Bachelor Thesis von Mirja Ruch, BA Vermittlung in Kunst und Design, Hochschule der Künste Bern, 2022

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Da, wo alles herkommt.

Bachelorthesis und Dokumentation der Praxis

Mirja Ruch



Da, wo alles herkommt.

Das Autobiographische als Antrieb der Kunst



1 Lejeune 1994, 14. 2 Bühler 2009, 12.

Notiz: Im Folgenden werde ich mich mit verschiedenen Strategien des Autobiographischen Schaffens auseinandersetzen. Für das klare Verständnis möchte ich den Begriff der Autobiographie im Kontext meiner Thesis definieren. Die Autobiographie wird von Lejeune als „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“ definiert.1 Ich weite diese Definition, die sich auf die literarische Gattung der Autobiographie bezieht, auf die bildende Kunst aus, und verstehe den Begriff folgendermassen: Die Künstlerische Praxis einer Person beschäftigt sich mit der eigenen Existenz. Insbesondere legt sie Nachdruck auf ihr persönliches Leben und die Geschichte ihrer Persönlichkeit. Es entsteht dadurch die künstlerische Zusammenfassung der Lebensgeschichte (oder Abschnitten davon) einer tatsächlichen Person, deren Identität mit der*m Kunstschaffenden übereinstimmt. Der Autobiographie, möchte ich den Begriff des Autobiographischen entgegenstellen. Dieser verweise eher, so Kathleen Bühler, auf einen Modus: „eine besondere Haltung im Umgang mit Lebenserfahrungen und persönlichen Gedanken.“ 2 Das Autobiographische bezeichnet so die Strategie aus dem eigenen Leben zu schöpfen, verhält sich jedoch viel freier und ohne abschliessenden Anspruch an das Rekonstruieren und Darstellen der eigenen Identität (Autobiographie).

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3 Hier: „Ich“: mein wahres, autobiographisches „Ich“, „Sie“: mein fiktives, abstrahiertes „Ich“. 4 Persönliche Inhalte können andere berühren. Sie haben das Potenzial, durch das Zusammenspiel mit persönlichen Geschichten der Rezipierenden universell zu werden. Details, die zu spezifisch sind, die sich zu fest nur auf ein Leben beziehen, werden dagegen als privat wahrgenommen. Das Publikum kann sich nicht mit diesen Dingen identifizieren, was ein Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen Betrachtenden und Kunstschaffenden erzeugen kann. Die Betrachtenden fühlen sich dann oft voyeuristisch und sind eventuell unangenehm berührt. Diese Grenze lässt sich aber auch ausweiten. Das Spiel mit der Grenzüberschreitung ins Private wird als Gegenstand der künstlerischen Praxis von Tracey Emin verwendet. 5 Emin 2015. 6 Elliot/Schnabel 2008, 17.

Wenn ich über mein Leben schreibe, verändert sich meine Geschichte. Worte können das Erlebte verwandeln, und diejenigen, die es erlebt haben auch. Mein „Ich“ wird „Sie“. 3 Ich mag es, mich so in eine andere Person zu verwandeln. „Sie“ erlebt das Leben anders und nimmt mehr Platz ein. Ihre Geschichten wirken schöner und träumerischer und wollen erzählt werden. Die Bilder ihrer Erinnerungen sind intensiver. „Sie“ wird durch die Erzählung von mir weggetrieben, doch ich verwebe und verankere sie in einem autobiographischen Teppich. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie interessiert mich schon lange. Das eigene Leben als Untersuchungsobjekt wahrzunehmen, als Quelle der Inspiration und als Antrieb für das künstlerische Schaffen, macht für mich Sinn. Wir sind sowieso tagtäglich mit uns selbst beschäftigt. Aus unseren Erfahrungen zu schöpfen, scheint naheliegend und produktiv. Meine Arbeiten finden ihren Ursprung stets in meinem Innern, in Erinnerungen und Gefühlen. Da drückt es am meisten - da kann ich am Besten ansetzen. Ich versuche dann, diese unbeschreiblichen, subjektiven Dinge zu übersetzten. Eine Sprache zu erfinden, die das ausdrücken kann, was nicht einmal für mich klar ist. Ich fürchte mich aber auch vor dem Autobiographischen, denn ich bin mir der feinen Grenze zwischen persönlich und privat bewusst.4 Ich habe Angst, zu viel von mir preiszugeben. Tracey Emin, eine der beiden Künstlerinnen, die ich in meiner Recherche als Begleiterinnen mitgenommen habe, bringt in ihren Werken die Auseinandersetzung mit dem Autobiographischen auf eine neue Ebene. In zeitgenössischen Medien wird sie als avantgardistisch beschrieben; noch nie zuvor seien die Regeln des Dekorum so über den Haufen geworfen worden. Emin schockiert mit zerwühlten Laken, benutzten Taschentüchern, Alkohol und Kondomen. In der Installation My Bed, zeigt sie einen rohen, unzensierten Teil ihres Lebens. (Abb. 1) Die Arbeit ist 1998 entstanden, nachdem die britische Künstlerin einen mentalen Zusammenbruch erlebt hat, bei dem sie fast vier Tage alkoholisiert und halb bewusstlos im Bett verbrachte. 5 Unbearbeitet stellt sie nun diese Szene aus – das Rohmaterial aus ihrer Biographie. Das Autobiographische ist in Emins Kunst wegweisend. Mit einer extremen Dringlichkeit thematisiert sie ihre Vergangenheit, ihre Emotionen und Erlebnisse. Ihr Leben und ihr Werk sind so eng verbunden, dass sie nicht getrennt werden können.6 Sie sind ineinander verwoben, bedingen sich und brauchen sich gegenseitig.

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7 Emin 2016. 8 Fanthome 2006, 30. 9 Fanthome 2006, 33. 10 Ein autobiographischer Pakt kommt in der Literatur durch die Identität zwischen Autorin und Hauptfigur (in diesem Fall Künstlerin und Gegenstand des Werks) und die „Bestätigung dieser Identität im Text“ (das entwickelte autobiographische Narrativ) zustande. Lejeune 1994, 14. 11 Smith/Watson 2001, 11. 12 Harding 2003, 59. 13 „If i wake up thinking of some great profund sentence, it can become a neon. Sometimes a sentence can feel good, but it should be sewn, it should be a slow, contemplative thing - and other times I feel like lashing out and that must mean painting and a gestural kind of movement.“ Emin 2013.

