VOM WÜRFELN DER ZAHL SIEBEN

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WB

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11 We r k b e r i c h t

Kursth ema Da s Neu e – In n ova tion & Zu fa ll Thematik Alea torik in der Gesta ltu n g

Au toren Felix Breidenb ach Tobia s Geb e rt S eba stia n Z i m m e rhackl



1

Vo n d e r m y s t i s c h e n E r zä h l un g des M ei s t e r s , d e r , a uf e i n e m F e l se n r i ff st e h e n d , i n de r g e ba l l t e n F a ust d i e Wür fe l h ä l t , u m i n e i n e m e i n m a l i g e n W ur f d i e Za h l S i e be n zu w e r fe n . —


2

Vorwort

Th ema tisc h er E in stieg

VO RWORT VORWORT

Thematischer Einstieg

Die Suche nach dem Neuen, dem Innovativen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Und so ist es wenig verwunderlich, dass man, wenn man sich auf diese Suche begibt, sehr genau prüfen muss, ob das etwaige Neue das man findet, tatsächlich als solches zu bezeichnen ist, denn das Meiste wurde – leider oder zum Glück – bereits er- und gefunden. Die Suche nach diesem an sich ist ebenso die Suche nach Wegen, dieses zu erschaffen, zu gestalten und zu generieren. Als Gestalter verfolgen wir den Ansatz, interessante, intelligente und gleichzeitig funktionelle Reize für die Sinne zu schaffen, und so eine Ebene der Kommunikation zu erzeugen. Längst zu der Einsicht gekommen, dass wir das Rad nicht neu erfinden werden, gilt es vielmehr, attraktive und sinnvolle Variationen auf einer dem Projekt angemessenen Linie zu

entwickeln. Hierbei können durchaus neue Erscheinungsbilder und visuelle Sprachen entstehen, die jedoch einer 'Prüfung' in Form des Aufdröselns und Zerlegens der Ergebnisse in die elementaren Grundbausteine, sowohl der Technik als auch der Idee an sich, im seltensten Falle standhalten. Stets handelt es sich nur um Variationen des schon Bestehenden. Eine von Grund auf neue Form der Gestaltung zu finden scheint unmöglich. Stärker als je zuvor bedienen wir uns in Zeiten des Hypereklektizismus am Wühltisch der Geschichte und mischen, rekombinieren, zerstückeln was das Zeug hält. Patchwork als Prinzip. Hierbei befindet sich der Gestalter immer zwischen den gegensätzlichen Polen des Zufalls und der konstruierten Konzeption. In den meisten Fällen handelt es sich bei den endgültigen Ergebnissen um Mischformen. Die Zufallskompo-

nente ist also nicht außer acht zu lassen. Wer jetzt denkt, dass diese Behauptung den Wert einer Gestaltung mindert, der irrt. Vielmehr ist zu bedenken, dass Zufall immer ein relativer Begriff ist. Letztendlich für uns nicht zu begreifen, setzen wir ihn immer an Stellen ein, wo unser Vorstellungsvermögen schwindet und schlussendlich versagt. Der Gestalter unterwirft sich also keinesfalls den Auswirkungen einer universellen Willkür, wird nicht zum Spielball der Faktoren, sondern bewegt sich gezielt in einem selbst bestimmten Rahmen, sozusagen in einem selbst abgesteckten Spielfeld und macht sich die Faktoren, die in selbigem herrschen zu nutze – bei voller Kenntnis aller Eventualitäten. Ein Rahmen aus Basisparametern wird gefüllt und periphere Faktoren agieren als Mittler zwischen der Außenwelt und dem Spiel des Gestalters.


3

Vorwo rt

Th ema tisc h er E in stieg

Der Titel dieser Dokumentation 'Vom Würfeln der Zahl Sieben' bezieht sich auf eine von Marcel Broodthaers beschriebene Visualisierung, die den ambivalenten Begriff des Zufalls und dessen Rolle in unserer Welt beschreibt:

erscheint das Siebengestirn des Bären, worauf sich alles in universelle Wahrheit auflöst.

erhalten. Die Augen vor den ehrlichen und inspirierenden Ergebnissen, die uns der Zufall liefert, zu verschließen, hieße einen wichtigen Teil des gestalterischen Gesamtpotentials nicht zu nutzen. Diese Kursdokumentation versucht die vielen Nebenaspekte, die das Thema mit sich bringt darzustellen und mit Hilfe ausgewählter Beispiele, vorgestellten Projekten und aktuellen Positionen zur Gestaltung greifbar zu machen. Sie soll nicht aus einer höheren Position heraus eine ultimative Erkenntnis vermitteln, sondern verschiedene Ansätze und Zugänge zum Thema Zufall und Innovation vermitteln, die ein tieferes Verständnis für die Materie ermöglichen.

Der Meister steht auf einem Felsenriff und hält in seiner geballten Faust einen Würfel gegen den Himmel. Es ist seine Absicht die Zahl Sieben zu würfeln und somit das Ende allen Zufalls und aller irdischen Wiklichkeit einzuleiten. Doch gelänge der Wurf, so wäre das ja wiederum der größte denkbare Zufall an sich und somit die absolute Entkräftung der ursprünglichen Absicht des Meisters. Die verdoppelte Radikalisierung des Paradoxen. Der Meister, der diese Erkenntnis mit höhnischem Gelächter quittiert, wird bestraft und vom Abgrund verschlungen. Am Himmel

Um nicht vom buchstäblichen Abgrund eintöniger Gestaltung verschlungen zu werden, muss der Designer diese ambivalente Situation erkennen und für sich zu nutzen lernen. Hierin besteht das volle Potential guter Gestaltung. Das Würfeln einer Sieben als unmögliche Metapher vor Augen, gilt es nun Wege zu finden dieses auszunutzen. Das Spielfeld gilt geschickt abgesteckt zu werden, so dass einerseits der Zufall den nötigen Raum bekommt um sich zu entfalten, und andererseits der Gestalter als Spielentwickler seinen Willen realisieren kann und sein Ziel in Form einer sinnvollen Kommunikationsebene erreicht. Als solcher muss der Zufall akzeptiert werden und im Gestaltungsprozess einen angemessenen Stellenwert


4

Arbe i ts bl a tt » Ku rs b e s c h re ib ung«

Kursbe schre ibung


5

Inhaltsverzeic h n is

L e k t io n e n

Tite l der Arbeit

S eiten

1 Selbstportrait

»Rheingold«

8 – 16

»Kopfkino«

17 – 24

»Kleine Voyage«

25 – 34

»Der Zenit«

35 – 50

Wi e s e h e n m i c h d i e a nderen? An ö ffe n tl i c h e n O r t en, i nnerha lb ei nes s e l b s t fe s tg e s e tz te n zei t li c hen R a hmens j e d e n z e h n te n P as sa nt en b i t t en, e in F o to v o n I h n e n zu ma c hen.

2 Fundstückgeschichte S am m e l n Si e E ti k e tt en vo n Verp a c kung en, Do s e n , F l as c h e n e tc. und erst ellen S i e a us de n T e x tfrag m e n te n ei ne G eschi c ht e.

3 Kleine Reise E i n e n T ag s o v i e l k m a ls mö g li c h mi t ö ffe n tl . Ve r k e h r s m i t t eln fa hren. Wäh l e n Si e s e l b s t di e Pa ra met er i n H i n b l i c k auf d e n Z u fa ll unt er denen S i e I hr e R e i s e m ac h e n. Do k um e n ti e r e n Si e I hre R ei se i n W o rt und Bild.

4 Suche nach » Neu« K a ufe n Si e e i n e b e li eb i g e Zei t sc hri ft und „ ü b e rfl i e g e n “ Si e al le Art i kel i n Bezug a uf d e n B e g r i ff „N e u“. D i ese S ä t ze/ Pa ssa g en ma rk i e r e n , n o ti e re n , g ruppi eren, ka t eg o r is i e re n , i n te r p re ti eren und da s Erg eb ni s p räs e n ti e re n .


6

Inhaltsverzeichni s

Lek ti one n

Titel de r Arbeit

S eiten

5 Aus der Hüfte geschossen

»Discord«

51 – 58

»Blaupause«

59 – 68

»Braindead«

69 – 76

Fotogr a f ie r en Si e n ac h e i n e m ei g enem z ei t l. Ra st er ( z . B . 1 W o c h e z u j eder vo llen Stu nd e ) I h r e U m g e b un g aus s c hli eßli ch a us Ba u ch h ö h e . Fe rti g e n Si e Se r i e n a n. Wert en Si e d a s Bild m ate r i al aus un d e nt w i c keln S i e ein K o n z ep t z ur P räs e n tati o n Ihrer Erg eb n iss e .

6 Stadt/Land Geh en S ie mit e i n e m Ze i c h e n blo ck j edoc h o h n e Ze i c h e n m i tte l a) i n d ie S t a d t b) in d ie N a t ur und f er t ige n Si e m i n d . 10 Z e i chnung en z u un d in d e r j e we i l i g e n U m g e b ung a n. Präse nt ie r en Si e d i e E rg e b n i s s e i m Ori g i na l.

7 Morgenzeichnung Fert ige n S ie üb e r d e n Z e i traum vo n vier Wo c h e n j e d e n M o rg e n , d i r ekt na c h dem A u f w a c h e n , ei n e Ze i c h n un g an .

8 Stegreif

77


7

Inhaltsverzeic h n is

L e k t io n e n

Titel der Arbeit

S eiten

9 Referat

»Aleatorik in der

78 – 79

N ac h e i n e m A ufs atz vo n H an s - U l r i c h R e c k

bildenden Kunst«

10 Gestaltungsansätze

80 – 81

K urz e E r l äute r un g der verschi edenen An s ätz e un d d e s e ndg ült i g en G e s tal tun g s k o n z e p t s

Impressum

82


8

Lektion Nº

1

S elbstportra it

LEKTION Nº1 Selbstportrait — Wie sehen mich die anderen? An öffentlichen Orten, innerhalb eines selbst festgesetzten zeitlichen Rahmens jeden zehnten Passanten bitten, ein Foto von Ihnen zu machen.


9

Le ktio n Nº

S e it e n

Me diu m

T itel

10 - 16

Fotografie

»Rheingold«

1

S elbstportra it


10

Lektion Nº 1 Titel R h ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera

»RHEINGOLD«

Den Bock zum Gärtner ge macht.

Ein diesiger Morgen am Rhein, Frühlingsanfang, angenehm warm, trotzdem gespenstisch ruhig. Niemand unterwegs, ausser Flaschensammlern und vereinzelten umher schlendernden Menschen, die verstreut in der Gegend auftauchen. Den ersten Passanten, den wir treffen, ein Obdachloser, der seine Hunde ausführt, bitten wir sogleich ein Foto von uns anzufertigen. Aufgrund seiner motorischen Defizite ist es ihm leider nicht möglich die Hunde zu halten und gleichzeitig die Kamera zu bedienen – somit halten wir die Hunde für ihn. Während er sich nach dem Foto verabschiedet, fotografieren wir ihn dabei, wie er seine Hunde anschreiend von dannen zieht. Die zweite Person, die wir an diesem Tag treffen ist ein älterer Herr, der sein Klapprad am Ufer des Rheins putzt. Er erklärt uns schnell, dass er das immer hier tue, seit Jahren schon.

