchtlinge und deren Nachkommen. Eine unterstellte Unterstützung der BDS-Bewegung hat bereits mehrfach zu Diffamierungen, Ausgrenzung und Dialogverweigerung geführt.

ie deutliche Mehrheit der Deutschen lehnt den Kauf neuer Atombomber ab. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom 24. April 2019, für die mehr als 2.000 Personen befragt wurden. 61 Prozent der Befragten lehnen den Kauf ab, nur 18 Prozent befürworten die Ausgaben für atomwaffenfähige Kampfjets, 21 Prozent haben keine Meinung. Die Umfrage wurde von ICAN in Auftrag gegeben. Derzeit diskutiert die Bundesregierung die Anschaffung neuer Kampfjets, welche mit speziellen Fähigkeiten zum Abwurf von US-Atomwaffen ausgestattet sind, da die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen in den nächsten fünf Jahren mit neuen ersetzt werden sollen. Die aktuellen deutschen Trägersysteme (Tornado-Kampfjets) müssten dann ebenfalls ersetzt werden. „Die Meinungsumfrage ist eine deutliche Absage an die Pläne der Bundesregierung, neue Kampfjets für Atomwaffen anzuschaffen. Statt damit weiter an der nuklearen Abschreckung teilzunehmen, sollte sich Deutschland auf den fraktionsübergreifenden Bundestagsbeschluss von 2010 besinnen und sich aktiv für den Abzug der US-Waffen einsetzen“, so Xanthe Hall, Vorstandsmitglied von ICAN Deutschland. Um den Kauf der neuen Kampfjets zu verhindern, hat ICAN eine Online-Kampagne „Atombomber? Nein danke!“ gestartet. Die Online-Aktion finden Sie unter: http://atombomber-nein-danke.de

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N ACHRICHTEN

Bundesregierung präsentiert Atomenergie als „Klima-Lösung“

Unter 18 nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr

Aachener Friedenspreis geht in die Eifel

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eim Ausschuss zur Vorbereitung der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags (NPT PrepCom) in New York präsentierte die Bundesregierung gemeinsam mit elf anderen Staaten ein Arbeitspapier mit dem Titel „Förderung der friedlichen Nutzung der Nukleartechnologie: ein Instrument zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung“. Darin schlägt sie vor, Atomenergie als Lösung für den Klimawandel und zur Stillung des Energiebedarfs der Entwicklungsstaaten einzusetzen. Die IPPNW kritisierte, dass sich die Bundesregierung damit nicht nur gegen ihren eigenen Beschluss zum Atomausstieg stelle, sondern auch gegen den Wunsch der absoluten Mehrheit (76 Prozent) der Bevölkerung, die die Gefahren der Atomtechnologie nicht länger hinnehmen wollen. Wider besseres Wissen würden in Deutschland marode Atomkraftwerke noch mindestens drei Jahre lang weiterbetrieben, die eine anhaltende Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen. Der Vorsitzende der deutschen Sektion der IPPNW, Dr. Alex Rosen hierzu: „Statt in New York über die vermeintlichen Vorteile von Atomenergie zu schwadronieren, sollte sich die Bundesregierung lieber der Diskussion hier in Deutschland stellen, wie der Atomausstieg konsequenter und schneller vollzogen werden kann – inklusive einer Beendigung der Urananreicherung und Brennstabfertigung sowie der Einstellung aller Forschung an neuen Atomreaktoren.“

nlässlich des Girls‘ Day am 27. März 2019 hat ein neues Bündnis mehrerer Organisationen die Werbung der Streitkräfte bei Schülerinnen für den Beruf der Soldatin und die Rekrutierung Minderjähriger in Deutschland scharf kritisiert. 2018 hat die Bundeswehr 1.679 minderjährige Soldat*innen eingestellt, darunter 313 Mädchen. Dagegen protestiert die Kampagne „Unter 18 nie! Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“, in der sich dreizehn Friedens-, Kinderrechts-, Bildungs- und kirchliche Organisationen zusammengeschlossen haben – darunter auch die IPPNW. Acht Kultusministerien haben mit der Bundeswehr eine Kooperationsvereinbarung abgeschlossen, die den Zugang von Jugendoffizieren in den Unterricht, in Ausbildungsveranstaltungen von Lehrkräften oder exklusive Informationsmöglichkeiten für die Bundeswehr regeln. Die Jugendoffiziere der Bundeswehr haben 2017 mehr als 122.000 Schülerinnen und Schüler erreicht. Weitere über 111.000 Schüler*innen haben über Beratung und Vorträge von Karriereberatern Kontakt zur Bundeswehr gehabt. Der Etat für die Nachwuchswerbung der Bundeswehr lag 2017 bei 35,2 Millionen Euro. Allein für die Produktion und Bewerbung der Youtube-Serie „Mali“ hat das Verteidigungsministerium 6,5 Millionen Euro ausgegeben. Mehr unter: https://unter18nie.de

er Aachener Friedenspreis geht in diesem Jahr an den „Initiativkreis gegen Atomwaffen“ und die Kampagne „Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt!“. Der Verein „Aachener Friedenspreis“ will mit der Preisvergabe das öffentliche Interesse für die in Deutschland stationierten US-amerikanischen Atomwaffen wecken. Das Thema sei mit der Aufkündigung des Vertrages zur atomaren Abrüstung zwischen den USA und Russland drängender denn je. Der Verein befürchtet wie viele andere ein neues Wettrüsten und eine mögliche Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Verleihung des Preises findet am 1. September, dem internationalen Antikriegstag, statt. Der Preis sollte zunächst auch an den ukrainischen Pazifisten Rusland Kotsaba verliehen werden – für sein Engagement für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts. Der Vorstand des Aachener Friedenspreis entschied sich allerdings nach Vorwürfen wegen antisemitischer Äußerungen in einem Video aus dem Jahr 2011 gegen eine Preisverleihung an Kotsaba. Mit diesen Vorwürfen konfrontiert, erklärte der Journalist, er bedauere heute, die Aussage gemacht zu haben, und bitte diejenigen, die sich dadurch verletzt fühlten, um Verzeihung. Die Entscheidung des Vorstandes des Aachener Friedenspreises muss eine für den 14. Juni 2019 einberufene Mitgliederversammlung noch bestätigen. Weitere Information: www.aachener-friedenspreis.de

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FRIEDEN

Brasilien: Demokratie in Gefahr Ultrarechte Regierung befördert soziale Spaltung und Gewalt

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m November 2018 haben die Brasilianerinnen und Brasilianer den ultrarechten Abgeordneten und Hauptmann der Reserve Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten gewählt. Diese Wahl ist vor allem eine Antwort auf die allgemeine Unzufriedenheit mit der politischen Ordnung, die nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 begründetet wurde. Die Opposition ist nicht nur durch ihre Wahlniederlage gehemmt, sondern auch durch ihre Unfähigkeit, einen alternativen Gesellschaftsentwurf zum Bolsonarismo zu präsentieren und die Basis für eine neue progressive Wende zu bilden. Drohgebärden gegenüber der Presse und die unverhohlene Verteidigung der Diktatur waren von Anfang an zentraler Bestandteil der Rhetorik Bolsonaros. Angesichts dessen ist es verwunderlich, dass er nahezu 58 Millionen Stimmen auf sich vereinen konnte. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Latinobarómetro ist Brasilien das lateinamerikanische Land mit der geringsten Zustimmung zur Demokratie. Die Direktorin Marta Lagos bezeichnete das Jahr 2018 daher als „annus horribilis“. Laut eines Berichts der Nationalen Wahrheitskommission für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur wurden zwischen 1946 und 1988 434 Politiker*innen entführt oder ermordet. Mindestens 8.350 Indigene kamen durch Massaker, Landraub, Zwangsumsiedelungen, Infektionskrankheiten, Inhaftierung und Folter ums Leben. Über 50.000 Menschen wurden inhaftiert und

10.000 zur Flucht ins Exil gezwungen. Während seiner Karriere hat Bolsonaro die brutalsten Methoden dieser Diktatur immer wieder verteidigt. So sagte er etwa 2016 in einem Interview: „Der Fehler der Diktatur war, dass nur gefoltert und nicht getötet wurde“. In Hinblick auf den Umgang mit der Arbeiterpartei PT kündigte er im Wahlkampf im Frühjahr 2018 an: „Wir werden die Unterstützer der PT erschießen lassen“. Später hieß es, es habe sich um einen Witz gehandelt. Aber dass Bolsonaros Clan wahrscheinlich auch heute mit paramilitärischen Gruppen verstrickt ist, kam jüngst durch die Ermittlungen im Fall der Ermordung der Menschenrechtsaktivistin und Lokalpolitikerin Marielle Franco zu Tage, die im März 2018 in Rio de Janeiro auf offener Straße von einem Hinrichtungskommando erschossen worden war. In den Ermittlungen tauchen nun nahe Familienangehörige von Bolsonaro mit direkten Verbindungen zu den Tatverdächtigten auf. Sie sind selbst Mitglieder paramilitärischer Gruppen aus ehemaligen und aktiven Polizei- und Militärangehörigen, die Rio de Janeiro zu großen Teilen kontrollieren.

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ie Unzufriedenheit, durch die die extreme Rechte an die Macht gekommen ist, bringt den Verfall der brasilianischen Republik zum Ausdruck. Die zunehmende Ausrichtung der brasilianischen Wirtschaft auf Rohstoffexporte führte in den 2000er Jahren dazu, dass Agrarindustrie und Rohstoffsektor überproportional viel politischen Einfluss erlangten – verkörpert vor allem durch die Allianz „Ruralista“ im Kongress – während Zivilgesellschaft und 8

Arbeiter*innenbewegung zunehmend geschwächt wurden. Auch die Armutsrate stieg in Brasilien, einem der ungleichsten Länder der Welt, von 17,9 Prozent 2014 auf 21 Prozent im Jahr 2017 an. Die Polizeigewalt, deren Opfer vor allem junge schwarze Favelabewohner*innen sind, hat dramatisch zugenommen. In den Städten haben Deindustrialisierung und unreguliertes Wachstum zu einer Zunahme von physischer, sozialer und ökonomischer Unsicherheit geführt. Ohne Investitionen in die städtische Infrastruktur werden die Städte zunehmend ineffizient. Vor diesem Hintergrund war es möglich, dass das inklusive Projekt der neuen Republik – mit seinen zwar kleinen, aber unbestreitbar vorhandenen sozialen Gewinnen – von der Restauration verdrängt wurde. Auch die Ureinwohner*innen Brasiliens sehen ihren Lebensraum durch die Politik des Präsidenten bedroht. Dieser plant, den Schutz von Amazonas-Gebieten zu lockern und mehr Landwirtschaft und Abholzung zu erlauben. Der Bau von Wasserkraftanlagen in der Region befördert billige Energie für Bergbauunternehmen; Sojabohnen-Plantagen und die industrielle Aufzucht von Schweinen, Rindern und Geflügel bedienen die chinesische Nachfrage. Die 238 indigenen Stämme Brasiliens, die jahrhundertelanger brutaler Kolonisierung widerstanden, erleben derzeit eine wachsende Reihe von Angriffen auf ihr Leben und ihre Rechte: Die Guarani-Kaiowá werden systematisch von Bewaffneten attackiert, die von Farmern angeheuert wurden, um sie von ihrem Land


FRAUEN GEGEN BOLSONARO: DEMONSTRATION IM SEPTEMBER 2018 IN WESTMINSTER, Esdras Beleza / CC BY-ND 2.0

zu vertreiben. Das Gebiet der Yanomami, das größte indigen besiedelte Wald-Reservat der Welt, ist derzeit die Zielschreibe der Investition von Bergbauunternehmen. In den vergangenen 15 Jahren wurden in Brasilien weltweit am meisten Umweltund Landrechtsaktivisten ermordet – Indigene waren dabei besonders gefährdet. Im Mai 2018 veröffentlichten 19 Organisationen von Landarbeiter*innen, Indigenen, Quilombolas (Nachkommen afro-brasilianischer Sklaven) und Menschenrechtsvertreter*innen einen offenen Brief, der die Strafffreiheit von Menschenrechtsverletzungen anprangerte: „Der Staat leistet nicht nur Beihilfe, er ist treibende Kraft beim Schüren der Gewalt, sowohl durch Regierungsprogramme, die die Akkumulation von Land und Wohlstand fördern, als auch durch die Legislative, die errungene Arbeitnehmerrechte beschneidet und die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und ihre Verteidiger*innen kriminalisiert.“ Mit drastischen Sparmaßnahmen von 21 Prozent in fast allen Ressorts hat Wirtschaftsminister Paulo Guedes die Regierung eingeleitet. Das Gesundheitsressort blieb als eines der wenigen von weiteren Kürzungen verschont. Doch unterliegen die öffentlichen Ausgaben seit 2016 einer Obergrenze, die das Wachstum für die nächsten 20 Jahre einschränkt und das Gesundheitsbudget damit quasi einfriert.

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ine kürzlich erschienene wissenschaftliche Studie von Davide Rasella von der Universität Bahia hat die Auswirkungen dieser Austeritätsmaßnahme auf das Fami-

liengesundheitsprogramm prognostiziert, welches für die Senkung der Kindersterblichkeit und der Zahl der Krankenhauseinweisungen verantwortlich ist. Demnach könnte die Kindersterblichkeit durch die Ausgabensperre bis 2030 um 5,8 Prozent ansteigen und damit rund 27.6000 vermeidbare Todesfälle verursachen. Darüber hinaus seien die negativen Auswirkungen auf die Prävalenz von Gelbfieber und Masern sowie Mangelerscheinungen wie Anämie und Unterernährung besonders stark und treffe die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen, das heißt schwarze Menschen in ländlichen Regionen.

Mais Médicos (Mehr Ärzte) heißt ein anderes wichtiges Programm der medizinischen Grundversorgung. Es wurde 2013 unter Dilma Rousseff mit dem Ziel eingeführt, mehr Ärzt*innen in unterversorgte Regionen zu bringen. Erreicht wurde dies maßgeblich durch ein Abkommen mit Kuba, das im Jahr 2018 fast die Hälfte der rund 18.200 Fachkräfte stellte, die vor allem in Favelas und ländlichen Regionen eingesetzt wurden, wo keine einheimischen Ärzt*innen arbeiten wollten. Doch Ende 2018 ordnete die kubanische Regierung die Rückkehr der kubanischen Fachkräfte an, wegen des „unverhohlenen, verächtlichen und drohenden“ Verhaltens Bolsonaros. Dieser hatte mit der Beendigung des Programms gedroht und eine Fortsetzung an Bedingungen geknüpft – wie etwa, dass die kubanischen Ärzt*innen erneute Prüfungen ablegen müssten und dass die Zahlungen der brasilianischen Regierung nicht wie bisher in großen Teilen in die ku9

banische Staatskasse fließen dürften. Das brasilianische Gesundheitsministerium hat die Stellen zu großen Teil zwar wieder mit einheimischen Personal besetzen können, rund 1.000 brasilianische Ärzt*innen seien jedoch wieder ausgestiegen. Eines der wenigen positiven Ereignisse der letzten Monate ist, dass das brasilianische Gesundheitsministerium die Schließung der Sonderbehörde für die Gesundheit indigener Gruppen nach landesweiten Protesten wieder rückgängig machen musste.

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ie oligarchische Restauration wird sich der Realität eines komplexen, bevölkerungsreichen und diversen Landes stellen müssen, dessen multiethnischer, urbaner und ökumenischer Charakter die Rückkehr zu direkteren Formen der Kontrolle erschwert. Doch die Gefahr für die brasilianische Demokratie ist umso realer, als die politischen und ökonomischen Gruppen, die sich bislang noch ihre Vorherrschaft sichern konnten, bald mit einer von der Wirtschaftskrise abgehängten Bevölkerung konfrontiert werden. Die Radikalisierung des religiösen Diskurses und die Stigmatisierung der Linken, die heute schon sichtbar werden, sind nur Anzeichen kommender Entwicklungen.