„My Art is in me, it’s part of me.(...) If I don’t make art, I become physically and mentally ill; I can’t live.“ 7 Kunstschaffen ist also ihre Überlebensstrategie. Roh und vulgär, extrem persönlich und brutal direkt. Durch die Verwendung verschiedener Medien wie Installation, Malerei, Text, Video, Stoff et cetera thematisiert sie so die traumatischen Erlebnisse ihrer Jugend, ihre Beziehung zu Mutterschaft, Sex und Alkohol.8 Durch den unverhohlenen Umgang mit ihrer Biographie testet sie die Grenzen zwischen privat und öffentlich und stellt Fragen über das Verhältnis zwischen gelebter Erfahrung und Selbstdarstellung. 9 Ebenfalls fordert sie uns heraus, unser Betrachter*innenverhalten zu hinterfragen, indem wir uns teilweise in einer unbehaglichen und beinahe voyeuristischen Position wiederfinden. Wie gehen wir als Betrachtende mit den Informationen um, die sie uns so waghalsig präsentiert? Emin schliesst mit uns einen autobiographischen Pakt und bricht ihn zugleich.10 „Der Pakt impliziert eine Art Anstand für die Begrenzung der Selbstentblößung des Schriftstellers vor den Lesern, als Garantie für die Zuverlässigkeit des Erzählers“.11 Sie setzt auf Ehrlichkeit, Authentizität und Intimität und vermittelt dadurch ihr „wahres Ich“, doch gleichzeitig provoziert sie durch die Grenzüberschreitung ins extrem Private. My Bed zählt zu Emins bekanntesten Arbeiten. Sie hat sich damit 1999 für den Turner Prize beworben.12 In ihrer Eingabe kombiniert Emin das Bett in einer installativen Anordnung mit Zeichnungen, Video und weiteren Memorabilien aus ihrem Leben und spinnt so ein Narrativ aus visuellen und verbalen autobiographischen Strängen. Die Wahl des Mediums hänge von ihrer jeweiligen Stimmung ab, erklärt Emin in einem Interview.13 Die Sprache ihrer Arbeiten unterscheiden sich deshalb stark voneinander. Ich spüre in ihren Zeichnungen (Abb. 3) und Malereien (Abb. 4) eine Unmittelbarkeit, die sich beispielsweise in ihren Werken aus Stoff (Abb. 2) verliert. Diese strahlen hingegen eine Verletzlichkeit oder Behutsamkeit aus, die durch den sorgfältigen Prozess des Nähens entsteht. Ihre Werke werden alle durch einen autobiographischen roten Faden zusammengehalten. Sie strickt eine Geschichte und präsentiert sie uns. Die Autobiographie wird zu ihrem Werk – und umgekehrt.

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Anders als Tracey Emin will ich mit meinen Arbeiten keine


14 Elliot/Schnabel 2008, 17. 15 Ernaux 2011, Einband. 16 Pellin/Weber 2012, 8. 17 Saveau 1999, 147.

Autobiographie schaffen. Ich habe nicht den Anspruch, dass mein Werk meine Lebensgeschichte zusammenfasst und vermittelt. Es geht mir mehr darum, aus meinem Leben zu schöpfen, dort etwas zu finden, was sich in etwas Universelles umwandeln lässt und doch persönlich bleibt. Doch die Arbeit von Emin macht mir Mut, meine Geschichte als Quelle meiner künstlerischen und gestalterischen Auseinandersetzungen ernst zu nehmen. Persönlich sein ist eine Qualität. Man kann Menschen anders berühren, wenn man sich verletzlich zeigt. „that is the role of an artist – to explore themselves, to dive down deep and come back with something that reflects upon all our lives“ 14 Ich glaube ich gebe Etwas von mir, das durch Worte oder Striche verwandelt wird, und so nicht mehr nur mir gehört. Sobald sich die Linien auf dem Papier wiederfinden, erzeugen sie ihre eigene Wirklichkeit, die sich unabhängig von mir, der Autorin, verhält. Es ist klar, dass Persönliches in meinen Geschichten steckt, sie sind aber doch getrennt von mir. „Écrire la vie. Non pas ma vie, ni sa vie, ni même une vie. (......) Je n‘ai pas cherché à m‘ écrire, à faire oeuvre de ma vie: je me suis servie d‘elle, des événements, généralement ordinaires, qui l‘ont traversée, des situations des sentiments qu‘il m‘a été donné de connaître, comme d‘une matière à explorer pour saisir et mettre au jour quelque chose de l‘ordre d‘une vérité sensible.“ 15 Ich verändere die Dinge auch, in dem ich über sie schreibe. Ich erfinde Erinnerungen und forme Eigenschaften, erzähle von Personen, die so nicht existieren. Es hilft mir, Distanz zu meiner Geschichte zu finden. Das Erlebte wird dadurch, wie oben gesagt, zu einer Materie, die erforscht werden will (matière à explorer). Diese Verwandlung findet im Schreibprozess statt, ich übersetze mich, schaffe Versionen. Dort befinde ich mich irgendwo zwischen Autobiographie und Fiktion. „Was Lebenssinn ist, ist nicht mehr in der Selbsterzählung eingeschrieben und zu entdecken, sondern erst durch das Erzählen zu erfinden, zu konstruieren und im dreifachen Sinne des lateinischen Verbes ›fingere‹ zu formen, sich vorzustellen und zu erdichten. Der Autofiktionär erfüllt sich den Traum der literarischen Selbsterschaffung, er schafft sich im Abstand von der Lebensrealität eine neue Existenz.“ 16 Serge Doubrovsky, ein französischer Schriftsteller und Literaturkritiker, verwendet im Vorwort für seinen Roman „Fils“ den Begriff der Autofiktion.17 Er definiert diesen als „Fiktion

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18 Zipfel 2009, 125. 19 Wagner-Egelhaaf 2013, 12 . 20 Gratton 2003, 109. 21 „Wird die Identität nicht behauptet (im Fall der Fiktion), so wird der Leser gegen den Willen des Autors versuchen, Ähnlichkeiten herzustellen; wird sie behauptet (Fall der Autobiographie), so wird er eher nach Unterschieden (Irrtümern, Entstellungen usw.) suchen wollen.“ Lejeune 1994, 28. 22 Wagner-Egelhaaf 2013, 11. 23 Der fiktionale Pakt besagt, dass der Inhalt der Erzählung frei erfunden ist. Er steht im Kontrast zum autobiographischen Pakt. (s. Romanpakt) Lejeune 1994, 31.