Auch er macht ein Foto von uns, und wir revanchieren uns mit einem Foto von ihm während er seine Bierflaschen auf dem Gepäckträger verstaut – es ist zehn Uhr morgens. Danach lassen wir einige Zeit vergehen, ehe wir auf einen umherirrenden Flaschensammler treffen. Seine Schildkrötentasche und die Hochwasserhose machen ihn spontan sympathisch. Nach einigen schwerfälligen Anläufen schafft auch er es den Auslöser zu finden. Im Laufe unseres Tages werden wir auf weitere vielversprechende Menschen treffen, so zum Beispiel die heitere Hundefrau, mit der wir über Gangfotos mit Hunden reden, Ralf Seip, der sich weigert uns vor dem 'Douglas' am Höfchen zu fotografieren, eine Nonne, die nach dem Foto fast von einem Bus überfahren wird, Kinder an der Bushaltestelle, einen vermeintlichen Vetter von Dschingis Khan, den netten Herrn von der Müllabfuhr,

und viele andere. Sie alle vereint die Tatsache, dass sie von der Materie der analogen Fotografie so gut wie keine Ahnung hatten (sogar Herr Seip hatte mit der alten Canon Schwierigkeiten), sodass unvorhersehbare, teils extrem verschwommene, unprofessionelle Fotos entstanden, die aber gerade dadurch ihren eigenen Charme haben. Seltsamerweise finden sich aber bei der Anordnung von uns auf dem Bild so gut wie keine Abweichungen in Bezug auf Abstand zur Kamera, Sonneneinstrahlung, etc. Als weiterer Aspekt des Zufalls bleibt noch zu erwähnen, dass bei der Auswahl der Filme zufällig ein Diafilm dabei war, der aus Zeitgründen wie ein Negativ entwickelt wurde, wodurch erstaunliche Farbabweichungen entstanden.


11

Le ktio n Nยบ 1 Tite l Rh ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra

Nonne

Ra lf S eip

Fa h r ra d p u t z e r

Kin dergru ppe a n Bu sh a ltestelle


12

Lektion Nº 1 Titel R h ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera

Gemü s e h ä n d l e r

Die geifer n de Hu n defra u

Müllma n n

Vermein tlic h er Vetter von Dsc h in gis Kh a n


13

Nonne

R a lf S e ip

Le ktio n Nยบ 1 Tite l Rh ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra


14

Fahrra d p u tz er

Kinde rg r u p p e a n B u s h a l t e s t elle

Lektion Nยบ 1 Titel R h ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera


15

Ge m ü s e h ä n d l e r

D i e ge i f e r n d e H u nde frau

Le ktio n Nº 1 Tite l Rh ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra


16

MĂźllma n n

Ver m e i ntl i che r Ve t t e r vo n D schingis K han

Lektion NÂş 1 Titel R h ein gold

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera


17

Le ktio n Nº

2

»F u n dstü c k gesc h ic h te«

LEKTION Nº2 Fundstückgeschichte — Sammeln Sie Etiketten von Verpackungen, Dosen, Flaschen, etc. und erstellen Sie aus den Textfragmenten eine Geschichte.


18

Le ktion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

19 - 24

Collage

»Kopfkino«

2

»F u n dstü c k gesc h ic h te«


19

Le ktio n Nº 2 Tite l Kopfk in o

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften, Et i ke t t e n, Kleber, S c he re

»KOPFKINO« Eine Sammlung von Filmtiteln, die nur in Kopfkinos laufen werden.

Die Collage ist wohl eine der optimalsten Techniken um zufällige Gestaltungsparameter erfahrbar zu machen. Grundmerkmal dieser Technik ist, dass man bei der Collage scheinbar uninteressante Einzelteile durch gezieltes Mischen und Komponieren in einen neuen, oft hochinteressanten, komischen oder skurrilen Kontext setzen kann. Und all das, ohne einen großen technischen Aufwand betreiben zu müssen. Man konfrontiert sich also mit vorbestimmten und bereits gestalteten Inhalten und versucht diese ihrer ursprünglichen Funktion zu entreißen. Da ich hierbei nur zum Teil die Möglichkeit besitze zu entscheiden wie genau die Collage am Ende aussehen wird, je nachdem wie nah die gefundenen Grundbausteine an meiner Ausgangsvorstellung

liegen, muss ich einen Weg finden mich dieser gestalterischen Ohnmacht, diesem Zustand der Machtlosigkeit zu bedienen. Der Zufall wird also zum elementaren Grundelement meines Gestaltungsansatzes. Dieser Vorgang ist die perfekte Verdeutlichung des modernen Designbegriffs. Der Gestalter als Mixer und Sampler, ausgerüstet mit der Effektkiste der heutigen Technik, aber dennoch machtlos wenn es um die Wahl des Materials geht. Die Metapher ist perfekt. Die hier gezeigte Lektion ist, so wie alle in diesem Buch vorgestellten Lektionen, als mentale Lockerungsübung und Inspirationsquelle für den oft sehr stark auf Routine gepolten Gestaltergeist zu verstehen. Es geht darum aus dem Stehgreif ein spontanes und

ungezwungenes Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Die feste Vorstellung von dem, was am Ende dabei heraus kommt, ist hier fehl am Platz. Wenn man selbst am Ende vom Ergebniss überrascht wird, wurde das Ziel der Übung erreicht. In den folgenden Beispielen wurden Filmtitel für imaginäre Filme aus diversen Textfragmenten erschaffen. Das Layout der fast schon dadaistisch-grotesk anmutenden Collagen ist reiner Zufall, da drei Gestalter gleichzeitig ihre Finger im Spiel hatten und ohne Absprachen einfach drauf los geschnitten und geklebt wurde. Eines ist klar: Es tut gut und ist sehr erfrischend aus dem Bauch heraus etwas Unverkrampftes zu produzieren und somit schnelle und witzige Ergebnisse zu generieren.


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»Indi an Wo m a n «

Le ktion Nº 2 Tite l Ko pfk in o

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften , E tiketten, Kleber, S c h ere


21

» M a t e Pa t e «

» P u ff G l o b u s S is s t a z«

Le ktio n Nº 2 Tite l Kopfk in o

»La dieter Tu rbo«

»Fa milia Torres«

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften, Et i ke t t e n, Kleber, S c he re


22

»Aug us t 2 0 0 «

Le ktion Nº 2 Tite l Ko pfk in o

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften , E tiketten, Kleber, S c h ere


23

»J o n n y Wro n g 1 1 «

Le ktio n Nº 2 Tite l Kopfk in o

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften, Et i ke t t e n, Kleber, S c he re


24

»Fuc k i t S ü ß e r «

Lektion Nº 2 Titel Ko pfk in o

M ediu m Colla ge M a teria l Zeitsc h riften , E tiketten, Kleber, S c h ere


25

Le ktio n Nº

3

»Klein e Reise«

LEKTION Nº3 Kleine Reise — Fahren Sie einen Tag soviele Kilometer wie möglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wählen Sie selbst die Parameter in Hinblick auf den Zufall, unter denen Sie Ihre Reise machen. Dokumentieren Sie Ihre Reise in Wort und Bild.


26

Lektion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

27 – 34

Buch

»Kleine Voyage«

3

»Klein e Reise«


27

Le ktio n Nº 3 Tite l Klein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstü c ke, Fo t o s , Pa pier, div. O b j e kt e

»KLEINE VOYAGE« Eine kleine Rundfahrt durch zwei Bundesländer. Gesteuert von der Intuition.

Wir trafen uns an einem Sonntagmorgen am Frankfurter Hauptbahnhof um völlig willkürlich in einen Zug einzusteigen. Dieser fuhr zufällig nach Gelnhausen und wir ließen das zu. Ziel der Reise war es lediglich, zu sammeln, was war völlig egal. Gespräche, Müllreste, Anekdoten, Eindrücke, Fundstücke oder Geschichten – Hauptsache es diente dem gemeinsamen Ziel am Ende etwas Neues daraus zu machen. Nachdem wir in Gießen angekommen waren, machten wir uns auf die Suche nach Dingen, die es zu entdecken gab. Letztendlich fanden wir ein altes leerstehendes Bahngelände, das durch seine verschimmelten und von Moos bedeckten Wände alte Geschichten murmelte. Gespickt von Relikten der letzten Jahrzehnte konnten wir einige Fundstücke sicherstellen und für unsere Arbeit verwenden. Zurück am Bahnhof von Gießen stiegen wir in den nächstbesten Zug und kamen so nach Marburg. Nach einem kleinen Spaziergang über Bahngleise, in merkwürdige Höhlen und

Begegnungen mit seltsamen Menschen gönnten wir uns ein Bierchen in der 24-Stunden-Kneipe am Bahnhof. Wir erfuhren mehr über das Marburger Bier, das es leider nicht mehr gibt, machten Bekanntschaft mit skurrilen Figuren und hatten allerhand zu lachen. Weiter ging die Fahrt in Richtung Frankfurt um das Flughafengebiet rund um Zeppelinheim zu erforschen. Wir wurden Zeugen von fanatischen Flugzeugfetischisten, die es sich zur Aufgabe machten, mit gigantischen Teleobjektiven Jets vom Himmel zu holen und für diese Aufgabe stundenlang Position am Fuße der Einflugschneise bezogen. Weiter stiefelten wir durch stillgelegte Armeekasernen, die mit Schildern vor dem Betreten warnten und atmeten den Duft kerosingetränkter Waldluft. Wir gönnten uns noch einen leckeren Imbiss und weiteres Bier an einer kleinen Imbissbude gleich in der Nähe und machten uns dann wieder auf den Weg. Im Frankfurter Hauptbahnhof fanden wir ein lieblos abgerissenes Kofferschild im Gleisbett lie-

gen. Unter dem Geschrei mehrerer Bahnangestellter bargen wir das Schild von den Steinen. Der Besitzer, so fanden wir später heraus, war ein Amerikaner, der in den 70ern an der Seite von Charles Bronson in einem Film mitgespielt hatte und heute Heilpraktiker ist. Wir beschlossen, diese merkwürdige Umstandskette, die durch das Fundstück nun bei uns angekommen war und von uns zurückverfolgt werden sollte, als Anlass für unser Konzept zu nehmen und bauten die Dokumentation der Reise nach diesem Prinzip auf. Indem wir an den Anfang die jeweiligen Fundstücke, wie z.B. Zeitungsartikel, Steine und Anekdoten setzten und von dort aus die Assoziationskette knüpften. So entstand ein kleines Kunstbuch auf dessen Cover die Nummern der Züge, mit denen wir gefahren sind, in chronologischer Reihenfolge stehen. Quasi als sinnbildliche Metapher für eine stahlgewordene Assoziationskette mit vielen Nebenarmen.


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Lektion Nº 3 Titel K lein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstü c ke, Fotos, Pa pier, div. Objek te

B ahns te i g Ma r b u rg

Alte s B ahngebäude a m Gießen er Ha u ptba h n h of


29

Le ktio n Nº 3 Tite l Klein e Voya ge

Verlassen es M ilitä rgelä n de in F lu gh a fen n ä h e

S c h ro t t p l a t z a n d er Station Lieblos

M ediu m Bu c h M a teria l l F u n dstü c ke, Fo t o s , Pa pier, div. O b j e kt e


30

Tanne

Lektion NÂş 3 Titel K lein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstĂź c ke, Fotos, Pa pier, div. Objek te


31

A l u f o l i e t r i ff t M e t a llsocke l

Le ktio n NÂş 3 Tite l Klein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l l F u n dstĂź c ke, Fo t o s , Pa pier, div. O b j e kt e


32

Scha fhe rde im Vo r b e if a h re n

Lektion NÂş 3 Titel K lein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstĂź c ke, Fotos, Pa pier, div. Objek te


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Au s z ü ge a u s d e m Endprodukt

Lektio n Nº 3 Titel Klein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstü c ke, Fo t o s , Pa pier, div. O b j e kt e


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Auszü ge a u s d e m E n d p ro d u kt

Lektion Nº 3 Titel Klein e Voya ge

M ediu m Bu c h M a teria l F u n dstü c ke, Fotos, Pa pier, div. Objek te


35

Le ktio n Nº

4

»S u c h e n a c h Neu «

LEKTION Nº4 Suche nach Neu — Kaufen Sie eine beliebige Zeitschrift und überfliegen Sie alle Artikel in Bezug auf den Begriff »Neu«. Diese Sätze/Passagen markieren, notieren, gruppieren, kategorisieren, interpretieren und das Ergebnis präsentieren.


36

Lektion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

37 – 50

Wandzeitung

»Der Zenit«

4

»S u c h e n a c h Neu «


37

Le ktio n Nº 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu ng M a teria l Rec h erc h e, Pap i e r

»DER ZENIT« Wann ist der Zenit unserer gesellschaftlichen Entwicklung erreicht und wo positioniert sich das Design der Zukunft?