Bernardo Jurema ist Doktorand an der Freien Universität Berlin.


FRIEDEN

Krieg gegen die Zivilbevölkerung Eindrücke aus der medizinischen Versorgung in Palästina

54 Prozent – das ist die Quote der Patient*innen, die aufgrund schwerer Krankheit den Gaza-Streifen für eine medizinisch notwendige Behandlung verlassen dürfen.

Grund: „Verwandtschaftliche Beziehung zu einem Mitglied der Hamas“ oder israelische „Sicherheitsbedenken“. Immer wieder würde Kranken notwendige Hilfe verweigert unter dem Vorwand, es gäbe in der Verwandtschaft Hamas-Mitglieder, so PHRI. Die Organisation versucht derzeit nach eigenen Angaben, diese zutiefst unethische „Sippenhaft“ vom Obersten Israelischen Gericht verbieten zu lassen. Es sind nicht zuletzt die Frauen, die in bewaffneten Konflikten leiden. Dies bestätigt auch die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2000. In ihr wird den Auswirkungen von militärischen Konflikten auf Frauen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. PHRI hat daher eine Kampagne ins Leben gerufen, die die Verweigerung der medizinischen Versorgung palästinensischer Frauen durch die Netanjahu-Regierung zum Thema hat. Im Gazastreifen fehlen nicht nur CT-Geräte und Chemotherapeutika, es mangelt mittlerweile auch an Ärzt*innen, die in großer Zahl das Land verlassen hätten. Trotz der desolaten Lage gibt es auch Zeichen der Hoffnung. So hat sich laut PHRI die Israel Medical Association öffentlichkeitswirksam an die Sicherheitsbehörden gewandt, um die Lage der Betroffenen zu verbessern.

Vor wenigen Jahren waren es noch 100 Prozent, berichteten uns Mitarbeiter*innen von Physicians for Human Rights Israel (PHRI) in Tel Aviv, die wir auf unserer Reise besuchten. Die Lage im blockierten Gazastreifen verschärfe sich zunehmend. Viele Verletzungen und Krankheiten können in den palästinensischen Gebieten nicht adäquat versorgt und behandelt werden – es fehlt an Ärzt*innen, Medikamenten, Geräten, Know-How bzw. Spezialist*innen. Allein im Jahr 2018 seien 94 Amputationen bei Jugendlichen vorgenommen worden, die bei Protesten in Gaza von israelischen Soldat*innen in die Beine bzw. Knie geschossen worden waren, um sie bewegungsunfähig zu machen. Angeschossene Jugendliche können nicht in ein Krankenhaus nach Israel überwiesen werden, da sie an der Grenze durch das Militär festgenommen würden. Den Ärzt*innen vor Ort fehlten die Möglichkeiten, um die verletzten Gelenke zu retten, deshalb amputieren sie in dieser Notlage.

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in weiterer Schwerpunkt der Arbeit von PHRI ist die Versorgung von Geflüchteten. Ihre Zahl liegt laut PHRI unter 40.000. Es sind vor allem afrikanische Einwanderer, die größtenteils aus Eritrea und auch aus dem Sudan kamen und überwiegend in den einfachen, heruntergekommenen Vierteln im Süden der Küstenstadt Tel Aviv leben. Dort hat sich in den vergangenen Jahren eine starke Bewegung gegen Migrant*innen gebildet, die sich mit Protestaktionen für Abschiebungen einsetzt. „Premier Netanjahu will die kleine Zahl ungeliebter Asylsuchender am liebsten nach Uganda abschieben.“ Neue Flüchtlinge kommen nicht mehr, da die Außengrenzen Israels mittlerweile hermetisch

PHRI berichtet auch von der 40-jährigen Nivin Habub. Sie leidet an einem ossär metastasierten Mamma-Karzinom und sollte zur Strahlentherapie im Augusta-Victoria-Krankenhaus in Ostjerusalem vorgestellt werden. Israel verbietet die Einfuhr von Strahlentherapie-Materialien in die palästinensischen Gebiete, deshalb ist ein Transfer der Patient*innen nötig. Die Finanzierung wurde bewilligt, nur: Die Papiere zur Ausreise erhielt Nivin nicht. Der 10


DIE MAUER, FLÜCHTLINGSLAGER AIDA, BETHLEHEM

Es ist das Schicksal der Kinder und Jugendlichen, das mir am meisten unter die Haut ging. Und dabei geht es nicht nur um Verkrüppelungen. Es geht um die Toten in den besetzten Gebieten. Sieben erschossene Kinder und Jugendliche war die Bilanz allein in den ersten vier Tagen unseres Aufenthaltes. Und auch die letzte Nachricht am Tage des Abfluges auf meinem Mobiltelefon von der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz lautete: 15-jähriger Junge von israelischen Militärs erschossen. Sowohl diese direkte als auch die indirekte, strukturelle Gewalt der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu mit ihren verheerenden Folgen für die palästinensische Bevölkerung hat mich zutiefst erschüttert. Dabei braucht es kein Wunder, um an der Situation etwas zu verbessern. Guter politischer Wille wäre schon ein Anfang.

abgeriegelt sind. Physicians for Human Rights Israel setzt sich für das Recht auf medizinische Versorgung dieser Menschen ein. Die Mediziner*innen bieten humanitäre Hilfe, Beratung und Rechtsbeistand, meist ehrenamtlich. Geflüchtete und Asylsuchende, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben, können nach Jaffa in die Klinik von PHR kommen.

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nzureichend ist ebenso die dringend benötigte psychiatrische Hilfe in den Palästinensischen Autonomiegebieten. Die anhaltende militärische Besatzung sowie innerpalästinensische Auseinandersetzungen wirken sich sehr schädlich auf die körperliche und psychische Gesundheit der Menschen aus. Viele sind direkter und indirekter Gewalt ausgesetzt, einschließlich Überfällen auf ihr Zuhause und Festnahmen von Familienmitgliedern. Viele Menschen in Seelennot sind noch unter 18 Jahren. Zudem leiden die Menschen unter den prekären Lebensbedingungen. Die allgemeine sozio-ökonomische Lage ist vor allem im Gazastreifen dramatisch und verschlechtert sich weiter: Hohe Arbeitslosigkeit, Stromengpässe, es mangelt an Trinkwasser, die Menschen können aufgrund der Blockade nicht mehr in den Gazastreifen einreisen oder ihn verlassen.

Weitere Berichte der IPPNW-Begegnungsreise nach Israel/ Palästina unter: blog.ippnw.de/tag/israel Die PHRI-Studie zur Frauengesundheit in Gaza finden Sie unter: kurzlink.de/frauen-gaza Die IPPNW-Resolution „Israel nach der Wahl – deutsche Verantwortung für den Frieden“ ist auf S. 7 im internen Teil dokumentiert.

Patienteninteressen würden sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite immer wieder als Druckmittel in Verhandlungen missbraucht, erzählen uns unsere Gesprächspartner von PHRI. So hatte die Palästinensische Autonomiebehörde, die für die Kosten von Behandlungen in Israel aufkommt, kürzlich angekündigt, die Zahlungen einzustellen – aus Protest gegen die ungerechte Verwendung der palästinensischen Steuern in Israel. Alternativen, Patient*innen in Gaza oder in Jordanien zu behandeln, sind derzeit nicht vorhanden. Die Verhandlungen mit den militärischen und zivilen Akteuren beider Seiten stellen PHRI immer wieder vor große Herausforderungen.

Lars Pohlmeier ist Mitglied des Vorstands der deutschen IPPNW und war im April 2019 mit der IPPNW-Reisegruppe in Israel/Palästina unterwegs. 11


FRIEDEN

Manipulierte Wahlen in der Türkei: Widerstand und Verzweiflung Vom 16. – 30. März 2019 bereisten IPPNW-Mitglieder die kurdischen Gebiete der Türkei

Groß waren die Bedenken von Menschenrechte Angehörigen und Freunden, dass wir uns auch in diesem Jahr wie- Auffällig ist, dass wir zwar immer die gleider auf den Weg in den Südosten chen Gruppen und Vereine besuchen, dort aber selten Menschen treffen, die wir von der Türkei machen wollten. Wir früheren Reisen kennen. Wer sich oppohielten das Risiko für überschau- sitionspolitsch oder menschenrechtlich bar, schlimmstenfalls würden wir, exponiert, wird unter Anklage gestellt, verwie viele andere, schon an der schwindet im Gefängnis oder flieht ins Ausland, solange er noch seinen Pass hat. So Einreise gehindert oder später treffen wir zum Beispiel in der Ärztekammer ausgewiesen. Wir sind keine Jour- Diyarbakir auf einen sehr jungen Vorstand, nalist*innen und die meisten von der sich im Internet über die IPPNW inforuns sind weißhaarige Alte, die die miert hat, aber von unserer langjährigen gemeinsamen Geschichte nichts zu wissen Verhältnisse kennen. Bei einer der vielen Polizeikontrollen schaute ein Polizist in unseren Bus, sagte zu seinen Kollegen, „die sind ja alle alt“, und ließ uns passieren. Nicht alle Kontrollen verliefen so problemlos. Eine wirklich bedrohliche Situation gab es aber nicht.Unsere Reise führte von Istanbul zunächst per Flieger nach Van, von dort mit dem Kleinbus über Akdamar nach Diyarbakir zum Newrozfest, von Diyarbakir nach Sirnak, Cizre, Midyat, Kiziltepe, Nusaybin und Mardin, zum Abschluss nach Ankara. Wir hatten großes Glück mit unserer Dolmetscherin Serra aus Diyarbakir, die nicht nur in Deutschland studiert hat, sondern sich auch als ehemalige Stadtverordnete und Politikerin gut auskennt und viele Verbindungen hat. Zusammen mit unserem langjährigen Dolmetscher Mehmet, der zur Zeit nicht in die Türkei reisen kann, uns aber von Deutschland aus mit seinen Kontakten unterstützt, hatten wir ein reichhaltiges Programm mit vielen Begegnungen und Gesprächen.

scheint. Eine junge Kollegin lernt Deutsch, will in Deutschland ihre Facharztausbildung machen, weil sie in der Türkei wegen ihres politischen Engagements keine Chance hat. Die andere junge Frau kennen wir von der Prozessbeobachtung von Dr. Necdet Ipekyüz von der Menschenrechtsstiftung. Dr. Necdet Ipekyüz ist jetzt Parlamentsabgeordneter von Batman. Sein Prozess läuft weiter. Dr. Mahmut Ortakaya, eine der prägenden Figuren der Ärztekammer, konnte uns aus gesundheitlichen Gründen diesmal nicht begrüßen. Herrn Dr. Mizrakle treffen wir später als HDP-Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters.

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ichtigstes Thema bei all unseren Gesprächen waren nicht die anstehende Kommunalwahl oder die Repressionen im Wahlkampf. Wichtigstes Thema, das allen unter den Nägeln brannte, waren die hungerstreikenden politischen Häftlinge. Etwa 7.000 sollen es seit März 2019 sein. Über ihre Situation dringt nur wenig nach außen, Ärzt*innen und Menschenrechtler*innen haben keinen Zugang. Gelegentlich gibt es Informationen von den Anwäl12

ten, den Angehörigen oder aus Briefen der Gefangenen. Demnach ist die Situation bedrohlich. Die Streikenden erhalten nicht die notwendigen Vitamine und Elektrolyte. Sie werden durch Einzelhaft bestraft oder durch Entzug von sozialen Kontakten beim Sport. Zum Teil werden sie auch in weit entfernte Haftanstalten verlegt, um den Kontakt zu Angehörigen und Anwälten zu erschweren. Hungerstreiks haben eine lange Tradition in der politischen Auseinandersetzung in der Türkei. Ruhi Karadag beschreibt in seinem preisgekrönten Film „Simurgh“ die gesundheitlichen Folgen langer Hungerstreiks 1996 und 2000 eindrücklich.

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n unseren offenen Diskussionen finden wir bei Mediziner*innen und Menschenrechtler*innen eine sehr kritische Haltung zu den Hungerstreiks, nicht aber zu den Forderungen der Hungerstreikenden. Sie fordern die Aufhebung der Isolation von PKK-Führer Abdullah Öcalan und aller anderen Gefangenen sowie die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen. Die Abgeordnete Leyla Güven von der HDP (pro-kurdische „Partei der Völker“) begann im November 2018 im Gefängnis mit dem Hungerstreik und wurde dann in kritischem Zustand nach Hause entlassen, wo sie seitdem von ihrer Tochter und einer Krankenschwester versorgt wird. Bei unserem Besuch finden wir sie schwach, aber bei klarem Bewusstsein. Die Verzweiflung wächst, weil es keine Antwort gibt, weder aus der Türkei, noch aus Deutschland bzw. Europa. Der Hungerstreik ist selten ein Thema in den Medien, die Forderungen werden nicht gehört. Die Antwort auf den Hilferuf ist Schweigen.


Die Vorbereitungen zur Kommunalwahl am 31. März 2019 begleiten uns auf der gesamten Reise. In Istanbul grüßt das Konterfei des Präsidenten und seiner AKP-Kandidaten im Großformat von jedem der zahlreichen Bauzäune und von vielen Hochhausfassaden. Plakate der oppositionellen CHP sind kleiner und seltener, die der kleinen Parteien fallen nicht auf. Im Westen hat die HDP darauf verzichtet, eigene Kandidat*innen aufzustellen. Sie fordert dazu auf, die CHP zu wählen. Auch im Südosten sind Wahlplakate und Bilder des Präsidenten überall. Allerdings findet sich hier auch Werbung der prokurdischen HDP, die sich diesmal zu einem Wahlbündnis mit sieben anderen kleineren kurdischen und linken Parteien zusammengeschlossen hat. Im Fernsehen laufen rund um die Uhr Spots der AKP, ganz selten der CHP und nie der HDP. Der HDP und ihren Kandidat*innen sind alle öffentlichen Auftritte verboten. Sie gehen von Haus zu Haus um Wahlwerbung zu machen. In den Dörfern werden die Bewohner*innen vom Landrat massiv bedroht, für den Fall, dass sie die HDP wählen. Vermieter*innen von Wahllokalen werden unter Druck gesetzt, ihre Räume nicht an die HDP zu vermieten. Der Präsident hat angekündigt, dass er im Fall eines Wahlsiegs von HDP-Bürgermeistern wieder Zwangsverwalter einsetzen wird. Dies ist die siebte Wahl in fünf Jahren. Wir fragen uns, wozu der Präsident das demokratische Mäntelchen bei so massiver Behinderung der Opposition und bei angekündigter Missachtung der Ergebnisse noch braucht. Wir bewundern die Opposition, die immer wieder neue Kandidat*innen zur Verfügung hat, wenn die aktuellen in Ungnade fallen, abgesetzt, angeklagt, eingesperrt werden. Inzwischen hat die Wahl mit einer hohen Beteiligung von landesweit 84 Prozent stattgefunden. Die AKP ist stärkste Partei geblieben, hat aber die großen Städte im Westen an die CHP verloren und fast alle kurdischen Städte unter Zwangsverwaltung haben die HDP-Kandidaten gewählt.

