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Werkbericht Nr. 21

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Vorwort Rubrik

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Im vorliegenden Werkbericht werden studentische Arbei­‑ ten dokumentiert, die während eines Semesterprojekts des Studiengangs Kommunikationsdesign an der FH Mainz entstanden sind. Das Thema des Seminars laute‑ te „Zufall“ und beleuchtete damit einen Aspekt kreativen Arbeitens, der dem landläufigen Verständnis von desig‑ nerischen Entwicklungsprozessen zuwiderlaufen scheint. Schließlich werden solche Prozesse üblicherweise als „zufallsfrei“ dargestellt: es wird die Kausalkette „Absen‑ der – Botschaft –Adressat“ analysiert und ein Kommu‑ nikationskonzept entwickelt. Diese Vorarbeit bildet dann die Basis für alle gestalterischen Entscheidungen. In der Präsentation der Ergebnisse wird folgerichtig Wert dar‑ auf gelegt, dass die konzeptionelle Vorarbeit das Gestal‑ tungsergebnis zwingend logisch erscheinen lässt. Ein „ … und dann haben wir zufällig entdeckt … “ oder „ … dann haben wir einfach mal ‘rumprobiert … “ wird sich das Gros berufstätiger Designer wohlweislich verkneifen. Der Zufall hat hier etwas Unberechenbares und taugt da‑ her nicht zur Argumentation – ja, er wirkt geradezu ein wenig anrüchig, ist es doch aus Laiensicht nicht die origi‑ näre (und abrechnungsfähige) „Leistung“ des Gestalters, wenn er zufällig auf Lösungen stößt. Kurzum: Von außen betrachtet hat der „Zufall“ im Design einen schlechten Ruf.

Wenn der Zufall aber eine so innovative Rolle bei krea­ tiven Prozessen spielt, ist es doch eigentlich schade, dass man nicht berechenbar mit ihm umgehen kann. Doch dieses scheinbare Paradoxon ist auflösbar. Man kann zwar den „Zufall“ nicht rational herleiten, aber man kann Rahmenbedingungen schaffen, in denen der „Zu‑ fall“ die Bühne betritt und etwas „Neues“ schafft. Die Bedingungen sind Neugier, Mut zum spielerischen Risi‑ ko, vorurteilsfreies Denken und die Lust am Experiment. All diese Eigenschaften waren notwendig, als sich 24 Studierende auf das Abenteuer einließen, acht vorder‑ gründig unspektakuläre Aufgaben zu bewältigen. Die Auseinandersetzung mit theoretischem Material und mit Künstlern, in deren Schaffen der Zufall ein Prinzip dar‑ stellt, rundeten das Seminar ab (siehe auch Seite 207). Mit den ungewöhnlichen, teils spektakulären Lösungen haben sich die Studierenden oft selbst überrascht. Es ist zu hoffen, dass die systematische Einbindung des „Zu‑ falls“ in das kreative Schaffen weiter Schule machen wird.

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Prof. Kirstin Arndt, Prof. Ulysses Voelker

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Ganz anders sieht das aus, wenn man sich unter Fachleu‑ ten austauscht – wenn also die ökonomische Rechtfer‑ tigung in den Hintergrund und die Reflexion der eigenen Arbeitsweise in den Vordergrund rückt. Dann wird schnell zweierlei klar: ohne den Zufall, ohne das Experiment ent‑ kommt keine/r der Endlosschleife ewig wiederkehren‑ den visuellen Vokabulars. Positiv ausgedrückt heißt das: zufällige Entdeckungen, Verknüpfungen und Formen ha‑ ben noch jeden planvollen konzeptionellen Ablauf berei‑ chert und ihm oft genug ganz neue Wege eröffnet.


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01 Fremdbild – Eigenbild G02 G07 G09 g10 G11

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Anton Zeilinger Der Zufall als Notwendigkeit für eine offene Welt

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Rudolf Taschner Zahlen zähmen den Zufall

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02 Etiketten G01 G04

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Jürgen Mittelstraß Zufall und Notwendigkeit

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03 Ein Tag – Eine Reise G01 G02 G04 G05 G07

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04 Das Neue G01 G04 G08 G09 G11

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05 Bauchhöhe G02 G03 G04 G09 06 Stadt – Land G02 G04 G06 G07 G09 G11

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07 Morgenzeichnungen G01 G02 G06 G07 G10 G11 G11

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08 Zwei Begriffe – ein Objekt G02 G03 G04

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Odo Marquard Apologie des Zufälligen – Philosophische Überlegungen zum Menschen 210 A03

Rolf Grossmann Die Phantasie der kalkulierten Welt

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Claus Grupen Die Natur des Zufalls

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Hans Ulrich Reck Aleatorik in der Bildenden Kunst

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Wie sehen mich die Anderen? Begeben Sie sich mit einem Fotoapparat für eine bestimmte Zeit an einen selbst zu wählenden Ort und bitten Sie jede zehnte Person, die vorbei kommt, ein Foto von Ihnen zu machen.

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in diesiger Morgen am Rhein, Frühlings­ anfang, angenehm warm, trotzdem gespens­ tisch ruhig. Niemand unterwegs, außer Flaschensammler und vereinzelt umher­ schlendernde Menschen, die verstreut in der Gegend auftauchen. Den ersten Passanten, den wir treffen, ein Obdachloser, der seine Hunde aus­ führt, bitten wir sogleich ein Foto von uns an­ zufertigen. Aufgrund seiner motorischen Defi­ zite ist es ihm leider nicht möglich, die Hunde zu halten und gleichzeitig die Kamera zu bedienen – somit halten wir die Hunde für ihn. Während er sich nach dem Foto verabschiedet, fotografieren wir ihn dabei, wie er, seine Hunde anschreiend, von dannen zieht. Die zweite Person, die wir an diesem Tag tref­ fen, ist ein älterer Herr, der sein Klapprad am Ufer des Rheins putzt. Er er­ klärt uns schnell, dass er das immer hier tue, seit Jahren schon. Auch er macht ein Foto von uns, und wir revan­ chieren uns mit einem Foto von ihm, während er seine Bierflaschen auf dem Gepäckträger verstaut – es ist zehn Uhr morgens. Danach lassen wir ei­ nige Zeit vergehen, ehe wir auf einen umherir­ renden Flaschensammler treffen. Seine Schild­ krötentasche und die Hochwasserhose machen ihn spontan sympathisch. Nach einigen schwerfälligen Anläufen schafft auch er es, den Auslöser zu finden. Im Laufe unseres Tages werden wir auf weitere vielversprechende Menschen treffen, so zum Beispiel die heitere Hundefrau, mit der wir über Gangfotos mit Hunden reden, Ralf Seip, der sich weigert, uns vor „Douglas“ am Höfchen zu foto­ grafieren, eine Nonne, die nach dem Foto fast von einem Bus überfahren wird, Kinder an der Bushaltestelle, einen vermeintlichen Vetter von Dschingis Khan, den netten Herrn von der Müll­ abfuhr und viele andere. Sie alle vereint die Tatsache, dass sie von der Materie der analogen Fotografie so gut wie keine Ahnung hatten (sogar Herr Seip hatte mit der alten Canon Schwierigkeiten), sodass unvorher­ seh­ bare, teils extrem verschwommene, unpro­ fessio­ nelle Fotos entstanden, die aber gerade dadurch ihren eigenen Charme haben. Seltsamer­ weise finden sich aber bei unserer Anordnung auf dem Bild so gut wie keine Abweichungen in Bezug auf Abstand zur Kamera, Sonneneinstrahlung, etc. Als weiterer Aspekt des Zufalls bleibt noch zu erwähnen, dass bei der Auswahl der Filme zufäl­ lig ein Diafilm dabei war, der aus Zeitgründen wie ein Negativ entwickelt wurde, wodurch er­ staun­ liche Farbabweichungen entstanden.


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ir wählten einen Versuchsaufbau mit möglichst wenig Varianz im Bild­ aufbau, nutzten einen neutralen Hintergrund, stellten uns auf einen vorgegebenen Punkt mit vorgegebener Körper­ ausrichtung, postierten die Kamera fest auf einem Stativ, stellten Ver­ schlusszeit und Blende ein und ließen damit dem Fotografen ausschließlich die Möglichkeit, über den Zeitpunkt der Auslösung zu bestimmen.


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ei vielen neueren analogen Kameras kann man bereits die Option Doppelbelichtung wählen. Wir haben jedoch mit einer äl­ teren Kamera gearbei­ tet und den Zufall noch ein bisschen mehr heraus­ gefordert: Man nimmt zum Beispiel einen 100 ASA Film und be­ lich­ tet diesen mit ledig­ lich 200 ASA. Den belichteten Film legt man nun ein weite­ res Mal ein und be­ lichtet ihn erneut mit 200 ASA und entwickelt ihn dann wie einen normalen 100 ASA Film. Überall, wo nun das erste Bild dunkle Stellen und Schatten hinterlassen hat, scheint das zweite Foto durch. Das Ergebnis sind neue Kompositionen und unerwartete Überschnei­ dungen.


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berlagerung der einzelnen Fotogra­ fien mit einem Fixpunkt, dem Gesicht: Hier werden die verschiedenen foto­ gra­ fischen Herangehensweisen der Passanten deutlich. Des weiteren entsteht durch diese Verschiebungen innerhalb des Bildes eine Art Wolkeneffekt, welcher dem Bild wiederum eine neue Ästhetik verleiht.


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Suchers lag. Die „Fotografen“ konnten nur erah­ nen, was gerade fotgrafiert wird, indem sie die Höhe und den Abstand zum Motiv abschätzten. An einem belebten Platz sollte jede zehnte Per­ son ein Foto von uns machen. Nach den ersten Bildern stellte sich heraus, dass einige der Personen, die uns gerade fotografierten, durch das abgeklebte Display so irritiert waren, dass Sie nicht uns fotografiert hatten, sondern sich selbst. Nahaufnahmen von Augen, Nasen und an­ deren Körperteilen entstanden.

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ir nahmen zum Fotografieren zwei kleine Digitalkameras. Bei beiden Kameras wurde das Display abge­ klebt, sodass nicht zu erkennen war, was gerade im Fokus des


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Sammeln Sie Etiketten und Texte von Verpackungen, Dosen, Flaschen, und anderen Dingen und erstellen Sie aus den Fragmenten eine Geschichte. A05

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utten spielen eine große Rolle in mei­ nem Leben. Händereichend bilden sie eine Art roten Faden. Ihre Hände sind feucht. Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Die darin beschriebenen Personen entstammen einer zufälligen Anhäufung von Obstund Gemüseaufklebern auf dem Kühlschrank von Frau B..


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Es kam die Saison des geselligen Ver‑ kehrs. Die vier Nutten Sunshine Peru, JinJin und Abate standen wie eh und je am Stundenhotel. Zwei künstliche Pal‑ men flankierten stimmungsvoll den Eingang. Die Mädchen unterhielten sich wild über schicksalhafte Begeg‑ nungen, als Onkel Tuca auftauchte und wissen wollte, wo denn das Ge‑ burtstagskind, der Consul sei. Er solle ihm nämlich auch „Alles Gute“ zum Geburtstag ausrichten. Alle Mädchen mochten Onkel Tuca sehr gern und schienen traurig dar‑ über, dass er bei den Feierlichkeiten nicht dabei sein würde. Die Nuttenma‑ ma Black Sensation holte sie schließ‑ lich alle ’rein, denn der Ansturm auf das Stundenhotel war groß. Alle wollten sie den Consul feiern. Men‑ schenmassen, Greisinnen und Greise, arm und reich, schoben sich in dem Eingang zusammen. Foxterrier wurden zertreten. Zwei Verkäuferinnen tot. Wochen vergingen. Die Feierlichkeiten brachen nicht ab.

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m eine Geschichte aus Textfragmenten von Etiketten zu erstellen, sammel­ ten wir eine Woche lang Verpackungen, Dosen und Flaschen von sämt­ lichen Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Medikament­­­­­verpackungen. Wir tippten alle Inhalts­ stoffe, Gebrauchsanweisun­ gen, Rezeptvor­ schläge und sonstige prägnanten Angaben von den Etiketten ab und druckten diese „Textwüsten“ anschließend aus. Um eine Mischung aus den unterschiedlichen Textfragmen­ ten zu er­ zielen, zerschnitten wir die ausgedruckten Sätze noch einmal. „Passend“ scheinende Sätze behielten wir aller­ dings bei, die anderen Wörter sortier­ ten wir nach Wortgrup­ pen. Von tausend Schnipseln umgeben versuchten wir dann, durch abwechselndes Ziehen von Text­ fragmenten einen Text zu gene­ rieren. Da durch das bloße Ziehen teilweise nur unsinnige Kombi­ nationen entstanden, halfen wir und eine Flasche Sekt noch ein bisschen nach. Es entstand unser drei Kapitel umfassender Text „Mit Milch aroma­ tisiert“:


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So viel Gutes enthält inneres Gleichgewicht.

Zur vollständigen Desinfektion empfehlen wir die Packungsbeilage in türkischer Sprache, das typisch bayerische, helle Vollbier, oder Kopfund Gliederschmerzen, sowie ihre Tüte voll Zahnpartien in Caramel mit Nou‑ gatcreme und einem Klecks kräftiger Nahrungsergänzungsmittel.

Nicht mit anderen Lösungen oder biologischen Schwankungen mischen, von jeder Seite goldbraun anbraten und trocken lagern. Feiern Sie mit!

Ihr Blattspinat mit Menthol bei Niko‑ tingenuss ist eine köstliche Mahlzeit für Hamster, Meerschweinchen und Zwergkaninchen.

Reizhusten hat eine schöne, granat­rote Farbe wie Frankfurt am Main. 100g beachtliche Mengen an Waschmittel, auf italienischem Mar‑ mor gebacken, würfeln in Lübeck mit 25 Teebeuteln um Qualität und Verantwortung.