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von absolut wirklichen Ereignissen“.18 Ich ordne meine Arbeit unter Autofiktion ein, dort sind Autor*in, Erzähler*in und Hauptfigur nicht identisch, doch durch reflexive Bezüge entsteht eine Verschränkung zwischen Leben und Text.19 Auch Sophie Calle untersucht die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Leben und Kunst. In ihrer Publikation Des Histoires Vraies entwickelt sie in 65 Foto und Textpaaren ein autobiographisches Narrativ. Calle berichtet in chronologischer Reihenfolge über Ereignisse von ihrem neunten bis zum fünfunddreissigsten Lebensjahr. Jedes Paar ist unwahrscheinlich und fiktionsähnlich und zur gleichen Zeit doch „wahr“. 20 In Johnnie Grattons Besprechung von Des Histoires Vraies (True Stories) wird das Buch als Autobiographie gelesen. Sowohl die Bilder als auch die Texte sind klar an ihr Leben gebunden, doch genau diese Beziehung zwischen Leben und Werk wird von ihr hinterfragt. Sie spielt mit unserer Erwartungshaltung, die sie bereits mit dem Titel „Wahre Geschichten“ auflädt. 21 Sind all diese Geschichten denn wirklich wahr? Einige abstruse Elemente lassen uns daran zweifeln. Sophie Calle bietet den Lesenden den autobiographischen und den fiktionalen Pakt an und die Lesenden können nicht entscheiden, welche der beiden gültig ist. 22, 23 Obwohl Calle in ihren Erzählungen auch sehr direkt ist, scheint es mir, dass sie sich von der Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit von Emin entfernt. Sie spielt ein Spiel mit den Betrachtenden; was wird uns gezeigt, was bleibt uns verborgen und wieviel davon ist wahr? Wie Tracey Emin zeigt sie uns Fundstücke aus ihrem Leben, vermeintliches Rohmaterial. Doch die Informationen scheinen mehr kuratiert und erlesen zu sein. Sie spielt mit dem Schein von Bescheidenheit und Unsicherheit – den sie aber in einigen Texten direkt widerlegt. Zum einen zeigt sie sich sehr schüchtern und verletzlich, während sie in anderen Teilen selbstsicher und mutig auftritt (Abb. 5, Abb. 6). Wo bei Tracey der Drang des Produzierens zu spüren ist, nehme ich bei Calle eher einen schlauen Kopf wahr, der im Hintergrund alles genau abwägt. Sie weiss, wo sie sich verbergen und wo sie sich zeigen soll. Sie konstruiert eine Kunstfigur, und regt uns an, nach Ähnlichkeit oder Identität mit der „wahren“ Sophie Calle zu suchen. Dadurch integriert und fesselt sie uns in ihren Erzählungen. In ihren weiteren Arbeiten spioniert und recherchiert sie, und sucht ständig nach Beweisstücken. Sie ist Forscherin und eine Meisterin der Inszenierung, das spürt man auch im Umgang mit ihrer Biographie in den Histoires Vraies.


24 Pellin/Weber 2012, 21. 25 Pellin/ Weber 2012, 25. 26 Die Auseinandersetzung mit der Figur in meiner Geschichte ähnelt der des autobiographischer Romans, wo »der Leser – ausgehend von Ähnlichkeiten [und nicht von Identitäten], die er zu erraten glaubt – Anlass hat zur Vermutung, daß es eine Identität von Autor und Figur gebe, während er, der Autor, es für richtig hält, diese Identität zu leugnen oder sie doch wenigstens nicht zu bestätigen“ Lejeune 1994, 26. 27 Fernando Pessoa zit. nach Pellin/Weber 2012, 26. 28 Louise Colet zit. nach Pellin/Weber 2012, 26. 29 Friedrich Nietzsche zit. nach Pellin/Weber 2012, 26.

Doch wo Calle mit dem Effekt der Selbstinszenierung spielt, verwirrt und teilweise auch provoziert, brauche ich das Vorgehen der Autofiktion mehr als Rückzug. Meine Arbeit ist nicht provozierend und auch nicht ironisch. Vielmehr will ich die Bilder und Sätze eher dezent für sich sprechen lassen, ohne meine Person in den Vordergrund zu stellen. Sie sollen ein Gefühl vermitteln und eine Stimmung generieren, die die Betrachtenden aus ihren Leben wiedererkennen. Die Übersetzung meiner Erfahrungen soll als Auslöser für eigene Erinnerungen der Lesenden fungieren. Zu Beginn schrieb ich direkt an ein „du“. Es waren wohl Briefe. Fragend, forschend, vorwurfsvoll und trauernd legte ich meine Erlebnisse aus und adressierte sie an „dich“. Es war unsere Geschichte und nicht für Aussenstehende gedacht. Die Texte waren privat. Es fehlte ihnen der künstlerische Anspruch. Ich habe da die Personalpronomen verändert, ein Erzähl„Ich“, eine Erzähl-„Sie“ erschaffen, die mir die Freiheit und den Raum gab, von meinem Leben abzuweichen. Sie löste sich nach und nach von mir ab. Ich formte ihre Emotionen und legte ihr Worte in den Mund. Calles Schreiben inspirierte mich dazu, persönliche Erinnerungen zu erfinden, die theoretisch meine sein könnten - die aber nie geschehen sind. Paul de Man verzichtet in seinem Essay Autobiographie als Maskenspiel generell darauf, zwischen Autobiographie und Fiktion zu unterscheiden, da es schlicht „unentscheidbar“ sei. 24 „ Alles Schreiben ist, in mehr oder weniger hohem Grade, autobiographisch (...), und alles Schreiben, auch das dem Faktischen verpflichtete, enthält fiktionale Spuren.“ 25 Ich wurde zur Erzählerin, spüre meine (autobiographische) Essenz aber noch in der Hauptfigur. Ich mag die Ambivalenz zwischen mir und ihr. Sie ist mir nahe und doch komplett fremd, wir verschmelzen miteinander und bleiben darin völlig getrennt. 26 „Ich bin weitgehend die Prosa, die ich schreibe. Ich entfalte mich in Sätzen und Passagen, ich bin mein Punkt und mein Komma [...]. Ich bin eine Romangestalt geworden, ein gelesenes Leben.“ 27 „C’est une délicieuse chose que d’écrire! Que de ne plus être soi, mais de circuler dans toute la création dont on parle.“ 28 „Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen in uns: der Dichter verrät sich in seinen Gestalten.“ 29

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30 Meyer 2007.