Anlass für unsere Wandzeitung 'Der Zenit' war ein im Januar 2010 veröffentlichter Artikel in der Kunstzeitschrift 'ART', mit dem Titel 'Und übermorgen?', in dem es um die Zukunft der Gestaltung ging. Acht Experten aus verschiedenen Bereichen berichteten über ihre Zukunftsprognosen und Visionen. Wir stießen auf einige sehr interessante Ansätze und zitierten diese zunächst. »Zukünftiges Design ist nicht ästhetischer sondern politischer Natur. [...] Ein geschmacksschwaches Pop-Publikum, kaum in der Lage zwischen Retro und Futurismus zu unterscheiden, bewundert den Triumphalen Siegeszug des Hypereklektizismus. [...] Schließlich rebellieren die Kinder und verlangen einen Baum zum Klettern. Dann wünschen sie sich echte

Äpfel. Essen sie, finden daran Gefallen, werden aktiv und die Ultramoderne beginnt« Paolo Tumminelli »In analoger Weise sind für die Gestaltung neue und angepaste Werkzeuge zu entwickeln. [...] Wenn wir in Zukunft nach neuen 'Werkzeugen' des Planens und Bauens suchen, dann ist diese Ära durchaus vergleichbar mit der Ära der klassischen Moderne, der Ära des Bauhauses« Philipp Oswalt ... In gewisser Weise haben wir diese Aussagen als Fundament für ein Gedankengebäude betrachtet, das wir daraufhin bauen wollten. Als Medium erschien uns die Wandzeitung ideal,

weil sie auf einen Blick einsehbar ist, also ein sehr plakatives Medium darstellt und auf der anderen Seite den inhaltlichen Denkkomplex 'Vergangenheit-Zukunft' treffend verkörpert, da es sich bei einer Wandzeitung um ein Relikt aus der Vergangenheit handelt das in der Gegenwart zu neuer Relevanz gelangen könnte. So entstand 'Der Zenit' als lose Gedankensammlung ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, aber voller wertvoller Aspekte, als Metapher für ein Gedankengebäude in dem die Fragen nach der Relevanz der Gestaltung in der Zukunft, der Entwicklung neuer Werkzeuge, dem Phänomen des gegenwärtig herrschenden Eklektizismus oder der gesellschaftliche Umgang mit Veränderung zu Hause sind. Auf den folgenden Seiten werden Auszüge aus dem 'Zenit' vorgestellt.


38

Le ktion Nยบ 4 Tite l Der Zen it

Wandze itung 'Der Ze nit' Gesa mta n sic h t

M ediu m Wa n dzeitu n g M a teria l Rec h erc h e, Pa pier


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Le ktio n Nยบ 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu ng M a teria l Rec h erc h e, Pap i e r


40

Le ktion Nยบ 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu n g M a teria l Rec h erc h e, Pa pier


41

Le ktio n Nº 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu ng M a teria l Rec h erc h e, Pap i e r

AUSZUG Nº1

Variationen diagonal gestreifter Etiketten für die nächste 'Light'-Produkterweiterung ausspuckt. Natürlich ist unsere Welt in einem traurigen Zustand. Öffentliche Einrichtungen sind pleite, der Verkehr ist ein Alptraum, die Luft ist das Atmen nicht wert, an käufliche Politiker und hohe Arbeitslosenquoten haben wir uns gewöhnt. Sollten wir unsere Fähigkeiten als Kommunikatoren, Strategen und Problemlöser nicht auf die wichtigen Themen des Lebens richten? Den öffentlichen Verkehr? Effiziente und nachhaltige Energiequellen schaffen, bezahlbare Wohnungen und einen lebenswerten Kiez?

zu stützen, kann ich nur darauf verweisen, wenigstens unseren Mitarbeitern ein menschenwürdiges Umfeld zu bieten. Wir haben eine Zentralheizung, Espressomaschine, schnelle Computer und eine angenehme Beleuchtung. Wir zahlen pünktlich Gehälter, gewähren 30 Tage Urlaub im Jahr, Mutterschaftsoder Vaterschaftsurlaub und niemand wird eingestellt ohne Zustimmung der zukünftigen Kollegen. Wir arbeiten auch nicht für echt-böse Produkte, wie Zigarettenmarken oder Banken. Obwohl wir niemanden umbringen und uns selbst nicht für unsere Kunden umbringen lassen, respektieren sie uns und wir respektieren sie und sie behandeln uns genauso gut wie wir sie behandeln. Wir bieten ein Umfeld mit so wenig wie möglich Entfremdung. Es geht nicht darum, was wir tun, sondern wie wir es tun. Eine ehrlichere Antwort fällt mir nicht ein.

In diesem Artikel geht Erik Spiekermann auf die ambivalente Haltung des heutigen Designers ein. Der nachfolgende Beitrag von Erik Spiekermann erschien unter dem Titel 'The Designer’s Double Life' auf der Website des britischen Magazins 'Blueprint' und wurde über Twitter tausendfach empfohlen. Wenn Architekten vom Funktionalismus genervt sind, ändern sie Louis Sullivans Lehrsatz »Form follows function« in »Form follows fun« um und schmücken ihr Gebäude mit beliebigen Elementen. Türmchen, Betonsegel, Stufenpyramiden, Bögen, Architrave und jede Menge Zierrat, der keinen Zweck erfüllt außer Zierrat zu sein. Wenn Grafikdesigner gelangweilt sind von der Perfektion ihrer neuen Rechner, die ihre Arbeit pixelgenau rendern, rebellieren sie mit einem selbst geschriebenen Programm, das die Konturen von Buchstaben per Zufall verändert und Texte bei jedem Druck anders aussehen lässt. Ein Editorial Designer, dem der gelieferte Text eines Autors nicht gefiel, setzte ihn einfach aus einer unlesbaren Dingbats-Schrift. Dieser Akt unfassbar mutiger Missachtung machte ihn berühmt, zumindest in jenen Kreisen der Studenten, die dazu verdammt waren, ihr Leben als Layout-Sklave in einer Werbeagentur zu fristen. Mich nannte mal ein Design-Professor Verräter, weil ich meine Mitarbeiter dazu anhielt, für finstere kapitalistische Unternehmen zu arbeiten, während er seinen eigenen Kampf gegen die Ausbeutung unseres Berufsstandes lobend hervorhob, der darin bestünde, Plakate gegen die Verbreitung von Aids und Hunger zu entwerfen. Er dachte, dies seien unglaublich mutige Botschaften gegen das Establishment. Wen wundert’s, dass er heute, nach 30 Jahren in einem sicheren Job, die staatliche Rente genießt während ich immer noch die Peitsche über die armen Abhängigen in meinem Büro schwinge. Es war schon immer leicht, in der sicheren Umgebung von Kunstzeitschriften oder Galerien zu protestieren, vor einem Publikum aus Designern, die viel lieber Künstler wären, wenn es eine Aussicht auf ein sicheres Einkommen gäbe. Es ist in der Tat schwer mit dem Widerspruch zu leben, Botschaften zu entwerfen die Menschen dazu bewegen sollen, Geld auszugeben, das sie nicht haben, für Dinge, die sie nicht brauchen. Wenn sie die Hochschule verlassen haben, möchten Designerinnen allzu gerne Kinderbücher illustrieren und Designer Plakate gegen das Böse in der Welt gestalten. Monate später sind sie froh vor einem Computer zu sitzen, der am laufenden Band endlose

Als das First-Things-First-Manifest von 1964, unterschrieben von 22 britischen Designgrößen, im Jahr 2000 wiederveröffentlicht wurde, unterschrieben es jede Menge Designer aus aller Herren Länder. Viele von ihnen arbeiteten und arbeiten immer noch in einem Umfeld, das im Manifest so beschrieben wurde: »[… ] Designer […] setzen ihr Talent und ihre Phantasie dafür ein, Hundekuchen zu verkaufen, Designerkaffee, Diamanten, Putzmittel, Haargel, Zigaretten, Kreditkarten, Turnschuhe, Kosmetik, Light-Bier und Geländelimousinen. Kommerzielle Arbeit hat unsere Rechnungen bezahlt, aber viele Grafikdesigner haben sie inzwischen zum Einzigen werden lassen, was ein Grafikdesigner tut. Und genauso nimmt die Außenwelt inzwischen das Design wahr. Die Zeit und Energie unseres Berufes wird dafür benutzt die Nachfrage nach Dingen zu schüren, die bestenfalls unwichtig sind […]« Auch ich habe das Manifest unterschrieben, weil ich daran glaube, dass wir unsere Fähigkeiten viel eher dafür einsetzen sollten, die drängenden Fragen zu lösen, als die oben zitierten. Aber wovon sollen wir dann leben? Regierungen und Behörden sind die schlechtesten Auftraggeber, die man sich vorstellen kann. Sie unterschätzen und unterbewerten unsere Arbeit dauerhaft. Wir werden als das wahrgenommen, was wir hauptsächlich tun: Leute, die dem hässlichen Gesicht des Kapitalismus ein Make-up verpassen. Außerhalb der kommerziellen Welt traut uns niemand einen wertvollen Beitrag zu. Dieser Teufelskreis wird nicht durchbrochen, indem man gegen seine Teuflischkeit protestiert. Wir werden uns keine Freunde außerhalb unserer kleinen eigenen Welt machen, wenn wir die Hand beißen, die uns füttert. Am Abend in Kunstgalerien mit unserer nicht-kommerziellen Arbeit gegen Konsumterror und Überdesign protestieren, um am nächsten Morgen wieder unserer gewohnten Arbeit nachzugehen mag unser Gewissen beruhigen, es löst aber nicht die Zwiespältigkeit unserer Arbeit. Nicht dass ich eine Lösung hätte. […] Wenn mein Sohn mir vorwirft, dieses kranke System


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AUSZUG Nº2

Ich will nicht die billige Polemik aufmachen, dass wir alle Haargel, Kreditkarten und (so hoffe ich doch zumindest) Putzmittel verwenden bzw. Konsumkritik üben, während wir auf Designermöbeln sitzen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist: Wir wollen als Designer mit der Planung und Herstellung sowie mit der Gestaltung der Umstände, unter denen diese Dinge das Licht der Welt erblicken, nichts zu tun haben. Das sollen 'die' machen: Die Wirtschaft und die Politik. Wir machen das Drumherum, ob nun dafür (Werbung/ Corporate Design), dagegen (politische Plakate) oder weder/noch (Kultur). Damit sind wir nur mitschuldig, unschuldig oder weder/nochschuldig. Das ist zu wenig! Designer müssen endlich aus diesem Gefängnis ausbrechen! Weg mit den Grenzen von DIN A4, HKS und 72 dpi! Ich fordere Designer auf, sich schuldig zu machen, und zwar richtig! Damit würden wir tatsächlich Verantwortung übernehmen und könnten haftbar gemacht werden. Man müsste uns ernst nehmen, weil wir ernsthaften Schaden anrichten könnten. Ganz nebenbei würde auch die Bezahlung besser werden (wie an dieser Stelle so oft gewünscht wird).

und Plakate zu machen? Für mich ist beispielsweise Muhammed Yunus, der Erfinder des Mikro-Kredits, ein Designer im besten Sinne. So viel zu den verteufelten Kreditkarten. Jetzt brauchen wir nur noch die besseren Hundekuchen. Wir sollten ganz oben ins Regal greifen. Das können wir auch.