Das ergonomische Design, erntefrisch tiefgefroren, steht unter Druck wie eine knackige Haselnuss oder magen‑ saftresistente Weichkapseln.

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Der Tampon gleitet einfach, sodass Sie ihn wohltuend mit Rucola bestreuen und leicht auf einmal einführen können.

Frische Milch ist nicht Berlin, aber verschreibungspflichtig.

Wir Menschen sind mehr als nur das, was man von uns sieht. Nicht hessi‑ sche Kartoffeln, sondern saftige Spezialisten. Fruchtgehalt 50 %.

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Einwegrasierer, für sich alleine oder zu allen Sorten von Fisch, Pasta, hellem Fleisch, Salaten wurden speziell für eine gründliche Gesichtsreinigung sanft entwickelt. Genießen Sie ihn gut! Vanille-Eiscreme mit exotischen Früchten und Kakaosoße verflüssigt zähes Sekret. Vorzugsweise mit einem Holz- oder Plastiklöffel servieren. Deshalb: Zufrieden oder Geld zurück.

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Dieser Riesling schmeckt herrlich frisch und zugleich wunderbar fruchtig. Diese Haarschere, praktisch, mit Vitamin C, mit reichlich kalter Flüssigkeit, unterstützt sie jeden Tag. (Augenkontakt vermeiden) Ja!

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MIt Milch aromatisiert

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Wohin und wie weit? Fahren Sie per Rheinlandpfalz-Ticket an einem Tag so viele Kilometer wie möglich. Bestimmen Sie vor Ihrer Reise die Parameter, mit denen Sie den Zufall lenken.

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Dokumentieren Sie Ihre Reise in Wort und Bild und fertigen Sie einen Reisebericht an. A06 G08

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er Weg ist das Ziel? Die Fahrt im Kreis – 10 Stunden lang in der U4 durch Frank­ furts Untergrund. 11,2 km in 23 Minuten. 200 km weit. Immer die selbe Strecke. Was bleibt, sind die Farben meiner Stadt. Diese Arbeit beinhaltet ein farbenfrohes Heft, ein Faltpla­ kat und eine Box mit 600 farbigen, hand­ ge­ schnittenen, losen Seiten.


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gefahren sind, in chronologischer Reihen­ folge stehen. Quasi als sinnbildliche Metapher für eine stahlgewordene Assoziationskette mit vielen Nebenarmen.

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ir trafen uns an einem Sonntagmorgen am Frankfurter Hauptbahnhof, um völlig will­ kürlich in einen Zug einzu­ steigen. Die­ ser fuhr zufällig nach Gelnhausen und wir ließen das zu. Ziel der Reise war es lediglich zu sammeln – was, war völlig egal. Gespräche, Müll­­ reste, Anekdoten, Eindrücke, Fundstücke oder Ge­­ schichten – Hauptsache es diente dem gemein­ samen Ziel, am Ende etwas Neues daraus machen zu können. Nachdem wir in Gießen angekommen waren, begaben wir uns auf die Suche nach Dingen, die es zu entdecken gab. Letztendlich fanden wir ein altes, leerstehendes Bahngewölbe, das durch seine verschimmelten und von Moos bedeckten Wände alte Geschichten murmelte. Gespickt von Relikten der letzten Jahrzehnte konnten wir einige Fundstücke sicherstellen und für unsere Arbeit verwenden. Zurück am Bahnhof von Gießen stiegen wir in den nächstbesten Zug und kamen so nach Marburg. Nach einem kleinen Spaziergang über Bahngleise, in merkwürdigen Höhlen und Begegnungen mit selt­ samen Menschen, gönn­ ten wir uns ein Bierchen in der 24-Stunden-Kneipe am Bahnhof. Wir erfuhren mehr über das Marburger Bier, das es leider nicht mehr gibt, machten Bekanntschaft mit skur­ rilen Fi­ guren und hatten allerhand zu lachen. Weiter ging die Fahrt in Richtung Frankfurt, um das Flughafengebiet rund um Zeppelinheim zu erforschen. Wir wurden Zeugen von fanatischen Flugzeugfetischisten, die es sich zur Auf­ gabe machten, mit gigantischen Teleobjektiven Jets vom Himmel zu holen und für diese Auf­ gabe stundenlang Position am Fuße der Einflug­ schneise bezogen. Weiter stiefelten wir durch stillgelegte Armeekasernen, die mit Schildern vor dem Betreten warnten und atmeten den Duft kerosingetränkter Waldluft. Wir gönnten uns noch einen leckeren Imbiss und weiteres Bier an einer kleinen Imbissbude gleich in der Nähe und machten uns dann wieder auf den Weg. Im Frankfurter Hauptbahnhof fanden wir ein lieb­ los abgerissenes Kofferschild im Gleis­ bett liegen. Unter dem Geschrei mehrerer Bahnange­ stellter bargen wir das Schild von den Steinen. Der Besitzer, so fanden wir später heraus, war ein Amerikaner, der in den 70ern an der Seite von Charles Bronson in einem Film mitgespielt hatte und heute Heilpraktiker ist. Wir beschlos­ sen, diese merkwürdige Umstandskette, die durch das Fundstück nun bei uns angekommen war und von uns zurückverfolgt werden sollte, als Anlass für unser Kon­ zept zu nehmen. Wir bauten die Dokumen­ tation der Reise nach diesem Prinzip auf, indem wir an den Anfang die jeweiligen Fundstücke, wie z. B. Zeitungsartikel, Steine und Anekdoten setzten und von dort aus die Assoziationskette knüpften. So entstand ein kleines Kunstbuch auf dessen Cover die Nummern der Züge, mit denen wir


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Unsere letzte Station hieß Bingen (40 Minuten bis zur nächsten Bahn). Es war dunkel und kalt und wir wurden nur knapp von den Resten unseres Proviants bei Laune gehalten (Gouda und Cher­ rytomaten), warteten auf die letzte Bahn nach Mainz (Abfahrt 22.30 Uhr), lasen uns in der Bahn noch etwas aus der „Hunde-Welt“ vor und waren nach 8 Stunden Zugfahrt schließlich froh, wieder daheim in Mainz zu sein.

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ie Hauptregeln unserer Reise laute­ ten: 1. In den Zug einsteigen, der als nächs­ ter abfährt. 2. Aussteigen, sobald ein Kind, eine Mutter mit Kleinkind oder eine Gruppe von Kindern einsteigt. 3. Steigen keine Kinder ein, wird bis zur Endhaltestelle durchge­ fahren. Auch ist auf jeder Reise der Proviant sehr wichtig. Dafür nutzten wir das Spiel „StadtLand-Fluss“, wodurch 10 Buchstaben gelost und 10 Nahrungsmittel mit eben diesen Anfangsbuchstaben besorgt wurden. Wir hatten dreimal C, also Cher­ rytomaten, Ca­ ramellos und Clementinen, einmal I, daraus wurde J, also Joghurt, V wie Vollkorn­ cracker, zweimal G wie Gâche de France und Gouda, K wie Kinderriegel, B wie Baguette und F wie Fruchtzwerge. Auch unsere Leseunterhaltung wurde durch dieses Prinzip gewählt und heraus kamen die Zeitschriften „Revue für die Frau“ und „Hunde-Welt“. Eine weitere Regelung zwang uns, an jeder Halte‑ stelle so lange zu zeichnen, bis der Zug wieder abfuhr. Wir fuhren um 15 Uhr los – unser ers­ tes Ziel lautete Mann­ heim. Die gemütliche Fahrt wurde allerdings nach einer halben Stunde unter‑ brochen, denn siehe da, eine Mutter mit Klein­ kind stieg ein. Also mussten wir an der nächsten Haltestelle raus. Und wo waren wir gelandet? In Mettenheim! Nach einem ausführ­ lichen Picknick (nächste Bahn erst 45 Minuten später!) ging es dann weiter über Mannheim nach Heidelberg. Durch die Landesgrenzen und den Ticketbereich des Rheinlandpfalz-Tickets etwas überfordert, fuhren wir von dort aus weiter Richtung Karlsruhe. Ein Glück, keine Kinder weit und breit, nur der Zeichenzwang. Als nächstes Ziel stand Kaisers‑ lautern an. Auf dieser Fahrt fuhren wir in einem schönen alten Regionalexpress (so wie wir uns das vorgestellt hatten) und hatten Zeit für ein paar Zeilen aus unserer Reiselektüre. Zwisch­ endurch zeichneten wir an jeder Haltestelle. In Kaiserslautern ausge­ stiegen, neigte sich der Tag schon langsam dem Ende, es wurde dunkel und wir mussten uns wieder zurück nach Mainz orientie­ ren, um nicht über Nacht irgendwo zu versacken.


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m die Fahrt von Frankfurt nach Fulda so gemütlich wie möglich zu gestal­ ten, packten wir in unseren Koffer: Kaffee, Kuchen, ein Kissen, Vorhänge, einen Sofa­ überwurf, Blumen, eine Vase, Kabelbinder, eine Tischdecke ... Mit viel „Liebe“ richteten wir uns im Zug häuslich ein und luden andere Rei­ sende zum Kaffeekränzchen ein. Die Resonanz war über­ rasch­ end gut. Unsere Gäste fühlten sich sehr wohl und ließen sich auf einen Plausch mit uns ein. Sie erzählten viel und erfreuten sich an unserem guten „Service“. Zum Dank ließen sie sich fotogra­ fieren und schrieben in unser Gästebuch. Das mobile, öffentliche Kaffeekränzchen wollen wir nun in die Welt hinaustragen. Das Kaffee­ kränzchen, das es schon seit dem 17. Jahrhundert gibt, wird in die heutige Zeit übersetzt und im öffentlichen Raum abgehalten. In der schnell­ lebigen Welt soll daran erinnert werden, wie schön es ist, zur Ruhe zu kommen, Leckereien zu genießen und dabei echte – analoge – Konversa­ tion zu betreiben. Die Aufforderung, es uns nachzumachen, verbreiteten wir über ein kleines Heftchen, das wir in der Stadt verteilten. Neben einer Liste der Dinge, die man dazu braucht und einem kurzen Erlebnisbericht unserer „Kaffee­ fahrt“ befindet sich in dem Heft der Link zu einem Blog, auf dem man seine Erfahrungen und Bilder mit anderen „Kaffeekränzchen-FörderInnen“ teilen kann.


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edanterie war unser Motto. Wir mach­ ten alle 10 Minuten ein Foto, schrieben Höhen­ meter, Kilometer, Geschwindigkeit und Zeit mit und zeichneten zusätzlich alle in der Bahn stattfindenden Gespräche auf. Wir orientierten uns bei der Dokumentation dieser Datenmengen an den zurückgelegten Kilo­ metern und bildeten diese im Maßstab 1:10.000 in einem Lepo­ rello ab. Sämtliche Daten wurden so, aus­ gehend von ihrem Ereignispunkt, in ein Layout übertragen und in das Faltbuch eingefügt.


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Was wird neu sein? Kaufen Sie eine Zeitschrift Ihrer Wahl und lesen Sie alle Artikel hinsichtlich des Begriffs „neu“ gründlich durch. Markieren, notieren, interpretieren Sie das „Neu(e)“.

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ie Diktatur des Neuen. Diese Arbeit ba­ siert auf der Dekonstruktion einer Illus­ trierten. Nur die Zerstörung schafft Platz für das Neue. Der Zufall steht hier als Platzhalter für das Neue, welches gerade geboren wird und im gleichen Moment schon wieder zerfallen ist. Das Neue, das immer Dagewesene. Vorbei. Von sich selbst zu behaupten man habe etwas Neues erschaffen: Völlig abgefuckt. Die Hybris des Menschen ist unantastbar. Ich glaube nicht an das Neue. (Alle Texte wurden weiß und alle Bilder schwarz. Seiten, in denen das Wort „Neu“ nicht auftaucht, wurden durch eine weiße Seite ersetzt.)


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ie Wahl der Zeitschrift fand durch das altbekannte Kinderspiel „Blinde Kuh“ statt: Wir gingen in den Bahnhofs­ zeit­ schriftenladen und bestimm­ ten durch das Werfen einer Münze die „Blinde“. Diese, also Mara, wurde gedreht, sodass sie ohne etwas zu sehen durch den Zeitschriftenladen tappste. Die unwissentliche Wahl fiel auf die Fachzeit‑ schrift „Motorrad & Reisen“. In diesem Magazin ging es, wie wir fünf Minuten später feststellen sollten, haupt­ sächlich um die neuesten und besten Motorrad-Routen durch Deutschlands Berg- und Wiesenlandschaften mit all ihren Burgen, Schlössern, Seen und Hotels (wo man dann einen Zwischenstopp einlegen kann), – alles in allem eher langweilig. Beziehungsweise für Nicht-Motorradfahrer eher nicht so rele­ vant. Doch die Essenz blieb hängen: Das Reisen in neue Welten, Entdecken von Neuem (hier: Neue Motorrad-Ersatzteile), und das Ankündigen von Neuigkeiten, die es bald geben wird. Wir zerschnitten das Heft in seine Einzelteile, nachdem wir jeden Satz und jedes Wort, in dem der Be­ griff „Neu“ irgendwie auftauchte, heraus‑ geschrieben hatten. Aus den Einzelteilen des Heftes und den Texten wollten wir nun etwas Neues machen. Wir kombi­ nierten zunächst das aus‑ geschnittene Material des Motorrad-Heftes mit anderen Teilen aus anderen Zeitschriften und schnell ergab sich, dass ein Stopmotionfilm ent‑ stehen musste: Ein Film, der von der Reise in neue Welten handelt, begleitet von klugen Worten über das Neue (Textfragmente aus Motorrad & Reisen).