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Im Zeichnen versuche ich ihre Stimmung auszudrücken. In Szenen der Vergangenheit soll Melancholie mitschwingen, es sind Augenblicke, die erinnert, die vergessen werden. Es sind Erinnerungen, die geteilt wurden und nun andere Wege gehen, die sich nun verändern und verblassen. Die Momentaufnahmen und szenischen Bildausschnitte sollen eine Ambivalenz generieren. Ich möchte ein Vermissen, ein Erinnern, aber auch diesen bitteren Beigeschmack zeigen - den Rückblick, der verständlich macht, dass nicht alles rosig war. Das Zeichnen finde ich manchmal schwierig, meistens habe ich weniger ein Bild im Kopf, sondern eher ein Gefühl, das ich ausdrücken möchte. In meiner Vorstellung ist diese Stimmung sehr klar und stark spürbar. Die Übersetzung auf Papier fällt mir schwer. Wie kann ich ein Gefühl bildlich darstellen? Ich fürchte mich jeweils davor, banal zu sein. Ich wünsche mir eine poetische Andeutung, einen Hauch, der aber nicht sofort erkennbar ist. Der sich nicht nur im Motiv selbst gespiegelt, sondern auch in der Szene und Komposition, im Strich und in der Fläche erkennbar macht. „ Zeichnen ist eine Art Pendeln. Gleich der Bewegung einer Schwingtür, die zwischen Innen und Aussen vermittelt, ihren eigenen Rhythmus findet und allmählich in den Zustand der Ruhe zurückfindet, wenn man sie ihren eigenen Bewegungen überlässt [...]. So wird das, was sich für mich in der Sichtbarkeit und dahinter verbirgt, durch Zeichnen transparent.“ 30 Wörter wirken irgendwie viel schneller persönlich. Zeichnungen haben noch einen Filter, eine Wand, den Strich, der sie schützt. Sie haben mehr Spielraum, indem die Betrachtenden sehen können, was sie möchten. Der Text ist hart und gesetzt. Ich muss ihn fragmentieren, ihn nur das nötigste erzählen lassen. Bild und Wort sollen miteinander harmonisieren und eine neue Welt erschaffen. Die gesetzten Sätze bilden einen Rahmen, sie wechseln die Perspektive und erzählen uns mehr über die Person, durch deren Blick wir die Bildwelt wahrnehmen. Sie sollen die Geschichte leiten, die Bildfragmente, Augenblicke verbinden und eine Erzählung andeuten, die evokativ funktioniert. Die Geschichte, die entsteht, soll offen sein und doch verborgen bleiben – der fragmentarische Aufbau soll der betrachtenden Person Platz für ihre eigenen Erinnerungen geben. Ich suche auch in den Texten nach der Melancholie des Weitergehens, des Auseinandertreibens, des Veränderns. Wie kann ich diese Gefühle in Worte verpacken? Wie erklärt man das am besten, wenn die Liebe plötzlich ausbleibt? Ich schöpfe aus autobiographischem Material, um diese Fragen zu thematisieren.


31 „Er“ ist die männliche Figur, die fortwährend in meinen Zeichnungen auftaucht. „Er“ ist die zweite Hauptfigur meiner Geschichte.

In vielen meiner Zeichnungen spürt man das Autobiographische nicht so direkt. Es sind eher offene Motive, die für die meisten zugänglich sind. Ein Bett, eine Bank – jede*r kann sich an diesen Orten wiederfinden und doch bekommen die Zeichnungen durch den geführten Blick eine Genauigkeit, die klar eine persönliche Geschichte vermittelt. „Er“verankert die Zeichnungen in der Erzählung. 31 Durch ihn wird deutlich, dass es sich um eine spezifische Beziehung handelt. Ich denke, es macht die Bilder persönlicher und steigert die autobiographische Wirkung. Die handgeschriebenen Fragmente bewegen sich zuerst auf der Ebene der Zeichnungen, werden also auch als Zeichnungen, „Einritzungen“ angesehen, erst bei genauerem Hinschauen laden sie zu einem Lesen des Textes ein. Zuerst funktionieren sie so zeigend und erst danach erzählend. Diese Fragmente sind im „Ich“ geschrieben, denn sie gehören zu den Bildern, die „ihre“ Augen sehen, sind Gedanken und Wünsche, die damit einhergehen. Obschon sich dieses „Ich“ weder mit dem „Ich“ der Erzählerin und Zeichnerin, noch meinem „wahren Ich“ gleichsetzen lässt, so wirken diese Textfragmente, speziell durch die Handschrift, doch sehr persönlich und verlangen eine autobiographische Leseweise. Es sind jedoch Sätze, die meiner Hauptfigur entspringen und sich insofern von mir entfernen, wie auch „Sie“ sich von mir unterscheidet. Ich drücke meine Erlebnisse zeichnerisch ganz anders aus als beispielsweise Tracey Emin. Beide bilden wir Augenblicke ab, Erlebtes, Szenen der Vergangenheit. Ich nehme mir mehr Zeit und konstruiere einen Blick, der filmisch funktioniert und Distanz mit sich bringt, während sie sehr expressiv arbeitet und mehr die Linien, den Duktus, sprechen lässt. Sie bringt die Gefühle direkt aufs Papier. Das Zeichnen ist für mich in dieser Arbeit nicht therapeutisch. Ich überlege mir gut, was ich zeigen will und wie ich es zeigen könnte – ich suche nach passenden Motiven und nach der passenden Technik. Ich zeichne normalerweise nicht so, aber das Bleistift und der naturalistische Stil passen für mich am Besten zum Inhalt. Der Graphit funktioniert als zartes Medium, ist radierbar, veränderbar und erzielt doch starke Kontraste. In den Bleistiftlinien liegt etwas Suchendes. Der Naturalismus dagegen konkretisiert die Zeichnungen und verankert sie in der Realität. In der gleichen Realität, die ich durch die Trennung zu spüren bekommen habe. Mit meinen üblicherweise verspielten und kindlichen Illustrationen diese Gefühle zu zeichnen, wäre für mich zu plakativ und

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32 Bachelard 1960, 214f.