Florian Pfeffer reagierte auf dieses Statement folgendermaßen: Lieber Erik. Auch ich bin (unter anderem) 'Design-Professor' – und zwar genau auf der Nachfolgestelle jener Person, auf die du in deinem Artikel anspielst – die nächste Generation eben. Ich bin außerdem Designer, Unternehmer und Kurator, ich spreche also nicht aus dem Elfenbeinturm. Und ich bin mit Dir eins, dass politische Plakate hier und heute gestalterische Bigotterie sind und dass es nicht besonders mutig ist, einen Artikel in einem Surfer-Magazin in 'Zapf Dingbats' zu setzen. Das alles vorangestellt, finde ich den in deinem Artikel beschriebenen Standpunkt aber ausgesprochen desillusionierend und visionslos. Er entlässt uns nicht aus dem Gefängnis, den beide Manifeste um uns Designer herum aufgebaut haben. Schlimmer noch, der Artikel macht das Gefängnis noch hoffnungsloser und die Mauern noch dicker: Nach fast 40 Jahren kommen wir zu dem Schluss, dass wir auch keine Lösungen haben. Aber immerhin funktionieren die Espressomaschine und die Zentralheizung noch […] where do we go from here? Deine Ehrlichkeit muss man dir hoch anrechnen. Für das Manifest bedeutet dieser Umstand aber, dass es gescheitert ist. Es musste zweimal geschrieben werden und beim dritten Aufwärmen wird es schal. Ich finde das nicht besonders überraschend. So nobel das Ziel des Manifestes, so eindimensional seine Botschaft. Das Manifest hat einen Geburtsfehler, der das Design auf Jahre hinaus in seiner Entwicklung blockiert hat: Es unterscheidet zwischen 'denen' (Hersteller von Hundekuchen, Kreditkarten, Haargel, etc.) und 'uns', die mit Geld dazu gezwungen werden, für diese Dinge Werbung zu machen, das »kranke System stützen« und sich dafür schämen. Ich glaube, uns ist die historische Dimension dieses Geburtsfehlers gar nicht bewusst. Wo wäre Design heute ohne diesen Unterschied? Dieser Unterschied ist unser Gefängnis: Wir müssen uns entscheiden, ob wir zu 'denen' oder zu 'uns' gehören. Es gibt keine Alternative. 'Die' machen die Fehler, 'wir' verkaufen sie […] oder werden 'KünstlerDesigner'. Pest oder Cholera. Hat schon mal jemand auf slanted.de nachgezählt, wie viele von Designern gemachte (und in homöopathischen Auflagen selbst finanzierte) Magazine über »Orte«, »froh sein« oder »Kunst, Design und Fotografie« jeden Monat rauskommen? Das scheint die einzige real existierende Alternative zwischen denen und uns zu sein. Deprimierend.

Warum sind die meisten Wirtschaftsführer Ingenieure? Warum sind die meisten Politiker Lehrer oder Juristen? Weil sie nicht das Gefühl haben, ihren Beruf zu verraten, wenn sie an die entscheidenden Stellen in unserer Gesellschaft aufsteigen. Wir hingegen glauben, dass wir aufhören würden, Designer zu sein, wenn wir »die Seiten wechseln«. Dann wären wir einer von 'denen', schmutzige Finger, der Feind […] vorbei das schöne Leben aus Farben und Formen. Bertold Brecht hat geschrieben: »Was ist der Überfall einer Bank gegen die Gründung einer Bank?« Heute wissen wir: Wir können das Gründen von Banken nicht allein den Bankern überlassen. Das wird nichts. Ich will beileibe nicht behaupten, dass Designer die besseren Menschen, Politiker oder Banker wären. Genauso wenig sind Frauen die bessern Kanzlerinnen oder führen weniger Kriege. Aber: Wir vertrauen unsere Welt immer mehr Experten an, die die komplexen Probleme für uns lösen sollen. Das bringt unsere Demokratie in Gefahr. Es ist heute beispielsweise nicht mehr möglich, den korrupten Vorstand einer Hamburger Bank zu entlassen, weil das den Einsturz der Bank bedeuten würde. Wir sind in der Geiselhaft der Technokraten! Designer hingegen sind Generalisten. Sie arbeiten sich in eine Vielzahl von Themen ein. Sie beschäftigen sich mit den Motivationen und Interessen von anderen Menschen. Sie machen Dinge benutzbar und nützlich. Sie machen Zukunftsvorstellungen und Strategien verständlich. Sie entwerfen und stellen Lösungen für Probleme auf den Tisch – greifbar, konkret und überprüfbar. Sie vertrauen nicht immer dem »das haben wir schon immer so gemacht«, sondern suchen neue Wege. Das alles soll nur dazu gut sein, Magazine, Webseiten, Erscheinungsbilder

Die Grenzen in unseren eigenen Köpfen sind bekanntermaßen am schwierigsten zu überwinden. Das Land dahinter ist aber aufregend. Und dort liegt sehr viel Zukunft für das Design.


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AUSZUG Nº3

den Verlust ihrer Privatsphäre gehandelt, weil ihnen klar war, »das ist eine Maßnahme des Königs, um die Straßen unter seine Kontrolle zu bringen«. Eine einfachere Erklärung wäre, dass der Bürger auf unbeaufsichtigt in der Gegend herumstehende Neuerungen generell aggressiv reagiert. Zuletzt war es die Deutsche Bahn, die erklärte, der anfängliche Vandalismus an ihren auffälligen Leihfahrrädern habe mittlerweile nachgelassen, die Einwohner hätten sich »an den Anblick der Räder gewöhnt«.

das Kino sei »little more than a fad«, Thomas Alva Edison verkündete 1922 »The radio craze will die out in time«, und Ines Uusmann, die schwedische Ministerin für Verkehr und Kommunikation, hoffte noch 1996: »Das Internet ist eine Mode, die vielleicht wieder vorbeigeht.« Soweit das seinerseits nicht sehr langlebige Argument vier.

»What the hell is it good for?« Kathrin Passig – 12/09 Der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Kay beschrieben 1969 in einer Studie über die Farbbezeichnungen unterschiedlicher Kulturen die immer gleiche Abfolge der beobachteten Entwicklungsstufen. Kulturen mit nur zwei Farbbegriffen unterscheiden zwischen 'hellen' und 'dunklen' Tönen. Kennt eine Kultur drei Farben, ist die dritte Farbe Rot. Wenn sich die Sprache weiter ausdifferenziert, kommt zuerst Grün und/oder Gelb und danach Blau hinzu. Alle Sprachen mit sechs Farbbezeichnungen unterscheiden Schwarz, Weiß, Rot, Grün, Blau und Gelb. Die nächste Stufe ist Braun, dann erscheinen in beliebiger Reihenfolge Orange, Rosa, Violett und/oder Grau, ganz zum Schluss taucht Hellblau auf. Die Reaktion auf technische Neuerungen folgt in Medien und Privatleben ähnlich vorgezeichneten Bahnen. Das erste, noch ganz reflexhafte Zusammenzucken ist das »What the hell is it good for?« (Argument eins), mit dem der IBM-Ingenieur Robert Lloyd 1968 den Mikroprozessor willkommen hieß. Schon Praktiken und Techniken, die nur eine Variante des Bekannten darstellen – wie die elektrische Schreibmaschine als Nachfolgerin der mechanischen –, stossen in der Kulturkritikbranche auf Widerwillen. Noch schwerer haben es Neuerungen, die wie das Telefon oder das Internet ein weitgehend neues Feld eröffnen. Wenn es zum Zeitpunkt der Entstehung des Lebens schon Kulturkritiker gegeben hätte, hätten sie missmutig in ihre Magazine geschrieben: »Leben – what is it good for? Es ging doch bisher auch so.« Weil das Neue eingespielte Prozesse durcheinanderbringt, wird es oft nicht nur als nutzlos, sondern als geradezu lästig empfunden. Der Student Friedrich August Köhler schrieb 1790 nach einer Fussreise von Tübingen nach Ulm: »Zwar wurden vermöge eines landesherrlichen Edicts überal (Wegezeiger) errichtet, aber ihre Existenz war kurz, weil sie der ausgelassene Pöbel an den meisten Orten zerstörte, welches besonders in den Gegenden der Fall ist, wo die Landleute zerstreut auf Höfen wohnen und wenn sie in Geschäften nach der nächsten Stadt oder dem nächsten Dorf kommen, meistens betrunken nach Hause kehren und weil ihnen der Weg bekanndt ist, Wegezeiger für eine unnöthige Sache halten.« Ähnlich unbegeistert scheinen die Pariser die 1667 unter Louis XIV. eingeführte Straßenbeleuchtung begrüßt zu haben. Dietmar Kammerer vermutet in der Süddeutschen Zeitung, es habe sich bei der häufigen Zerstörung dieser Laternen um einen Protest der Bürger gegen

Wenn sich herausstellt, dass das neue Ding nicht so überflüssig ist wie zunächst angenommen, folgt das kurze Interregnum von Argument zwei: »Wer will denn so was?« »That‘s an amazing invention«, lobte US-Präsident Rutherford B. Hayes 1876 das Telefon, »but who would ever want to use one of them?« Und von Filmstudiochef Harry M. Warner ist die um 1927 gestellte Frage überliefert: »Who the hell wants to hear actors talk?« Im Angesicht der Faktenlage – irgendwer will das Telefon dann ja doch benutzen – einigt man sich schließlich auf Argument drei: »Die Einzigen, die das Neue wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.« In den neunziger Jahren hieß es vom Internet, es werde ausschließlich von weißen, überdurchschnittlich gebildeten Männern zwischen 18 und 45 genutzt. Mehr noch, es habe auch keine Chance, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, denn »Frauen interessieren sich weniger für Computer und scheuen die unpersönliche Öde des Netzes. Im realen, nichtvirtuellen Leben sind Frauen aber die wichtigeren Käufer als Männer. Dem Internet fehlt daher eine maßgebende Käuferschicht.« So schrieb Hanno Kühnert 1997 im Merkur unter dem aufrüttelnden Titel »Wenn das Internet sich nicht ändert, wird es zerfallen.« Freizeitforscher Horst Opaschowski prophezeite 1994: »Der Multimediazug ins 21. Jahrhundert wird eher einem Geisterzug gleichen, in dem sich ein paar Nintendo- und Sega-Kids geradezu verlieren, während die Masse der Konsumenten nach wie vor 'voll auf das TV-Programm abfährt'. Der Multimediarausch findet nicht statt. Die Macher haben die Rechnung ohne die Mitmacher gemacht.« Schon ab den frühen neunziger Jahren wurde regelmäßig darauf hingewiesen, dass insbesondere Terroristen, Nazis, sowie Pornographiehersteller und -konsumenten sich des Internets bedienten. Einige Zeit später ist nicht mehr zu leugnen, dass das neue Ding sich einer gewissen Akzeptanz nicht nur unter Verbrechern und Randgruppen erfreut. Aber vielleicht geht es ja auch einfach wieder weg, wenn man die Augen fest genug zukneift. »The horse is here to stay, but the automobile is only a novelty – a fad«, wurde Henry Fords Anwalt Horace Rackham vom Präsidenten seiner Bank in der Frage beraten, ob er in die Ford Motor Company investieren solle. Charlie Chaplin war 1916 der Meinung,

Statt der Existenz des Neuen kann man danach noch eine Weile (Argument fünf) dessen Auswirkungen leugnen: »Täuschen Sie sich nicht, durch (das Maschinengewehr) wird sich absolut nichts ändern«, wie der französische Generalstabschef im Jahr 1920 vor dem Parlament versicherte. Oder »Das Internet wird die Politik nicht verändern« (taz, 2000). Es handelt sich höchstwahrscheinlich nur um ein schönes Spielzeug (Argument fünf a) ohne praktische Konsequenzen: »a pretty mechanical toy«, wie Lord Kitchener um 1917 über die ersten Panzer urteilte. Insbesondere lässt sich mit der neuen Technik kein Geld verdienen (Argument fünf b): »(Airplanes) will be used in sport, but they are not to be thought of as commercial carriers«, prophezeit Flugpionier Octave Chanute 1904. »Eher skeptisch«, so der Spiegel 1996 unter der Überschrift Mythos Netz, »betrachtet die Entwicklung auch Josef Schäfer, Bereichsleiter für Multimedia beim Essener RWE-Konzern. Multimedia sei zwar 'ein interessanter Markt, bei dem alle dabeisein wollen ... Doch ist der Kunde auch bereit, Geld dafür zu zahlen?'« Eine Variante des Nutzlosigkeitsvorwurfs, die sich gegen Kommunikationstechnologien richtet, ist der Einwand fünf c, die Beteiligten hätten einander ja gar nichts mitzuteilen. »Wir beeilen uns stark, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen«, vermutete Henry David Thoreau 1854 in Walden. Denselben Vorwurf mussten sich Telefon und Internet gefallen lassen. »Das so viel gerühmte Internet steht exemplarisch und herausragend dafür, wie eine grenzenlose Öffnung informationstechnischer Kanäle, neben einer unbestrittenen Zahl anspruchsvoller Informationen, zu einer Flut von inhaltslosem Wortlärm führt«, erklärte der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich 1998 in Mythos Multimedia. Der Autor Andrew Keen beschrieb 2007 in The Cult of the Amateur »Abermillionen von aufgedrehten Affen (und viele nicht talentierter als unsere Cousins unter den Primaten)«, die nichts anderes zustande brächten als »endlose digitale Wälder des Mittelmäßigen«. Ebenfalls 2007 mutmaßte Henryk M. Broder im Tagesspiegel unter der Überschrift Das Internet macht doof, das WWW sei »maßgeblich für die Infantilisierung und Idiotisierung der Öffent-