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Wir haben nun einen zufälligen „Genpool“, der unzählige Kombinationsmöglichkeiten erlaubt, als ein künstlerisches Spiel angelegt. Das Collageartige Legespiel macht es unmöglich, einen „nor­ malen“ Körper zu erschaffen. Man kombiniert die scheinbar perfekten Körperteile zu einem „Mon­ ster“. Des Weiteren befindet sich in dem Spiele­ koffer noch ein Memoryspiel. Auf den Spielkarten sind Zitate zum Thema Genforschung aus einem Jugendbuch wiedergegeben.

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unächst haben wir in Zeitschrif­ ten, deren Titel das Wort „Neu“ beinhal­ tete („Neue Woche“, „Neue Post“, „Neue Frau“, „Neues Zuhause“) lange nach etwas Neuem gesucht und nichts außer frisch „gelif­ tete“ Körpertei­ le von „Stars“ gefunden. Das Stre­ ben nach körper­ licher Perfektion brachte uns so zum Thema Genforschung: Schon seit Jahr­ tausenden versucht der Mensch die Natur zu be-­ siegen und ihre sogenannten „Fehler“ zu behe-­ ­ ben. Mit Hilfe des Fortschritts in der Genetik versuchen Fort­ pflanzungsmediziner den natürli­ chen Zufall weitgehend auszuschalten und damit einen möglichst „fehlerlosen“ Menschen zu er­ schaffen. Doch durch den Zufall wird die Evolu­ tion überhaupt erst möglich. Wie weit darf also die Forschung gehen? Das Präimplantationsdia­ gnostik-Dilemma wird zurzeit in allen Medien dis-­ kutiert. Genmanipu­ lation ist seit Jahren ein aktuelles Thema in den Medien und in der Wissen­ ­­ schaft ein zum größ­ ten Teil noch unerforschtes Gebiet. Somit bleibt diese Thematik noch lange „neu“.


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Auf der einen Seite sind Worte Ai Weiweis zu lesen wie z. B. „new identity“, „new culture“, „new rea­ lity“, „new world“ (die Positionen ent­ sprechen dem Auftauchen von „neu + x“ im Maga­ zin „Mono­ kultur“) und zusätzlich ein aktuelles Zitat, kurz vor seiner Verhaftung: „Chinesen erleben gerade ein Zeitalter der Dunkelheit. Es ist ein neuer Tiefpunkt für unsere Zivilgesell­ schaft“. Auf der anderen Plakatseite erscheint – vor einem ge­ streiften Hintergrund – ein Zitat Ai Weiweis aus dem Jahr 2009: „Do whatever you like and enjoy. This is what is most important: to get involved, to be passionate about it.“

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ew China – ist das Neue besser? Oft­ mals bestimmt. Denn wir lernen. Im Mai 2011 wurde der Künstler Ai Weiwei von der chi­ nesischen Polizei verhaftet. Die westliche Welt ist empört, aber scheinbar machtlos. Was kann alles passieren und können wir nur Zu­ schauer sein? Berührt durch diese Meldung machten wir uns auf die Suche nach Ai Weiwei. Im Magazin „Monokul­ tur“ erschien 2009 ein Bericht über ihn. Wir markierten alle im Text auf­ findbaren Worte im Zusammenhang mit „neu“. Daraus ergaben sich Mus­ ter, aus denen wir ein Klavierstück generier­ ten. Doch das Ergebnis erschien uns zu belanglos. So entwickelten wir ein beidseitig bedrucktes Faltplakat, das die Kontroverse aufzeigt:


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spannenden Reportagen, wie man sie aus „Fach­ zeitschriften“ wie „Blitz Illu“ oder „Das neue Wochenende“ kennt: Softsex ohne Ende, schlechte Reportagen, langweilige Witz­ seiten, massenhaft Werbung für Telefonsex. Auf der Suche nach dem Wort „Neu“ fiel uns schnell auf, dass dieses Wort zu 99% im Zu­ sam­ men­ hang mit Telefonsexanzeigen wie beispiels­ weise: „NEU ... gutbestückte Transen“ oder „NEU ... Popo-Prinzessinnen“ auftauchte. So kamen wir zu dem Entschluss, die Damen mal zu fragen, was denn neu bei ihnen sei:

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ir kauften der vor uns stehenden Person am Kiosk die gekaufte Zeitschrift nach. Das Ergeb­ nis war das Pfiff!-Magazin – ein billiges Erotikmagazin mit den üblichen,


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Hallo hier ist Janine. Hallo. Hi, grüß‘ dich. Na, wie geht‘s dir? Gut. Ja, dann fehlt dir ja gar nichts mehr zu deinem Glück, oder? Ja, ich hab hier die Anzeige aus dem „Pfiff!-Magazin“ und da steht „NEU“ drüber. Was kannst du mir denn Neues anbieten? (Lachen) … das kommt drauf an. Was wäre denn für dich neu? Irgendwas Innovatives deiner Wahl, irgendwas Neues, was du denkst, was mich scharf macht. Oho … dann scheinst du ja topfit zu sein. Man kann was mit dir anfangen, oder?

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Hallo. Hallo? Wer is‘ denn da? Kannst du ein bisschen lauter sprechen? „Ja, wer is‘n da?“ hab ich gesagt? Der Daniel.

(Feel – Robbie Williams)

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Schön, dass du anrufst, mein Name ist Lucy, wie heißt du denn? Ja, ich hab die Anzeige hier aus dem „Pfiff!-Magazin“ und da steht jetzt groß und breit „NEU“. Was ist denn jetzt neu bei euch? Was suchst du denn bitte? Ja, jung und verdorben. Sonst noch ‘nen Wunsch? Nee, das war‘s. Danke. Dann geht‘s jetzt los für dich. Ich wünsch‘ dir viel Spaß. Jo. Ciao.

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Der Daniel. Wo bist‘n du gerade? Ich sitz gerade in meiner Küche. Ähm, ich hab auf jeden Fall Bock auf was richtig Neues. Ähm, was richtiges Neues? Ja. Spinnst du? (Verlegenes Lachen) Wie bitte? Was meinst du denn damit, „Was richtiges Neues“? Ja, irgendwas Innovatives, irgend‑ was was für dich neu ist. Musst mir mal ‘nen Vorschlag machen. Hmm, welche Richtung … ähm … sprichst du denn da jetzt an? Dass ich da mitreden kann. Ja, keine Ahnung. Wir können auch irgendwas Science-Fiction-Mäßiges machen, oder so. Das willst du machen, halt? Ok. Ja, das muss auch jeden Fall mal irgendwas Neues sein. Weil du liebst so ‘was, oder? Neue Dinge zu machen? Ja, neu ist auf jeden Fall geil. Hmm, und vor allem auch mit ‘ner anderen Person meinst du? Ja, natürlich. Jeden Tag, oder? Was Neues? Bei dir? Oder? Nee, heute auf jeden Fall mal was Neues. Nur heute. Ok. Du bist mir ja eine Wundertüte. Ja. Was denn? Ja was ist denn jetzt mit dem Neuen? (Verlegenes Lachen) Mach mal irgendwas geiles Neues. Ähm, was geiles Neues? Ja, was ist denn bei dir geil? Ja, was ist denn für dich geil und

Ja hallo, hier ist Juliette. Also ich bin auf jeden Fall Juliette, bin 25 und wer bist du? Ich bin der Daniel und ich hab auf jeden Fall Bock auf was Neues. Ich würd‘ gern mal von dir wissen, was für dich neu ist. Du hast Bock auf was Neues? Ja, was ist denn für dich neu? Was kannst du mir denn neues Geiles anbieten? Was ich dir anbieten kann? Ohlala. Also, ich sag mal so, oho… meine letzten leckeren Erfahrungen. Ja? Stell dir einfach vor. Mach die Augen zu. Stell deinen Kopf auf Kopfkino

(Cose della vita – Eros Ramazotti)

neu? Ähm, na neues Geiles? Na ja, kommt drauf an in welchem Bereich. Ja, das ist jetzt mal egal. Neu von hin‑ ten, geil von vorne, geil was weiß ich, mit dem Mund. Aber was ist denn neu und geil für dich? Na ja, mit dem Mund ist nicht neu für mich, aber ist immer geil. So von hinten find ich auch ganz geil, vor allem mit zwei Jungs. Ähm… Also das ist für dich neu und geil? Hmm, nein, das kenn ich ja schon, mit zwei Jungs. Aber ich hab’ das noch nicht so oft gemacht wie zum Beispiel mit dem Mund. Ja. Oder, wie zum Beispiel, ähm… öfters von hinten in den Popo rein. Das hab’ ich auch schon öfters gemacht, aber mit zwei Jungs hab ich‘s noch nicht so oft gemacht. Alles klar, danke schön.

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Ja, irgendwas Neues. (Lachen) … glaubst du, ich hab’ das Fahrrad neu erfunden? Nein. Aber ich hab’ schon so einige Vorlieben … na, ich weiß ja nicht, ob sie dir auch gefallen könnten. Du möchtest jetzt nicht wissen, wie ich aussehe? Nö, sag einfach mal. Ja, und ich mag sehr, sehr gerne Oral, ganz lange und ganz ausgie‑ big. Dann gern auch mal irgendwo draußen oder im Auto. Ich verwöhn’ zum Beispiel unheimlich gerne im Auto, wenn der andere sich auf die Straße konzen­trieren muss. Das find’ ich schon toll. Notfalls kann man ja noch irgendwo auf den Parkplatz fahren. Und was macht man dann da auf dem Parkplatz? Du, auf jedem Parkplatz stehen so schöne Tische und Bänke, wo du mich drauflegen kannst. Und wenn ich dann die Beine so weit gespreizt über deinen Schultern habe, dann kannst du mich richtig schön ver‑ wöhnen. Ja, das ist doch super. Hmm, das würde ich unheimlich toll finden.

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Dieser Service wird nach dem Signalton mit 1,99€ pro Minute für Verbindungen aus dem Deutschen Festnetz berechnet.

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Flatway-Play. Ja. Ich habe mich befunden auf einem heißen zwei mal zwei Meter fünfzig Lacklaken, hab meinen Exfreund so richtig schön angepisst. Also ich saß auf ihm. Ok. Und während er in mich eindrang hab ich es so richtig schön laufen lassen. Und ich hatte währenddessen Lack und Highheels an. Ja, das ist doch super. Und das ist jetzt für dich neu und geil? Och, was willst du noch wissen von mir? Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht wie weit involviert du bist in irgendwelche Art, Form und Weise. Was ist denn von deinem Geschmack für dich neu? Für meinen Geschmack neu und geil. Ohlala, dafür bin ich schon zu versaut. Ja, was ist denn dann? Neu versaut, was ist denn neu für dich? Was wär‘ denn neu? Was hab ich dir denn gerade gesagt? Wenn man sich gegenseitig anpisst. Ja, das gab‘s ja alles schon. Was ist denn neu für dich? Neu für mich ist, dass mein letzter Freund sehr, sehr schüchtern vor mir stand und mit mir poppen wollte. Das ist für mich neu. Ok. Sonst sind immer alle nur Analficker und alle Muschificker, verstehst du? Ah, ok. Mein Ex hat mich verschoben in meinem Denken, in meiner Art und Weise wie ich das möchte auch … Die Rufnummer wurde gesperrt. Eine Sperrung von unseren Dienste erfolgte aufgrund der Nichtzahlung von Call-by-Call-Diensten.

… verstehst du? Alles klar. Öhm, ja. Ok. Alles klar. Danke.

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Wie sieht mein Bauch die Welt? Fotografieren Sie eine Woche lang Ihren Alltag aus Bauchhöhe. Sie können sich dabei zusätzliche Regeln setzen.

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in Tag im Wald, endlich mal frei, nichts tun, umherlaufen, sieben Filme, eine Kamera. Gezielt auf der Suche nach auf­ fälligen Strukturen, gegenstandslosen Gebilden, der Unruhe in der Natur. Vorbei an kleinen Bächen, hohen Fichtenwäldern, dichten Büschen, flachen Laubwäldern, abholbereiten Holz­stapeln, abgelegenen Gleisen. Heraus kommen an die 200 Negative, die einzeln ausgeschnitten in einen Diaprojektor gebastelt und auf alte, zersprungene S-Bahn-Scheiben proje­ziert werden. Weiche, runde Strukturen der Natur treffen auf die harte, kantige Welt der Technik. Ein Re­ likt der Moderne wird gespeist mit der Kraft der überdauernden Natur. Die beiden „Materialien“ verbinden sich zu einer Symbiose der Gegen­ sätze, an deren Finale ein surreales Bild entsteht, das an vie­ len Stellen aussieht, als würde man sich nachts verloren im Wald wiederfinden. Das Verwunderliche an den Fotografien ist die Tatsache, dass sich, obwohl es Schwarzweißfoto­ grafien waren, durch den Eisenstaub, der sich über die Jahre auf den Scheiben abgesetzt hat, eine gewisse Sepia-Tönung einstellt, die für eine warme Grundstimmung sorgt. Trotz der Graustufennegative entsteht eine farbige Land­ schaft aus beinahe dreidimensionalen Strukturen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der verwen­ dete Film. Während Kodak-Filme die Sepia-Tönung noch verstärken, neutralisieren Ilford-Filme die Tönung durch die leichte Blaufärbung der Negative. Trotz der simplen Technik der Projek­ tion blieben genug Quellen für Variationen und „Fehler“. Interessanter Nebeneffekt hierbei ist der Lichtpunkt, der auf jedem Foto durch den Projektor entsteht: Er taucht das Foto in ein gespenstisches Licht und sorgt, trotz der ver­ hältnismäßig dunklen Negative, für eine helle Umgebung – der Lichtpunkt fungiert hier quasi als fiktiver Vollmond. Die Endauswahl beschränkt sich auf 15 der 200 Projektionen und zeigt nur die intensiven, strukturreichen Fotos, um die Essenz der Aufgabe heraus zu kristallisieren.