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banal gewesen. Die Geschichte braucht die Ernsthaftigkeit meiner Bleistiftzeichnungen. Das Sujet ist jeweils sehr statisch, genau so gewählt, weil es eine Bedeutung transportieren soll. In meinen Arbeiten spürt man deshalb nicht die rohe Emotion, sondern eher den vorsichtigen Aufbau einer Geschichte. Die Zeichnungen sind unfertig und die Spuren des Radiergummi gut ersichtlich, ich taste mich so an die Geschichte heran, konstruiere sie langsam und bedacht. Meine Bild-Text Kombinationen bedeuten mir auch etwas Anderes als beispielsweise die Foto-Text Paare bei Calle. In ihren Fotographien sehe ich die Requisiten abgebildet, die für ihre Geschichten benötigt werden. In meinen Bildern möchte ich eher eine Bühne erschaffen. Einen Rahmen, indem die Handlungen geschehen können. Sie sollen nicht die Texte spiegeln, sie direkt wiedergeben – vielmehr sollen sie harmonisieren, sie öffnen, und weitertragen. Über das Zeichnen und auch Schreiben finde ich einen Zugang zu einer „inneren Unermesslichkeit“. „So paradox das erscheinen mag, oft ist es diese innere Unermesslichkeit, die gewissen Ausdrücken für die äussere, unseren Augen gebotene Welt erst ihren eigentlichen Wert gibt.“ 32 Das Autobiographische als Ursprung zu nehmen macht Sinn; Wir fangen fast immer bei uns selbst an und landen meist auch wieder da. Alles, was ich sehe und erlebe, ergibt erst durch meine Geschichte eine Bedeutung, durch meine Erfahrungen und Erlebnisse kann ich Dinge fühlen und einordnen. Ich bin immer Teil einer Geschichte – eines Kunstwerkes – wenn ich mich darauf einlasse; sei es, wenn ich mir die Kunst von Tracey Emin anschaue, die Geschichten von Sophie Calle lese oder selbst mein Erlebtes auf Papier bringe. So wird auch meine Geschichte mit den Geschichten der Betrachtenden geteilt. Ihre Erfahrungen fliessen ins Lesen meiner Texte ein, in die Interpretation meiner Zeichnungen. Ihre Biographien füllen die Lücken, die ich in meiner offen lasse.


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Abb. 1 Tracey Emin, My Bed, 1998, Installation: Matratze, Leintücher, Kissen und Objekte Abb. 2 Tracey Emin, Everyone I Have Ever Slept With, 1995, Applikationen auf Zelt Abb. 3 Tracey Emin, Everybodies Been There, 1998, Lithographie, 20cmx25cm

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Abb. 4 Tracey Emin, You Kept Watching Me, 2018, Acryl auf Leinwand Abb. 5 Sophie Calle, La robe de mariée in Des Histoires Vraies, 1994, Publikation mit Text und Fotographie

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Abb. 6 Sophie Calle, Le strip-tease in Des Histoires Vraies, 1994, Publikation mit Text und Fotographie

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Quellen: Bühler 2009 Kathleen Bühler, Autobiographie als Performance: Carole Schneemanns Experimentalfilme, Marburg: Schüren 2009. Bachelard 1960 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München: Carl Hanser Verlag 1960. Elliot/Schnabel 2008 Patrick Elliott und Julian Schnabel, Tracey Emin 20 Years, National Galleries of Scotland 2008. Emin 2013 Smtm: Entertainment, Five Minutes with: Tracey Emin, 10.11.2013 (https://www.youtube.com/watch?v=fjExMcu-Yj8, 11.06.2022.) Emin 2015 Tate, Tracey Emin’s My Bed at Tate Britain, Interview mit Tracey Emin, 30.03.2015 (https://www.youtube.com/ watch?v=OD8yjJZdEOw, 04.06.2022.) Emin 2016 Art Basel, Real Talk: Tracey Emin, 29.03.2016 (https://www. youtube.com/watch?v=oT1A9kd9jmk, 04.06.2022.) Ernaux 2011 Annie Ernaux, Écrire la vie, Paris: Quarto Gallimard 2011. Fanthome 2006 Christine Fanthome, „The Influence and Treatment of Autobiography in Confessional Art: Observation on Tracey Emin’s feature Film „Top Spot““ in Biography (Vol.29, No.1), Hawai’i: University of Hawai’i Press 2006, 30-42. Gratton 2003 Johnnie Gratton, „Review: Sophie Calle’s True Stories: More of the Same?“ in Paragraph (Vol.26, No.3), Edinburgh: Edinburgh University Press 2003, 108-122.

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Harding 2003 Anthony John Harding, „Wordsworth’s „Prelude“, Tracey Emin, and Romantic Autobiography“ in The Wordsworth Circle (Vol.34, No.2), Chicago: The University of Chicago Press 2003, 59-65.


Lejeune 1994 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Meyer 2007 Nanne Meyer, Bei Nanne Meyer, Atelierbesuche mit der Berlinischen Galerie, Eintrag von Türschmann (http://radio-weblogs.com/0109045/2007/05/10.html, 11.06.2022.) Pellin/Weber 2012 Elio Pellin, Ulrich Weber, „...all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs“, Autobiographie und Autofiktion, Göttingen: Wallstein Verlag 2012/Zürich: Chronos Verlag 2012. Saveau 1999 Patrick Saveau, „ Autofiction n’est pas invention: le cas Doubrovsky“ in Dalhousie French Studies (Vol.48), Dalhousie University 1999, 148-153. Smith/Watson 2001 Sidonie Smith, Julia Watson, „The Rumpled Bed of Autobiography: Extravagant Lives, Extravagant Questions“ in Biography (Vol.24, No.1), Hawai’i: University of Hawai’i Press 2001, 1-14. Wagner-Egelhaaf 2013 Martina Wagner-Egelhaaf, Auto(r)fiktion, Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2013. Zipfel 2009 Frank Zipfel, „ Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“ in Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Berlin: 2009, S. 85 - 314.

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Weiterführende Literatur: Calle 2002 Sophie Calle, Sophie Calle, hrsg. von Sprengler Museum Hannover, Köln: König 2002. Calle 2020 Sophie Calle, Wahre Geschichten, Berlin: Suhrkamp Verlag 2020. Crawford/Emin 1997 Mairtin Crawford und Tracey Emin, „ An Emin-ent Artist“ in Fortnight (Vol.8, No.367) Fortnight Publications Ltd. 1997, 4041. Erben/Zervosen 2018 Das eigene Leben als ästhetische Fiktion, Autobiographie und Professionsgeschichte, hrsg. Von Dietrich Erben und Tobias Zervosen, Bielefeld: transcript Verlag 2018. Kittner 2015 Alma-Elisa Kittner, Die visuelle Autobiographie in der bildenden Kunst“ in Die Biographie - Mode oder Universalie?: Zu Geschichte und Konzept einer Gattung in der Kunstgeschichte, Berlin, München, Boston: De Gruyter, 2015, 255-266. Moser/Nelles 2006 Christian Moser und Jürgen Nelles, AutoBioFiktion, Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2006. Zweers 1992 A. F. Zweers, „ An Autobiography, is an Autobiography, is an Autobiography“ in Canadian Slavonic Papers/ Revue Canadienne des Slavistes (Vol.34,No.4), Taylor&Francis Ltd. 1992, 487-492.