AUF DEM FRAUENMARKT IN DIYARBAKIR

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nd die Reaktion der Regierung? Besonders der Verlust von Istanbul schmerzt und auch hier konnten wir in der Presse verfolgen, dass der Präsident von Unregelmäßigkeiten spricht und eine Neuwahl fordert. Die zentrale Wahlkommission hat dem Druck nachgegeben und Neuwahlen für den 23. Juni 2019 angesetzt. Bis dahin wird Istanbul von einem Zwangsverwalter von der AKP regiert. Im Südosten hat die Wahlkommission mehreren gewählten Kandidat*innen der HDP den Sieg aberkannt und den zweitplazierten AKP-Kandidaten ernannt. Obwohl alle Kandidat*innen von der Wahlkommission zur Wahl zugelassen waren, heißt es nun, alle aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen seien ungeeignet. Dr. Mizrakli und seine Ko-Bürgermeisterin haben ihr Amt im Großen Rathaus von Diyarbakir angetreten und beim ersten Rundgang ungläubig die luxuriöse Ausstattung des Zwangsverwalters mit Kandelabern und einem Marmorbad betrachtet. Sie werden nun mit den hinterlassenen Schulden und dem Verlust vieler öffentlicher Gebäude und Liegenschaften einen schweren Neuanfang stemmen müssen. Über Serra haben wir unsere Glückwünsche übermittelt und unseren Besuch im Rathaus für März 2020 angemeldet – Inschallah. Informationen zu weiteren Themen finden Sie in unseren Blogs von unterwegs: blog. ippnw.de/tag/turkei Wir versuchen unse13

re Erfahrungen durch Pressegespräche und Veranstaltungen zu verbreiten, durch Lobbyarbeit bei uns bekannten Politiker*innen, durch enge Zusammenarbeit mit kurdischen und, wo möglich, mit türkischen Vereinen und Verbänden in Deutschland, der Unterstützung von türkischen Flüchtlingen und Prozessbeobachtungen. Unsere wichtigsten Forderungen an die Bundesregierung sind: • Einstellung der Waffenlieferungen in die Türkei und den gesamten Nahen Osten • Anerkennung der Kurden als eigenständiges Volk und Entkriminalisierung durch Aufhebung des PKK-Verbots • Unterstützung der Forderungen der Hungerstreikenden nach Einhaltung der türkischen Gesetze und Abschaffung der Isolationshaft • Wiederaufnahme der Friedensgespräche zwischen der türkischen Regierung und den politischen Vertreter*innen der Kurden und mit Abdullah Öcalan

Gisela Penteker leitet seit vielen Jahren die Türkeireisen von IPPNWMitgliedern.


FRIEDEN

Weltweiter Widerstand gegen Killer-Roboter Internationale Konferenz fordert Verbot autonomer Waffensysteme

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om 21. bis 23. März 2019 haben sich in Berlin internationale Teilnehmer*innen auf der Konferenz zum Verbot von Killerrobotern getroffen. Diese Bezeichnung für autonome Waffensysteme klingt nach Science Fiction – doch leider ist sie es nicht. Bereits jetzt werden automatisierte Waffen in Kriegen getestet und an Grenzen eingesetzt. Noch ist die Entwicklung nicht abgeschlossen. Deshalb fordert die „Campaign to Stop Killer Robots“ eine internationale Ächtung, noch bevor die Tötungsmaschinen sich weltweit verbreiten. Autonome Waffensysteme suchen mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz eigenständig ein Ziel, verfolgen es und attackieren ohne menschliche Entscheidung anhand von Algorithmen und durch neuronales Lernen. Das Töten von Menschen geschieht dann vollständig autonom. Noch sind die eingesetzten Waffensysteme nicht komplett eigenständig. Doch es gibt schon über 130 militärische Systeme, die ohne menschlichen Eingriff eine Zielperson suchen und verfolgen können. Die endgültige Entscheidung über das Töten geschieht noch durch Menschen.

Was macht autonome Waffensysteme so gefährlich? Warum müssen sie international verboten werden? Rasha Abdul Rahim (Amnesty International) machte deutlich, dass autonome Waffensysteme Menschenrechtsverletzungen beschleunigen. Sie sind ein zusätzliches System zum Töten, das zudem auf dem Sammeln von Daten basiert. Kombiniert mit dem Lernen anhand neuronaler Netze werden so die Entscheidungsprozesse der Maschinen immer schwerer nachzuvollziehen. Killerroboter bedrohten das Recht auf Leben: Töten ist demnach, so Abdul Rahim, nur dann rechtmäßig, wenn damit menschliches Leben beschützt wird.

Die Entscheidung darüber ist komplex und kann von Maschinen nicht getroffen werden. Auch das Versammlungsrecht wird bedroht, weil Roboter beispielsweise gegen Demonstrationen eingesetzt werden können – Geräte für diesen Einsatz werden bereits jetzt von Herstellern beworben. Autonome Waffen sind zudem fehleranfällig. Im Drohnenkrieg tötet das US-Militär bereits auf Grundlage von Algorithmen. Bei der Operation „Haymaker“ (2012–13) in Afghanistan waren fast 90 Prozent der Drohnenopfer keine vorher festgelegten Zielpersonen. Die Auswahl der Angegriffenen basierte u. a. auf Handy-Bewegungsdaten. Solche Tötungen ohne menschliche Kontrolle sind nicht mit den Prinzipien des humanitären Völkerrechts vereinbar.

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ine feministische Sicht auf die Gefahren autonomer Waffensysteme brachte Ray Acheson von WILPF ein. Sie beleuchtete, wie autonome Waffen gruppenbezogene Diskriminierung fortführen und verstärken – mit tödlichen Folgen. Matthew Griechen (Harvard Law School) erklärte, dass Killerroboter nicht sicher zwischen Zivilist*innen und Militär unterscheiden können. Sie seien nicht in der Lage, nach den Prinzipien der Menschlichkeit zu handeln, die auch dann noch greifen, wenn andere Regeln im Krieg verloren gehen. Menschen handeln auch anhand von Gefühlen, sie erkennen den Wert eines Lebens, wozu Maschinen außerstande seien. Ihnen fehle das Bewusstsein darüber, was ein Verbrechen ist. Dass Killerroboter große ethisch-moralische Probleme aufwerfen, zeigte auch Peter Asaro (International Committee for Robot Arms Control). Befürworter*innen autonomer Waffen würden argumentieren, diese retteten Menschenleben, denn Roboter würden nicht müde oder wütend. Die Realität 14

sei aber bereits jetzt eine andere. Drohnen hätten zu mehr Bombardierungen geführt. Die Hemmschwelle, in einen Krieg zu ziehen, hat sich gesenkt. Autonome Waffensysteme sind eine neue Stufe tödlicher Eskalation. Das Töten nach Algorithmen führt zu einer Verantwortungslosigkeit in Politik und Militär: Wer kann für die Toten zur Rechenschaft gezogen werden? Weil die Systeme zwar noch eingesetzt werden müssen, dann aber selbstständig agieren, wird das immer unklarer. Die Hemmschwelle für das Töten sinkt ebenso wie die Hemmschwelle, Kriege zu führen. Frieden und Sicherheit werden davon bedroht und es besteht die Gefahr einer internationalen Destabilisierung.

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ie Kampagne ruft zu einer völkerrechtlichen Ächtung automatisierter Waffensysteme auf. „Gerade die Länder, die Waffen mit autonomen Fähigkeiten haben, diese (weiter-) entwickeln oder diese zukünftig beschaffen wollen – und dazu gehört auch Deutschland – verhindern eine so dringend benötigte Weiterentwicklung des internationalen Völkerrechts, um ein Verbot vollautonomer Waffen sicherzustellen“, so Thomas Küchenmeister, der Sprecher der Kampagne in Deutschland. Unterstützung für ein Verbot gibt es aus verschiedenen Bereichen: Mehr als 4.500 Expert*innen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz unterstützen die Kampagne ebenso wie einige Staaten. In Deutschland sprechen sich 72 Prozent der Befragten für ein Verbot autonomer Waffen aus. Dominik Kordt studiert Politikwissenschaften. Er hat die Konferenz im Rahmen eines Praktikums bei der IPPNW besucht.


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Muss die NATO eine nukleare Allianz sein? Vor 70 Jahren wurde die NATO gegründet

Atomwaffen sind nicht Teil des Gründungsvertrages der NATO. Dementsprechend hat sich in den unterschiedlichen Mitgliedsländern der Umgang mit ihnen sehr unterschiedlich entwickelt.

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änemark, Norwegen und Spanien verbieten zum Beispiel die Stationierung von Atomwaffen in Friedenszeiten auf ihren Territorien. Island und Litauen untersagen die Stationierung von Atomwaffen generell. Die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO wurde Ende 1966 gegründet, um über die politische Kontrolle bzw. den Einsatz der Atomwaffen zu sprechen, die die USA und Großbritannien zur Verfügung stellen. Alle Mitglieder haben das Recht, an der nuklearen Planungsgruppe teilzunehmen, aber sie müssen es nicht. So ist zum Beispiel Portugal nach der Nelkenrevolution in den 1970er Jahren aus der NPG ausgeschieden. Ein interessantes Beispiel ist auch Frankreich, das zwar ein europäischer Atomwaffenstaat ist, aber nicht an der nuklearen Planung der NATO teilnimmt. Seine Atomwaffen werden der NATO nicht zur Verfügung gestellt und sollen nur zur Verteidigung Frankreichs als letztes Mittel eingesetzt werden. Darüber hinaus will Frankreich nicht, dass ein anderes Land Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen hat, auch Großbritannien lässt das nicht zu. Es ist möglich, aus der nuklearen Teilhabe auszusteigen und trotzdem ein vertrauenswürdiges NATO-Mitglied zu bleiben, wie es Griechenland (2000) und Kanada (1984) getan haben. Sollte ein Land entscheiden, sich nicht mehr an den nuklearen Aktivitäten der NATO zu beteiligen, kann es auch dem UN-Vertrag zum Verbot von Atom-

waffen beitreten. Diese Frage ist besonders für fünf Länder wichtig: Denn Deutschland, Belgien, die Niederlande, Italien und die Türkei stellen im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ Territorien, Personal und Trägersysteme für die US-Atomwaffen zur Verfügung (die Türkei stellt mittlerweile nur noch Territorium zur Verfügung). Die Atomwaffenpolitik der NATO wird in politischen Strategieerklärungen festgelegt, die politischen Charakter haben und nicht rechtlich bindend sind. Die Rolle der Atomwaffen wurde in der NATO-Strategie immer wieder verändert, z.B. im Strategischen Konzept 2010 und in der Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs 2012. Auf der NATO-Webseite steht (auf Englisch, Französisch, Russisch und Ukrainisch!), dass Atomwaffen, neben konventionellen Streitkräften und der Raketenabwehr eine Kernkomponente der Gesamtstreitkräfte der NATO zur Abschreckung und zur Verteidigung darstellen. Gleichzeitig soll sich die NATO für atomare Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung engagieren. Abschreckung und Nichtverbreitung wurden von den Mitgliedern als Bestandteile eines Deals verstanden: Die Rolle der atomaren Abschreckung kann gesteigert werden, wenn die Nichtverbreitung gleichzeitig ernsthaft verfolgt wird. „Solange Atomwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben“, erklärte Hillary Clinton 2010 in Tallinn. Dies 15

war die Antwort auf den Versuch des damaligen Außenministers Guido Westerwelle, US-Atomwaffen aus Europa abziehen zu lassen. Die USA haben die NATO also als „nukleare Allianz“ definiert. Vorher war sie lediglich ein Verteidigungsbündnis mit Zugriff auf Atomwaffen als letzter Option. Seit dem Gipfel in Brüssel 2018 stehen die Mitglieder geschlossen hinter dem Konzept der nuklearen Allianz. Doch im Umkehrschluss zeigt sich die Zwickmühle: „Solange die NATO eine nukleare Allianz bleibt, werden Atomwaffen weiterhin existieren.“ Hier wird offensichtlich, dass die NATO selbst Teil des Problems ist.

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as Festhalten an der nuklearen Abschreckung blockiert einen Fortschritt in Vertrauensbildung und Abrüstung. Gemeinsame Sicherheit kann nicht erreicht werden, während Russland und die NATO mit Atomwaffen aufeinander zielen. Bereits mehr als 70 Staaten lehnen inzwischen die nukleare Abschreckung als inhumanes politisches und militärisches Mittel ab und haben stattdessen den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet.

Xanthe Hall ist Atomwaffencampaignerin und Leiterin der Geschäftsstelle der deutschen IPPNW.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Lernen und arbeiten trotz psychischer Belastungen Für Empathie mit traumatisierten Geflüchteten ist im Berufsleben oft kein Platz

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iele Geflüchtete sind in besonderem Maße psychischen Belastungen ausgesetzt. Ihre Erfahrungen mit Krieg, Armut, Verfolgung und Gewalt im Herkunftsland und bei der Flucht wirken nach. Prekäre alltägliche Lebensbedingungen in Deutschland belasten sie zusätzlich. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt wird dadurch erschwert. Viele ihrer Teilnehmenden hätten mit dem Thema Gesundheit zu tun, berichtet uns die Mitarbeiterin einer Koordinationsstelle im Bereich der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten in Hamburg. Es seien jedoch „nicht alle traumatisiert“. Man müsse ein bisschen vorsichtig sein mit dem Begriff. Zahlreiche Geflüchtete litten jedoch unter erheblichen psychischen Beeinträchtigungen und chronischen Krankheiten. Neben der eigenen Situation sei es in vielen Fällen die Situation der Familie, die mit starken psychischen Belastungen einhergehe, etwa „dass die Familie auseinandergerissen und irgendwo anders auf der Welt ist oder dass es finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten braucht, weil beispielsweise die Beerdigung des Vaters bezahlt werden muss, weswegen der Bildungsweg unterbrochen wird.“ Entsprechende Unberechenbarkeiten, die ausbildungsbegleitend oder integrationsbegleitend die Geflüchteten belasten, träten häufig auf: „Die Familie im Herkunftsland oder in einem anderen Kriegsübergangsstadium oder Ort wird immer mitgedacht.“ Der Mitarbeiter einer sächsischen Beratungsstelle berichtet von ähnlichen Erfahrungen: „Einige Kinder oder Jugendliche wissen, dass ihre Familien seit mehreren Jahren in Kriegsgebieten festsitzen, oder woanders, etwa in der Türkei, von dort nicht wegkommen und unter schlimmen Verhältnissen leben. Das belastet sie natürlich.“ Der Mitarbeiter eines hessischen Projektträgers beschreibt uns einen Fall aus einem Projekt zur Ausbildungsvorbereitung, bei dem Jugendliche „Fotos ausgetauscht haben von Leichen, die sie sich angeguckt haben oder Geköpften, die sie identifizieren

sollten: ‚Ist das dein Vater?‘ Da kannst du keinen Unterricht machen. Wenn du gerade mit solchen Bildern im Kopf oder mit solcher Angst konfrontiert wirst.“ Das Gefühl, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Situation der Familie Verantwortung tragen zu müssen, erzeugt bei jungen Geflüchteten einen hohen Druck, berichtet der Mitarbeiter einer Industrieund Handelskammer (IHK) in Niedersachsen: „Ich war letzte Woche im Gespräch

mit einem jungen Mann aus Syrien, der sagte: ‚Alle erwarten was von uns. Im Jobcenter, vielleicht ist dann noch jemand ehrenamtlich aktiv, dann die Familie, alle haben eine Erwartungshaltung, dass man studiert, in Ausbildung geht, so schnell wie möglich‘.“ Angst vor Abschiebung, Erfahrungen mit Rassismus, eine schwierige Wohnsituation oder alltägliche Probleme aufgrund fehlender Sprachkenntnisse (z.B. mit bürokratischen Routinen) verstärken die psychische Überforderung. „Einer kriegt immer Schweißausbrüche, wenn er Briefe nur schon im Briefkasten sieht. Und 16

dann kommt er mit seinem Stapel hierher und ich gucke die mir dann einmal durch und sage: ‚Ist alles nichts Schlimmes, es ist alles nur...‘. Und dann ist wieder gut“, berichtet die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle in Baden-Württemberg. Abschiebungen sind für die Betroffenen und ihr Umfeld (z.B. in einer Wohnunterkunft) stark belastende Erfahrungen, zumal wenn bereits traumatisierende Flucht- und Gewalterfahrungen vorliegen.