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ir halten uns eine Woche lang fast ausschließ­ lich an denselben Orten auf. Da­ durch entstehen Fotos aus dem glei­ chen Umfeld aus unterschiedlichen Blick­ winkeln. Ein Bild besteht aus zwei über­ einander gelegten Fotos mit einem Transparentanteil von 50%. Durch die Überlagerung wird den Motiven ein Teil der Plastizität genommen und dem Uneindeu­ tigen Raum gegeben. Diese Arbeit zeigt, wie viel in einem scheinbar banalen Ort steckt und hat uns die Augen geöff­ net, dass selbst der unscheinbarste Ort zu einem faszinierenden Motiv werden kann.


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ir setzten uns den Zeitrahmen von Donners­tagmorgen bis Sonntagabend, um zu foto­ grafieren. Dabei verließen wir uns auf un­ sere In­ tuition, fotografierten, wann immer wir wollten und wählten keine weiteren Parameter oder Regeln für die Motivwahl. Sonntagabend­trafen wir uns und mischten alle 497 Fotos. Danach abstrahierten wir die Bilder mittels „Photoshop“, indem wir unter lautem „Stop“-Rufen mit geschlossenen Augen Quadrate aus den Bildern ausschnitten. Nach 7 Stunden und ins­ ge­ samt 186 bearbeiteten Fotos fanden wir, dass es nun an Vierecken reiche. Wir öffneten ein Din A 0-Dokument und platzier­ ten alle Quadrate entweder intui­ tiv, blind oder dort, wo das Programm sie sowieso öffnete. Hin und wieder markierten wir einige Quadra­ te und dreh­ ten sie um 90 Grad. Am Ende ergaben sich vier verschiedene A 0-Plakate daraus. Das Plakat, das uns am besten gefiel, druckten wir in Schwarz-Weiß aus und über­ legten, wie die­ ses große Plakat als Heft aussehen würde. Wir rasterten das Format in „Indesign“ in Din A5-Dop­ pelseiten, druckten diese doppel­ seitig aus und fertig war das „Plakat-Heft“.


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nsignificance  – „Insign“ eine neue Typo­­­grafie – zusammengestellt aus Aus­ schnit­ ten von „blind geschossenen“ Fotos. Die Fotos entstanden an drei Tagen, an denen wir mit einer um den Hals hängenden Kamera unser Leben in regelmäßigen Intervallen doku­ mentierten. Diese Typo­ grafie wird in der Arbeit „Insigni­ ficance“ für einen Blindtext genutzt. Das „blind geschossene“ Foto wird so zum Blind­­text und multipliziert seine Bedeutungslosig­ keit. Auf diese sind wir im Prozess mit unserer Fotostrecke gestoßen: Wie belanglos unser ei­ genes Le­ ben erscheint – im Vergleich zum Welt­ geschehen – und welche Schönheit es trotzdem in seiner „Sinnlosigkeit“ birgt.


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Schauen Sie sich um und bringen Sie Ihre Umgebung aufs Papier.

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chon seit geraumer Zeit arbeiteten wir intensiv an der alten Technik der Cyanotypie. Bereits 1842 erfunden, war sie die zweite Technik zur Herstellung von fotografischen Abbildungen, die dauerhaft erhalten blieben. Das Besondere an dieser Technik ist, dass man nicht, wie bei anderen Techniken üb­ lich, Entwickler und Fixierer benötigt, um das Bild sichtund haltbar zu machen. Bei der Cyanotypie reicht lediglich das Auswässern der nicht verbrauchten Emulsion, um ein weiteres Reagieren zu verhin­ dern. Somit ist diese Technik bestens geei­ gnet, um damit außerhalb eines Fotolabors zu arbeiten – wie gemacht für unsere Stadt/Land-­ Aufgabe. Also beschichteten wir für jeden Aufgabenteil je vier hochwertige Büttenpapiere, die dem Wässern im Rhein gewachsen sein sollten. Nachdem die Bögen getrocknet waren, verstauten wir sie in lichtdichten Mappen und machten uns auf den Weg nach Gustavsburg, an die Mainspitze. Dort sammelten wir verschiedene Gräser, Blätter, Steine, Federn, Treibholz und was sonst noch so in der Gegend zu finden war. Anschließend platzierten wir die vier Bögen nebeneinander und legten die gefunden­ en Sachen auf das Papier. Binnen drei Minu­ ten war das Papier schon in ein sattes Türkis gefärbt – die Schatten blieben grün. Dann stiegen wir gemeinsam in den Rhein, um die Bögen zu wässern. Resultat sind vier Fotogramme mit natür­ lichen, organischen Formen, die sich vielschichtig zu einem Ensemble zusammenfügen. Wir ließen die Bögen eine Zeit lang trocknen und machten uns anschließend auf den Rückweg nach Mainz. Neben dem Brunnen am Dom schlugen wir unser zweites Lager auf und suchten die Umgebung nach brauchbaren Materialien ab. Als Kontrast zu den organischen Formen des Landes, suchten wir gezielt nach harten, kantigen Formen, wie beispielsweise einem Fahrradkorb, Flaschen, Kabeln, Pflastersteinen oder Prospekten aus dem angrenzenden Buchladen. Auch hier verfuhren wir wie auf dem Land, nur war mittlerweile der Him­ mel recht bewölkt und ein Gewitter stand kurz bevor, weswegen die Bögen deut­ lich längere Zeit zum Belichten benötigten. Danach wässerten wir die Bögen im Brunnen und zu unserem Erstaunen verflüchtigte sich die Farbe recht schnell. Anstatt nur die Schatten auszu­ waschen, löste sich auch die belichtete Emulsion. Resultat waren vier leicht bläulich schimmernde Bögen, auf denen von den ursprünglichen Formen nichts mehr zu sehen war. Frustriert zuhause angekommen, kam uns auch die Ursache des Prob­ lems in den Sinn: Das Wasser des Brunnens roch leicht nach Chlor – anscheinend löste das Chlor die Emulsion aus dem Papier.


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die entstandenen Foto-Dreiecke mit neongrünen und transparenten Flächen. Diese grafischen El­ emente sollten den Kontrast zwischen Stadt und Land zusätzlich reflektieren. So entstand das Heft mit dem Titel „Komm sofort in den Ostforst“. Danach wurden alle Bilder nochmals in „Flash“ und „WindowsMovieMaker“ geöffnet und einige Ef­ fekte darübergelegt. Insgesamt entstanden 20 Land- und 20 Stadt-Bilder, 20 überlagerte StadtLand-Bilder in schwarz weiß, 20 überlagerte, farbige Stadt-Land-Bilder im Negativ, ein Heft aus 10 doppelseitig bedruckten Din A 5 Seiten aus Dreiecken sowie drei Filme.

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s war klar, dass wir für die Stadt-Bilder nach Frankfurt fahren würden. Wir wollten nur mit Dingen arbei­ ten, die wir in der Umgebung finden und stellten uns schon im Voraus die krasses­ ten Gegenstände und Flüssig­ keiten vor, die wir im Bahnhofsviertel, in U-Bahnstationen und auf der Straße finden wür­ den. In Frankfurt angekommen, bummelten wir über die „Dippe­ mess“ (Kirmes-Rummel-Fest), denn da würde sicher einiges gehen. Doch wir hatten uns getäuscht – es gab einfach nichts. Unsere Einweg­handschuhe, Mülltü­ten und Taschen­tücher blieben unbenutzt. Das einzig Reizvolle waren die beiden „Blutspringbrunnen“ vor dem Geister­ haus. Wir warfen unser Papier hinein und fisch­ ten rosa-farbigen Matsch heraus. Schade. Wir aßen etwas beim Thai-Imbiss und zogen das Papier durchs Essen. Mmh ... Naja. Das könnte auch „Land“ sein. Frustriert fuhren wir zurück zum Hauptbahnhof. Auch die Schokokekse, die es zum McDonalds-Kaffee gab, sahen auf dem Papier nicht mehr so „städtisch“ aus. Zurück in Mainz über­ legten wir: Grob genommen ist Mainz doch auch eine Stadt ... und eine Stadtwohnung befindet sich auch in der Stadt und auf einmal fanden wir tausend Dinge, mit denen wir malen konnten. Vom Balsamico-Essig über Nagellack bis hin zum Kerz­ enwachs. Augen zu und los: Für die Landbilder war klar, dass wir dorthin fahren mussten, wo es so ländlich war wie sonst nirgendwo. Nach Mettenheim! Wir hatten aus der Stadtaufgabe gelernt und woll­ ten in Ruhe zuhause arbeiten. Dafür sammelten wir alles, was schön und grün war und was wir mit Land asso­ ziierten. Zuhause betrachteten wir unsere Fundstücke und waren begeistert von der Pflanzenvielfalt. Wir befanden, dass die Pflanzen in ihrem Aussehen erhalten bleiben sollten und legten aus ihnen Bilder, teils mit geschlossenen Augen, teils mit geöffneten. Danach begann das digitale Spiel: Mit Hilfe un­ terschiedlicher Effekte kombinierten wir „Stadt“ mit „Land“. Heraus kamen verschiedene, unerwar­ tete Verschmelzungen. Die Schwarz­ weißvarianten dieser Bilder wurden zerschnitten und per Zu­ fallsprinzip kopiert. Zusätzlich bekleb­ ten wir


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u Beginn sammelte ich diverse Gegenstände in der Stadt und in der Natur, die mir zufällig „über den Weg liefen“. Anschlie­ ßend beschloss ich, die Gegen­ stände zu katalogisieren und fotografierte sie. Dabei fiel auf, dass man gar nicht genau sagen kann, dass ein Gegenstand nur „ländlich“ oder nur „städtisch“ ist. Es scheint, als rücken Stadt und Land immer näher zueinander und über­ schneiden sich. In der Natur tauchen Gegenstände aus der Stadt auf und umgekehrt. So arrangierte ich die Materialien miteinander, wobei die „Stadt-Gegenstände“ von Foto zu Foto mehr Raum einnahmen. Der Zufall zeigte sich hier nicht in der Anord­ nung der Gegenstände, sondern durch den Arbeits­ prozess an sich, der sich intuitiv entwickelte. In einer anderen Stimmung wäre vermutlich etwas anderes entstanden.


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ie Ergebnisse unserer „Stadt- und Land-“ Zeichnungen waren Ausgangspunkt für einen weiteren gestalterischen Prozess. Die Abriebe von Oberflächen aller Art lieferten das Bildmaterial, das zuerst digi­ talisiert wurde, um es dann mit Programmen zu verfremden. Die Frottagen bildeten ein unerwar­ tet großes Farbspektrum, das sich gut für eine Abstraktion in „Photoshop“ eignete. Zwar hatten alle Abriebe unterschiedliche Formen, doch nach der Verfremdung ergaben sich ähnliche Anmutungen. Das führte wiederum zu Assoziationen von Länder­ umrissen und schließlich zur Erstellung einer Weltkarte, die dann mit Hil­ fe von Zufallspara­ metern gefüllt wurde.


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tadtLandLicht – wir ließen das in der Stadt und auf dem Land Vorhandene selbst zeichnen – mit Licht. Die Umsetzung geschah bei Nacht, in voll­ kommener Dun­ kelheit. Wir legten das zuvor lichtgeschützte Fotopapier am Mombacher Strand in Mainz in den Rhein. Die Wellen spülten über das Fotopapier und wir blitzten. Ein Bruchteil einer Sekunde erschien helles Licht. In der Stadt verfuhren wir nach dem selben Schema und legten das Foto­ papier in einen Brunnen am Fischtorplatz in Mainz. Hier war das Wasser im Vergleich zum Rhein verunreinigt und trüb. Die belich­ teten Fotopapiere nahmen wir mit nach Hause in das umfunktionierte Bad – unser Fotolabor – wo wir die Echtbild-Abzüge direkt entwickelten.


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Land hinaus, be­ malten und beklebten die Papp­ formen mit Blumen, Erde und anderen Dingen, die wir dort fanden. Die gleiche Anzahl an geome­ trischen Formen bemalten und beklebten wir mit Dingen, die wir in der Stadt fanden. Abschließend legten wir mit den Quadraten, Drei­ ecken und Halbkreisen neue geometrische Formen und machten einen Stop-Motion-Film daraus.

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echzig Pappquadrate (6x6cm) zerschnitten wir in sechs weitere geo­ metrische Formen (Quadrate, Dreiecke und Halbkreise). Mit diesem Ausgangsmaterial fuhren wir auf’s


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Sind Sie schon wach? Fertigen Sie vier Wochen lang, jeden Morgen – unmittelbar nach dem Aufstehen – eine Zeichnung an. A05

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aliva. Morgentliches Spuckezeichnen. Auf der Suche nach dem Zufall. Ich bin kein Produkt des Zufalls, ich imitiere ihn nur.


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räume, Zahlen, Gedanken, Aufwachen, Delirium. Jeder Tag des Aprils beginnt fortan mit der Aufzeichnung des Erlebten. Morgens nach dem Aufstehen das Erste, was einem zu Gesicht kommt, festhalten, aufzeichnen. Nur Zeichnen mag ich nicht, dann doch lieber „Chaoscope“. Schon geraume Zeit vertrieb ich mir die Lange­ weile mit diesem faszinierenden Instrument. Was ursprünglich dafür gedacht war „seltsame Attraktoren“ – eine Gattung komplexer, math­ ematischer Funktionen – zu visualisieren, wird nun zum Spielball mei­ ner Träume. Genauer gesagt arbeitete ich mit dem Modus „Polynomial Func­ tion“ bei dem sich 24 Parameter eingeben lassen. So wandelte ich die verschiedenen Dinge, die mir nach dem Aufstehen begegneten, in Zah­ len um und gab diese als Parameter in das System. Mal waren dies Artikelnummern von Getränken, mal die Seriennummer meiner Lautsprecher, die Kontonum­ mer meiner eBay-Kundin oder die Marktnummer von Nieder-Eschbach. Jedes Mal entstanden surreale Formwelten mit überlappenden, in sich kehrenden Ebenen, die am Ende auf ein Plakat in Din A 0 gebracht wurden.