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lichkeit verantwortlich«. »Wenn die New York Times denselben Zugang zur Öffentlichkeit hat wie eine Kannibalen-Selbsthilfegruppe, wird sich die Öffentlichkeit auf Dauer nicht auf dem Niveau der New York Times einpegeln, sondern auf dem der Kannibalen-Selbsthilfegruppe.« Am Ende handelt es sich vermutlich nur um die alte Angst vor und Kritik an der Masse, was umso deplazierter wirkt, als gerade das Internet mit den herkömmlichen Vorwürfen an Massenmedien — Verbreitung einer homogenen Kultur, Nivellierung, Förderung passiver Wahrnehmung, Konservatismus — gar nicht so leicht zu packen ist.

very complicated things which get out of order in many ways«, begründete Colonel Sir John Smyth 1591 vor dem englischen Privy Council, warum eine Umstellung von Bogen auf Musketen nicht ratsam sei. Die Londoner Times hielt es in einem Leitartikel aus dem Jahr 1895 für »extremely doubtful«, dass das Stethoskop jemals weite Verbreitung finden werde, denn sein Einsatz sei zeitraubend und verursache »a good bit of trouble«.

herbeigeführt wird, ist doch nicht der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserei entsteht. Es wird dadurch das Müßiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müßiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte«, warnt 1844 das Universallexikon der Erziehungs- und Unterrichtslehre in der zweiten Auflage. Folgerichtig erstand in den neunziger Jahren auch die gefährliche »Bibliomanie« im neuen Gewand der »Internetsucht« oder »Onlinesucht« wieder auf. Die »Abspannung der Seelenkräfte« entging auch dem Spiegel nicht, der im August 2008 beklagte: »Der Kommunikationswahn im Netz hat verhaltensauffällige und hochnervöse Individuen hervorgebracht, die immer mehr erfahren und immer weniger wissen.«

Etwas später ist nicht mehr zu leugnen, dass das Neue sich weiter Verbreitung erfreut, keine Anstalten macht, wieder zu verschwinden, und sogar kommerziell einigermaßen erfolgreich ist. Es ist also im Prinzip ganz gut, aber, so Vorwurf Nummer sechs, nicht gut genug. Zum Beispiel kostet es Geld und wird immer teurer werden: »Wer das Internet regelmäßig nutzt, hat also trotz der preiswerten Verbindungen eine spürbar erhöhte Telefonrechnung. Die Kosten für den einzelnen User werden weiter steigen« (Kühnert). Es ist langsam und umständlich und wird immer langsamer werden: »Experten befürchten, dass das Überlastproblem in wenigen Jahren einen kritischen Punkt erreicht, wenn nicht zuvor eine Lösung gefunden wird. Bis dahin wird die Geschwindigkeit im Netz weiter spürbar zurückgehen«, kündigte Peter Glaser 1996 im Spiegel unter dem Titel World Wide Wait an. (Es wurde dann doch, wie schon bei Thomas Malthus, »zuvor eine Lösung gefunden«.) Den meisten dieser Vorwürfe ist gemein, dass ihre Anhänger die jeweiligen Probleme für naturgegeben und unvermeidlich halten und von einer weiteren Verschlechterung der Lage ausgehen, obwohl dafür historisch gesehen eher wenig spricht. Kühnert beklagte 1996: »Eine dieser (Such-)Maschinen antwortete auf die Frage nach dem Wort ‚Internet‘ mit 1881 Antworten. Bei der hundertzwanzigsten Auskunft mochte ich nicht mehr herumklicken.« Zwei Jahre später sorgten Larry Page und Sergey Brin für Abhilfe in Form des Google-Suchalgorithmus. Man brauchte jetzt nicht mehr alle 1,5 Milliarden (Stand Oktober 2009) Suchergebnisse für das Wort »Internet« anzuklicken, sondern nur noch die ersten paar, was den Spiegel nicht daran hinderte, 2008 zu erklären: »Das größte Problem des Internet ist die Kehrseite seines größten Vorteils – das Überangebot an Informationen. Suchmaschinen liefern zwar Millionen Treffer auf alle möglichen Fragen und sortieren sie hierarchisch quasi nach ihrer Beliebtheit im Netz – sozusagen Relevanz durch Plebiszit. Kritische Vernunft jedoch hat Google in seinen Algorithmen noch nicht eingeführt.« Irgendwas ist ja immer. Die Innovation ist außerdem überkompliziert und anfällig: »The bow is a simple weapon, firearms are

Und schließlich ist das Neue nicht hundertprozentig zuverlässig. Der Volkskundler Martin Scharfe hat in seinem Buch Wegzeiger Berichte und Karikaturen zusammengetragen, in denen Wegzeiger mit unleserlichen, zerbrochenen, in die falsche Richtung weisenden oder heruntergefallenen Armen eine tragende Rolle spielen. Das gleiche Misstrauen gegenüber neumodischen Orientierungshilfsmitteln und die gleiche Schadenfreude darüber, dass sich da jemand für besonders klug und gut ausgerüstet hält und dennoch scheitert, äußert sich in den seit den späten neunziger Jahren beliebten Berichten über Autofahrer, die von ihrem Navigationsgerät in die Irre geführt werden. In dieselbe Kategorie gehören die Vorwürfe, ins Internet könne ja jeder ungeprüft alles hineinschreiben, die ihrerseits schon dem nicht mehr handgeschriebenen Buch entgegenschlugen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man sich Gedanken darüber machen, was das Neue in den Köpfen von Kindern, Jugendlichen, Frauen, der Unterschicht und anderen leicht zu beeindruckenden Mitbürgern anrichtet. »Schwächere als ich können damit nicht umgehen!«, lautet Argument sieben. Der damals zweiundachtzigjährige Computerpionier Joseph Weizenbaum erklärte 2005: »Computer für Kinder – das macht Apfelmus aus Gehirnen.« Medizinische oder psychologische Studien werden ins Feld geführt, die einen bestimmten Niedergang belegen und einen Zusammenhang mit der gerade die Gemüter erregenden Technologie postulieren. So fand die Psychologin Jean Twenge an der San Diego State University durch eine Studie an 16 000 Collegestudenten heraus: »Die jungen, nach 1982 geborenen Menschen sind die narzisstischste Generation der jüngsten Geschichte und weit entfernt von einer sozialen Orientierung.« Mitverantwortlich seien Websites wie MySpace und YouTube, die »eine Selbstdarstellung zulassen, die weit über das hinausgeht, was in den traditionellen Medien möglich war«. Ein Urahn dieser Bedenken ist natürlich die Lesekritik. »Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu sehen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, und dieß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wissbegier. Man liest und gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeitverschwendung, die dadurch

Im Zusammenhang mit der Erziehung anderer zur richtigen Nutzung des Neuen stehen die jetzt auftauchenden Etikettefragen (Argument acht), bei denen es sich strenggenommen nicht um Fragen handelt, denn sie werden weniger gestellt als ungefragt beantwortet. In der Frühzeit des Buchdrucks galt es als unfein, ein gedrucktes Buch zu verschenken; getippten Privatbriefen haftete bis in die achtziger Jahre ein Beigeschmack des Unhöflichen an. Die Kritik des Handygebrauchs in der Öffentlichkeit erklärt das Sprechen mit einem unsichtbaren Gesprächspartner – im Unterschied zum Sprechen mit physisch anwesenden Dritten – zu einer Zumutung für die Umgebung. Das Herumsitzen in Cafés mit aufgeklapptem Computer wird von Gastronomen nicht gern gesehen – es vermittle ein ungeselliges Bild und schmälere die Einkünfte –, während das öffentliche Herumsitzen mit Buch oder aufgeklappter Zeitung schon seit einiger Zeit keinen Anstoß mehr erregt. Unausgesprochen geht es letztlich darum, dass Gegner einer Neuerung nicht ungefragt mit ihr konfrontiert werden wollen. Hat die neue Technik mit Denken, Schreiben oder Lesen zu tun, dann verändert sie, Argument neun, ganz sicher unsere Denk-, Schreibund Lesetechniken zum Schlechteren. Die Postkarte galt Kritikern um 1870 als Sargnagel der Briefkultur. Die American Newspaper Publishers‘ Association diskutierte im Februar 1897 die Frage: »(Do typewriters) lower the literary grade of work done by reporters?« In der Neuen Zürcher Zeitung war 2002 wiederum zu lesen, die mechanische Schreibmaschine habe durch ihre unterschiedlich stark gefärbten Buchstaben und ihre Geräusche Individualität verkörpert und an die Dynamik der Musik erinnert. »Damit ist es längst vorbei. Der Computer hat solche Ausschläge in die Eigenheiten des Schreibens vollkommen egalisiert. Er behandelt alle Gedanken gleich, das Bild ist uniform. Mehr noch, auch jede Art von Schmutz oder Gewalt, die Schräglage des Papiers, die Stauchung der Zeilen, ein gehöhtes C – verschwunden.


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Was, wir wissen es, zu Nachlässigkeiten verführt: Wer hätte nicht schon geglaubt, einen trefflichen Text deshalb verfasst zu haben, weil alles so schön und rein zu lesen war? Wer wäre nicht schon versucht gewesen, einfach anzufangen, um dies oder jenes zu ergänzen und zu verschieben, zu tilgen und zu speichern?«

warum man also überhaupt mikrobloggen oder, wie man – benannt nach dem prominentesten Mikro-Blogging-Anbieter – inzwischen auch sagt, warum man 'twittern' sollte« (Argument eins). Die »gewöhnliche Tonlage des Netz-Gezwitschers« sei »monoton und von ergreifender Schlichtheit« (Argument fünf c). Johannes B. Kerner fragte im September 2009: »Wen interessiert denn das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass davon ein Wahlkampf beeinflusst wird. Es ist ein völliger Unsinn. Völlig gehaltlos für journalistisches Arbeiten« (Argument fünf).

einem Museum anderswo bereits ausgestorbener Kulturkritik, drang noch 2007 die Kunde, das Schreiben von Kurznachrichten verrohe die Sprache der Jugend. Das Niveau der Abschlussarbeiten fünfzehnjähriger Schüler, so das Ergebnis einer Untersuchung der irischen State Examination Commission, habe im Vergleich zum Vorjahr nachgelassen. »Mobiltelefone und die steigende Popularität von Textnachrichten« hätten einen deutlichen Einfluss auf die Schreibfähigkeiten der Jugend (Argumente acht und neun), gab der Vorsitzende der Kommission in einem Gespräch mit der Irish Times an.