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sychische Beeinträchtigungen sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, stellt der Mitarbeiter einer Hamburger Beratungsstelle fest: „Wir erleben, dass Teilnehmende manchmal müde oder nicht aufmerksam sind und dass man sich fragt: ‚Ja, wieso kommt ihr denn in den Unterricht und warum kann der nicht so teilnehmen?‘, bis man dann in einer Beratungssituation, also eins zu eins, noch mal eine Abfrage machen kann: ‚Nehmen Sie Medikamente?‘ oder ‚Sie erscheinen uns in den letzten zwei Wochen so müde.‘ Dann kommt zum Vorschein: ‚Ich war in


SOZIALE VERANTWORTUNG

der Psychiatrie, ich nehme Tabletten.‘ Es braucht vier bis sechs Wochen, bis jemand eingestellt ist und dann gibt es Termine bei einem niedergelassenen Psychiater oder auch in der Klinik.“ Er habe, erklärt der Mitarbeiter einer niedersächsischen IHK, „auch mit Menschen zu tun gehabt, die zum Beispiel gefoltert wurden in Syrien und die Kriegsleiden haben, angeschossen wurden.“ Er denke, dass sich dadurch Probleme im Prozess der Arbeitsmarktintegration teilweise erklären ließen:

dass der Bedarf sehr groß ist, aber es gibt immer noch viel zu wenig muttersprachliche Angebote.“ Es sei schwer, Plätze zu finden. Auch die Angebote der sozialpädagogischen Beratung in den Unterkünften seien unzureichend. Der Mitarbeiter der sächsischen Beratungsstelle vermutet, dass es einigen Geflüchteten zudem schwerfalle, psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, da entsprechende Therapien in den Herkunftsländern gesellschaftlich weniger anerkannt seien.

„Bei Traumata gibt es zwar die Erkenntnis, dass der Bedarf sehr groß ist, aber es gibt immer noch viel zu wenig muttersprachliche Angebote.“ „Verlässlichkeit ist vielleicht nicht immer gegeben, man kommt zu spät, meldet sich nicht richtig an oder ab, obwohl es erklärt wurde. Oder man fängt eine Ausbildung an und bricht sie ab. Im Einzelnen kann es sein, dass das aufgrund von traumatischen Erfahrungen oder psychischen Belastungen geschieht. Ich vermute es manchmal, wenn ich höre, dass über Appetitlosigkeit, Schlafmangel, geklagt wird: ‚Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht einschlafen‘.“

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ie Mitarbeiterin einer hessischen Handwerkskammer erzählt uns vom Fall eines Auszubildenden in ihrem Familienbetrieb: „Er ist über Libyen gekommen, da gab es die Route noch. Das muss die Hölle auf Erden gewesen sein. An der Küste zu Tausenden am Ufer und dann auf das nächste Gummiboot. Es muss so schlimm gewesen sein, dass er gesagt hat: ‚Lieber krepiere ich auf dem Wasser als hierzubleiben.‘ Dass das ein Trauma ist, ist ja wohl logisch. Das äußert sich bei der Arbeit teilweise so: Da legt sich ein Schalter um und er ist weg, dann weiß er nichts mehr. Und man denkt: ‚Was hat der denn jetzt?‘ Aber das ist nachvollziehbar.“ Therapieangebote seien nur unzureichend vorhanden, kommentiert der Mitarbeiter der Hamburger Beratungsstelle: „Bei Traumata gibt es zwar die Erkenntnis,

In der Berufsvorbereitung können Traumata und psychische Belastungen zumindest teilweise berücksichtigt werden, stellt der Mitarbeiter eines Projektträgers in Baden-Württemberg fest. Mangelnde Konzentration, fehlendes Durchhaltevermögen oder Fehlzeiten würden zugelassen und erst mit der Zeit thematisiert. Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen spielten dabei eine wichtige Rolle. In der Ausbildung und im Beruf führen psychische Überlastung und Traumata hingegen häufig zu einem raschen Verlust des Arbeitsplatzes. Im Arbeitsalltag, erklärt der Mitarbeiter der Hamburger Beratungsstelle, werde kaum Rücksicht genommen: „Kann man höchstwahrscheinlich auch nur sehr schwer. Dazu brauchst du viel Zeit, musst dich viel mit den Menschen auseinandersetzen. Verständlicherweise können darauf nur wenige Leute Rücksicht nehmen.“

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r habe versucht, Betriebe zu finden, die die besondere Belastungssituation der Geflüchteten berücksichtigen, erzählt uns ein Ehrenamtlicher aus Baden-Württemberg, „die ein bisschen eine pädagogische Idee haben: ‚Okay, dann läuft es halt mal nicht so wie es sein muss‘.“ Er kenne keinen einzigen Betrieb. Die Betriebe „sagen alle ‚ich brauche Mitarbeiter, die zuverlässig da sind und zuverlässig mitarbeiten und wenn das nicht funktioniert, 17

dann kann ich die nicht brauchen‘.“ Wenn junge Menschen es nicht schafften, jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu kommen, seien sie „sofort raus“. Er könne das nachvollziehen, da die Betriebe ja „irgendwie funktionieren“ müssten. Ein anderer Ehrenamtlicher stimmt ihm zu: „Man kennt es ja von seiner eigenen Arbeit, da muss alles funktionieren. Wenn jemand vielleicht erst mal noch zusätzliche Arbeit bedeutet, dann wird es schwierig.“ Es brauche für entsprechende Fälle Unterstützungsleistungen, „die vielleicht einen Teil auffangen, damit nicht mehr so ins Gewicht fällt, wenn jemand Schwierigkeiten hat aufgrund traumatischer Erfahrungen.“ Empathie mit psychisch belasteten oder traumatisierten Geflüchteten komme in Deutschland häufig zu kurz, kritisiert der Mitarbeiter der sächsischen Beratungsstelle: „Es ist schön, dass wir in so einem behüteten Umfeld leben und denen auch den Schutz geben können, ich habe aber auf der anderen Seite das Gefühl, dass wir auch schon ein bisschen Empathie verloren haben gegenüber leidenden Menschen, Menschen mit so einem Hintergrund.“

Zuerst erschienen in der „graswurzelrevolution“ (GWR 438, April 2019). Weiterführende Informationen: Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V.: www.baff-zentren.org

Doreen Bormann und Nikolai Huke arbeiten an der Universität Tübingen im Projekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“. Sie forschen zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Im Netz unter: www.welcomedemocracy.de


Foto: pepipepper / photocase.de

SOZIALE VERANTWORTUNG

Zum Umgang mit Digitalisierung und „Big Data“ Die IPPNW-Regionalgruppe Nürnberg-FürthErlangen lädt am 19. Oktober 2019 zu einem spannenden Thementag nach Nürnberg ein.

Anmeldung unter: medizinundgewissen.de Warum habt Ihr Euch in Nürnberg ausgerechnet für dieses Thema entschieden? Das Thema ist für alle Gesundheitsberufe relevant. Es ist mit Chancen und Risiken verknüpft und wirft viele ethische Fragen auf. Vor allem geht es um die Frage, wie das vom Bundesverfassungsgericht formulierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Beteiligten dauerhaft als eine unerlässliche Grundlage einer vertrauenswürdigen Arzt-Patientenbeziehung sichergestellt werden kann. Das ist ein Thema, das uns als Ärzt*innen interessieren muss.

Vernetzung und Bereitstellung von Patient*innendaten die Kommunikation und Versorgung verbessern. Das kann Zeit sparen und allen Beteiligten eine bessere Übersicht und Transparenz zu Diagnostik und Therapie bieten. Und jetzt folgt sicherlich die Schattenseite, das „Aber“. Das „Aber“ besteht z.B. in den „Nebenwirkungen“ der Digitalisierung. Ein Beispiel: Wenn Daten von Patient*innen erhoben werden, entsteht damit eine Art „digitaler Patient“, der seiner individuellen, persönlichen Dimension beraubt ist. Im Extremfall ist das dann der sogenannte „digital twin“, ein auf unterschiedlich valide Daten reduzierter Zwilling ohne Persönlichkeit. Künftig sollen diese digital reduzierten Patienten in einen zentralen Pool eingebracht werden. In einer Cloud von Apple, Amazon, Google und Co oder auch bei Siemens, SAP oder IBM werden diese Daten zentral gespeichert. Damit wird die Tür zu zahlreichen fremdnützigen Verwertungen aufgestoßen. Neben der wissenschaftlichen Nutzung, die sinnvoll, aber auch hochproblematisch sein kann, ist der Stigmatisierung von Patient*innen mit ihren Einschränkungen und Gebrechen Tür und Tor geöffnet. Der einzelne Patient verliert schnell das Recht auf seine Daten, auch wenn es ihm versichert wurde. Datensicherheit ist eine Mär, wie die Erfahrung zeigt. Die Pharmaindustrie und andere Branchen haben an solchen Daten großes Interesse. Geheimdienste können relativ einfach in solche Clouds eindringen. Dies ist besonders vor der geschichtlichen Erfahrung der Ausgrenzung und Ausmerzung kranker Menschen durch die Nationalsozialisten von besonderer Tragweite. Aber dies ist nur ein Thema in Nürnberg. Wir diskutieren ebenso über die Auswirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung und wie die Digitalisierung die praktische Arbeit von ÄrztInnen und Pflegepersonal im Alltag verändern wird und insbesondere wie wir Einfluss nehmen und uns, wo nötig dagegen wehren können.

Wie steht Eure Tagung in der Tradition der früheren Nürnberger Kongresse „Medizin und Gewissen“? Es geht um nichts weniger als den „informed consent“ unserer Patient*innen, das Prinzip der informierten Zustimmung. Das war 1947 der erste und damit vorrangige Punkt des Nürnberger Kodex, einem bis heute nachwirkenden Regelwerk zur Forschung am Menschen. Der Nürnberger Ärzteprozess endete damals nicht nur mit einem Urteil, sondern auch mit diesen wichtigen ethisch-rechtlichen Prinzipien. Der „informed consent“ spielt daher in unseren Kongressen bis heute eine zentrale Rolle. Betreibt die Nürnberger Tagung damit konkrete Technikfolgenabschätzung? Genau darum geht es. Es braucht angesichts der hektischen und ungesteuerten Entwicklung von Digitalisierung und Big Data eine intensive Auseinandersetzung in der Ärzteschaft und eine breite gesellschaftliche Debatte dazu. Wie schon bei der Gentechnologie ist die Technikfolgenabschätzung wichtig, wenn wir die Verbindung aus IT und Gesundheitswesen analysieren und antizipieren wollen. Für die Risiken der Gentechnologie hat es schnell eine große Sensibilität gegeben. Bei der Digitalisierung scheint das anders zu sein. Erst in letzter Zeit greifen unsere Fachmedien, aber auch allgemeine Medien das Thema mit all seinen Facetten auf. Die Bevölkerung in unserem Land steht dieser Entwicklung in der Mehrheit eher ohnmächtig und wenig informiert gegenüber.

Das IPPNW-Forum sprach mit Dr. Alfred Estelmann, der die Tagung mit vorbereitet und einen ungewöhnlichen Zugang zum Thema hat: Er hat lange als Arzt in der Kinderklinik des Klinikums Nürnberg gearbeitet und war als technikaffiner Diplom-Kaufmann schon früh in die Einführung von IT-Systemen involviert. Von 2007 bis 2017 war er als Vorstand verantwortlich für eines der größten Krankenhäuser Deutschlands und damit auch für dessen Umgang mit Daten.

Was sind denn Licht und Schatten? Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, z.B. große Mengen von Informationen oder Daten über gesunde und kranke Versicherte zu sammeln und zusammenzuführen, um sie wissenschaftlich aufzuarbeiten und damit Krankheiten auf die Spur zu kommen. Auch in der sektorenübergreifenden Versorgung kann eine sinnvolle Organisation, 18


ATOMENERGIE

Versuche, die FukushimaSchilddrüsenkrebsstudie zu entwerten Offizielle Statistiken in Japan werden manipuliert

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cht Jahre nach Beginn der japanischen Atomkatastrophe haben Einwohner*innen der Präfektur Fukushima, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen Kinder waren, ein mindestens 15-faches Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken als Menschen im restlichen Japan. 167 Kinder mussten laut den aktuellsten Veröffentlichungen der Fukushima Medical University (FMU) bereits operiert werden, in 166 Fällen bestätigte sich der Verdacht einer bösartigen Krebserkrankung. Zu erwarten gewesen wären laut dem Japanischen Krebsregister etwa ein neuer Fall pro Jahr, also ca. acht Schilddrüsenkrebsfälle seit März 2011. Den Verantwortlichen der FMU scheinen diese Daten unangenehm zu sein, widersprechen sie doch der seit Beginn der Atomkatastrophe verbreiteten These, dass der mehrfache Super-GAU zu keinen zusätzlichen Krebserkrankungen führen würde.

chungen teilnehmen. Kritikwürdig ist auch, dass die Kosten für die Untersuchungen ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht erstattet, sondern von den Patient*innen und deren Familien selbst übernommen werden müssen. Es ist zu vermuten, dass die Bemühungen der FMU darauf abzielen, die Teilnahmequote weiter zu reduzieren und durch eine systematische Verzerrung der Testergebnisse langfristig die gesamte Studie zu entwerten – eine Konsequenz, die der japanischen Atomindustrie nicht unlieb sein dürfte. Zudem bilden die Zahlen der FMU lediglich einen Teil der tatsächlichen Krankheitslast ab. Strahlenbedingte Erkrankungen jenseits des Schilddrüsenkarzinoms werden ebenso wenig erfasst wie Erkrankungen bei Patient*innen, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen älter waren als 18 Jahre, die außerhalb der Präfektur gemeldet waren, die seitdem umgezogen sind oder sich aus eigenen Beweggründen nicht an den Erhebungen beteiligt haben.

Foto: Ian Thomas Ash

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in weiterer Umstand, der zeigt, wie die offizielle Statistik manipuliert wird, ist das Herausrechnen von Schilddrüsenkrebsfällen, die an Krankenhäusern diagnostiziert wurden, die nicht der FMU angehören. Anfang 2017 ging die Familie eines an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindes an die Öffentlichkeit und monierte, dass der Fall ihres Kindes in den offiziellen Daten der FMU nicht auftauchte. Die Studienleitung argumentierte, die Diagnose sei nicht durch sie gestellt worden, sondern durch eine kooperierende Klinik, an die der Junge zur weiteren Diagnostik und Therapie überwiesen wurde. Dass der Junge zum Zeitpunkt der Kernschmelzen in Fukushima gelebt hatte, in die Reihenuntersuchung der FMU aufgenommen war und aufgrund einer neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebserkrankung operiert werden musste, wurde von der Studienleitung dabei nicht für relevant gehalten.

Die FMU steht unter großem politischen Druck von Seiten der atomfreundlichen Regierung in Tokio und der mächtigen Atomindustrie im Land. Auch erhält sie finanzielle und logistische Unterstützung der internationalen Atomlobby in Form der IAEO. All dies stellt die wissenschaftliche Unabhängigkeit der FMU in Frage.

Wie viele weitere Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern ebenfalls nicht berichtet wurden, wie viele Fälle außerhalb der Grenzen der Präfektur auftraten oder bei Menschen, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen bereits über 18 Jahre alt waren – all das wird wissenschaftlich nicht untersucht und damit wohl nie bekannt werden.