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Tr채umen von Zahlen, Verbindungen, Asoziationen, Aufwachen, Notieren, Eingeben, Hoffen. Chaoscope visualisiert die seltsame Welt aus Zahlen und Buchstaben.

30 Tage, 30 Morgen, 30 seltsame Attraktoren beizeichnend f체r die seltsame Welt in meinem Kopf. Licht am Ende des Tunnels. Braindead.

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Orangensaft St. Gilles Fernbedienung Kontostand in Euro Kontostand in Cent Rosbacher Medium 07:45 Uhr Heddernheim Zeilweg

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07:15 Uhr -0,81 Cent Nieder-Eschbach 17:34 Uhr Lautsprecher Fr체hlingserwachen Frankfurt 12:16 Uhr

17 18 19 20 21 22 23 24

Frankfurt-Ostend Niedernhausen C o c a - C o l a 1, 0 l P E T Coca-Cola 0,5l Glas Azur Medium Wittelsbacherallee 37 Datum an meinem PC Kontonummer

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Kundennummer Molotow Kontonummer eBay Externe Festplatte Schriftsatz 187 MHD Schweppes B.-L. 07:45 Uhr


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ei den Morgenzeichnungen habe ich kein bestimmtes Ziel verfolgt. Jeden Tag, vier Wochen lang, griff ich zu Stift und Aqua足 rellfarben und brachte das zu Papier, was mir als erstes in den Sinn kam. Das Einzige, das ich mir zum Vorsatz machte, war ein Zeitlimit von acht Minuten.


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eden Morgen eine Zeichnung, direkt nach dem Aufwachen, 30 Tage lang. Um den Spiel­ raum zu verkleinern, wurden eigene Regeln zu den gegebenen hinzu­ gefügt. In der Serie betrachtet ist der psychische und physische Zustand deutlich ablesbar, obwohl sich die Aufgabe von Tag zu Tag nicht verändert hat. Die strengen Rahmenbedingungen führen dazu, dass die Zeichnungen gut vergleichbar sind. Wenn es morgens schwer fällt, sich selbst im Spiegel zu betrachten, wird die Zeichnung unpräzise.


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ie Zeichnungen setzen sich thematisch mit Gedanken und Gefühlen auseinander. Dabei vermischen sich spontane oder intuitive Gefühlsregungen mit Erinnerungsfragmenten. Alle Zeichnungen sind mit dem selben Stift ent­ standen und wurden schließlich in einem Din A 5 großen Heft zusammen gefasst.


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Pappen an die Leiter meines Hochbettes. Morgens stieg ich die Leiter hinab und drückte mit dem großen Zeh auf die Sprühköpfe der am vorigen Abend positionierten Sprühdosen. Danach legte ich die besprüh­ ten Pappen auf ein anderes Stück Karton und zog es wieder ab. Durch das Abziehen der Pappe entstanden interessante Strukturen. Aus den zufällig entstandenen Formen zeich­ nete ich jeden Morgen ein oder mehrere Monster.

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iebenundzwanzig DIN A 5-Formate aus Umzugs­ kartons. Jeden Abend stellte ich zwei bis vier Sprühdosen mit fluoreszierendem Lack in unterschiedlicher Ausrichtung auf die


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Toilette ging, eine generative Zeichnung anfer­ tigte. Durch die Kombination von Gummiband und Kordel konn­ te sich das Rührgerät frei bewegen und durch den stetig kleiner werdenden, sich darunter befindenen Papierstapel, ergaben sich immer wieder neue Bewegungsmuster der Stifte.

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us einem handelsüblichen Rührgerät, Kordel, Gummis und verschiedenen Stiften baute ich eine Maschine, die für mich jeden Morgen nach dem Aufstehen, während ich auf die


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Entwickeln Sie aus zwei ausgelosten Substantiven innerhalb einer halben Stunde ein künstlerisches Objekt. A05

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ir arbeiteten in einer Vierergruppe und hatten somit vier Begriffe, die es in ein Projekt umzuwandeln galt: „Wasser“, „Name“, „Kind“ und „Haare“. Wir machten uns auf den Weg zum nahe liegenden Drogeriemarkt und besorgten uns allerhand Material. Darunter waren Kindergeburtstagskerzen, Textilfärbesalz in blau, Haarschaum, Spongebob-Kaugummis. In einer Aktion vereinten wir die verschiedenen Materialien zu einem „Geburtstagskuchen“ für unseren fiktiven Sohn „Ray“. Nach dem Anzünden entstanden nach mehreren Durchgängen interes­ sante Strukturen, die einen gewissen gra­ fischen Wert hatten. Durch das Aufbrechen der Färbesalz­ kruste zeigte sich der darun­ ter liegende weiße Haarschaum.


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enn man den Begriff „Geschlechts­ krankheit“ zieht, nimmt man am besten direkt Abschied vom Niveau. Uns schwirrten Gurken und Bananen im Kopf herum. Wir entschie­ den uns für die Banane und gingen zu Penny. Um die Banane in ihrer Rolle als männliches Glied zu vervollständigen, wur­ den zwei Überraschungseier mit auf das Band gelegt. Der andere Begriff lautete: „Schuh“. Wie prak­ tisch, dass man Schuhe immer mit sich trägt. Nur wie kombinieren wir nun diese beiden Begriffe? Von den 60 Minuten blie­ ben uns noch 10. Also keine Zeit für große Konzepte. Die erste Idee wird umgesetzt! Ok, dann wird also die Banane mitsamt der Überraschungseier-Plastikverpackung in den Schuh gelegt. Damit der flache Schuh bes­ ser aussieht, klebten wir ihm einen Absatz aus schwarzem Papier unter die Sohle. Die „Krankheit“ in dem Begriff wurde mit „Schmerzen“ übersetzt. Um diese zu veranschau­ lichen, stachen wir Nadeln in die Banane. Um dem Ganzen noch mehr Dramatik zu verleihen wurden zudem Streichhölzer in die Banane gesteckt und angezündet.


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wei Wörter und eine Stunde Zeit. Oh Gott! Und die Wörter sind auch noch „Wurst“ und „Kuss“! Ach herrje ... Naja. Ab zu Penny und Wurst kaufen. Wirklich? Für Mara, Vege­tarierin, eine heikle Angelegenheit. Nach kurzer Überlegung stimmt sie zu – der Kunst zuliebe. Wir kaufen zwei Fleischwürste, lieber zwei als eine, wir wissen ja noch gar nicht, was draus wird, das muss sich erst mal zeigen. Aber was machen wir mit dem Kuss? Ein Objekt? Können wir den Würsten Lippen basteln? Och nö, wie platt! Lieber so im übertragenen Sinn. Wir könnten auch die Würste küssen? Also eine Live-Performance. Mara ist sich nicht sicher, ob ihr das nicht zu weit geht. Irgendwie ist die Idee doof. Wie wäre es mit der inszenierten Sitzung einer fiktiven Sekte und unser Kurs ist die Sektengemeinde, die die Wurst als Heilige anbetet und wir laufen mit den Würsten herum und alle müssen sich an den Händen halten und die Würste küssen? Ja, ok! Aber wenn keiner mitmacht, ist das auch dumm – und da sind bestimmt ein paar Leute, die sich dafür zu cool finden. Oder doch eine Skulptur aus Wurst? Was kann man da machen? Die beiden Würste können sich ja auch küssen. Sie müssen dazu in­ einander gewurstet werden. Wir experimentieren mit der Mate­ rie. Zur Not das Sekten-Programm. Noch fünf Minuten. Wir haben die Würste auf einer Steinbank in der Mitte drapiert und es sieht fast aus wie ein Al­ tar. Und beide Würste ergeben ein Hakenkreuz aus Wurst. So. Und der Kuss? Die Präsentation der einzelnen Gruppen geht los. Und wir haben noch kein wirklich aus­ gereiftes Konzept. Wir flüstern uns zu, während eine andere Gruppe ihr Objekt prä­ sentiert. – Ok, Performance, du rechts, ich links, dann nimmt jeder eine Wurst von einer Seite und versucht sie mit der jeweils anderen zusammen zu bringen, so als würden die Würste sich lieb haben wollen und es nicht hinkriegen. So können wir den Kuss symbolisieren. Bis die Würste platzen ... Ok? Ok.


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208 ist. Hier werden Einsteins Vermutungen bestätigt. In der Quantenphysik sind die Anfangsbedingung nicht nur nicht kon­ trollierbar, sondern auch nicht erfassbar. Diese Nichterfassbarkeit wird dem Zufall zugeschrieben. Der quantenmechanische Zufall bedeutete also, dass es sehr wohl rein Zufälliges im aristotelischen Sinne gibt. Zufälliges, das keine bestimmte Ur­ sache besitzt. Die Welt ist also doch offen und nicht verurteilt, ein deterministisch ablaufendes Uhrwerk zu sein.

Anton Zeilinger — Der Zufall als Notwendigkeit für eine offene Welt Maria Oestringer und Janine Lueck

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ie Gesetze der klassischen Phy­ sik sind im Kern deterministisch, das bedeutet, dass alles eindeutig festge­ legt ist. Alles hat eine klare An­ fangs­b edingung. In diesem Sinne gibt es im Weltbild der klassischen Physik keinen Zufall. Selbst wenn der Grund‚ die Frage nach dem „Warum“ unklar ist, sagt uns die Physik, dass es sich um einen kau­ salen Ablauf handelt. Wenn also alle An­ fangsbedingungen des Universums genau gegeben sind (unabhängig von unserem Wissen), so wäre das weitere Geschehen eindeutig determiniert. Es gäbe keinen Zufall, alles würde aus einer Notwendig­ keit heraus passieren. Die Welt wäre wie ein ablaufendes Uhrwerk oder einfach nur ein Planet mit genau vorgeschriebener Flugbahn. Anders dachte schon Aristoteles ca. 350 Jahre vor Christus über den Zufall und teilte die Dinge in Notwendiges und Zu­ fälliges. Das Notwendige war dasjenige, welches nicht anders sein kann, und das Zufällige das, welches keine bestimmte Ursache besitzt. So hinterfragte auch Einstein 1905 mit seinen fünf Werken zur Quantenphysik den generellen Ausschluss des Zufalls. In seinen Publikationen stellte er die Ver­mutung an, dass im Falle der Quan­ tenphysik die kausale Erklärbarkeit der klassischen Physik wegfiele. Er räumte somit das erste Mal in der Geschichte der Physik den Zufall ein. Für die damalige Zeit eine bahnbrechen­ de Meinung, die die bisherigen Erkenntnisse der Physik in Frage stellte und auf Widerstand stieß. Erst 1927 formulieren die beiden Physi­ ker Niels Bohr und Werner Heisenberg die sogenannte „Kopenhagener Deutung“ bzw. Interpretation der Quantenmecha­ nik, die heute in der Physik anerkannt

„Es geht also nicht darum, den Zufall aus der Welt zu verbannen, sondern durch unser Handeln Bedingungen zu schaffen, die dem Zufall die Möglichkeit geben, Positives zu bewirken.“ Für den Designer könnte dies bedeuten, dass er mit konkreten Handlungen Be­ dingungen schafft, die dem Zufall die Möglichkeit geben, gutes Design zu ent­ wickeln. Quelle Zeilinger/Leder: Der Zufall als Notwendig­ keit, Wiener Vorlesung, Picus Verlag

Rudolf Taschner — Zahlen Zähmen den Zufall

Berechnungen ergibt sich, dass die Plane­ ten nach 900 Jahren automatisch wieder in geordneten Bahnen verlaufen – auch ohne das Wirken Gottes. Laplace glaubt, dass alles berechenbar war, ist und sein wird, wenn es einen allwissenden Dämon gäbe, dem alle Kräfte der Welt bewusst wären. Er behauptet, man müsse von je­ dem Teilchen im Universum nur den Auf­ enthaltsort (angegeben in vorne, rechts und oben) und die Bewegungsrichtung (wie schnell sich das Teilchen nach vor­ ne, rechts und oben bewegt) kennen, um die ganze Welt zu erklären. Den hy­ pothetischen Dämon kreiert Laplace, da diese Berechnungen die Fähigkeiten eines jeden Menschen und Rechensys­ tems überschreiten. Dieser Dämon könn­ te den Lauf der Welt vorhersagen, was den Menschen moralisch unmündig ma­ chen und dem Leben jeden Sinn rauben würde. Diese Theorie wurde von Werner Heisenberg widerlegt, der mit seinem Aufsatz zur „Unschärferelation“ belegt, dass man entweder den Ort oder aber die Bewegungsrichtung (hier: Impuls) eines Teilchens nennen könnten, doch niemals beides zur gleichen Zeit. Damit schloss er die komplette Berechenbarkeit von der Bewegung von Teilchen aus, gleichzeitig bewies er jedoch, dass der Zufall mithil­ fe der Wahrscheinlichkeitsrechnung be­ rechenbar wird, also gezähmt werden kann. Rudolf Taschners Fazit lautet dem­ nach, dass der Zufall vorhersehbar ist, wenn man „vom jeweiligen Einzelfall ab­ sieht“. Der Ausgang des Einzelereignisses wird uns ungewiss bleiben. Quelle Zeilinger /Leder: Der Zufall als Notwendig­ keit, Wiener Vorlesung, Picus Verlag

Benedikt Weishaupt und Jana Neff

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er österreichische Mathematiker Ru­ dolf Taschner nähert sich in seinem Text „Zahlen zähmen den Zufall“ von der Astrophysik über den Determinismus bis zur Quantenphysik dem Thema Zu­ fall. Er geht dabei vor allem auf die For­ schungsergebnisse von Isaac Newton, Pierre-Simon (Marquis de) Laplace und Werner Karl Heisenberg ein. Die gemein­ same Frage aller war, wie sich Gegenstän­ de im Universum bewegen und in welchem Maße dies vorhersehbar ist. Isaac Newton brachte den Stein ins Rollen, indem er in seinem Buch über die Gesetze der Him­ melsmechanik Gott als einzige Notwen­ digkeit benannte. Seine Beobachtung der Himmelskörper Jupiter und Saturn und deren Umlaufbahnen ergab, dass nach einer längeren Zeit eine minimale Abwei­ chung zustande käme, welche das ge­ samte Sonnensystem aus der Bahn wer­ fen würde. Gott fungiert also als Wächter, der von Zeit zu Zeit einschreitet und alles wieder zurechtrückt. Leibniz huscht spä­ ter aufgrund dieser Äußerung ein zwei­ felndes Lächeln über die Lippen, dieser Zweifel wird jedoch erst von Laplace wis­ senschaftlich fundiert. Nach genaueren

jürgen mittelstrass — Zufall und Notwendigkeit Alica Jörg, Oleg Svidler und Natalia Chekonina

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ie zufällig ist der Zufall? Der Zufall hatte es den „Nachdenkern“ schon zu allen Zeiten angetan. Ist unser Leben tatsächlich eine Aneinanderrei­ hung zufälliger Ereignisse – oder hält das Schicksal bereits bei unserer Geburt einen klaren Fahrplan für uns bereit? Jürgen Mittelstraß (dt. Philosoph) führt in seinem Vortrag durch die Geschichte der Philoso­ phie und zeigt auf, welche Philosophen ihr Weltbild auf dem Gegensatzpaar „Zufall und Notwendigkeit“ begründeten.