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Abbildungsverzeichnis: Abb. 1 Tracey Emin, My Bed, 1998, Installation: Matratze, Leintücher, Kissen und Objekte. (Widewalls: https://www. widewalls.ch/magazine/tracey-emin-my-bed, 12.06.2022.) Abb. 2 Tracey Emin, Everyone I Have Ever Slept With, 1995, Applikationen auf Zelt. (Artstor: https://library.artstor.org/ asset/28251624, 12.06.2022.) Abb. 3 Tracey Emin, Everybodies Been There, 1998, Lithographie, 20cmx25cm, White Cube Gallery. (Artsy: https://www. artsy.net/artwork/tracey-emin-everybodies-been-there-2, 12.06.2022.) Abb. 4 Tracey Emin, You Kept Watching Me, 2018, Acryl auf Leinwand, White Cube Gallery. (Forbes: https://www.forbes. com/sites/felicitycarter/2019/02/06/love-sex-death-andfear-courtesy-of-tracey-emin-in-her-latest-exhibition-afortnight-of-tears/?sh=2627e95d5d2b, 16.02.2022.) Abb. 5 Sophie Calle, La robe de mariée in Des Histoires Vraies, 1994, Publikation mit Text und Fotographie. (Le Blog de Fabien Ribery: https://lintervalle.blog/2018/02/05/des-histoires-vraies-les-microfictions-de-sophie-calle/, 13.06.2022.) Abb. 6 Sophie Calle, Le strip-tease in Des Histoires Vraies, 1994, Publikation mit Text und Fotographie. (Le Blog de Fabien Ribery: https://lintervalle.blog/2018/02/05/des-histoires-vraies-les-microfictions-de-sophie-calle/, 13.06.2022.)

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Dokumentation

An diesem Tag war alles grell.



Ich will zeichnen und schreiben, das steht fest.

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Doch worüber? Im Schnee überlege ich mir, was mich interessiert: Ich/Sie Erleben des Alltags Liebe Erwartungen, Verantwortung Älter/Erwachsenwerden Freundschaft Beziehung Zeit Briefe Kindheit Eintrag aus meinem Kick-Off Notizheft: Ich möchte. Ich möchte Zeichnen und Spass haben und auch Schreiben obwohl ich es nicht so gut kann. Ich möchte mich weiterentwickeln und kritisch sein zu meinen Zeichnungen, die ich sonst so schnell ins Herz schliesse. Ich möchte interessiert sein an Form und Farbe und an Kinderzeichnungen. Ich möchte etwas machen, dass nicht nur mich aber mich im Speziellen interessiert und beschäftigt. Ich möchte mich mit mir und ihr beschäftigen. Und mit den anderen Personen, die wir erfinden. Ich möchte noch kein Endprodukt festlegen, sondern klein und gross sein.

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Ich lasse mich von meinen abgeschlossenen Arbeiten inspirieren: Was möchte ich nochmals untersuchen - was vertiefen? Was hat mir gefallen, wo möchte ich mich weiterentwickeln? Ich möchte meine Zeichnungssprache verfeinern: Die Kritik zu meinem Semsterprojekt (Rössli und Velo Zines) regt mich an, meine Zeichnungen zu überdenken. Die Illustrationen seien entweder zu banal und zu oberflächlich oder aber zu wenig verspielt. Wennschon, dennschon - hiess es. Ich kann es verstehen: ich möchte nun meine Zeichnungen vertiefen, präzisieren, dran bleiben. Ich möchte, dass in dieser Arbeit die Zeichnungen etwas bedeuten. In einer anderen Arbeit finde ich eine neue Zeichnungsstrategie: Metamorphisches Zeichnen. Ich lasse mich von Bild zu Bild lenken und weitertreiben - es entsteht ein Fluss, die Zeichnung lenkt mich. Ich möchte diese Idee als Arbeitsstrategie verwenden. Zeichnend und schreibend will ich so folgendermassen vorgehen: über die Zeichnung schreiben, über das Geschriebene zeichnen, dies soll beide Bereiche auf eine metareflexive Ebene bringen. Das Kick Off- Wochende ist vorbei, ich bin motiviert.

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KONZEPT NUMMER 1 Die Zeichnung ist mein präferiertes Medium - sie ermöglicht einen künstlerischen Prozess, der mir Spass macht und mich motiviert. Da ich mich so aber auch in meiner Komfortzone bewege, fällt es mir schwer, meine Zeichnungen kritisch zu reflektieren, sie zu präzisieren und weiterzuentwickeln. Basierend auf zwei Zines (Rössli und Velo), die meine zeichnerischen Stile ansatzweise sammeln und bereits mein Interesse am Kindlichen, Naiven und Fantasievollen andeuten, möchte ich mich in meiner Bachelorarbeit spezifischer auf meine Zeichnungen fokussieren. Ich möchte in einem prozesshaften Arbeiten meine „bisherige, automatisierte“ Arbeitsweise reflektieren, bewusst verändern und dadurch einen Ausbruch aus meiner zeichnerischen Komfortzone wagen. Dabei soll mich das Schreiben über die Arbeit und deren Inhalt begleiten. HINTERGRUND Ich mag es, dass die Zeichnung die Wahrheit dehnen kann. Ich mag es, wenn etwas nicht ganz stimmt, Proportionen sich verändern, das Unmögliche möglich wird. Ich mag es, wenn Pferde auf Velos fahren. Durch meine Arbeit in einer Tagesschule bin ich stets im Austausch mit Kindern und zeichne und bastle oftmals mit ihnen. In ihren Zeichnungen sehe ich die Fantasie und Neugierde, die auch mich in meiner eigenen künstlerischen Arbeit begleiten. Ich würde behaupten, dass Kinder den Alltag intensiver wahrnehmen,, dass sie alternative Welten schaffen und vollends in diese eintauchen können.(Geheimschriften schreiben, Pläne erfinden, Gebilde basteln etc. die zu ihrer Realität werden.) Ich sehne mich oft nach diesem kindlichen Leben zurück, danach, dass Dinge einfach Spass machen. So möchte ich mich in meiner Arbeit etwas machen, was den Alltag von Erwachsenen auflockert und uns in diese lustvolle Zeit zurücktransportiert. VORGEHEN/ STRATEGIE: VON MENSCHEN UMGEBEN Wie unterscheidet sich der Alltag einer erwachsenen Person von dem eines Kindes? Was ist jeweils wichtig, welche Sorgen, welche Glücksmomente entstehen? Wo sind Schnittstellen, wo ergibt sich Potenzial die beiden Welten zu vereinen und davon zu profitieren? In der Tagesschule und an anderen öffentlichen Orten möchte ich durch diese Fragen zeichnend und schreibend ein Grundgerüst für meine Arbeit sammeln, auf das ich später mit kindlicher Motivation reagieren möchte.( Lösungen finden, Geschichten stricken, Karten zeichnen...) In kleinen Heften, möchte ich meine Umwelt so analysieren und sammeln. Diese Zeichnungen möchte ich später vergrössern, verkleinern, weiterdenken, kopieren, in andere Medien umwandeln etc. Ich zeichne selten etwas ab und sitze meist alleine im Atelier. Deshalb möchte ich meine Arbeit mit einer für mich ungewohnten Strategie beginnen, die mich hoffentlich zu neuen Ergebnissen und Einsichten bringt.