Die NZZ ist in diesem Punkt ein Nachzügler, eigentlich waren diese Vorwürfe an den Computer bereits in den achtziger und frühen neunziger Jahren erschöpfend behandelt worden, unter anderem in Dieter E. Zimmers Die Elektrifizierung der Sprache. Peter Härtling erläuterte 1994 im Marbacher Magazin: »Die Prosa eines mit dem PC arbeitenden Poeten zeichnet sich für Kenner wiederum dadurch aus, dass sie unmerklich die Furcht vor dem Absturz prägt.« An der University of Delaware entstand 1990 eine im Journal Academic Computing veröffentlichte Studie, derzufolge Studenten am Apple Macintosh wegen dessen graphischer Benutzeroberfläche im Vergleich zu Studenten am PC mehr Rechtschreibfehler machen, nachlässiger schreiben, einfachere Satzstrukturen und ein kindliches Vokabular benutzen. Aktuellere Varianten sind die Klage über die »leicht verdaulichen Texthäppchen und Schaubilder« der Präsentationssoftware Powerpoint, die zu einer »Verflachung des Denkens« führen (Spiegel 2004) sowie die angeblich nachlassende Fähigkeit, längeren Texten überhaupt noch zu folgen. In den seltenen Fällen, in denen der Kritiker erkennt, dass seine Vorwürfe schon mal da waren, argumentiert er, es sei diesmal aber trotzdem ganz anders und viel schlimmer. Der US-Essayist Sven Birkerts schrieb 1994: »Der Unterschied zwischen der Frühen Neuzeit und der Gegenwart ist – drastisch vereinfacht – der, dass der Körper einst Zeit hatte, das transplantierte neue Organ anzunehmen, während wir jetzt Hals über Kopf voranstürzen«. Ein zukunftsträchtiges Argument, schließlich ist nicht abzusehen, dass das Tempo der Veränderungen nachlassen wird. Im Gegenteil: »Denn die Zeit zum Umstellen, zum Erlernen der neuen Techniken wird immer knapper. Von den ersten nachweisbaren Schriften der Menschheit bis zum Kodex: 3600 Jahre; von dort zu Gutenbergs beweglichen Lettern: 1150 Jahre. Und seither geht es Schlag auf Schlag«, berichtet der Spiegel im August 2008. Dass jede Technologie diese Stufen von neuem durchlaufen muss, erklärt das unvorhergesehen hohe Internetkritikaufkommen der letzten zwei Jahre. Während die Kritik am 1994 aufgetauchten World Wide Web in ihren Endphasen angelangt ist, bewegen sich diverse internetbedingte Neuerungen gerade durch die ersten Stufen, etwa der 2006 gestartete Mikrobloggingdienst Twitter: »Unklar daran«, schrieb der Journalist Bernd Graff 2008 in der Süddeutschen Zeitung, »ist nur, warum man das tun sollte,

Man weiß zwar derzeit mangels verlässlicher Erhebungen noch gar nicht so genau, wer Twitter nutzt und wer nicht. Dass es aber wahrscheinlich kein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt ist, gibt Anlass zu Kritik wie dieser 2008 von Christian Stöcker im Spiegel geübten: »Twitter wird allerdings eher von Präsidentschaftskandidaten, pummeligen Silicon-ValleyNerds Ende dreißig und um Hipness bemühten Technikjournalisten benutzt als von der Jugend« (Argument drei). Das iPhone (Jahrgang 2007) hat die schon aus der Handyeinführung in den neunziger Jahren bekannten Kritikstufen »Braucht kein Mensch« – »Brauch ich nicht« – »Ist nur was für Angeber« durchlaufen und ist bei »Ich hab mir jetzt auch so ein iPhone geholt – aber der teure Vertrag!« (Argument sechs) angekommen. Sowohl beim Handy als auch beim Smartphone zeigten sich, wie zum Zeitpunkt der Anschaffung noch die vom Vorläufer abgeleiteten Nutzungsabsichten dominieren: »Wir wollen nur im Urlaub erreichbar sein! Nicht selbst telefonieren!«, versicherte man dem Verkäufer ungefragt; beziehungsweise im Falle des Smartphones: »Wir wollen gar nicht ins Internet! Nur telefonieren!« Es kann dann noch einige Zeit dauern, bis die eigentlich innovativen Fähigkeiten des Geräts tatsächlich genutzt werden. Auch E-Books haben die »What is it good for«Phase im Laufe des Jahres 2009 verlassen, während vom – etwas jüngeren – Netbook immer noch hin und wieder zu lesen ist, es brauche nun wirklich kein Mensch ein weiteres Gerät zwischen Smartphone und Notebook. Das 2004 gestartete Facebook, schrieb die Journalistin Virginia Heffernan 2009 in der New York Times, ist zu kommerziell, gefährdet die Privatsphäre, ruiniert Freundschaftsbeziehungen und war nur ein kurzlebiger Hype. Und Google, Jahrgang 1998, macht dumm, wie der Sachbuchautor Nicholas Carr 2008 im Atlantic erklärte. Es scheint derzeit etwa zehn bis fünfzehn Jahre zu dauern, bis eine Neuerung die vorhersehbare Kritik hinter sich gebracht hat. Die seit 1992 existierende SMS wird mittlerweile nur noch von extrem schlechtgelaunten Leserbriefschreibern für den Untergang der Sprache verantwortlich gemacht. Immerhin aus Irland,

Das eigentlich Bemerkenswerte am öffentlich geäußerten Missmut über das Neue aber ist, wie stark er vom Lebensalter und wie wenig vom Gegenstand der Kritik abhängt. Dieselben Menschen, die in den Neunzigern das Internet begrüßten, lehnen zehn Jahre später dessen Weiterentwicklungen mit eben jenen damals belächelten Argumenten ab. Es ist leicht, Technologien zu schätzen und zu nutzen, die einem mit 25 oder 30 Status- und Wissensvorsprünge verschaffen. Wenn es einige Jahre später die eigenen Pfründen sind, die gegen den Fortschritt verteidigt werden müssen, wird es schwieriger. Zur Bewältigung dieses Problems gibt es zwei Ansätze: In der schlichteren Variante kann man zumindest versuchen, den Gebrauch der Standardkritikpunkte zu vermeiden, insbesondere dann, wenn man sich öffentlich zu Wort meldet. Die hier versammelten Einwände gegen neue Technologien sind nicht automatisch unberechtigt – es ist lediglich nicht sehr wahrscheinlich, dass man damit valide Kritikpunkte identifiziert. Wenn jeder dieser Schritte einen realen Niedergang beschriebe, wäre die Welt eine von M. C. Escher gezeichnete Treppe. Die mühsamere Therapie heißt Verlernen. Denn niedere Statuszugewinnabsichten sind nicht der Hauptgrund für die Neophilieunterschiede zwischen den Generationen. Der erwachsene Mensch kennt einfach zu viele Lösungen für nicht mehr existierende Probleme. Dazu kommt ein Hang zum Übergeneralisieren auf der Basis eigener Erfahrungen. In einem 1996 geführten Spiegel-Interview mit dem damals fünfunddreißigjährigen Friedrich Küppersbusch entfaltet sich unter der Überschrift 'Wer nichts wird, wird virtuell' das ganze Spektrum des »Been there, done that«Problems: Das Internet, so Küppersbusch, sei »nicht viel mehr als die Neuerfindung des Telefons, jetzt mit Bild und Datenleitung« und »das Gequatsche im Internet nichts anderes als der CB-Funk der siebziger Jahre«. Interaktivität kenne man »im Fernsehen doch schon seit den siebziger Jahren unterdem Motto 'Sie können uns anrufen!' Das Internet kommt in dem Punkt zwei Jahrzehnte zu spät.« Die Konsumhaltung sei viel zu ausgeprägt


48 und das Internet »ein tolles Spielzeug, das aber wie alle entwickelten Massenmedien nur zur Vereinzelung beiträgt«. Als Küppersbusch am Ende des Interviews gefragt wird, ob hier der »technikfeindliche deutsche Intellektuelle« spreche, gibt er in seltener Offenheit die autobiographischen Wurzeln seines Unbehagens zu: »Nein, ich habe nur keinen Bock, in Enttäuschungen reinzulaufen, die ich mit 15 hatte. Als ich gedacht habe, wenn ich eine Schülerzeitung gründe, dann könnten 1500 Schüler mitmachen. Mit einer Jugendtalkshow habe ich das später noch einmal versucht. Die Leute hatten alle Möglichkeiten und haben nichts draus gemacht. Den Frust hol‘ ich mir nicht jede Woche.« Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare. So lange wir uns nicht wie im Film 'Men in Black' blitzdingsen lassen können, müssen wir uns immer wieder der mühsamen Aufgabe des Verlernens stellen. Mit etwas Glück hat der Staat ein Einsehen und bietet in Zukunft Erwachsenenbildungsmaßnahmen an, in denen man hinderlich gewordenes Wissen – sagen wir: über Bibliotheken, Schreibmaschinen, Verlage oder das Fernsehen – ablegen kann.

Le ktion Nº 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu n g M a teria l Rec h erc h e, Pa pier


49

Wa n d z e it u n g ge f alte t

Le ktio n Nยบ 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu ng M a teria l Rec h erc h e, Pap i e r


50

Le ktion Nยบ 4 Tite l Der Zen it

M ediu m Wa n dzeitu n g M a teria l Rec h erc h e, Pa pier


51

Lek tion Nº

5

»Au s der Hü fte ge s cho s s e n«

LEKTION Nº5 Aus der Hüfte geschossen — Fotografieren Sie nach einem eigenen zeitlichen Raster (z.B. 1 Woche zu jeder vollen Stunde) Ihre Umgebung ausschließlich auf Bauchhöhe. Fertigen Sie Serien an. Werten Sie das Bildmaterial aus und entwickeln Sie ein Konzept zur Präsentation Ihrer Ergebnisse.


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Lektion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

53 – 58

Fotografie

»Discord«

5

»Au s der Hü fte gesc h ossen «


53

Le ktio n Nº 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra, Di a- Pro j e kt o r, S -Ba h n -S c h ei b e n

»DISCORD« Spannungsfeld der Gegensätze. Relikte der Technik als Medium für das Abbild der Natur. Die Natur überdauert die Technik. Discord.

Ein Tag im Wald, endlich mal frei, nichts tun, umher laufen, sieben Filme, eine Kamera. Gezielt auf der Suche nach auffälligen Strukturen, gegenstandslosen Gebilden, der Unruhe in der Natur. Vorbei an kleinen Bächen, hohen Fichtenwäldern, dichten Büschen, flachen Laubwäldern, abholbereiten Holzstapeln, abgelegenen Gleisen. Heraus kommen an die 200 Negative, die einzeln ausgeschnitten in einen Diaprojektor gebastelt und auf alte, zersprungene S-Bahn-Scheiben projeziert werden. Weiche, runde Strukturen der Natur treffen auf die harte, kantige Welt der Technik. Ein Relikt der Moderne wird gespeist mit der Kraft der überdauernden Natur. Die beiden Materialien

verbinden sich zu einer Symbiose der Gegensätze an dessen Finale ein surreales Bild entsteht, das an vielen Stellen aussieht, als würde man sich nachts verloren im Wald wiederfinden. Das Verwunderliche an den Fotografien ist die Tatsache, dass sich, obwohl es Schwarz-WeissFotografien waren, durch den Eisenstaub, der sich über die Jahre auf den Scheiben abgesetzt hat, eine gewisse Sepia-Tönung einstellte, die für eine warme Grundstimmung sorgt. Trotz der Graustufennegative entsteht eine farbige Landschaft aus beinahe dreidimensionalen Strukturen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der verwendete Film. Während Kodak-Filme

die Sepia-Tönung noch verstärken, neutralisieren Ilford-Filme die Tönung, durch die leichte Blaufärbung der Negative. Trotz der simplen Technik der Projektion blieben genug Quellen für Variationen und Fehler. Interessanter Nebeneffekt hierbei ist der Lichtpunkt, der auf jedem Foto durch den Projektor entsteht: Er taucht das Foto in ein gespenstisches Licht und sorgt trotz der verhältnismässig dunklen Negative für eine helle Umgebung - der Lichtpunkt fungiert hier quasi als fiktiver Vollmond. Die Endauswahl beschränkt sich auf 15 der 200 Projektionen und zeigt nur die intensiven, strukturreichen Fotos, um die Essenz der Aufgabe heraus zu kristallisieren.


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Le ktion Nยบ 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera , Dia -P ro j e kt o r, S -Ba h n -S c h eiben


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Le ktio n Nยบ 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra, Di a- Pro j e kt o r, S -Ba h n -S c h ei b e n


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Le ktion Nยบ 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera , Dia -P ro j e kt o r, S -Ba h n -S c h eiben


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Le ktio n Nยบ 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka me ra, Di a- Pro j e kt o r, S -Ba h n -S c h ei b e n


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Le ktion Nยบ 5 Tite l Disc ord

M ediu m Fotogra fie M a teria l An lg. Ka mera , Dia -P ro j e kt o r, S -Ba h n -S c h eiben


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Lek tion Nº

6

»S ta dt/La n d«

LEKTION Nº6 Stadt/Land — Gehen Sie mit einem Zeichenblock - jedoch ohne Zeichenmittel a) in die Stadt b) in die Natur und fertigen Sie Zeichnungen zu und in der jeweiligen Umgebung an. Präsentieren Sie die Ergebnisse im Original. Zu Dokumentationszwecken fotografieren.