209 1) Demokrit

„Alles was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.“ Der griechische Naturphilosoph Demo­ krit, auch Demokritos (* 460 /459 v. Chr. in Abdera, † vermutlich 370 v. Chr.) war Schüler des Leukipp, der den Vorsokra­ tikern angehörte. Der bekannteste und wohl markanteste Teil von Demokrits Phi­ losophie ist der physikalische. Seine Lehre von den Atomen (antiker Atomismus), die von ihm, wenn nicht begründet, so doch zuerst voll ausgebildet, ist zudem Funda­ ment der modernen Physik geworden ist. Sein konsequenter atomischer Materia­ lismus besagt, dass die gesamte Natur aus kleinen, unteilbaren und gleicharti­ gen Teilchen zusammengesetzt ist, die sich in ständigem Fall befinden. Wenn es aber zu Turbulenzen kommt, so wechseln die Atome die Fallrichtung und setzen sich zu einer Materie zusammen. „Nur schein­ bar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter. In Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum.“ Demokrit ist der Meinung, dass auch unsere Seele nach atomischen Prinzipien aufgebaut ist. Die sogenannten Seelenatome ver­ lassen immer den toten Körper um sich dann einem neuen Körper, der sich bei der Geburt bildet, anzuschließen. Der Ato­ mismus stellt zugleich eine streng me­ chanische Weltanschauung dar. Aus der Welt der Atome ist jeder Zufall, jede ihr zugrunde liegende, bewusst handelnde Gottheit ausgeschlossen.

„Die Menschen haben sich ein Trugbild vom Zufall ersonnen, zur Beschönigung für ihre eigene Unvernunft. Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grunde und unter dem Zwang der Notwendigkeit. (ek logou te kai hyp‘ anankês).“ 2) Aristoteles

„Durch Zufall kann aber niemals etwas eines Zweckes wegen geschehen.“ Aristoteles (* 384 v. Chr. in Stageira; † 322 v. Chr. in Chalkis) gehört zu den bekann­ testen und einflussreichsten Philosophen der Geschichte. Er hat zahlreiche Diszi­ plinen begründet oder maßgeblich be­ einflusst, darunter Wissenschaftstheorie, Logik, Biologie, Physik, Ethik, Dichtungs­ theorie und Staatslehre. Aristoteles’ Defi­ nition von Zufall lautet: Wenn im Bereich der Geschehnisse, die im strengen Sinn wegen etwas eintreten und deren Ursache außer ihnen liegt, etwas geschieht, das mit dem Ergebnis nicht in eine „Deswe­ gen-Beziehung“ zu bringen ist, dann nen­ nen wir dies „zufällig“. Er nennt folgendes Beispiel: Ein Pferd entgeht dadurch, dass es aus dem Stall herauskommt, einem Un­ glück, es ist aber nicht herausgekommen,

weil es dem Unglück entgehen wollte (es wusste nichts von dem drohenden Un­ glück). In diesem Fall würde man sagen: „Das Pferd ist zufällig herausgekommen“. Die „Ursache“ ist hier das Herauskommen, das „Ergebnis“ ist das „Dem-UnglückEntgehen“ und zwischen beiden gibt es keine „Deswegen-Beziehung“. Das Pferd ist nicht herausgekommen, um dem Un­ glück zu entgehen, daher sprechen wir von Zufall.

Andererseits gibt es für ihn aber auch die moralische Notwendigkeit, der zufolge ein Weiser stets nach bestem Wissen und Ge­ wissen handelt. Außerdem gibt es auch frei interpretiert – die Notwendigkeit des Handelns einer Persönlichkeit (z.B. kom­ plexbehaftetes Handeln). Diese Auf­fäch­ erung des Notwendigkeits -Begriffes wi­ derspricht den Auffassungen von Spinoza und Demokrit. 5) Hegel

3) Baruch de Spinoza

„Alle Dinge geschehen aus Notwendigkeit; es gibt in der Natur kein Gutes und kein Schlechtes.“ Baruch de Spinoza (* 24. November 1632 in Amsterdam; † 21. Februar 1677 in Den Haag), niederländischer Philosoph. Er wird dem Rationalismus zugeordnet und gilt als einer der Begründer der modernen Bibelkritik. Spinoza ist bekannt für sei­ nen Pantheismus, der besagt, dass Gott überall sei, eine kosmologische Substanz, die Natur. Es gibt nach ihm keinen Zufall, sondern nur den Willen Gottes. Freiheit ist für ihn letztlich nichts anderes als die Einsicht in die Notwendigkeit. Allein Gott kann also frei sein. Der Mensch hält sich für frei, weil er die Ursachen seiner Hand­ lungen nicht kennt. Nach Spinoza verläuft in der Natur alles gesetzmäßig. Er schreibt: „Es geschieht in der Natur nichts, was mit ihren allgemeinen Ge­ setzen in Widerspruch steht, aber auch nichts, was mit denselben nicht überein­ stimmte oder aus denselben nicht folg­ te. Denn alles, was geschieht, geschieht durch den Willen und ewigen Ratschluss Gottes “ . 4) Leibniz Gottfried Wilhelm Leibniz (* 1 Juli 1646 in Leipzig; † 14. November 1716 in Hannover), deutscher Philosoph und Wissenschaftler, Mathematiker, Diplomat, Physiker, Histo­ riker, Politiker, Bibliothekar und Doktor des weltlichen und des Kirchenrechts in der frühen Aufklärung. Er gilt als der universale Geist seiner Zeit und einer der bedeutendsten Philosophen des ausge­ henden 17. und beginnenden 18. Jahrhun­ derts. Für Leibniz ist der „Satz vom zurei­ chenden Grund“ nicht nur ein tragendes Theorem seiner Philosophie, sondern ge­ hört, neben dem „Satz des Widerspruchs“, zu einem der beiden Prinzipien auf die sich menschliche Vernunftsschlüsse stützen. Nichts geschieht, ohne dass es eine Ursa­ che oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt. Leibniz setzt Notwendigkeit und Zufall starr entgegen. Zufall ist für ihn etwas, das nicht wesentlich, individu­ ell, einmalig oder empirisch erfassbar ist. Man könnte vielleicht den Zufall mit Kon­ tingenz gleichsetzen. Den Begriff der Notwendigkeit hat Leibniz differenziert. So gibt es für ihn absolu­ te Notwendigkeiten, die er logische und mathematische Notwendigkeiten nennt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (* 27. Au­ gust 1770 in Stuttgart; † 14. November 1831 in Berlin), deutscher Philosoph, der als wichtig­st er Vertreter des Deutschen Ide­ alismus gilt.

„Ob etwas notwendig ist oder zufällig, sei immer eine Frage der Betrachtung …“ Innerhalb eines bestimmten Bezugsrah­ mens ist etwas zufällig, bezogen auf An­ deres, was innerhalb dieses Bezugsrah­ mens ist, kann es notwendig sein. Ändert sich der Bezugsrahmen, ändert sich auch die Beurteilung. Für Hegel ist, laut Mittelstraß, die Zukunft immer das Zufällige und die Vergangen­ heit das Notwendige. 6) Nietzsche Friedrich Wilhelm Nietzsche (* 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen; † 25. August 1900 in Weimar), deutscher Philosoph, Dichter und klassischer Philologe.

„Das Wesentliche an jeder Erfindung tut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht.“ Nietzsche wirft der bisherigen Philosophie und Wissenschaft vor, herrschende (Mo­ ral-)Vorstellungen unkritisch übernom­ men zu haben. Der Wille macht die Zufäl­le zu Werkzeugen, die den Menschen seinen Zielen näher bringen. Damit erklärt er, ganz im Gegensatz zu den determinis­ tischen Naturwissenschaften, den Zufall zu einem natürlichen Grundphänomen und räumt uns die ungeheuere Freiheit ein, dieses zu nutzen.

„Zufall über alles!“ 7) Einstein Albert Einstein (* 14. März 1879 in Ulm, Königreich Württemberg; † 18. April 1955 in Princeton, USA), theoretischer Physi­ ker. Seine Beiträge veränderten maßgeb­ lich das physikalische Weltbild; hundert führende Physiker wählten ihn 1999 zum größten Physiker aller Zeiten.

„Gott würfelt nicht!“ Einstein glaubte, dass „der Alte“ (Gott) nicht würfle, denn er lehnte die stochas­ tischen (zufallsabhängigen) Erklär­ungen


210 der Quantenmechanik in Bezug auf den Begriff Zufall ab. Letztlich geht es bei ihm um die Frage, ob der deterministische Ursache -Wirkungs-Zusammenhang in der Physik noch Gültigkeit habe, oder nicht. Die These, dass Gott nicht würfelt, also die Physik keinen Zufall kennt, war Einsteins Antwort auf die Frage, was ihm an der da­ mals aufkommenden Quantenphysik nicht be­h age, denn dort würden Zustände von Elementarteilchen nicht exakt, sondern mittels Aufenthaltswahrscheinlichkeiten beschrieben.

Quellen Zeilinger /Leder: Der Zufall als Notwen­ digkeit, Wiener Vorlesung, Picus Verlag; Christoph Delius: Geschichte der Philoso­ phie, Von der Antike bis heute; http://www.dieterwundelich.de/Monod_ zufall.htm#cont; http://www.arte.tv/ de/2235076,CmC=3207408.html; http://de.wikibooks.org/wiki/Zufall:_Phi­ losophie HYPERLINK „http://www.textlog. de/6100.html“ http://www.textlog. de/6100.html; http://www.philosophieverstaendlich.de

8) Jacques Monod Jacques Monod (* 9.2.1910 in Paris, † 31.5.1976 in Cannes ), französischer Mo­ lekularbiologe zählt zu den Pionieren der modernen Genetik. Für sein 1972 erschie­ nenes Buch „Zufall und Notwendigkeit“ wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeich­ net. Seine Arbeit handelt in erster Linie von den Auswirkungen der Evolutionstheorie auf das Selbstbild des Menschen. Der Titel leitet sich von der Aussage Demokrits „Al­ les, was im Weltall existiert, ist die Frucht von Zufall und Notwendigkeit.“ ab. Monod überträgt diese Bedeutung auf die Grund­ elemente der Evolutionstheorie – Muta­ tion und Selektion.

„Der reine Zufall, (…) die absolute, blinde Freiheit, ist Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution.“ Durch den Zufall wird die Evolution über­ haupt erst möglich. „Während die Morpho­ genese durch die DNA determiniert ist, ermöglichen zufällige Störungen (Mutati­ onen) überhaupt erst die Evolution.“ Alle Lebewesen setzen sich ausnahmslos aus den beiden gleichen Hauptklassen von Makromolekülen zusammen – aus Pro­ teinen und Nukleinsäuren. Der Mensch bildet in der Evolution keine Ausnahme. Das heißt: Er ist das Produkt von Zufäl­ len. Diese Erkenntnis löst Angst aus und verunsichert, denn wir möchten, dass wir notwendig sind, dass unsere Existenz unvermeidbar und seit allen Zeiten be­ schlossen ist. „Wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch [...] seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Uni­ versums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“ Der Mensch weiß endlich, dass er in der teilnahmslosen Unermesslichkeit des Uni­ versums, aus dem er zufällig hervor trat, alleine ist. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Fazit: Der Zufall kennt keine Regeln, die Not­ wendigkeit nur eine einzige. Das Zufällige ist nicht vorherzusagen. Das Notwendige kann nicht anders sein.