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SCHREIBEND ZEICHNEN In meiner letzten Jahresarbeit habe ich einen spannenden Dialog zwischen Text und Objekt gefunden, indem ich Texte, Beobachtungen und erfundene Geschichten über mich und die Pilze bzw. mich und meine Arbeit geschrieben habe. So habe ich gleichzeitig den Inhalt, wie auch meine künstlerischen Prozesse hinterfragt und mich mit Erwartungen und dem Scheitern auseinandergesetzt. Diese Reflexion hat mich persönlich und künstlerisch gefordert und weitergebracht. Ich möchte diese Strategie nun auf den zeichnerischen Prozess meiner Bachelorarbeit anwenden.

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Zuhause wartet eine schlechte Nachricht auf mich...

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Zeichnend und schreibend untersuche ich nun alltägliche Orte und Situationen. Ich zeichne im Museum, in der Tagesschule, im Kaffee, im Bus: notiere mir Sätze, die ich aufschnappe - alle Leben sind so verschieden. Ich denke immerzu an meins... Privat passiert bei mir grad so einiges.

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Ich kann mich nicht mehr auf das fröhliche Thema konzentrieren und beschäftige mich stark mit mir selbst und wie bestimmte Dinge in meinem Leben passiert sind. Ich ändere mein Konzept. KONZEPT 2 Was in der Welt passiert unterscheidet sich von Person zu Person. Was wichtig ist, was richtig ist, das sieht für alle etwas anders aus. Ich möchte den Moment untersuchen, indem sich eine Realität formt, die zum einen so subjektiv ist und trotzdem alles ist, was zählt. Durch Erlebtes, Ängste, Zweifel, Liebe etc. Verändern wir jeden Moment in unserem Leben. Zwei Menschen sehen das Gleiche und erleben Gegensätzliches. Dieser Gedanke verwirrt mich. Ich beobachte meine Übersetzungen der Welt. In meinem Schreiben und Zeichnen erkenne ich, dass ich die Realität durch meinen Blickwinkel verändere. Erlebnisse spiegeln sich durch meine Wahrnehmung und Werte. Alles ist mit meinen Gedanken verknüpft. Ein Journal soll mir helfen, meine Subjektivität zu untersuchen. Wer ist die Person, über die ich schreibe? Sie hat dasselbe erlebt wie ich und unterscheidet sich doch durch die Worte auf dem Bildschirm grundsätzlich von mir. Ich editiere mein Leben, erschaffe einen Charakter. Ich bin sie, doch sie ist fremd. Wer warst du für mich und für sie, und was bedeutet das für den Rest der Welt? (Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Übersetzung etc) Ich möchte so probieren mein oder ihr Leben durch ihre Augen sehen. Was passiert in ihren Realitäten? Wer bin ich da? Den kindlichen Blick möchte ich als Strategie, das Innere Kind als Ausgangspunkt verwenden. Wie spreche ich mit ihm und wie übersetze ich seine Bedürfnisse?

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Dann ist es vorbei.

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Plötzlich dreht sich meine Welt. Ich entscheide mich dafür, mein Leben in meine Texte einfliessen zulassen. Das schreiben tut mir gut. Meine Geschichte nimmt mehr und mehr Platz ein, bis sie zum Thema meiner Arbeit wird. Ich merke, dass sie eigentlich alles beinhaltet, was mich schon beim Kick-off interessiert hat. (Liebe, Ich/Sie, Erleben des Alltags, Erwartungen, Verantwortung, Älter/Erwachsenwerden, Freundschaft, Beziehung, Zeit, Briefe, Kindheit) --> Ich schreibe und zeichne also zum Thema Trennung, zu mir und dir und was davon übrig geblieben ist.

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Schreiben

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Ich schreibe alles auf, ich sammle meine Gedanken sorgfältig, lege sie vor mir aus und sortiere sie. Was möchte ich dir noch sagen, wo schaffst du es immer noch mein Herz zu erwärmen? Ich schreibe oft unterwegs - im Tram oder bei der Arbeit halt da, wo du mir in den Sinn kommst. Am Anfang war das überall. Diese Texte sind Briefe, Fragmente, Erinnerungen. Oftmals sind es nur Sätze, manchmal kurze Erzählungen, zum Teil kleine Nachrichten. Sie sind sehr persönlich aber unterscheiden sich stark von den Einträgen in meinem Tagebuch. Ich schreibe da anders. Ich benutze mein Handy um meine Gedanken festzuhalten.

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Die ersten Texte sind sehr persönlich. Ich fürchte mich davor, mit diesem Material zu arbeiten. Mit Francesco bespreche ich den Unterschied zwischen Privat und Persönlich. im Persönlichen können wir uns Wiedererkennen, es kann universell sein. Privat sind Details, die wir nicht wissen wollen, die eine Grenze überschreiten - damit kann das Publikum dann wenig anfangen, weil es zu spezifisch ist. Ich bleibe persönlich und sammle Material, welches ich in einem zweiten Schritt editieren und „ zensieren“ und später vermitteln möchte. Die meisten Texte schreibe ich im Du. Einige schreibe ich bereits in Sie/Er - vor allem die Sätze - das mache ich schon lange so, jeden Tag schreibe ich einen Satz. Ich interessiere mich dafür, wie diese Sätze mein Leben anders wirken lassen. Wie verändert sich meine Beziehung zu dir, wenn ich von aussen über uns schreibe? Mich interessiert es wie man eine Geschichte schreiben erfinden kann über sein eigenes Leben. Man erfindet eine Person, die dasselbe erlebt hat und verändert sie so, dass sie nicht ich ist. Was macht denn ich aus? Die Rolle der Kinder soll nun konkretisiert werden. Passen sie überhaupt noch zum Thema? Die Idee war, mit einem kindlichen Blick die Welt wahrzunehmen. Meine Geschichte ist aber viel ernster und trauriger. Ich fühle mich nicht mehr so naiv... Ich lasse diesen Aspekt der Arbeit weg. —> Luzia Wanz (Masterthesis, Mut um Persönliches zu thematisieren) —> Emma Louise Fankhauser (zeichnen und schreiben) —> Kindergedichte von Francesco Micieli (kindlicher Blick, Erwachsene)