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Le ktion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

61 – 68

Cyanotypie

»Blaupause«

6

»S ta dt/La n d«


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Le ktio n Nº 6 Tite l Bla u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fo t o e m ul s i o n, div. Au fla gege ns t änd e

»BLAUPAUSE « »BLAUPAUSE«

Ein altes Fotodruckverfahren als idealer Zufallsgenerator

Schon seit geraumer Zeit arbeiteten wir intensiv an der alten Technik der Cyanotypie. Bereits 1842 erfunden war sie die zweite Technik zur Herstellung von fotografischen Abbildungen, die dauerhaft erhalten blieben. Das Besondere an dieser Technik ist, dass es nicht, wie bei anderen Techniken üblich, Entwickler und Fixierer braucht, um das Bild sicht- und haltbar zu machen. Bei der Cyanotypie reicht lediglich das Auswässern der nicht verbrauchten Emulsion, um ein weiteres Reagieren zu verhindern. Somit ist diese Technik bestens geeignet ausserhalb eines Fotolabors damit zu arbeiten – wie gemacht für unsere Stadt/Land-Aufgabe. Also beschichteten wir uns für jeden Aufgabenteil je vier hochwertige Büttenpapiere, die dem Wässern im Rhein gewachsen sein sollten. Nachdem die Bögen getrocknet waren, verstauten wir sie in lichtdichten Mappen und machten uns auf den Weg nach Gustavsburg, an die Mainspitze. Dort sammelten wir verschiedene

Gräser, Blätter, Steine, Federn, Treibholz und was sonst noch so in der Gegend zu finden war. Anschliessend platzierten wir die vier Bögen nebeneinander und legten die gefundenen Sachen auf das Papier. Binnen drei Minuten war das Papier schon in ein sattes Türkis gefärbt – die Schatten blieben grün. Dann stiegen wir gemeinsam in den Rhein, um die Bögen zu wässern. Resultat sind vier Fotogramme mit natürlichen, organischen Formen, die sich vielschichtig zu einem Ensemble zusammen fügen. Wir liessen die Bögen eine Zeit lang trocknen und machten uns anschliessend auf den Rückweg nach Mainz. Neben dem Brunnen am Dom schlugen wir unser zweites Lager auf und suchten die Umgebung nach brauchbaren Materialien ab. Als Kontrast zu den runden natürlichen Formen des Landes, suchten wir gezielt nach harten, kantigen Formen, wie beispielsweise einem Fahrradkorb, Flaschen, Kabeln, Pflastersteinen oder Prospekten aus

dem angrenzenden Buchladen. Auch hier verfuhren wir, wie auf dem Land, nur war mittlerweile der Himmel recht bewölkt und ein Gewitter stand kurz bevor, weswegen die Bögen deutlich länger zum Belichten brauchten. Danach wässerten wir die Bögen im Brunnen und zu unserem Erstaunen verflüchtigte sich die Farbe recht schnell. Anstatt nur die Schatten auszuwaschen, löste sich auch die belichtete Emulsion. Resultat waren vier leicht bläulich schimmernde Bögen, auf denen von den ursprünglichen Formen nichts mehr zu sehen war. Frustriert zuhause angekommen, kam uns auch die Lösung des Problems in den Sinn: Das Wasser des Brunnens roch leicht nach Chlor – anscheinend löst das Chlor die Emulsion aus dem Papier und ehe wir uns versahen war fast die komplette Farbe aus dem Papier gewaschen. Wahrscheinlich lässt sich dieses Missgeschick auch unter den Aspekt des Zufalls einordnen.


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Le ktion Nº 6 Tite l B la u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fotoemu l s i o n, div. Au fla gegen stä n de

Belichte n m i t Au f l a ge f o r m e n

Erste Forme n e nt steh en

Wäss e r n i m R h e in

Zweites La ger in der S ta d t


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C ya n o t y p i e » L a n d I«

Le ktio n Nº 6 Tite l Bla u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fo t o e m ul s i o n, div. Au fla gege ns t änd e


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Cyan o typ i e » L a n d I I «

Le ktion Nº 6 Tite l B la u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fotoemu l s i o n, div. Au fla gegen stä n de


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C ya n o t y p ie » L a n d III«

Le ktio n Nº 6 Tite l Bla u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fo t o e m ul s i o n, div. Au fla gege ns t änd e


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Cyan o typ i e » L a n d I V «

Le ktion Nº 6 Tite l B la u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fotoemu l s i o n, div. Au fla gegen stä n de


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Le ktio n Nº 6 Tite l Bla u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fo t o e m ul s i o n, div. Au fla gege ns t änd e

Cya no t yp i e » St ad t I I «

C ya n o t y p ie » S t a d t I«


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Le ktion Nº 6 Tite l B la u pa u se

M ediu m Cya n oty pie M a teria l Bü tten pa pier, Fotoemu l s i o n, div. Au fla gegen stä n de

Cya n oty pie »S ta d t I V «

Cyan o typ i e » S t a d t I I I «


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Lek tion Nº

7

»M orgen zeic h n ung «

LEKTION Nº7 Morgenzeichnung — Fertigen Sie über den Zeitraum von 4 Wochen jeden Morgen, direkt nach dem Aufwachen, eine Zeichnung an.


70

Lektion Nº

Seit e n

Me dium

T itel

71 – 76

Chaoscope

»Braindead«

7

»M orgen zeic h n u n g«


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Le ktio n Nº 7 Tite l Bra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope

»BRAINDEAD«

Wie ' Chaoscope' es möglich macht Worte zu visualisieren

Träume, Zahlen, Gedanken, Aufwachen, Delirium. Jeder Tag des Aprils beginnt fortan mit der Aufzeichnung des Erlebten. Morgens nach dem Aufstehen das Erste, was einem zu Gesicht kommt festhalten, aufzeichnen. Nur Zeichnen mag ich nicht, dann doch lieber 'Chaoscope'. Schon geraume Zeit vertrieb ich mir die Langeweile mit diesem faszinierenden Instrument. Was ursprünglich dafür gedacht

war 'seltsame Attraktoren' – eine Gattung komplexer, mathematischer Funktionen – zu visualisieren, wird nun zum Spielball meiner Träume. Genauer gesagt arbeitete ich mit dem Modus 'Polynomial Function' bei dem sich 24 Parameter eingeben lassen. So wandelte ich die verschiedenen Dinge in Zahlen um und gab diese als Parameter in das System. Mal waren es Artikelnummern von Getränken, mal

die Seriennummer meiner Lautsprecher, die Kontonummer meiner eBay-Kundin oder die Marktnummer von Nieder-Eschbach. Jedes Mal entstanden surreale Formwelten mit überlappenden, in sich kehrenden Ebenen, die am Ende auf ein Plakat gebracht wurden. Auf DIN A0 wurden die einzelnen Formen mit ihren eingegebenen Parametern angeordnet.


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Le ktion Nยบ 7 Tite l B ra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope


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Le ktio n Nยบ 7 Tite l Bra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope


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Le ktion Nยบ 7 Tite l B ra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope


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P l a k a t » B ra in d e a d «

Le ktio n Nº 7 Tite l Bra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope


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Plaka t » B rai nd e a d « , D e t a i l s

Le ktion Nº 7 Tite l B ra in dea d

M ediu m P la k a t M a teria l Ch a osc ope


77 STEGREIF Jede Gruppe notiert mindestens drei Substantive verdeckt auf jeweils einem Zettel. Anschließend zieht jede Gruppe zwei beliebige Substantive. Aus diesen beiden Begriffen ist innerhalb von einer Stunde ein künstlerisches Objekt im Freien zu entwickeln und zu präsentieren. Wir arbeiteten in einer Vierergruppe zusammen mit Alexander Grazdanow und Daniel Bretz. Somit hatten wir vier Begriffe, die es in ein Projekt umzuwandeln galt. Diese vier Begriffe waren: Wasser, Name, Kind und Haare. Wir machten uns auf den Weg zum naheliegenden Drogeriemarkt und besorgten uns allerhand Material. Darunter waren Kindergeburtstagskerzen, Textilfärbesalz in blau, Haarschaum, Spongebob-Kaugummis. In einer Aktion vereinten wir die verschiedenen Materialien zu einem avantgardistischen Geburtstagskuchen für unseren fiktiven Sohn 'Ray'. Nach dem Anzünden des selbigen entstanden nach mehreren Durchgängen interessante Strukturen, die einen gewissen grafischen Wert hatten. Durch das Aufbrechen der Färbesalzschicht zeigte sich der darunter liegende weisse Haarschaum.

Ste greif

»Ra y ‘s großer Ta g«


78

R e fe rat

»ALEATORIK »ALEATOR IK IN DER BILDENDEN KUNST« Zufall ist ein relativer Begriff. Diese Relativität des Zufallsbegriffes ist die zentrale These in Recks Ausführungen über die Aleatorik in der bildenden Kunst. Aleatorik (von lat. Alea, der Würfel) meint nichts anderes als das hervorbringen künstlerischer Strukturen durch Improvisation und Kombinatorik von Zufällen innerhalb eines bestimmten Rahmens. Es geht hierbei nicht um den Zufall im wissenschaftlichen, etwa physikalischen oder mathematischen Kontext, sondern um den Zufallsbegriff als solchen in der Semantik des

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

täglichen Sprachgebrauches. Da jeder Betrachter die Dinge anders sieht, erhält der Begriff des relativen Zufalls Einzug in unsere Wahrnehmung. Wir erblicken 'scheinbar Zufälliges' überall und die bildenden Künste sind besonders geeignet um Zufallhaftes zu erblicken. Dieses Feld ist sehr schwer zu analysieren, da hier eher intuitive, atmosphärische und assoziative Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Das ist also der Versuch einen Untersuchungszugang zu finden, auch wenn dieser mitunter sehr komplex escheint. Wir finden in der bildenden Kunst eine Mannigfaltigkeit an Material und Objekten die sich hervorragend als Forschungsgegenstände eignen. Die Absicht der Kunst ist es nicht etwa eine einzige und universelle These anzubieten oder eine monolithische Tendenz zu proklamieren, sondern vielmehr eine Sprache darzustellen, die mithilfe einer Metaebene über die Wirklichkeit berichtet. Der Geist der Kunst steckt somit voller Aspekte der Zufallssemantik, jedoch sind diese Aspekte auf Abb. 4 keinen Fall gleichzusetzen mit dem Zufall im herkömmlichen Sinne. Es handelt sich vielmehr um die Manifestation eines offenen, spontanen und irrtumsbereiten Künstlergeistes. Es gibt also keinen Zufall in der bildenden Kunst, auch wenn vieles den Anschein erweckt. Dieses 'Als-ob' ist wohl das Kapital der Kunst und der Grund weshalb

»Alea torik in der bilden den Ku n st«

uns die Kunst immer wieder verblüfft und neue Rätsel aufgibt. So liebäugeln viele künstlerische Strategien mit dem Zufall. Wenn etwa Cai Guo-Quiang monumentale Leinwände durch Explosionen in rätselhafte Gemälde verwandelt (Abb. 1), Rebecca Horn Maschinen für sich malen lässt (Abb. 2) oder Joseph Beuys scheinbar Unterbewusstes durch spontane Zeichnungen nach außen trägt (Abb. 3), spielt man leicht mit dem Gedanken, hier habe rein Zufälliges gewirkt und allein die finale Auswahl der Kunstwerke fiele noch in den Hauptaufgabenbereich des Künstlers. Natürlich ist dieses Auswählen ein wichtiger und entscheidender Aspekt der künstlerischen Arbeit. Vielmehr ist es aber so, dass der Schaffensprozess in der Kunst so komplex ist, dass wir den Begriff des Zufalls nur benutzen, um periphere Faktoren zu benennen, die in der Substruktur der Kunst verborgen liegen und einem ständigen Wandel folgen. (Abb. 4) So ist der Künstler als jemand zu bezeichnen, der in konzeptueller Weise spielt. Der Entstehungsprozess des Kunstwerkes besitzt also die Struktur eines Spiels, dessen Regelwerk der Künstler selbst festlegt. Es geht hierbei nicht um die strikte Einhaltung von Regeln und deren Befolgen, sondern im eigentlichen Sinne um die Verteilung von Spielmodellen auf das Spiel an sich. Somit manifestiert sich die Meta-