Odo Marquard — Apologie des Zufälligen – philosophische Überlegungen zum Menschen Daniel Bretz und Alexander Grazdanow

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n „Apologie des Zufälligen: Philosophi­ sche Studien“ von Odo Marquard geht es darum, den Zufall in der Philosophie zu retten. In der klassischen Schulphiloso­ phie stehen das Materielle und der Zufall an letzter Stelle. Den höchsten Stellen­ wert hat die menschliche Seele inne. Immanuel Kant (* 22. April 1724 in Königs­ berg; † 12. Februar 1804 in Königsberg) behauptete: „Die menschliche Vernunft ist schlicht und einfach begrenzt“. Ge­ org Wilhelm Friedrich Hegel (* 27. August 1770 in Stuttgart; † 14. November 1831 in Berlin) stellte wiederum die These auf: „Der menschliche Geist beginnt, sich im­ mer mehr zu vervollkommnen“. Hegel war sogar der Ansicht, dass der menschliche Geist irgendwann so weit entwickelt sei, dass er vollkommen sei und ohne den Menschen existieren könne. Der Mensch wäre irgendwann in der Lage, vollkom­ mene und absolute Entscheidungen zu treffen. Er erreiche irgendwann die Abso­ lutheit und der Zufall spreche gegen die Freiheit und die Würde des Menschen. Odo Marquard widerspricht der These Hegels:

„Der Mensch ist nicht absolut! Der Mensch ist endlich.“ Dass wir Menschen genau diesem Natur­ gesetz unterliegen, sei der Zufall schlechthin, denn wir könnten auch einem ande­ rem Naturgesetz unterliegen. Wir unterlie­ gen jedoch zufälligerweise genau diesem Naturgesetz. Ein Mensch wird geboren und ein Mensch stirbt auch wieder. Mar­ quard bezeichnet auch die Existenz von

Leben auf der Erde als Zufall. Und diese These (Hauptthese des Textes) Odo Mar­ quards steht gegen die Absolutmachung des Menschen in der Philosophie. Wir sind umgeben und geprägt von Zufällen. Er be­ schreibt unter anderem die Beliebigkeits­ zufälle, beispielsweise: Man öffnet den Kühlschrank und erblickt Wurst, Käse und Marmelade. Man greift die Marmelade und streicht sie auf ein Brot. Man hätte jedoch auch Käse oder Wurst nehmen können. Des weiteren schreibt Odo Marquard über die schick­ salhaften Zufälle, die uns umgeben: Schicksalszufälle, wie die Geburt und der Tod des Menschen; Zufälle, die wir nicht beeinflussen können.

„Das schicksalhaft Zufällige ist die Wirklichkeit unseres Lebens.” Marquard bezeichnet die Schicksalszu­ fälle auch als Üblichkeiten, darunter auch die Üblichkeit schlecht hin, der Tod. Also stehen gegen die Absolutmachung des Menschen die schicksalhaften Zufälle und die Unvermeidlichkeit von Üblichkei­ ten. Die Vielseitigkeit des Lebens und die Schicksalszufälle bestimmen das Leben. Man kann sagen, dass zur Freiheit des Menschen die Anerkennung des Zufälli­ gen gehört. Apologie Eine Apologie (von spätlat. apologia, aus altgriech. apología für „Verteidigung, Rechtfertigung“) ist eine Verteidigungsre­ de beziehungsweise Verteidigungsschrift. Odo Marquard, * 26. Februar 1928 in Stolp (Pommern), studierte von 1947 bis 1954 Philosophie, Germanistik und Theologie in Münster und Freiburg. 1982 bis 1983 war er in Berlin „Fellow“ am Wissenschafts­ kolleg. 1993 wurde er in Gießen emeri­ tiert. 1984 bis 1987 war er Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. 1984 bekam er den Sig­ mund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Sein Lebenswerk wurde 1996 mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet. 1998 wurde ihm für sei­ ne Beredsamkeit der Cicero-Rednerpreis verliehen. 2008 bekam Odo Marquard das Große Bundesverdienstkreuz.

„Der Geist des Menschen wird nicht in der Lage sein sich so weit zu entwickeln, dass er Absolutheit erreicht und ohne den Menschen existieren kann. Dafür lebt der Mensch nicht lange genug.“ Quelle Odo Marquard: Apologie des Zufälligen, Reclam Verlag;


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Rolf GroSSmann — Die Phantasie der kalkulierten Welt Sandra Weber

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olf Großmann unterscheidet in sei­ nem Text „Die Phantasie der kalku­ lierten Welt“ zwischen zwei Zufalls­ methoden, welche in Kunst und Musik zu finden sind. Es handelt sich zum einen um die „Methodik der Unbestimmtheiten“, für die Großmann den Musik-Künstler John Cage als Vertreter benennt und zum an­ deren um die „Stochastische Simulation“. Diese wird als zweite Methodik mit ihrem Pionier, dem Musik-Künstler Iannis Xana­ kis, dargestellt. Bei der Unbestimmtheit spielt der Zufall eine starke gestalterische Rolle im Kom­ positionsprozess. Hier nimmt der Zufall direkten Einfluss auf die Entstehung, die Struktur und die Form der Kunst und steht somit sehr machtvoll über dem Ergebnis. Als Anwendungsbeispiel für diese Zufallsmethodik in Bezug auf den Rezipienten, sei auf John Cages „Inde­ terminacy“ (Unbestimmtheit) von 1959 verwiesen. In dieser Aufnahme liest Cage humorvolle Kurzgeschichten laut vor, während sein Partner, David Tudor, in ei­ nem anderen Raum sitzt und verschiede­ ne musikalische Geräusche spielt. Cage und Tudor hören nichts von ihrem gegen­ seitigen Handeln. Nur der Zeitrahmen, wer welche Handlungen tätigt und die räum­ liche Trennung wurden im Voraus festge­ legt. Der Zuhörer nimmt bei diesem Stück die aleatorische Kombination der beiden Handlungen von Cage und Tudor wahr. Hier wird die einmal gewählte Zufallsme­ thodik auf alles Folgende angewandt. Da zu Beginn von Cage festgelegt wurde, wer welche Handlung ausübt, wo die Akteure sich befinden und in welchem Zeitrahmen gehandelt wird, steht alles, was darauf folgt (das ganze künstlerische Schaffen), unter diesen Prämissen. Diese Zufallsme­ thodik setzt eine vollständige Unterord­ nung von Produktion bzw. Produkt voraus. Für ein weiteres, ähnliches Experiment lud John Cage viele Jazzmusiker ein und bat diese, sich zusammen in einem Raum zu versammeln. Hierbei sollte jeder für sich als Solist spielen und nicht auf das Spiel der anderen achten. Es ging nicht um Kommunikation und es sollte kei­ ne Jamsession daraus resultieren. Cage wollte selbstbestimmte Individuen eine spezielle Inszenierung darbieten lassen, welche als ästhetisches Geschehen auf­ gefasst wird. John Cage ist der bedeutendste und radi­ kalste Vertreter der „Unbestimmtheiten“ – mit dem Ziel, neue Wahrnehmungs- und

Handlungsräume zu öffnen. Es geht ihm nicht um die Formung eines individuellen Werks oder Stils. Cage möchte vielmehr von der Ratio und Wahrnehmung des ziel­ gerichteten Alltags ablenken und die Rezi­ pienten für neue ästhetische Erfahrungen öffnen. Dies wird auch deutlich in John Cages Um­ gang mit der Technik. Die Verwendung von Technik ist es auch, was Cage zum Vorrei­ ter für die Ambient-Abteilung des Technos oder des Sounddesignes (Werbejingels mit Wellen- oder Stadtgeräuschen) wer­ den lässt. So setzt Cage in „The Score for Variations“ seine Zufallsästhetik des Unbestimmten mit High-Tech-Werkzeug fort, indem er Tonbandgeräte und Schallplattenspieler als eigenständige Instrumente einsetzt. Er experimentiert mit In- und Output und schafft so einen bewussten „overload“. Diese „Instrumente“ werden bewusst falsch gebraucht und zweckentfremdet, um ein unvorhersehbares Resultat zu er­ halten. Durch diese Anwendung tritt das „Wesen“ der Maschine hervor und wird ästhetisch erfahrbar. Das ursprüngliche Werkzeug oder das Medium selbst und mit ihm seine Materialität werden hör- und sichtbar und Teil des ästhetischen Pro­ dukts. Hinter der „Stochastischen Simulation“ steht im Grunde ihr Erfinder, der griechi­ sche Komponist und Architekt, Iannis Xenakis. Seine Musik ist stark von mathe­ matischen und akustischen Gesetzmä­ ßigkeiten geprägt: Die „stochastische Mu­s ik“ ist ein von Xa­ nakis erfundener Musikstil, bei dem zu­ fällige (stochastische) Phänomene aus der Natur in algorithmischen Strukturen abgebildet werden. Bei diesen Phäno­ menen handelt es sich beispielsweise um Orkane, Stern- oder Schneegestöber, Regen, einem Bienenschwarm oder Men­ schenmassen. Die Algorithmen dieser Naturereignisse werden durch eine eigens von Xenakis entwickelte Maschine in Töne umgewandelt. MIt Hilfe dieser Maschine (UPIC) und dem UPIC-Programm werden graphische Kurven und Zeichnungen in Klang und Klangabläufe übersetzt. Ein Beispiel ist hierfür Iannis Xenakis „Myce­ nae Alpha“ von 1978. Quelle Gendolla/Kamphusmann: Die Künste des Zufalls, Suhrkamp Verlag;

Claus Grupen — Die Natur des Zufalls Karolina Sus

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in erdachtes Interview mit Claus Grupen:

Herr Grupen, wenn doch die Gesetze der klassischen Physik rein deterministischer Natur sind, wieso spielt dann der Zufall in der Beschreibung des Universums und im alltäglichen Leben eine so große Rolle? Um dies zu klären, bedarf es zunächst einmal einer Definition des Begriffes „Zu­ fall“: Lässt sich ein individuelles Ereignis nicht aus seiner Vorgeschichte ableiten, so bezeichnet man dieses zufällig. Viele Menschen scheuen ein solches Ereignis, weil es auch immer den Verlust von Ori­ entierung in sich birgt. Die Wissenschaft und der Alltagsverstand mögen den Zufall nicht wirklich. Sie leiden unter der Über­ raschung des Zufalls, der die Planung irritiert und kompliziert. Dabei ist doch eigentlich der kurzfristige Verlust der Orientierung genau das, was spannend ist. Die Begriffe des Zufalls und des Cha­ os liegen in der Naturwissenschaft sehr nahe beieinander. Das Rechnen mit Wahr­ scheinlichkeiten gibt uns nun die Möglich­ keit, den Zufall mathematisch zu erfas­ sen. Besser gesagt: Uns ihm anzunähern. Wie sieht das in der Praxis aus? Nehmen wir als Beispiel das Würfelspiel mit einem ungezinkten Würfel: Der Würfel hat sechs Seiten mit sechs unterschied­ lichen Zahlen. Nun gibt es sechs Mög­ lichkeiten, wie der Würfel fallen könnte. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich aus dem Kehrwert der Möglichkeiten. In un­ serem Beispiel liegt die Wahrscheinlich­ keit, eine bestimmte Zahl zu würfeln, also bei eins zu sechs. Die Eins dividiert durch die Sechs. Eine ganz einfache Rechnung, in der Statistiken über vorhergegangene Würfelwürfe nicht auftauchen. Was meinen Sie genau damit? Vereinfacht ausgedrückt, hat ein Würfel kein Gedächtnis und ein Würfelwurf somit auch keine Vergangenheit. Wieso lässt sich denn ein scheinbar so komplexes Ereignis, wie eine Landung auf dem Mond mit exakter Genauigkeit be­ rechnen, nicht aber wann welche Zahl bei einem Würfelwurf fällt? Dies hat etwas mit dem Wissen der genau­ en Anfangsbedingungen eines Ereignisses zu tun. Wichtig ist, dass man grundsätz­ lich zwischen gutartigen und chaotischen Systemen unterscheidet: Ein gutartiges System ist von sehr robus­


212 ter Natur. Stellen Sie sich vor, Sie werfen einen Gegenstand aus dem Fenster. Nach einer Sekunde ist dieser Gegenstand ca. zehn Meter gefallen. Daran wird sich auch nichts ändern wenn sie den Winkel ihrer Hand im Moment des Loslassens verän­ dern. Ähnlich robust müssen sie sich nun das Ereignis der Mondlandung vorstellen. Ich weiß, dies fällt einem im Angesicht der Anstrengungen die damit verbunden sind, ziemlich schwer. Konträr dazu befindet sich nun das chaotische System. Es ist äußerst anfällig. Eine geringfügige Verän­ derung der Anfangsbedingungen führt zu einem komplett anderen Ergebnis. Stel­ len sie sich hier als Beispiel einfach das Aufstellen eines Eis vor. Oder eben den Würfelwurf. Wenn Sie davon ausgehen, dass es doch in der Physik immer mög­ lich sein müsste, Anfangsbedingungen zu ermitteln, um daraus exakte Ergebnisse oder Folgen für ein bestimmtes Ereignis ermitteln zu können, liegen sie falsch. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg bei­ spielsweise stellte fest, dass man Größen wie Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau messen kann, weil der Messprozess selbst einen Einfluss auf die zu messenden Größen ausübt. Un­ glaublich, oder? Ereignisse in chaotischen Systemen kön­ nen wir also nur in Wahrscheinlichkeiten angeben, weil wir niemals alles wissen können. Genau. In der Telekommunikation kommt das Chaos-Prinzip in Form von Verschlüs­ selungen zum Einsatz: Nur diejenigen Empfänger, die auch über einen Schlüs­ sel, also das Wissen über die genauen An­ fangsbedingungen des generierten Chaos besitzen, können verschlüsselte Signale decodieren. Zufall und Chaos lassen sich demnach generieren und bleiben für un­ wissende ohne Schlüssel auch immer zu­ fällig und chaotisch.

Wirkung eine Ursache haben. Was wieder­ um bedeutet, dass eine Teilchen-Antiteil­ chenerzeugung ganz spontan durch eine zufällige Quantenfluktuation zustande kommen kann. Dies ist schwer greifbar, aber möglich. Allerdings bedeutet die Dar­ legung der theoretischen Machbarkeit von Materieerzeugung aus dem Nichts keines­ wegs, dass ein solcher Vorgang auch tat­ sächlich stattgefunden hat. Ob eine Ent­ stehung aus dem Nichts möglich ist, ist ganz nebenbei auch eine sehr persönliche Frage, auf die jeder seine eigene Antwort hat oder eben nicht.