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o werden bereits seit längerem die Schilddrüsenuntersuchungen durch die FMU selber unterminiert. Unter anderem sollen die Untersuchungsintervalle entgegen ursprünglicher Pläne und Ankündigungen ab dem 25. Lebensjahr von zwei auf fünf Jahre ausgeweitet werden. Zudem wurde bekannt, dass Mitarbeiter*innen der FMU Schulen besuchen, um dort Kinder über deren „Recht auf Nichtteilnahme“ und „Recht auf Nichtwissen“ aufzuklären. Neuerdings gibt es auf den Formularen auch eine entsprechende Möglichkeit des „Opt out“ – man kann sich aus dem Screening entfernen lassen. Dies ist bemerkenswert, da die Teilnahme ja ohnehin freiwillig ist und bereits jetzt 20–30 Prozent der Kinder aus der Studienkohorte nicht an den Untersu-

Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen IPPNW. 19


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as AKW Zwentendorf in Österreich: eine Bauruine, die zum Glück nicht in Betrieb genommen wurde. Ein Fotograf aus Helsinki hat dieses und andere Kraftwerke künstlerisch dokumentiert.

Foto: © Lasse Lecklin

EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK


Weitere Projekte von Lasse Lecklin finden Sie unter: www.lasselecklin.com

Radioaktivität kennt keine Grenzen Auf Besuch bei Europas Atomkraftwerken

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er finnische Fotograf Lasse Lecklin dokumentiert Atomkraftwerke in Europa. Ihn interessiert das Spannungsverhältnis zwischen menschengemachten Industriebauten und der verlassenen, idyllisch anmutenden Szenerie, in der sich viele AKWs befinden. In seiner Heimat steht die Bevölkerung der Atomenergie mehrheitlich positiv gegenüber. Zwei neue finnische Reaktoren sind in Planung, die, wie die schon laufenden vier, an der Ostseeküste geplant sind. Unter anderem soll 2020 auf dem Gelände des AKW Olkiluoto wie in Frankreich und England der umstrittene europäische Druckwasserreaktor EPR ans Netz gehen. Lasse Lecklin hat 2015 sein Fotografiestudium an der Universität Aalto in Finnland abgeschlossen, nach Studienaufenthalten unter anderem in Stockholm, Paris und New York. Seine AKW-Fotoserie wurde u. a. in Litauen, Norwegen, Polen und Großbritannien gezeigt. Auf dem Titelbild dieser Ausgabe ist das slowakische AKW Bohunice zu sehen.

TEMELÍN, TSCHECHIEN

TORNESS, UK 21

Fotos: © Lasse Lecklin

VANDELLÒS, SPANIEN


EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK

Europa steigt aus – oder? Ein Blick über den Kontinent

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us deutscher Sicht erscheint das Thema Atomkraft im letzten Kapitel angekommen. Der gesellschaftliche Diskurs ist gewonnen, die Ewiggestrigen, die bis zuletzt an den hohlen Versprechen der Atomlobby hingen, sind verstummt. Atomenergie hat keine Zukunft in diesem Land, das Ende des letzten Meilers ist in Sicht und jetzt geht es scheinbar nur noch darum, wie Staat und Gesellschaft mit den toxischen Hinterlassenschaften des Atomzeitalters möglichst verantwortungsvoll und umsichtig umgehen. Doch blickt man über den Tellerrand unseres nationalen Diskurses, stellt man fest, dass die Schlacht in anderen Teilen Europas noch nicht geschlagen ist. Immer noch gibt es Länder, in denen es die Atomlobby schafft, mit ihrer Propaganda die öffentliche Meinung und die Politik zu beeinflussen. Ein Blick über den europäischen Kontinent zeigt die divergierenden Stadien auf, in denen sich die einzelnen Länder befinden.

Die Sauberen 29 Staaten quer durch Europa hatten nie Atomkraftwerke oder haben diese bereits abgeschaltet: Island, Irland, Norwegen,

Dänemark, Estland, Litauen, Lettland, Polen, Österreich, Liechtenstein, Luxemburg, Bosnien-Herzego-

wina, Montenegro, Kroatien, Serbien, Kosovo, Nord-Mazedonien, Albanien, Moldawien, Griechenland, Italien, San Marino, Monaco, der Vatikan, Portugal, Andorra, Malta, Aserbaidschan und Georgien. In einigen Ländern, wie Österreich und Italien, wurde die Atomkraft durch Gesetze und Volksentscheide verboten und existierende Atomkraftwerke abgeschaltet, während Polen als einziges Land ohne Atomenergie immer wieder mit dem Gedanken spielt, einzusteigen (siehe Seite 24).

Die Aussteiger Sieben Staaten mit laufenden Atomkraftwerken steuern derzeit auf einen Ausstieg hin: Deutschland, Belgien, Schweden,

die Schweiz, die Niederlande, Spanien und Slowenien. Deutschland hat den Atomausstieg nach Fukushima festgelegt und seitdem bereits zehn der insgesamt 17 Atomreaktoren abgeschaltet. Bis Ende 2022 sollen auch die verbleibenden sieben Reaktoren vom Netz gehen, die Energieproduktion durch Effizienz- und Sparmaßnahmen, erneuerbare Energien und Gaskraftwerke aufgefangen werden. Gleichzeitig hält Deutschland an der Urananreicherung in Gronau und der Brennstäbefertigung in Lingen fest, forscht in Karlsruhe an neuen Atomtechnologien und setzt sich auch auf internationaler 22

Ebene weiterhin für die Förderung der Atomenergie ein, so dass der von der Bevölkerung erkämpfte Atomausstieg von Seiten der Regierung weiterhin untergraben wird.

Spanien, die Schweiz und Schweden eint eine politische Zwiespältigkeit bezüglich der Atompolitik. Sowohl die Schweiz als auch Spanien und Schweden hatten einst militärische Atomprogramme, die eine robuste zivile Atominfrastruktur voraussetzte. Mittlerweile haben alle drei Länder den Griff nach der Bombe aufgegeben, die zivile Atomindustrie jedoch ist geblieben. In allen drei Ländern und auch in Belgien gab es politische Beschlüsse zum Atomausstieg, die mit der Zeit relativiert oder sogar zurückgenommen wurden – ähnlich wie dies in Deutschland durch die Entscheidung zur Laufzeitverlängerung 2010 geschah, wo der mühsam austarierte gesellschaftliche Konsens zum Atomausstieg durch Druck aus der Industrie torpediert wurde.

S

pätestens seit der Atomkatastrophe von Fukushima jedoch hat sich in all diesen Ländern die Erkenntnis durchgesetzt, dass neue Atomreaktoren politisch nicht realisierbar sind. So steuern Belgien, Spanien, die Schweiz und Schweden alle unweigerlich auf ein Ende der zivilen


Finnland 4+1 | 33 % Russland 37+4 | 18 %

Schweden 9 | 40 %

UK 15+1 | 19 % Niederlande 1 | 3 % Belgien 7 | 34 % Deutschland 7 | 12% Frankreich 58+1 | 72 %

Polen

Tschechien 6 | 33 %

Schweiz 5 | 33 % Slowenien 1 | 40 %

Weißrussland 2 im Bau

Ukraine 15+2 | 55 %

Slowakei 7+2 | 12 % Ungarn 4 | 50 %

Rumänien 2 | 18 %

Bulgarien 2 | 34 %

Spanien 7 | 21 %

Türkei 1 im Bau

Europa: derzeit betriebene Atomreaktoren im Bau befindliche Reaktoren Anteil Atomstrom in Prozent

Die Einsteiger

Obwohl Weißrussland von der Atomkatastrophe von Tschernobyl so umfassend betroffen war, wie kein anderes Land, hat sich die autoritäre Regierung den Einstieg in die Atomenergie auf die Fahnen geschrieben. Mit finanzieller und logistischer Unterstützung durch Russland baut der Staat seit 2013 in Astravets, an der Grenze zu Litauen, zwei Atomreaktoren, die Ende 2019 bzw. Mitte 2020 ans Netz gehen sollen.

Mit massiver finanzieller und logistischer Unterstützung aus Russland planen zwei Länder in Europa den Einstieg in die Atomenergie: Weißrussland und die Türkei.

In der Türkei wird seit 2015 ein AKW gebaut. 2019 wurde das Fundament des ersten Reaktors in Akkuyu fertig gestellt, der 2023 ans Netz gehen soll. Drei weitere

Atomenergie zu, wenn auch in unterschiedlichem Tempo, wie in zwei Schwerpunktartikeln in diesem Heft noch näher erläutert wird. In den Niederlanden und in Slowenien steht jeweils noch ein Atomreaktor. Beide sollen bis zum Ablauf der Laufzeit betrieben und dann nicht mehr ersetzt werden.

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Reaktoren sind auf dem Gelände geplant. Das AKW wird von der russischen Staatsfirma Rosatom gebaut und soll auch nach Fertigstellung in russischem Besitz bleiben und betrieben werden. Neben dieser einseitigen Vertragslage wird auch die Erdbebengefahr in der Region und die mangelnde Sicherheitskultur in der Türkei als kritisch gesehen. Ein weiteres AKW-Projekt in Sinop, welches mit japanischer Hilfe gebaut werden sollte, wurde 2018 aus wirtschaftlichen Gründen beendet. Ein drittes Projekt im erdbebengefährdeten Ostthrakien, nahe Istanbul, wurde bislang nicht weiter verfolgt.


EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK

Profitieren dürfte von diesen Deals vor allem Russlands militärische und zivile Atomindustrie, denn durch den Bau von Atomkraftwerken im Ausland erzeugt man eine Nachfrage an Ingenieuren, Wissenschaftlern, Technikern und Zulieferern, die auch für das militärische Atomprogramm dringend benötigt werden. Der Export ziviler Atomtechnologie führt so zu einer indirekten Quersubventionierung von Forschung, Entwicklung, Nachwuchsförderung und Ausbildung im militärischen Bereich der Atomindustrie – ein Prinzip, wie es ganz ähnlich auch durch die USA, Frankreich und Großbritannien praktiziert wird.

Die Ausbauer Zehn Staaten mit laufenden Atomreaktoren setzen offiziell weiter auf Atomkraft: Vier bauen aktuell bereits neue Meiler – Finnland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Slowakei – in sechs Staaten sind neue Reaktoren in Planung (Armenien, Rumänien, die Tschechische Republik, die Ukraine, Ungarn und Bulgarien). Haupttreiber der Bauprojekte sind die Atomwaffenstaaten Frankreich, Russland und China, die mit ihren Staatskonzernen Planung, Bau, Finanzierung und in einigen Fällen sogar den Betrieb übernehmen. In Finnland, im Vereinigten Königreich und in Frankreich baut der französische Staatskonzern EDF derzeit jeweils ein neues Atomkraftwerk vom Typ EPR. Sowohl im finnischen Olkiluoto als auch im französischen Flammanville sind die Bauvorhaben mehr als zehn Jahre in Verzug. Die ursprünglich angesetzten Kosten haben sich an beiden Standorten mehr als verdreifacht. Die Debakel um den EPR führten zum Ausstieg von Siemens aus der AKW-Sparte und zum wirtschaftlichen Ruin der ebenfalls beteiligten Firma Areva. Mittlerweile wurde diese vom französischen Steuerzahler gerettet und die Bauprojekte somit künstlich am Leben erhalten. Die meisten Expert*innen rechnen mit weiteren Kostensteigerungen und Verzögerungen und einige zweifeln sogar daran, ob der EPR jemals in Betrieb genommen werden kann.

Dies wirft natürlich die Frage auf, weshalb ein Land wie das Vereinigten Königreich nun ebenfalls in Hinkley Point einen EPR bauen lassen will, obwohl jetzt schon klar ist, dass der eventuell irgendwann einmal erzeugte Strom deutlich teurer sein wird als Strom aus Photovoltaik, Windkraft, Gas oder anderen Energieformen. Auch hier scheint vor allem die Notwendigkeit einer nachhaltigen Quersubventionierung des strauchelnden militärischen Atomprogramms des Landes im Vordergrund zu stehen. Somit ist es unerheblich, ob Olkiluoto, Flammanville oder Hinkley Point jemals ans Netz gehen: der Nutzen für die Atomindustrie hat sich bereits durch den milliardenschweren und jahrzehntelangen Bau eingestellt. Es tut sich was, im Atomsektor – das soll die Botschaft sein. In Russland sind, wie in anderen Atomwaffenstaaten auch, die zivile und militärische Atomindustrie eng mit einander verzahnt und werden mit großzügigen staatlichen Subventionen ausgebaut. Neben dem Bau neuer Atomwaffen wird daher auch in neue Atomkraftwerke investiert, in die Forschung und Entwicklung neuer Brennstoffe und Atomtechnologien und in sogenannte schwimmende Atomreaktoren, wie sie erstmals auf der Akademik Lomonossow eingesetzt werden sollen, welches im November 2019 die nördliche Stadt Pewek mit Strom versorgen soll. Von den 37 aktuell laufenden Reaktoren in Russland stammen 30 noch aus der Zeit vor Tschernobyl, sind also mittlerweile 30–50 Jahre am Netz. 2009 ging im AKW Rostow bei Wolgodonsk der erste Reaktorneubau nach über 20 Jahren Baupause ans Netz. Seit einigen Jahren unterstützt Russlands staatseigener Atombetrieb Rosatom Reaktorneubauten in Ländern, die für Russlands Außenpolitik geostrategische Bedeutung haben: in der Türkei baut und finanziert Russland das neue AKW in Akkuyu, welches auch von Rosatom betrieben werden soll. Weitere Länder, in denen Russlands Atomindustrie aktiv ist und den Bau von Atomkraft fördert sind Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik, Weißrussland, Armenien, Kasachstan, Iran, Indien, China und Bangladesch. Im eigenen Land werden offiziellen Plänen zufolge aktuell vier neue Reaktoren ge24

baut, 23 weitere Reaktoren sollen landesweit in Planung sein, wobei Rosatom selbst kürzlich aufgrund der zunehmenden Unwirtschaftlichkeit von Atomstrom einen Großteil dieser Projekte auf unabsehbare Zeit verschoben hat. Von einem Ausstieg aus der Atomenergie ist Russland somit weit entfernt. Neben diesen Staaten sind es vor allem die reaktionären Regierungen der vier Visegrád-Staaten, Polen, die Tschechi-

sche Republik, Ungarn und die Slowakei, die künftig auf Atomenergie setzen wollen. Die Bevölkerung in allen vier Ländern scheint der Technologie aufgeschlossen gegenüber und während sich in Polen bis auf vollmundige Ankündigungen, irgendwann einmal eine Ausschreibung für den Bau eines Atomreaktors zu starten bislang nicht viel geschehen ist, gibt es in der Tschechischen Republik ernsthafte Pläne, am Standort Dukovany einen neuen Reaktor bauen zu lassen oder zumindest den existierenden so umzurüsten, dass er zwanzig Jahre länger laufen könnte. Im slowakischen Mochovce wurde 2008 nach 16jähriger Baupause mit italienischer Hilfe erneut mit der Konstruktion von zwei neuen Reaktoren begonnen. Mit einer Verzögerung von rund sechs Jahren sollen die Reaktoren nun dieses Jahr ans Netz gehen – trotz zahlreicher Berichte über Sicherheitsdefizite und Baupannen. Und auch in Ungarn baut der russische Konzern Rosatom am Standort Paks zwei Reaktoren. Pläne für neue Atomreaktoren in der Ukraine, Armenien, Bulgarien und Rumänien hingehen sind noch in sehr frühen Stadien und bislang nicht mehr als vage Ankündigungen. Eine ausführliche Auflistung aller europäischer Staaten und ihrer aktuellen Atompolitik findet sich online unter: www.ippnw.de/bit/atomausstieg_europa

Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen IPPNW.


EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK

Die militärischen Verstrickungen der URENCO In Deutschland ausgeblendet: Zivilmilitärische Interdependenzen in der Atomindustrie

Die Atomwaffenindustrie braucht die zivile Atomkraft. Das belegt unter anderem die Politik des internationalen Atomkonzerns URENCO, der in Deutschland die Urananreicherungsanlage Gronau betreibt. Die URENCO ist mit der Atomwaffenindustrie verflochten. Der Konzern beteiligt sich in Großbritannien auch an der Entwicklung militärisch nutzbarer Reaktoren. In der gleichen Zeitperiode, in der wir den Niedergang der zivilen Atomindustrie erleben, beobachten wir, dass alle Atomwaffenstaaten ihre Waffensysteme umfassend erneuern. Das schließt die landgestützten und vor allem die seegestützten Systeme (mit Atomwaffen bestückte U-Boote) ein. Die Bedrohung durch Atomwaffen steigt weltweit. In allen Atomwaffenstaaten wird die Entwicklung neuer Atomreaktoren subventioniert. Und trotz immenser Kosten hält die Atomindustrie an der Entwicklung einer neuen Atomreaktorgeneration fest: kleine modulare Reaktoren (SMR). Da die Atomkonzerne die Kosten dafür selbst nicht aufbringen wollen, sind sie auf staatliche Subventionen angewiesen. In der EU werden Forschungsgelder aus dem Euratom-Haushalt genommen. Der deutsche Bundestag, der den Ausstieg aus der zivilen Atomkraft längst beschlossen hat, hat pikanterweise am 9. Mai 2019 den Ausstieg aus Euratom-Vertrag und den damit verbundenen Subventionen für Atomforschung abgelehnt.

Atomwaffen und Atomkraft benötigen dieselbe Technologie Beide, Atomwaffen und Atomkraft, benötigen Spaltstoffe – in erster Linie angereichertes Uran oder Plutonium – sowie die Technologien, um waffenfähige Spaltmaterialien zu extrahieren und zu verarbeiten. Das macht die sogenannte zivile Nutzung

DAS ATOMKRAFTWERK WATTS BAR (USA) ERFÜLLT SOWOHL ZIVILE ALS AUCH MILITÄRISCHE ZWECKE.

der Atomkraft so ambivalent. Zudem entsteht in Atomkraftwerken Plutonium, ein weiterer Stoff, mit dem sich Atombomben bauen lassen.

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n der Atomtechnologie spielt die Urananreicherung eine zentrale Rolle. Atomkraftwerke benötigen einen Anreicherungsgrad von drei bis fünf Prozent, Atombomben benötigen 90 Prozent. Für einen Atomreaktor in atomgetriebenen Unterseebooten werden in der Regel ebenfalls hohe Anreicherungsgrade des Uranbrennstoffs benutzt, damit die U-Boote lange unter Wasser fahren können. In diesem Zusammenhang macht die jetzt angekündigte Produktion von HALEU bei URENCO USA durchaus Sinn. (High Assay Low Enriched Uranium, dieses ist auf zwischen 5 und 20 Prozent angereichert.) Auch die Tatsache, dass das Verteidigungsministerium der USA im Januar 2019 offiziell bekanntgab, dass die Umweltprüfung für HALEU abgeschlossen wurde, enthält Hinweise, wofür das Militär HALEU eigentlich benutzen möchte: für atomstromgetriebene U-Boote und für die Stromversorgung des Militärs an entlegenen Kampfschauplätzen. 25

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er zivilmilitärische Zusammenhang wird allerdings von den Medien in Deutschland und in der deutschen Politik oft unterschlagen, ja sogar ausgeblendet. Paradebeispiel sind die Urananreicherungsanlage der URENCO-Gruppe in Gronau und die in den Karlsruher Forschungseinrichtungen betriebene Forschung am Thorium-Flüssigsalzreaktor, der atomwaffenfähiges Uran 233 produzieren kann.

Die Politik von URENCO – und die Urananreicherung in Gronau URENCO ist ein weltweit agierender Konzern in der Urananreicherung, der zehn Prozent des Weltmarkts beliefert. Er hat vier Standorte: Gronau (Deutschland), Almelo (Niederlande), Capenhurst (Großbritannien) und Eunice (USA). Eigentümer und Betreiber der Urananreicherungsanlage Gronau sind die deutschen Energiekonzerne RWE und EON gemeinsam, RWE-Chef Wiegand sitzt im Direktorium des Gesamtkonzerns und bestimmt die internationale Politik mit.


EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK

Da die Anreicherung in den URENCO-Zentrifugen auch die Herstellung von waffenfähigem Uran ermöglicht, weist der URENCO-Konzern eine sehr hohe militärische Brisanz auf. Er unterliegt einem Kontrollsystem im Rahmen des Vertrages von Almelo (1970). Die Regierungen Großbritanniens, der Niederlande und Deutschlands sind gemäß diesem Vertrag durch einen sogenannten Gemeinsamen Ausschuss mit Vetorecht an der Aufsicht über das Unternehmen beteiligt.

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RENCO hat zur Zeit Lieferverträge für die Brennstoffversorgung von maroden grenznahen AKWs in Doel und Tihange, Belgien sowie nach Cattenom, Frankreich. URENCO sorgt für die Brennstoffversorgung der deutschen, schwedischen und ukrainischen Atomkraftwerke. Doch die Lieferverträge in Deutschland werden in nur wenigen Jahren enden, vorausgesetzt, dass es in der Ausstiegspolitik der Bundesregierung keine Rolle rückwärts gibt. Noch besorgniserregender ist jedoch die Lieferung in die Krisenregion der Vereinigten Arabischen Emirate, für das AKW Barakah, dessen vier Atommeiler ab Ende 2019 ans Netz gehen sollen. Unklar bleibt die Situation bezüglich der geplanten AKWs in Saudi-Arabien. Saudi-Arabien möchte in den nächsten 20 bis 25 Jahren 16 AKWs bauen und dabei seine eigenen Uranvorräte nutzen, um den gesamten Brennstoffzyklus selbst bereitzustellen. Der sich zuspitzende Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien einerseits und die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch die Trump-Administration andererseits zeigen, wie dringend eine internationale Politik der atomaren Rüstungskontrolle ist und wie eng die Zukunftspläne der Atomwaffenindustrie mit der zivilen Nutzung der Atomkraft verbunden sind. 2017 wurde die Absicht der

URENCO bekannt, angereichertes Uran in das AKW Watts Bar I zu liefern. Dort wird mittels spezieller Brennstäbe Tritium für US-Atomwaffen hergestellt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung von kleinen modularen Reaktoren, deren Entwicklung besonders in Atomwaffenländern von der jeweiligen Regierung unterstützt wird, hat URENCO Großbritannien zusammen mit anderen Atomfirmen ein Konsortium gegründet, das sehr kleine, nur modulare Vier-Megawatt-Reaktoren nach dem Kugelhaufen-Reaktor-Typ entwickeln soll. Der Vorteil soll sein, dass der Reaktor nur alle fünf bis zehn Jahre neu mit Brennstoff versorgt werden muss, was klar für militärische Nutzungen in abgelegenen Kampfgebieten spricht.

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iese modularen Atomreaktoren sollen mit HALEU betrieben werden. Ein solcher Reaktor könnte per Lastwagen oder Flugzeug transportiert werden und nach 10 bis 20 Jahren zum Neubeladen mit atomaren Brennstäben wieder in die USA befördert werden. Kurz nachdem das US-Verteidigungsministerium verkündet hatte, dass es die Firma Centrus Energy beauftragen würde, eine eigens militärisch nutzbare Urananreicherungsanlage mittels Zentrifugentechnik aufzubauen, verkündete auch URENCO USA, dass man den möglichen Anreicherungsgrad auf 19,75 Prozent erhöhen, also HALEU herstellen wolle.

Argumente für die These von zunehmenden zivilmilitärischen Interdependenzen Es sind hauptsächlich Atomwaffenländer wie China, Pakistan, Indien, Russland und die USA, die in AKW-Neubauten investieren. Führungspersönlichkeiten aus Politik und Industrie in den USA sagen es inzwischen offen: Wir sind auf die zivile Nutzung der Atomenergie angewiesen, damit wir Atomwaffen bauen können: „The entire US nuclear enterprise – weapons, naval propulsion, non-proliferation, enrichment, fuel services and negotiations with international partners – depends on a robust civilian nuclear industry.“ Ohne zivile Nutzungen der Atomkraft sind auf Dauer Atomwaffen für die jeweiligen Atomwaffen-Staaten nicht herstellbar. Der Atomexperte Mycle Schneider dazu: „Bei der zivilmilitärischen Überlappung geht es vor allem um gegenseitige Abhängigkeiten des zivil-militärischen Atomkomplexes: Das Militär bedient sich aus demselben Fundus an Ingenieuren, Fachleuten (...) wie die zivile Atomindustrie. Die Kompetenzen, um die es geht, Sicherheits- und Konzeptstudien, Material- und Alterungsprobleme und so weiter, das sind alles dieselben.“

Fazit Wie auch zu Beginn der Entwicklung der sogenannten zivilen Atomindustrie in den 50er und 60er Jahren müssen wir deren Werbesprüchen mit Misstrauen begegnen. Die besseren Energieversorgung kann schon heute viel besser mit Erneuerbaren Energien gewährleistet werden. In diesem Bewusstsein sollten die Friedensbewegung, ICAN und die Anti-Atom-Bewegung sehr viel enger zusammenarbeiten. 26

Dr. Angelika Claußen ist Präsidentin von IPPNW Europa.


Foto: Global 2000 / CC BY-ND 2.0

BLOCKADE VON HINKLEY POINT IM OKTOBER 2012

Geht die Atomenergie den Bach runter? Die Situation der Atomindustrie in Großbritannien

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ie Firma Rolls Royce versucht derzeit, den Großteil ihres zivilen Atomgeschäfts in Großbritannien abzustoßen. Auch der Energieriese EDF versucht seit einem Jahr, einen Käufer für seine überalterte Reaktorflotte zu finden. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Käufer finden, zumindest, wenn ein vernünftiger Preis erzielt werden soll. Der britische Energieriese Centrica versucht seit Jahren, sich seines Geschäftsanteils von 20 Prozent an EDF Energy zu entledigen. 2012 hatte es sich aus der umstrittenen Entwicklung von Hinkley Point C zurückgezogen und damit 200 Millionen Pfund in den Sand gesetzt. Die Firmen wollen aussteigen, weil sich das Geschäft nicht mehr lohnt. Kernbrennstoffe sind weit teurer als die bei Null liegenden Kosten von Wind und Sonne. Die 14 gasgekühlten AGR-Reaktoren sind nicht nur unökonomisch, sie sind uralt und haben ihre ursprünglichen Laufzeiten fast alle überschritten. Einige gehören mit 43 Jahren zu den ältesten laufenden Reaktoren in Europa. Manche haben schon gefährliche Risse in ihren Graphit-Moderatoren. Es gibt einen Typenfehler bei allen AGR – deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie vom Netz gehen. Dann wäre der Druckwasserreaktor von Sizewell der letzte verbleibende in Großbritannien. Fazit: Die Aussichten sind düster für die bestehende Atomindustrie in Großbritannien. Gleichzeitig sind Neuentwicklungen schwierig, wenn nicht zum Scheitern verurteilt. Toshiba hat sich nach dem Kollaps

seiner Atomsparte aus dem umstrittenen NuGen-Atomkraftwerk in Cumbria zurückgezogen. Hitachi, legte sein Programm ebenfalls im Januar auf Eis – Grund seien finanzielle Schwierigkeiten. Das betrifft auch den 20-Milliarden Pfund teuren Neubau des AKW Wylfa. Die zerstörten Hoffnungen der lokalen Wirtschaft und Verwaltung bringen einige Aufregung mit sich. Doch die Zeichen der Zeit sind offensichtlich, selbst wenn lokale Geschäftsleute und Politiker*innen sie nicht lesen wollen.

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ealität ist: Regierungen, Banken, Versorgungsunternehmen und Energiekonzerne ziehen sich seit vielen Jahren weltweit nach und nach aus Atomprojekten zurück. Diese Realität ist jetzt in Großbritannien angekommen. Die wichtigste und überraschendste Entwicklung ist jedoch, dass die britische Regierung anscheinend dabei ist, von der Atomenergie zur Offshore-Windkraft zu wechseln. Alle Indizien weisen in diese Richtung. In einer Regierungserklärung vom 6. Februar 2019 kündet der Staatssekretär für Wirtschaft, Greg Clark im House of Commons an, die Regierung überarbeite ihre Energiestrategie. Das Haus war fast leer, weil die meisten Abgeordneten erschöpft vom Vortag waren – von nicht-endenden Brexit-Debatten. Die Regierung hatte das vorausgesehen und konnte so vermeiden, Stellung zu verschiedenen schwierigen Fragen zu nehmen, unter anderm zu dem offensichtlichen Wechsel in der Energiepolitik. Clarks Rede wurde von den Abgeordneten kaum und von den Medien überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. 27

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ine gründliche Lektüre zeigt jedoch, dass die Regierung nach Jahren endlich Notiz von sinkenden Preisen Erneuerbarer Energien genommen hat, gegenüber steigenden Kosten der Atomenergie. Die warmen Worte bezüglich der Atomenergie waren eher Lippenbekenntnisse – denn für den Weiterbau der AKWs in Moorside und Wylfa B/Oldbury wurden keine weiteren Finanzmittel angekündigt. Der in Regierungskreisen einflussreiche Prof. Dieter Helm, schloss, „kein noch so intelligenter Vertrags- und Regulierungsrahmen (…) kann die schweren Herausforderungen wegzaubern, denen die Atomenergie gegenübersteht (...) die hohen Vorabkosten (…), das Risiko- und Sicherheitsmanagement, und die Herausforderung der Atommüllentsorgung.“ Die Regierung scheint sich also von ihren AKW-Plänen abzuwenden. So hat sie jetzt zugestimmt, 558 Millionen Pfund in die Entwicklung von Offshore-Windprojekten zu stecken – Taten sagen mehr als Worte. Der einzige verbleibende Reaktor im Bau ist Hinkley Point C, wo der erste Beton im Dezember 2018 gegossen wurde. Durch eine Serie von finanziellen, legalen und technischen Hindernissen wird das Projekt zur Wackelpartie. Ungekürzter englischer Originaltext unter tiny.cc/fairlie Dr. Ian Fairlie ist Berater zu den Umweltfolgen von radioaktiver Strahlung.