KUNST

Ebene der Kunst. Dadurch erklärt sich die Bedeutung des Zufalls als relativer Begriff, als dass dessen Gegenbegriff als das Absolute zu bezeichnen wäre. Das Spiel der Kunst ist immer und relativ. Der moderne Kunstbegriff hat sich dahingehend gewandelt, als dass wir von einer Durchbrechung der Mimesis sprechen müs-


79 KUNST

BILD

KONFLIKT KUNST

A b b. 5

sen. Wir beobachten eine Zurückweisung des traditionellen Vorgangs der Repräsentation, hin zur Entwicklung der Kunst als Translingua – diese ist so dem Ordnungssystem 'Sprache und Schrift' überlegen. Während dieses System in gewisser Weise scheitert, da es Leerstellen in sich nicht auszugleichen vermag, bietet die Kunst einen Gegenentwurf an. Den ewig unvermeidbare Konflikt zwischen Bild und Begriff gilt es zu überwinden. Die Überschreibung der Kommunikation vom Reich der kontrollierenden, aber gleichzeitig scheiternden Systeme ins Reich der Bilder. Die in Abb. 5 schwarz dargestellte Inversionsfigur zwischen Bild und Begriff beschreibt die Position der Kunst gemäß des zeitgenössischen Kunstbegriffes. Der Anspruch des Ordungssystems Sprache, den Zufall in der Kommunikation zu eliminieren, stellt sich als Utopie heraus. So ist ein Verlauf nachzuzeichnen, der über die Emblematik, zum Piktogramm hin zur Entwicklung der Kunst als Translingua reicht. Dieser Vorgang ist nicht expressiver Natur sondern im höchsten Maße konstruktiv und gezielt. Das Piktogramm als Antwort auf die Beschränktheit der Sprache. Da die Kunst mit jedem neu geschaffenen Kunstwerk erweitert wird, wird gleichwohl der Kunstbegriff auch ein immer komplexerer. Es gibt also keine Stagnation, sondern ein unendliches Potential, das sich ständig aus sich selbst heraus erweitert und niemals einen Endpunkt erreichen wird. Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kunst irgendwann zum Erliegen kommt, denn es ist der Rezipient der letztendlich das Kunstwerk in den Rang eines solchen erhebt. Er ist genauso Teil der Kunst wie das Kunstwerk selbst. Wenn man also fragt: Was macht die Kunst zur Kunst? so kann man darauf antworten: Ganz allein der Rezipient der das Spiel der Kunst mitspielt und sich darauf einlässt (Abb.6). Er ist ein unverzichtbarer Teil der Kunst. Man darf also nicht den Fehler machen, das Kunstwerk mit der Kunst gleichzusetzen. Das Kunstwerk ist an sich nur ein Gegenstand und bleibt das auch solange, bis ein Rezipient es als Kunstwerk annimmt. So reicht es nicht, dass allein der Künstler selbst sein Werk als Kunst ausruft. Das Kunstwerk selbst lebt von der Einfühlung des Betrachters. Kunst ist somit ein besonderes Spiel, dessen Voraussetzung der Wille zur Teinahme ist. Blickt man beispielsweise auf das Werk von

Re fe ra t

»Alea torik in der bilden d e n Kuns t «

Marcel Duchamps, so wird leicht deutlich von welcher Art des Spielens hier die Rede ist. Da Duchamps so weit ging, banale Alltagsgegenstände, teilweise ohne jegliche Veränderungen daran vorzunehmen, als Kunstwerke zu bezeichnen, und damit auch die Rezipienten überzeugen konnte, wurde er zum Kabarettist dieses Spiels. Er hat mit diesem Schritt definitiv die Grenzen des Spielfeldes um ein Vielfaches erweitert und damit ganz deutlich gezeigt, wie beispielsweise ein einfacher Flaschentrockner zur Manifestation der Kunst werden kann, allein durch den Willen des Künstlers in Verbindung mit der Anteilnahme des Rezipienten. Jede Zufälligkeit gründet wertetheoretisch in der Residualkategorie 'Abfall'. Wie Van Gogh es einmal deutlich machte, indem er sagte:

schauen vermag. Wie bereits erwähnt, spielt natürlich der Prozess des Auswählens eine tragende Rolle und fällt in den Hauptaufgabenbereich des Künstlers. Auswählen, das bedeutet nicht zu wissen, das bedeutet etwas zu opfern. Auswählen das bedeutet Formen oder Ausschließen: Das ist Kunst. Die Auswahl ist also eine der wichtigsten Strategien um den Zufall zu kontrollieren. Ich lasse ihn zwar innerhalb meines abgesteckten Spielfeldes zu, behalte mir jedoch vor, am Ende ganz bewusst darüber zu entscheiden, welches Ergebnis ich akzeptiere und welches nicht. Die Balance zwischen den Polen des Zufalls und der zielgerichteten Konzeption wird hierbei deutlich.

WORT

»Heute bin ich mal auf dem Fleck gewesen, wo die Aschemänner den Müll jetzt hinbringen. Donnerwetter war das schön [...] Morgen bekomme ich einige interessante Gegenstände von diesem Müllabladeplatz zur Ansicht oder als Modell [...] Heute Nacht werde ich wahrscheinlich davon träumen, aber vor allem diesen Winter tüchtig daran arbeiten.« Dieses Zitat macht deutlich wie inspirierend und maßgeblich ein Blick in die Welt des vom Zufall Bestimmten sein kann. Besonders wenn es darum geht, Neues zu entdecken oder nach Anstößen für die Generierung des Selbigen zu forschen. Die ästhetische Position zwingt den Menschen gegenüber dem Universum in die Position des Fremden, der mit immer wieder neu geschärfter Aufmerksamkeit eine ihm unbekannte Gegend betritt, die, weil unbekannt, voller Zufälle steckt. In der Kunst selbst gibt es keinen Zufall, sondern nur Strategien zur Überlistung, die nur dem als zufällig erscheinen, der sie als Listen nicht zu durch-

REZIPIENT

KUNSTWERK KUNST Abb. 6


80

Gestaltungsansä tze

GESTALTUNGSANSÄTZE Da die Grundvoraussetzung für die Anmutung dieser Dokumentation war, zufällige Aspekte in der Gestaltung zu transportieren ohne jedoch zufällig zu erscheinen, starteten wir eine Reihe von Versuchen um ein solches Erscheinungsbild zu generieren. Gleichzeitig war das schwierige an diesem Vorhaben, dass ja in der Dokumentation bereits inhaltlich zufällig generierte Ergebnisse gezeigt werden, was eine Dopplung dieses Aspekts im Layout oder in der Form generell zu einer Gradwanderung macht und einen sehr subtilen Ansatz erfordert um den eigentlich wichtigen Inhalt nicht zu verwässern. Weil das gesamte Vorhaben unter dem Zeichen praktischer Umsetzung im Rahmen eines sehr begrenzten Budgets stand, musste also eine Lösung entwickelt werden, die beides zu ließ: Raffinierte Gestaltung und geringe Kosten. Das Budget zwang uns also dazu, eine Reihe von Experimenten zu starten um zu einer umsetzbaren Lösung zu gelangen. »Umwege erhöhen die Ortskenntnis«, so ein chinesisches Sprichwort. Treffender könnte man es nicht formulieren, denn unsere Suche führte über verschiedenste Ansätze, bevor wir eine endgültige Lösung fanden. Unsere erste Überlegung war es, die zufällige Komponente durch eine bestimmte Gestaltung der Schrift einzubringen, da uns von Anfang an klar war, das wir eine sehr klares und dokumentarisches Layout verwenden müssen, um den Inhalt nicht zu beeinflussen. Hierfür gab es verschiedene Optionen: Zufällige Kombination, Manipulation und Verschmelzung verschiedener Schriften. Was das Budget-Argument betraf, so hatten wir uns darauf geeinigt, dass die Einsparungen vor allem bei der Wahl des Materials wie Papier und Umschlagmaterial, bei der Bindung und beim Druck, d.h. hauptsächlich schwarz-weiße Seiten, ausgewählte Farbbeispiele und eine Ringbuchbindung, da wir diese in der Hochschule selbst herstellen können und es sehr viel schneller geht als kleben. Auf dem Weg zum endgültigen Layout spielten wir mit verschiedenen Ansätzen.

Abb. 3

Abb. 1

Abb. 4

Idealer Ausgangspunkt für die Nachahmung auf digitaler Ebene. (Abb. 5, 6, 7)

Abb. 2

MANIPUKOMBINATION LATION Jeder Gestaltungsregel zum Trotz, kombinierten wir möglichst gegensätzliche Schriften auf mehreren Plakaten (Abb. 1,2). Verwendet wurden die Egyptienne, die DIN Black, die Eureka Mono, die Fraktur und die Neue Helvetica. Inspiriert wurden unsere Kombinationen in Hinsicht auf die Schriftwahl durch das Druckerkollektiv 'Rixdorfer' aus Berlin.

Als ideales Nachahmungsobjekt in Hinsicht auf manipulativen, zufälligen Eingriff erschienen uns die vom Wetter veränderten, verzerrten Schriften auf Güterzügen. Laienhaft wurde hier hinzugefügt und weggestrichen. Kombinationen aus verschiedenen Schriftarten trafen auf die von der Witterung zerfressene Oberfläche. (Abb.3,4)

Abb. 5


81

Ge staltu n gsa n sä tze

ren reagiert und purpurne Flächen entstehen lässt. Der Leser würde also beim Berühren des Buches, dieses Gestalten ohne es zu wissen, und das auf eine zufällige Art und Weise. (Abb. 10, 11,12)

Abb. 8

A b b. 6

abcdef ghijklm nopqr stuvwxyz — ABCDEF GHIJKLM NOPQR STUVWXYZ

Abb. 10

Abb. 11

Abb. 9

A b b. 7

VERSCHMELZUNG Um die Verschmelzung der analogen und digitalen Ebene noch weiter fortzuführen, begannen wir zunächst verschiedene LetrasetFonts miteinander zu kombinieren. Besonders radikal wirkten dabei oftmals die Kombinationen aus Antiqua- und Groteskschriften. Am auffälligsten erschien uns die Kombination aus einer technisch anmutenden DIN-Schrift und einer fehlerhaft anmutenden Quixley. Diese beiden Fonts verbanden wir mittels 'Fontlab' zu unserem eigenen Font, die 'DINLEY'. (Abb. 8, 9)

BETRACHTER ALS GESTALTER Die Schriftergebnisse gefielen uns zwar von ihrer Anmutung her sehr gut, jedoch fanden wir, dass ein sehr viel cleverer und innovativerer Weg gefunden werden musste. Die Grundidee darf sich niemals zwischen Inhalt und Betrachter drängen, sondern im Gegenteil, diese zwei Komponenten einander näher bringen. So entstand die Grundüberlegung, wie man den Betrachter der Dokumentation wohl mit in das Projekt integrieren könnte; indem man ihn selbst zum Zufallsgestalter werden lässt. Die Lösung kam bald: Ninhydrin. Diese in der Kriminalistik dazu genutzte Substanz lässt Fingerabdrücke sichtbar werden, da sie mit den im Handschweiss enthaltenen Aminosäu-

Abb. 12


82 Konzept, Layout, Design und Inhalte Felix Breidenbach, Tobias Gebert, Sebastian Zimmerhackl —

Autoren Felix Breidenbach, Tobias Gebert, —

Fonts DIN 30640 Neuzeit Grotesk Georgia Regular —

Papier Cyclus 140 g/m² —

Druck Harth Druck GmbH Kaiserstrasse 32, 55116 Mainz www.harth.de

Fachhochschule Mainz, 2011

Impre ssum


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