Die Grundbegriffe von Zufall und Chaos sind zwar geklärt, dennoch bleibt eine grundlegende Frage offen: Ist die Weltent­ stehung- und Entwicklung aus Ihrer Sicht ein zufälliger Vorgang? Alles kann, Nichts muss. Im Alten Testa­ ment wird die Entstehung der Welt als ein Akt eines Schöpfers dargestellt. Für den Physiker stellt sich aber trotzdem die Fra­ ge, ob der Ursprung der Welt nicht als ein natürlicher Prozess angesehen werden kann, der den Gesetzen des Zufalls folgte. Natürlich kann er das! Aber der Menschen­ verstand bringt im Wesentlichen zwei Ein­ wände gegen den zufälligen Ursprung und die zufällige Entwicklung des Universums vor: Wie kann die ganze Welt durch Zufall entstanden sein? Und wenn vor der Ent­ stehung des Universums nichts war, wie kann dann aus dem Nichts etwas entste­ hen? Mit den Naturgesetzen ist es durch­ aus vereinbar, dass das Universum sich aus einem kompletten Chaos entwickelt hat, seit dem Urknall expandiert, sich aber zufällig gleichzeitig Nischen der Ordnung gebildet haben. Eine solche Nische bildet beispielsweise die Erde. In der bereits er­ wähnten Quantenphysik muss nicht jede

Tobias Gebert, Felix Breidenbach und Sebastian Zimmerhackl

Können Sie sich vorstellen, dass etwas Neues aus dem Nichts entstehen kann? Dass dieses Neue keine Vergangenheit hat? Oder ist es eine Vergangenheit die wir nicht fassen können? Was bedeutet das Wort „Neu“ überhaupt? Kann dieses Wort für alle das Gleiche bedeuten? Muss es? Ist dieses Wort selbst vielleicht nur eine Wahrscheinlichkeit, also eine Annä­ herung? Dies sind Fragen die ich mir jeden Tag aufs Neue stelle. Herr Grupen, ich danke für das Gespräch! Quelle Gendolla/Kamphusmann: Die Künste des Zufalls, Suhrkamp Verlag;

Hans Ulrich Reck — Aleatorik in der bildenden Kunst

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ufall ist ein relativer Begriff. Diese Relativität des Zufallsbegriffes ist die zentrale These in Recks Aus­ führungen über die Aleatorik in der bil­ denden Kunst. Aleatorik (von lat. Alea, der Würfel) meint nichts anderes als das hervorbringen künstlerischer Strukturen durch Improvisation und Kombinatorik von Zufällen innerhalb eines bestimm­ ten Rahmens. Es geht hierbei nicht um den Zufall im wissenschaftlichen, etwa physikalischen oder mathematischen Kon­ text, sondern um den Zufallsbe­ griff als solchen in der Semantik des täglichen Sprachgebrauches. Da jeder Betrachter die Dinge anders sieht, erhält der Begriff des relativen Zu­falls Einzug in unsere Wahrnehmung. Wir erblicken „scheinbar Zufälliges“ über­ all und die bildenden Künste sind be­ sonders geeignet um Zufallhaftes zu erblicken. Dieses Feld ist sehr schwer zu analysieren, da hier eher intuitive, atmosphärische und assoziative Ge­

sichtspunkte eine Rolle spielen. Dies ist also der Versuch, einen Untersu­ chungszugang zu finden, auch wenn die­ ser mitunter sehr komplex erscheint. Wir finden in der bildenden Kunst eine Man­ nigfaltigkeit an Material und Objekten, die sich hervorragend als Forschungs­ gegenstände eignen. Die Absicht der Kunst ist es nicht, etwa eine einzige und universelle These anzubieten oder eine monolithische Tendenz zu proklamieren, sondern vielmehr eine Sprache darzustel­ len, die mit Hilfe einer Meta-Ebene über die Wirklichkeit berichtet. Der Geist der Kunst steckt voller Aspekte der Zufalls­ semantik, jedoch sind diese Aspekte auf keinen Fall gleichzusetzen mit dem Zu­ fall im herkömmlichen Sinne. Es handelt sich vielmehr um die Manifestation eines offenen, spontanen und irrtumsbereiten Künstlergeistes. Es gibt also keinen Zufall in der bildenden Kunst, auch wenn vieles den Anschein erweckt. Dieses „Als-ob“ ist wohl das Kapital der Kunst und der Grund, weshalb uns die Kunst immer wieder verblüfft und neue Rätsel aufgibt. So liebäugeln viele künst­ lerische Strategien mit dem „Zufall“. Wenn etwa Cai Guo-Quiang monumenta­ le Leinwände durch Explosionen in rät­ selhafte Gemälde verwandelt, Rebecca Horn Maschinen für sich malen lässt oder Joseph Beuys scheinbar Unterbewusstes durch spontane Zeichnungen nach außen trägt, spielt man leicht mit dem Gedan­ ken, hier habe rein Zufälliges gewirkt und allein die finale Auswahl der Kunstwerke fiele noch in den Hauptaufgabenbereich des Künstlers. Natürlich ist dieses Aus­ wählen ein wichtiger und entscheidender Aspekt der künstlerischen Arbeit. Viel­ mehr ist es aber so, dass der Schaffens­ prozess in der Kunst so komplex ist, dass wir den Begriff des Zufalls nur benutzen, um periphere Faktoren zu benennen, die in der Substruktur der Kunst verborgen lie­ gen und einem ständigen Wandel folgen. So ist der Künstler als jemand zu bezeich­ nen, der in konzeptueller Weise spielt. Der Entstehungsprozess des Kunstwer­ kes besitzt demnach die Struktur eines Spiels, dessen Regelwerk der Künstler selbst festlegt. Es geht hierbei nicht um die strikte Einhaltung von Regeln und deren Befolgen, sondern im eigentlichen Sinne um die Verteilung von Spielmodel­ len auf das Spiel an sich. So manifestiert sich die Meta-Ebene der Kunst und erklärt die Bedeutung des Zufalls als relativen Begriff, sodass dessen Gegenbegriff als das Absolute zu bezeichnen wäre. Das Spiel der Kunst ist immer relativ. Der mo­ derne Kunstbegriff hat sich dahingehend gewandelt, dass wir von einer Durchbre­ chung der Mimesis sprechen müssen. Wir beobachten eine Zurückweisung des traditionellen Vorgangs der Repräsen­ tation, hin zur Entwicklung der Kunst als Translingua – diese ist dem Ordnungs­ system „Sprache und Schrift“ überlegen. Während letzteres System in gewisser Weise scheitert, da es Leerstellen in sich nicht auszugleichen vermag, bietet die Kunst einen Gegenentwurf an. Es gilt,


213 den ewig unvermeidbaren Konflikt zwi­ schen Bild und Begriff zu überwinden. Die Überschreibung der Kommunikation vom Reich der kontrollierenden, aber gleich­ zeitig scheiternden Systeme ins Reich der Bilder. Der Anspruch des Ordnungssystems Sprache, den Zufall in der Kom­ munikation zu eliminieren, stellt sich als Utopie heraus. So ist ein Verlauf nach­ zuzeichnen, der über die Emblematik, zum Piktogramm hin zur Entwicklung der Kunst als Translingua reicht. Dieser Vorgang ist nicht expressiver Na­ tur sondern im höchsten Maße konstruk­ tiv und gezielt. Das Piktogramm als Ant­ wort auf die Beschränktheit der Sprache. Da die Kunst mit jedem neu geschaffenen Kunstwerk erweitert wird, wird gleichwohl der Kunstbegriff auch ein immer komplex­ erer. Es gibt also keine Stagnation, son­ dern ein unendliches Potential, das sich ständig aus sich selbst heraus erweitert und niemals einen Endpunkt erreichen wird. Grundsätzlich kann nicht davon ausge­ gangen werden, dass die Kunst irgend­ wann zum Erliegen kommt, denn es ist der Rezipient, der letztendlich das Kunstwerk in den Rang eines solchen erhebt. Er ist genauso Teil der Kunst wie das Kunstwerk selbst. Wenn man also fragt: Was macht die Kunst zur Kunst? so kann man darauf antworten: Ganz allein der Rezipient, der das Spiel der Kunst mitspielt und sich dar­ auf einlässt. Er ist ein unverzichtbarer Teil der Kunst. Man darf also nicht den Fehler begehen, das Kunstwerk mit der Kunst gleichzusetzen. Das Kunstwerk ist an sich nur ein Gegenstand und bleibt das auch solange, bis ein Rezipient es als Kunst­ werk annimmt. So reicht es nicht, dass allein der Künstler selbst sein Werk als Kunst ausruft. Das Kunstwerk selbst lebt von der Einfühlung des Betrachters. Kunst ist somit ein besonderes Spiel, des­ sen Voraussetzung der Wille zur Teilnah­ me ist.

„ Blickt man beispielsweise auf das Werk von Marcel Duchamp, so wird leicht deutlich, von welcher Art des Spielens hier die Rede ist.“ Da Duchamp so weit ging, banale Alltags­ gegenstände, teilweise ohne Veränderun­ gen daran vorzunehmen, als Kunstwerke zu bezeichnen, und damit auch die Re­ zipienten überzeugen konnte, wurde er zum Kabarettist dieses Spiels. Er hat mit diesem Schritt definitiv die Grenzen des Spielfeldes um ein Vielfaches erweitert und damit ganz deutlich gezeigt, wie bei­ spielsweise ein einfacher Flaschentrock­ ner zur Manifestation der Kunst werden kann – allein durch den Willen des Künst­ lers in Verbindung mit der Anteilnahme des Rezipienten. Jede Zufälligkeit gründet wertetheore­ tisch in der Residualkategorie „Abfall“. Wie Van Gogh es einmal deutlich machte, indem er sagte: „Heute bin ich mal auf dem Fleck gewesen, wo die Aschemänner

den Müll jetzt hinbringen. Donnerwetter war das schön [...] Morgen bekomme ich einige interessante Gegenstände von die­ sem Müllabladeplatz zur Ansicht oder als Modell [...] Heute Nacht werde ich wahr­ scheinlich davon träumen, aber vor allem diesen Winter tüchtig daran arbeiten.“ Dieses Zitat macht deutlich wie inspirie­ rend und maßgeblich ein Blick in die Welt des vom Zufall Bestimmten sein kann. Be­sonders wenn es darum geht, Neues zu entdecken oder nach Anstößen für die Generierung des Selben zu forschen. Die ästhetische Position zwingt den Men­ schen gegenüber dem Universum in die Position des Fremden, der mit immer wieder neu geschärfter Aufmerksamkeit eine ihm unbekannte Gegend betritt, die, weil unbekannt, voller Zufälle steckt. In der Kunst selbst gibt es keinen Zufall, sondern nur Strategien zur Überlistung, die nur dem als zufällig erscheinen, der sie als List nicht zu durchschauen ver-­ mag. Wie bereits erwähnt, spielt natürlich der Prozess des Auswählens eine tragen­ de Rolle und fällt in den Hauptaufgaben­ bereich des Künstlers. Auswählen, das bedeutet nicht zu wissen, sondern etwas zu opfern.

„Auswählen, das bedeutet formen oder ausschließen: Das ist Kunst.“ Die Auswahl ist also eine der wichtigsten Strategien um den Zufall zu kontrollie­ ren. Ich lasse ihn zwar innerhalb meines abgesteckten Spielfeldes zu, behalte mir jedoch vor, am Ende ganz bewusst darü­ ber zu entscheiden, welches Ergebnis ich akzeptiere und welches nicht. Die Balance zwischen den Polen des Zufalls und der zielgerichteten Konzeption wird hierbei deutlich. Quelle Gendolla/Kamphusmann: Die Künste des Zufalls, Suhrkamp Verlag;


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G01 Karolina Sus S. 38 S. 52 S. 78 S. 156 karolinasus.com G02 Tobias Gebert, Felix Breidenbach, Sebastian Zimmerhackl S. 12 S. 56 S. 104 S. 126 S. 160 S. 190 tobias-gebert.de sebastianzimmerhackl.de G03 Christina Rah und Hee-Yeon Yeo S. 108 S. 194 G04 Mara Heuer und Alina Jungclaus S. 42 S. 60 S. 82 S. 112 S. 130 S. 198 maraheuer.de alinajungclaus.de G05 Heike Hansen und Anja Wessner S. 64 heike-hansen.de

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Namenregister Rubrik

Leonie Flöttmann, Jeanette Bohné, Gregor Oppitz S. 134 S. 164

G07 Benedikt Weishaupt und Jana Neff S. 16 S. 68 S. 138 S. 168 benediktweishaupt.de G08 Alica Jörg, Oleg Svidler, Natalia Chekonina S. 86 alicajoerg.de G09 Janine Lück und Maria Östringer S. 20 S. 90 S. 116 S. 142 www.janinelueck .de

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G10 Sandra Weber und Sarah Krämer S. 24 S. 172 sandraw.de sarah-kraemer.tumblr.com

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G11 Alexander Grazdanow und Daniel Bretz S. 28 S. 94 S. 146 S. 176 S. 180 danielbretz.com

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Impressum Rubrik

Herausgeber: Prof. Kirstin Arndt, Prof. Ulysses Voelker Werkbericht Nr. 21 Konzept und Gestaltung: Mara Heuer, Alina Jungclaus, Tobias Gebert Texte: Vorwort: Prof. Kirstin Arndt, Prof. Ulysses Voelker Texte der Aufgaben: Siehe jeweilige Gruppen Fotos: Alle Fotos wurden von den jeweiligen Gruppen fotografiert. Schriften: Letter Gothic Std, Simplon BP Papier: EnviroTop, 80 g/qm Druck und Bindung: Pressel Digitaler Produktionsdruck , Remshalden

Alle Arbeiten in diesem Buch entstanden im Rahmen des „Interdisziplinären Projekts“ „Innovation und Zufall“.

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isbn: 978-3-936723-33-5 Fachhochschule Mainz Studiengang Kommunikationsdesign Holzstr. 36, 55116 Mainz

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Kontakt und Information: +49 (0) 6131 628 2255 shop.designinmainz.de www.designinmainz.de A06

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