EUROPÄISCHE ATOMPOLITIK

Schweiz: Atomausstieg mit Hindernissen s geht zu langsam, zwei Schritte vorwärts, dann einen zurück, manchmal auch drei. Die Schweiz tut sich schwer mit der Umsetzung des Atomausstiegs. Dieser ist seit der Volksabstimmung vom Mai 2017 – mit dem JA der Stimmberechtigten zur Energiestrategie 2050 – an und für sich beschlossene Sache. Der Schweizerische Bundesrat (BR) hatte im Vorfeld artikuliert, die Schweizer AKWs sollten so lange laufen, wie sie sicher sind. Der BR hat dann jedoch mit einer unglaublichen Machtdemonstration am 7. Dezember 2018 eine Revision der Kernenergieverordnung beschlossen, die die geltenden Sicherheitskriterien für den Kernkraftwerksbetrieb aushebelt. Im Fokus ist dabei das marode Kernkraftwerk Beznau KKWB, das durch diesen Beschluss uneingeschränkt in Betrieb bleibt. Diese Änderung der Regeln im laufenden Spiel ist Ausdruck der Abhängigkeit des BR von den Empfehlungen des Eidgenössischen Nuklearen Sicherheitsinspektorates (ENSI). Dies gipfelt in einem Faktenblatt des Bundesamtes für Energie, welches sich unter anderem zur Behauptung versteigt, „Statistische Auswertungen bei größeren Bevölkerungsgruppen zeigen, dass bei Strahlendosen unterhalb von 100 Millisievert keine Gesundheitseffekte nachweisbar sind.“ Dies ist umso unverständlicher, da der BR am 2. März 2018 signalisiert hatte, dass er von den neuesten Studienergebnissen zu den Gesundheitseffekten niedriger ionisierender Strahlendosen Kenntnis genommen hat – unter spezieller Erwähnung der INWORKS-Studie. Auf Anregung der IPPNW Schweiz wurde nun eine parlamentarische Interpellation lanciert, die eine Klärung dieser offensichtlichen Widersprüche verlangt.

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olange diese Strahleneffekte von der obersten Bundesbehörde geleugnet werden, ist eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich. Ebenfalls ist in Sachen KKWB noch ein Bundesgerichtsentscheid hängig. Weitere parlamentarische Vorstöße betreffen die häufigen sicherheitsrele-

DIE IPPNW, SCHWEIZ AUF EINER KLIMA-DEMONSTRATION

vanten Störfälle – bis hin zur Dokumentenfälschung – im KKW Leibstadt sowie einen durch den Ständerat geforderten Expertenbericht zu nuklearen Risiken. Besorgniserregend ist der Ruf nach neuen Kernkraftwerken angesichts des Klimawandels – trotz Ausstiegsbeschluss! Die IPPNW Schweiz hat sich hier den gewaltfreien Klimademonstrationen der Jugendlichen angeschlossen und weist wo immer möglich auf die Untauglichkeit der Kernkraft als Lösung des Klimaproblems hin. Es braucht nach wie vor eine kontinuierliche atomkritische Präsenz in der Öffentlichkeit. Wertvolle Schützenhilfe leisten hier die kürzlich erschienen Bücher „Atomfieber“ von Michael Fischer (zur Geschichte der Atomenergie in der Schweiz) sowie „Wohin mit dem Atommüll“ von Marcos Buser, ebenfalls die publizistische Aufarbeitung des massiven Kernkraftwerkunfalls von Lucens 1969 der Stärke 5 auf der INES-Skala, sowie die transparente Darstellung der irrwitzigen Anstrengungen der Schweizer Armee zur Entwicklung einer eigenen Atombombe.

tigen Lerneffekt nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima gibt. Eine erneute Initiative für die schnellere Abschaltung der verbleibenden KKW ist zur Zeit nicht in Sicht. (Das KKW Mühleberg wird im Dezember 2019 aus wirtschaftlichen Gründen von Netz gehen.) Braucht es wirklich einen weiteren Super-GAU, um auch die Schweizer Bevölkerung zur definitiven Abkehr von der Atomenergie zu bewegen? Um die nuklearen Risiken erneut ins Bewusstsein zu bringen, untersucht eine Studie unter der Leitung von Dr. Frédéric-Paul Piguet aus Genf die extremen Folgen eines großen Unfalls in einem Schweizer AKW. An der Studie ist auch die IPPNW Schweiz beteiligt. Pikant – wenn auch längst vermutet: Bereits bei durchschnittlichen Wetterverhältnissen wäre ein Unfall im KKW Leibstadt Ursache für viele Tausende strahleninduzierte Krebsfälle und Herzenskreislauferkrankungen in Deutschland – mehr als in der Schweiz.

Die Ablehnung der Volksinitiative „für Dr. Claudio Knüsli ist Onkologe einen geordneten Ausstieg aus der Kernund Vorstandsenergie“ vom Herbst 2016 zeigt, dass es mitglied der PSR/ IPPNW Schweiz bedauerlicherweise noch keinen nachhal28

Foto: IPPNW Schweiz

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Eidgenössische Behörden leugnen die Gesundheitsrisiken der Atomenergie


AKW TIHANGE, BELGIEN

Belgien: Diskussion wird verweigert

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„Bröckelreaktoren“ von Tihange und Doel bleiben am Netz – ein Risiko für die ganze Region

ihange – diesen Namen kennt im Großraum Aachen inzwischen jeder. In Tihange an der Maas steht eins der beiden belgischen Atomkraftwerke mit drei Blöcken, die jeweils 1975, 1983 und 1985 ans Netz gingen. Tihange 1 sollte eigentlich 2015 abgeschaltet werden. Aber die belgische Politik entschied anders und verlängerte kurzerhand die Laufzeit um zehn Jahre bis 2025. T2 soll 2023 vom Netz und T3 2025. Aber schon mehren sich die Stimmen belgischer Politiker*innen nach weiterer Verlängerung der Laufzeit; die Energiesicherheit könne sonst nicht gewährleistet werden. Fakt ist, dass in Belgien zu wenig in alternative Energien investiert wurde. Es gibt also einen überalterten Block von jetzt 44 Jahren und darüber hinaus einen Block, T2, bei dem 2012 erstmalig Risse in den Schmiederingen des Reaktordruckbehälters festgestellt wurden. Bei einer erneuten Untersuchung 2015 wurde eine deutlich höhere Zahl von Rissen mit einer deutlich größeren Ausdehnung entdeckt. Das zweite belgische Kraftwerk ist Doel. Es liegt im Hafen von Antwerpen in einer der am dichtesten besiedelten Gegenden Europas. Im Umkreis von 75 km leben neun Millionen Menschen. In Doel gibt es vier Reaktorblöcke, D1 und D2 gingen 1975, D3 1982 und D4 1985 in Betrieb. Genau wie in Tihange wurde die Laufzeit der beiden ältesten Meiler einfach um 10 Jahre verlängert. Auch sie sind 44 Jahre alt und sollen noch sechs Jahre weiterlaufen. Auch bei Doel 3 wurden Haarrisse festgestellt. Die Zahl stieg von 8.062 in 2012 auf 13.047 in 2015. Manche Risse sind 17cm groß! Diese Haarrisse sind Wasserstoffeinschlüsse – an ihnen scheiden sich die Geister. Während die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC nach von ihr an-

geordneten Untersuchungen die Meinung vertritt, dass die Risse bei der Herstellung des Stahls des Druckbehälters entstanden und daher unbedenklich seien, befürchten unabhängige Expert*innen wie die Materialwissenschaftlerin Ilse Tweer aus Wien, dass die Wände des Druckbehälters bei einer akuten Notkühlung aufreißen und ihr radioaktives Inventar freigeben könnten. 2012 hat die FANC angeordnet, das Notkühlwasser auf 40 Grad vorzuheizen. Scheinbar befürchtet sie doch einen thermischen Schock. April 2018 fand in Aachen eine Fachtagung der Internationalen Vereinigung unabhängiger Nuklearexperten (INRAG) u. a. mit Greg Jaczko statt, dem ehemaligen Leiter der US-amerikanischen Atomaufsichtsbehörde, sowie Dieter Majer, dem ehemaligen Chef der deutschen Atomaufsichtsbehörde. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Risse vor Erteilung der Genehmigung hätten entdeckt werden müssen und T2 und D3 hätten gar nicht genehmigt werden dürfen. Sollten sie während des laufenden Betriebes entstanden sein, sei ein sofortiges Abschalten ein Muss. In einer im Sommer 2018 veröffentlichten Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission hält diese die Untersuchungen und Schlussfolgerungen der belgischen FANC, dass die Risse bei der Produktion entstanden seien, für plausibel. Daraus folgerten verschiedene Medien, dass T2 und D3 sicher wären.

Voraussetzungen zu schweren Schäden am Reaktorkern bis hin zur Kernschmelze führen kann. Im April 2018 wurde in Doel 1 ein Leck an einer Wasserleitung im Notkühlsystem festgestellt. Vier andere Meiler mussten aufgrund von Betonverfall in den Decken von Gebäuden in unmittelbarer Nähe der Reaktorbauten für längere Zeit heruntergefahren werden. Letzten Herbst war nur eins der sieben belgischen AKW in Betrieb. Schon 2016 beschwerte sich der damalige Leiter der FANC, Jeff Bens, über die Nachlässigkeit von Electrabel, dem Betreiber der belgischen AKW. Ganz gleich, was wir erfahren und wie besorgt die Bevölkerung unserer Region ist, von der Bundeskanzlerin kommt keinerlei Reaktion. Nach der oben erwähnten RSK-Studie nimmt auch die Bundesumweltministerin Abstand von Forderungen nach Abschalten und sieht zur Zeit auch keine Möglichkeit, die Brennelementlieferung von Lingen nach Tihange und Doel zu unterbinden.

I

n der Europäischen Union ist Energiepolitik Ländersache. Außerdem ist der Betreiber von Tihange und Doel Engie Electrabel eine Tochterfirma von Engie Frankreich, an der der französische Staat mit 25 Prozent beteiligt ist. Opfert Frau Merkel unsere Region, um zumindest auf diesem Gebiet ihrem Freund Emmanuel Macron nicht in die Parade zu fahren?

A

ber es sind nicht nur die Risse, die Sorgen bereiten. Immer wieder gab es in den letzten Jahren Probleme, die das Abschalten des einen oder anderen Kraftwerks erforderten. Im Februar 2018 meldete die FANC eine Häufung von Percusor-Fällen in Tihange 1. Bei einem Percusor handelt es sich um einen Zwischenfall in einem AKW, der unter bestimmten 29

Odette Klepper ist IPPNWMitglied.


ATOMENERGIE WELT

TOKYO 2020

The Radioactive Olympics Die IPPNW gibt den Startschuss für die internationale Kampagne

Genau ein Jahr vor dem Beginn des olympischen Fackellaufs in der japanischen Präfektur Fukushima startete die IPPNW im März 2019 eine internationale Informationskampagne zu den Olympischen Spielen. Unter dem Slogan „Tokyo 2020 – The Radioactive Olympics“ wird auf die Strahlenbelastung in Japan nach der Atomkatastrophe von Fukushima aufmerksam gemacht. Die gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Folgen der radioaktiven Kontamination dürfen nicht verschwiegen werden.

Der offiziell-politische Umgang mit dem mehrfachen Super-GAU ist bis heute eng an die ökonomischen Interessen des atomindustriellen Komplexes gebunden. In Japan existiert hierfür der Begriff „Atomdorf“ – vergleichbar mit dem deutschen Begriff „Atomstaat“. Er meint die enge Vernetzung von politischen und industriellen Machtstrukturen. Das Atomdorf versuchte frühzeitig, den Atomunfall als beherrschbar und vor allen Dingen als lokal begrenzt darzustellen – um nach innen die Bedenken der Bevölkerung bezüglich eines Wiederanfahrens der japanischen AKWs zu zerstreuen. Nach außen soll die japanische Atomtechnologie wieder exportfähig werden. Die Durchführung der Olympiade in Tokio reiht sich in diese Bagatellisierungsstrategie ein als Versuch, Normalität zu präsentieren, wo es keine Normalität gibt.

Japan lädt die Sportler*innen der Welt ein: 2020 sollen die Olympischen Spiele in Tokio stattfinden. Auch in der Hauptstadt der Präfektur Fukushima sind olympische Wettkämpfe geplant: Baseball und Softball-Spiele sollen in Fukushima Stadt ausgetragen werden – 50 Kilometer vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi entfernt. 2011 kam es dort zu einem mehrfachen Super-GAU. Radioaktive Wolken verstrahlten damals Japan und den umliegenden Ozean – vergleichbar nur mit dem Super-GAU in Tschernobyl. Die ökologischen und sozialen Folgen sind in Japan weithin sichtbar: Entwurzelte Familien, ausgestorbene Evakuierungszonen, hunderttausende Säcke mit verstrahlter Erde, verseuchte Wälder, Flüsse und Seen.

M

it unserer Kampagne wollen wir thematisieren, dass es weiterhin weltweit kein Endlager gibt, in dem die giftigen Hinterlassenschaften der Atomindustrie angemessen und sicher verwahrt werden können. Wir wollen die mediale Aufmerksamkeit der Olympischen Spiele nutzen, um Initiativen zum Atomausstieg in Japan zu unterstützen und die weltweite Energiewende zu propagieren: weg von fossilen und nuklearen Brennstoffen und hin zu erneuerbaren Energien. Wir wollen eine erhöhte Aufmerksamkeit dafür erreichen, wie politische Repräsentanten in aller Welt in den militärisch-industriellen Komplex verstrickt sind. Auf unserer Kamapgnenseite finden Sie aktuelle Informationen zur Situation in Fukushima, Informationen zur ionisierenden Strahlung, Hintergrundberichte und Aktionsideen. Schreiben Sie uns, um mitzumachen oder unseren Newsletter zu abonnieren.

Internationale Regelungen sehen vor, dass die Bevölkerung nach einem Atomunfall lediglich einem Millisievert zusätzlicher Strahlung pro Jahr ausgesetzt werden darf. In den rückbesiedelten Gebieten in Fukushima wird der Bevölkerung jedoch eine Strahlendosis zugemutet, die bis zu 20 Mal höher liegt. Selbst Ortschaften, die bereits dekontaminiert wurden, können durch Wind und Wetter jederzeit erneut verstrahlt werden, denn Wälder und Berge stellen ein Reservoir dar. Die havarierten Reaktoren sind noch längst nicht außer Gefahr. Von ihnen geht eine anhaltende Strahlenbelastung aus. Die Atomkatastrophe dauert an. Es gibt keine Entwarnung.

Kontakt und Bestellung von Flyern: olympia2020@ippnw.de Weitere Informationen: http://radioactive-olympics.org

Jörg Schmid ist Mitglied des AK Atomenergie. 30


AKTION

EUCOM schließen Aktion in Stuttgart

B

ei einer öffentlichen Aktion und Kundgebung am United States European Command im Rahmen des IPPNW-Jahrestreffens forderten die Ärzt*innen und Medizinstudierenden die Schließung des EUCOM. Auf der Kundgebung erklärte der IPPNW-Vorsitzende Dr. Alex Rosen: „Von diesem Ort geht Krieg aus. Von dieser Zentrale der US-Armee aus werden Landarmeen, Flugzeugträger, Flugstaffeln, Bomben, Atomwaffen, Marineeinheiten und Special Forces befehligt“. Er wies darauf hin, dass ein einzelnes atomar bestücktes U-Boot der USA oder Russlands in der Lage sei, die 20 größten Städte des Gegners mit nur einem Knopfdruck auszulöschen. Die IPPNW-Ärztinnen in weißen Kitteln forderten mit Schildern mit großen Buchstaben „Frieden jetzt – EUCOM schließen!“. Eine Trommelgruppe sorgte trotz des ernsten Themas für gute Stimmung.

31


G ELESEN

Manual for Survival

Ein politisches Leben

33 Jahre nach Tschernobyl ist das neue Buch von Kate Brown auf den Markt gekommen, einer Historikerin am angesehenen MIT, die fließend Russisch und Ukrainisch spricht.

Denkmal für eine Lichtgestalt der SPD

J

ahre hat es gedauert, bis ich gemerkt habe, dass unser Mitarbeiter Jens-Peter Steffen der Sohn von Jochen Steffen ist, dem „roten Jochen“ aus Schleswig-Holstein, einer der wenigen Lichtgestalten der linken SPD, die mich damals dazu veranlassten, an meinem ersten Wohnsitz in Schleswig-Holstein SPD zu wählen. Nun hat Jens-Peter zusammen mit Uwe Danker seinem Vater ein politisches Denkmal gesetzt, das einige IPPNW-Mitglieder interessieren könnte.

B

rown hat bislang wenig beachtete sowjetische Originalquellen durchforstet, hat Russland, Weißrussland und die Ukraine bereist, und die Aspekte der Geschichte Schritt für Schritt wie ein Puzzle zusammengefügt. Herausgekommen ist ein beeindruckend frischer und zugleich düsterer Blick auf eins der wohl bedeutendsten Industrieunglücke der Menschheitsgeschichte. Ihren Schwerpunkt legt Brown auf die Versuche der sowjetischen Behörden und der internationalen Atomlobby, die wahren Folgen der Kernschmelze vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder kleinzureden. Sie untersucht die Bemühungen des UN-Gremiums UNSCEAR und der IAEA, deren Aufgabe es ist, die „friedliche” Atomenergie weltweit zu fördern. Internationale Diplomat*innen und Wissenschaftler*innen, die der Atomindustrie nahe standen, vertuschten über Jahrzehnte die vorliegende Evidenz der großflächigen gesundheitlichen Folgen. Ignoriert wurden die Schicksale der mehr als 800.000 Liquidator*innen – meist junger Menschen, die zum Dienst am brennenden AKW-Reaktor gekarrt und ohne jede Schutzkleidungden strahlenden Müll beiseite schaffen und begraben mussten.

Der 1922 geborene Steffen wurde 1946 SPD-Mitglied und Mitbegründer des SDS. Nach einem unbeendeten Studium der Politikwissenschaft ging er als Redakteur einer Wochenzeitung nach Flensburg und war von 1958-77 Mitglied des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Zwischen 1965 bis 1975 bekleidete er das Amt des Landesvorsitzenden der SPD Schleswig-Holstein, von 1966 bis 1973 das des Oppositionsführers und erwarb sich den Ruf eines linken Flügelmanns. Zweimal trat Steffen erfolglos für das Amt des Ministerpräsidenten an. Auf Bundesebene der SPD wurde er Vorstandsmitglied und Vorsitzender der Grundwertekommission. Schrittweise legte Steffen ab Mitte der 1970er Jahre seine Ämter nieder und trat 1979 aus der SPD aus. Er kritisierte den wirtschaftsfreundlichen Kurs der Partei unter der Führung Helmut Schmidts, dem er „eine solide CDU-Politik“ attestierte.

I

m Buch kommen kritische Wissenschaftler*innen zu Wort, die Journalist*innen, Ärzt*innen und Beamt*innen, die versucht haben, das Netz der Verheimlichungen zu durchdringen. Nicht zuletzt wird denen eine Stimme gegeben, die jahrzehntelang belogen wurden, deren Leben oder Gesundheit geopfert wurden – Menschen wie die Bewohner*innen von Gomel und Mogilev im Osten Weißrusslands, über denen der Großteil des radioaktiven Niederschlags heruntergeregnet kam. In Browns Buch lernen wir, dass diese beiden Regionen nicht zufällig bis heute radioaktiv verseucht sind, sondern als Resultat bewusster Entscheidungen in Moskau. Denn die strahlenden Wolken trieben auf die Hauptstadt zu und so wurde die folgenschwere Entscheidung getroffen, die Wolken mit Silberjodid zu impfen und ausregnen zu lassen, bevor sie Moskau erreichen konnten. Das ist nur eine der vielen bislang unausgesprochenen und ungeschriebenen Geschichten von Tschernobyl. Wer mehr erfahren möchte, sollte dieses Buch bestellen.

Es ist kein Buch zum Runterlesen, dazu ist es zu umfangreich und auch zu vielschichtig, aber eines, um in vielen Facetten wieder einzutauchen in die damalige Zeit, in das Ringen um den „richtigen“ politischen Weg, der viele von uns damals und bis heute umgetrieben hat. 16 Autorinnen und Autoren haben zum Teil als Erinnerungen als Weggefährten, zum Teil in wissenschaftlichen Beiträgen ein vielfältiges Bild gezeichnet von Jochen Steffen als Redakteur, als Landespolitiker, seiner Mitarbeit im Bundesvorstand der SPD, und zuletzt als Satiriker und Kabarettist „Kuddl Schnööf“. Die von Jens-Peter Steffen verfasste Biographie am Ende des Bandes ist eine politische, so wie Jochen Steffen ein durch und durch politischer Mensch war. Um so spannender ist es, all das noch einmal nachzulesen. Uwe Danker, Jens-Peter Steffen (Hrsg.): Jochen Steffen: ein politisches Leben. Schleswig-Holsteinischer Geschichtsverlag 2018, 735 S., 39,80€, ISBN 978-3-933862-53-2 Zu bestellen in der Geschäftsstelle für 44 € inkl. Porto und Verpackung. Sabine Farrouh

Kate Brown: Manual for Survival: A Chernobyl Guide to the Future, W. W. Norton (englischsprachige Originalausgabe), 432 S., 27,95 $, ISBN-10: 0393652513 Alex Rosen 32


G EDRUCKT

TERMINE

Aktionspostkarte

JUNI 19. 6. Gewaltfreie Kommunikation und globale Krisen: Wie reden wir miteinander? Vortrag von Katharina Thilke (IPPNW) in Köln

jetzt zu bestellen

23.-30. 6. Aktionswoche Stopp Air Base Ramstein 24.-26.6. Nuclear Comeback Time in Europe? Idea Forum on New Arms Control Initiatives for the Post-INFEra, u. a. mit Xanthe Hall, Loccum Bestellen Sie unsere kostenlosen Aktionspostkarten und teilen Sie dem Bundesaußenminister Heiko Maas Ihren ganz persönlichen Grund mit, warum Sie in einem Europa ohne Atomwaffen leben möchten. Mit der Kündigung des INF-Vertrages können – und wollen – die USA und Russland zukünftig wieder nuklear bestückbare Mittelstreckenraketen entwickeln. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass solche neuen Atomraketen in Europa stationiert werden sollen! Unser Kontinent würde damit zum

potentiellen Schauplatz eines Atomkrieges. Forderungen an die Bundesregierung sind: keine neuen Atomraketen in Deutschland zuzulassen – sich für eine verbindliche Erklärung aller europäischen Länder gegen die Stationierung von Atomraketen einzusetzen und den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. Die Karten erhalten Sie bei: Ohne Rüstung Leben, Arndtstraße 31, 70197 Stuttgart, 0711 608 396 www.ohne-ruestung-leben.de

JULI 1.-6.7. IPPNW-Woche am Atomwaffenstützpunkt Büchel 7.7. Aktionstag „Zwei Jahre Atomwaffenverbot“ 5.7. -6.8. „Albert Schweitzer und das internationale Bündnis gegen Atomwaffen mahnen“, Ausstellung in Tübingen 19.-21.7. „Abrüsten jetzt“: FußballFriedensturnier in Berlin

AUGUST 5.-9.8. Sommerakademie „Atomares Erbe“ in Wolfenbüttel

G EPLANT

OKTOBER

Das nächste Heft erscheint im September 2019. Das Schwerpunktthema ist:

Atomwaffen aus Deutschland abziehen! Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 159/September 2019 ist der 31. Juli 2019. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Wilmen, Regine Ratke

31. Juli 2019

Freie Mitarbeit: Dominik Kordt, Mona Schreyer

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte­

Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Druckerei-

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 6980740,

dienstleistungen Berlin; Papier: Recystar Polar,

Fax 030 693 8166, E-Mail: ippnw@ippnw.de,

Recycling & FSC.

www.ippnw.de

Bildnachweise: S. 6 li: JUNEPA; S. 6 re: Fridays

Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft,

for Future Deutschland / CC BY 2.0; S. 7 li: UN

Kto-Nr.: 2222210, BLZ 10020500, IBAN DE39

Photo/Eskinder Debebe; S. 25 AKW Watts Bar:

002 050 0000 222 2210, BIC: BFSWDE33BER

TVA Web Team / CC BY 2.0; S. 29 AKW Tihange:

Das Forum erscheint viermal im Jahr. Der Be-

Hullie / CC BY-SA 3.0;

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

nicht gekennzeichnete:

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

privat oder IPPNW. 33

19.10. Mit Vollgas in die Digitalisierung. Thementag Medizin & Gewissen in Nürnberg 26.10. Europa – Quo vadis? Vortrag in Landsberg am Lech

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

JULI 20.-27.07. Global Health Summer School: Migration & The Health Security Nexus www.health-andglobalisation.org


G EFRAGT

6 Fragen an … Paul Russmann

Referent für Friedensarbeit bei der Kampagne „Ohne Rüstung Leben“ und Sprecher der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“.

1

Herr Russmann, welche Rolle spielt das United States European Command (EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen? Das EUCOM ist seit den jüngsten Umstrukturierungen für ganz Europa und Russland verantwortlich. Schon für den ersten US-Krieg gegen den Irak Anfang der 1990er wurde die gesamte Logistik vom EUCOM aus gesteuert. Zwar wurde der Angriffskrieg gegen den Irak im Jahr 2003 primär vom Central Command (CENTCOM) durchgeführt, der gesamte Kriegsnachschub wurde jedoch vom EUCOM koordiniert. Auch an den Kriegshandlungen im ehemaligen Jugoslawien war es entscheidend beteiligt. Der damalige EUCOM-Kommandeur Joseph Ralston gab seinerzeit an, den vom EUCOM befehligten europäischen Einrichtungen käme eine „zentrale Rolle“ zu.

Wie ist die Stationierung des Kommandos in der Bundesrepublik geregelt? Abkommen wie der Aufenthaltsvertrag von 1954 oder das NATO-Truppenstatut regeln die Stationierung ausländischer Truppen in Deutschland. Diese schränken die Souveränität und Kontrolle der Bundesregierung über US-amerikanische Aktivitäten in weiten Teilen ein, auch wenn formal Befugnisse von der Bundesregierung freiwillig gewährt und wieder zurückgenommen werden können.

2

5

Deutschland und von dort per Satellit zur Kampfdrohne in Sizilien übermittelt. So kann die US-Air Force dank ihrer deutschen Basis Menschen aus tausenden Kilometern Entfernung gezielt exekutieren.

4

Weshalb wurde zusätzlich zum EUCOM das AFRICOM ins Leben gerufen? Lange Jahre entlockte Afrika den USMilitärstrategen wenig mehr als ein desinteressiertes Schulterzucken. Im Februar 2007 erfolgte die Ankündigung, ein eigenes Afrika-Kommando aufbauen zu wollen. Die geplante Verlegung des Kommandos nach Afrika scheiterte, da kein Land bereit war, das US-Regionalkommando zu beherbergen. Wie üblich, wurde die Gründung des AFRICOMs mit dem „Kampf gegen den Terror“ erklärt. Tatsächlich sind aber Rohstoffinteressen für Washingtons wachsendes militärisches Engagement verantwortlich.

Welche Einfluss hat die Bundesregierung auf die Aktivitäten des US-amerikanischen Militärs in Deutschland? Aktivitäten wie zum Beispiel Flugbewegungen des US-Militärs über Deutschland werden von den deutschen Behörden weder erfasst noch kontrolliert. So wird auch nicht überprüft, ob es sich bei einem Flug einer US-Transportmaschine im deutschen Luftraum um einen genehmigungspflichtigen Transport handelt. Genehmigungspflichtig sind zum Beispiel alle US-Lufttransporte, die ohne ein NATO-Mandat in einen Nicht-NATO-Staat durchgeführt werden.

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Regt sich lokaler Protest gegen AFRICOM und EUCOM? Der Stuttgarter Gemeinderat beschloss am 27. Juli 2016: „Die Stadt wird ihr Vermögen nicht bei Unternehmen anlegen, die Militärwaffen und/oder Militärmunition herstellen oder vertreiben.“ Initiativen wie die EUCOMmunity initiieren seit den 1980ern vielfältige Aktionen, zunächst vor dem EUCOM, später auch vor dem AFRICOM – zum Beispiel Blockaden, Mahnwachen, Menschenketten und Entzäunungsaktionen mit dem Motto „Todesland zu Lebensland.“ Alljährlich fordert die Stuttgarter Friedensbewegung auf den Ostermärschen: AFRICOM und EUCOM schließen!

3

Inwiefern arbeitet die AFRICOM mit Todeslisten? Spezialist*innen des US-Geheimdienstes nominieren Zielpersonen für Todeslisten. Diese Listen legt das AFRICOM dem US-Präsidenten zur Bestätigung vor. Wenn der US-Präsident den Daumen senkt, startet auf Befehl des AFRICOM auf einer US-Basis z.B. in Sizilien eine Kampfdrohne. Der Drohnenpilot sitzt jedoch in den USA. Die Datenkommunikation zwischen Pilot und Drohne läuft über die US-Basis in Ramstein. Sobald der Soldat in den USA den Abzug betätigt, werden die Daten per Glasfaserkabel nach 34


AKTION

Die Lage zwischen den USA und dem Iran ist besorgniserregend. Die IPPNW-Sektionen Deutschland, USA und Iran wollen mit einer Social-MediaAktion ein Zeichen für den Frieden setzen. Sie können Sich die Plakate “Kein Krieg gegen Iran” ausdrucken, sich damit fotografieren und sie dann auf Social-Media-Kanälen unter dem Hashtag #PeaceWithIran posten oder mit unserer Facebookseite verlinken Verbreiten Sie die Aktion unter Ihren Kolleg*innen, Freund*innen, Bekannten und Verwandten. Alle Infos dazu unter www.ippnw.eu

#PeaceWithIran www.facebook.com/Peace4Iran

Das Netzwerk Friedenskooperative hat eine Unterschriftenaktion „Kein Krieg gegen Iran – Verhandeln statt eskalieren!“ an die Bundesregierung gestartet, die Sie hier unterzeichnen können: friedenskooperative.de/kein-krieg-gegen-iran

Samstag, 29. Juni ab 13 Uhr

Demonstration & buntes Festival vor der Air Base Ramstein (Auftaktkundgebung in Ramstein-Miesenbach)

Informier Dich unter: www.ramstein-kampagne.eu


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! l e h c ü B h c Auf na Mo 01.07. Eröffnung des Camps 02.–04.07. Proteste, Mahnwachen und Infoveranstaltungen:

Spenden &

mitmachen: „ Da s B o m b e nn“ geheimnis lüfte

Programmgestaltung durch Regios & Einzelpersonen Do 04.07. 18 Uhr: Vorbesprechung Protestaktionen 08.07. Fr 05.07. Vorbereitung der Protestaktionen am 08.07. IPPNW-Nachtwache: öffentliche IPPNW-Vorstandssitzung mit Austausch am Lagerfeuer über Ziele und Motivation Sa 06.07. Aktions-Festival mit Theater, Musik, Kunst und Workshops Abends: ICAN-Party mit Live-Bands und DJ So 07.07. Zwei Jahre Atomwaffenverbot: Aktionstag von IPPNW, ICAN & Kirchengruppen 11 – 13 Uhr: Kulturprogramm mit Theater & Chor. Performance: Das Bombengeheimnis lüften. Keine (neuen) Atomwaffen in Deutschland! Wir präsentieren 20 B61-12-Bombenattrappen. Bestellt & bringt Eure eigene „Bombe“ mit! 14 Uhr: Ökumenische Andacht mit Margot Käßmann 16 Uhr: Letzte Vorbereitungen für die Aktionen am 08.07. Mo 08.07. Protestaktionen und Mahnwachen 08. – 14.07. International Action Camp & Youth Camp der Kampagne atomwaffenfrei.jetzt

ippnw.de/bit/ bomben

www.ippnw.de/aktiv-werden/termine Kontakt: ingablum@gmx.de | iskenius@ippnw.de 36


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