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Ich schreibe weiter. Was will ich mit den Texten? Momentan erinnern sie an ein Journal einer Trennung, es sind Erinnerungsfragmente Die Texte sollen jetzt gefiltert und gesiebt werden, mit den Sätzen will ich Inseln bauen, sie zusammensetzen zu neuen Formen, sie in neue Umgebungen bringen. Eventuell kann man aus den kurzen Sätzen längere Texte konstruieren - ich bin mir noch nicht sicher welche Form die Texte schlussendlich haben sollen. Schriebe ich einen Roman, Kurztexte oder bleiben es doch Fragmente? Einigen Stellen funktionieren besser, wenn sie in fragmentarische Sätze herunter gebrochen werden (Wie viel braucht es wirklich?) Francesco meint, dass einige Elemente zu konkret sind und die Lesenden nicht so sehr abholen können: Beispiel: Die Situation mit der Fahrprüfung ist nicht für viele zugänglich. Es ist ein Detail, welches man eventuell streichen könnte. Was lasse ich dafür stehen? Sie haben sich am Abend ein Sorbet geteilt: Dieser Satz erschafft ein Bild - erzeugt eine Stimmung. Für mich ist es schwierig, diese feinen Unterschiede zu erkennen. Ich bin noch so nahe dran an meiner Geschichte. Ich spiele mit den Sätzen: montiere, verbinde und verändere sie. Ich wandle alle Texte in die dritte Person um. Obschon das „Ich“ auch eine literarische Figur ist, tut den meisten Texten die Distanz durch eine „Sie“-Figur gut. Einige Texte brauchen noch mehr Abstand: ich verändere die Zeit in die Vergangenheit um auch durch den Zeitmodus Distanz zu schaffen. Die Hauptfigur löst sich von mir... Bis jetzt entstehen die Texte auf dem Handy oder Computer: Ich probiere in Handschrift zu schreiben, wie verändert sich der Text? —> Tanja Schwarz (persönlich)

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Einige Texte nenne ich „die Fotoalbum Momente“, sie lösen nicht so viel aus und sind zum Teil etwas banal. (Geburtstag) Besser ist es, wenn in den Texten poetische Bilder entstehen, die noch Dinge unklar lassen, die eine Ambivalenz in sich tragen. Die Texte funktionieren gut, wenn dazwischen etwas ausgelassen wird - wo etwas passiert, das die Lesende Person nicht weiss. Beispiel: sie mag ihn nicht, ihre Gespräche sind eintönig warum küssen sie sich? Es gibt einzelne Sätze, mit denen man sich identifizieren kann (Es tut mir leid, nach wie vor blieb jegliche Reaktion ihres Körpers aus) —> Sophie Calle, Wahre Geschichten (spielt damit, was stimmt und was nicht) Ich erfinde jetzt Erinnerungen. Die Geschichten von Sophie Calle inspirieren mich, freier mit meinen Erinnerungen umzugehen. Ich stelle mir vor, was „ sie“ noch alles erlebt haben könnte, wie „ sie“ fühlt und was „ sie“ wohl sagt. Ich beschäftige mich mit Autofiktion. Bis jetzt bleiben es Fragmente - ich schreibe immer noch weiter...

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Zeichnen

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Ich zeichne lange Zeit nicht. Es überfordert mich, denn ich habe bereits soviel geschrieben. Was könnte ich nun dazu zeichnen? Doppelungen will ich unbedingt vermeiden. Die Texte blockieren mein Zeichnen, sie erschaffen bereits klare Bilder und erschweren mir dadurch, etwas Neues hinzufügen zu können. Ich schaue auf meine Arbeiten zurück, bei denen ich ähnliche Thematiken bearbeitet habe. In meiner ersten Jahresarbeit untersuche ich, wie ich das Gefühl der Angst malerisch darstellen kann. In der Weiterführung meiner zweiten Jahresarbeit setze ich mich mit der Beziehung zwischen Pilz und Mensch und der Beziehung zwischen mir und meinem Arbeiten zeichnend und schreibend auseinander.

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Ich merke, dass ich den Text während dem Zeichnen vergessen muss. Ich muss mich einfach auf das Gefühl konzentrieren, auf die Stimmung, die ich erzeugen möchte. Es geht mir um Melancholie. Um das Weitergehen, Loslassen, Aufgeben. Es geht mir darum, eine Ambivalenz darzustellen - ein Vermissen, eine Traurigkeit, ein Bedauern - aber gleichzeitig auch die unschönen Momente der Beziehung aufzuzeigen. Einen Rückblick zu schaffen, der die Erinnerungen in einem neuen Licht erscheinen lässt. Als ich zu zeichnen beginne, stoppt mich das weisse Blatt. Ich entscheide mich im Heft zu arbeiten, das nimmt mir den Druck und die Angst vor der Leere. Ich schränke mich früh im Medium ein: Ich benutze Tusche und einen weichen Bleistift. Für mich passen diese Stifte zum Thema, sie sind irgendwie düster und ernst. Aber trotzdem recht lebendig und wandelbar. Ich zeichne...

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Im Skizzenbuch thematisiere ich oft mich. Ich benutze Fotovorlagen oder zeichne aus der Erinnerung. Ich habe den Drang mich irgendwie zu verstehen. Durch abstrakte Formen versuche ich instinktiv Gefühle und Gedanken auszudrücken. Manchmal sind die Zeichnungen sehr symbolisch - die funktionieren nicht. Es ist dann sehr banal und langweilig. Einige sind zu Comic-haft - zu plakativ. Ich zeichne auch ihn oder uns zusammen. Ich zeichne die letzen Momente mit ihm und die Ersten ohne ihn. Im Prozess schreibe ich oftmals kurze Sätze oder Gedanken dazu. Ich möchte nun konkreter werden und entscheide mich dafür, konkrete Szenen aus dem Leben zu zeichnen. Aus meinem Leben, aus meiner Sicht: Welche Bilder sind das, die momentan effektiv meine Gefühle begleiten, wie schaue ich in die Welt hinaus? Die Protagonistin soll selbst also nicht vorkommen - ausser in Spiegeln. So möchte ich den Blick auf die äussere Welt durch die Inneren Gefühle beeinflussen (der Fokus auf das Motiv - was sieht sie, wenn sie an ihn denkt? Im Zug, im Spiegel etc. - diese Orte werden durch ihre Geschichte/ihre Gefühle verwandelt) Andererseits möchte ich auch Szenen zeichnen, die Erinnerungen auslösen (also umgekehrt, Orte die ein Gefühl auslösen). Ich vergrössere das Format auf A4, es entstehen erste „konkrete“ Zeichnungen. Ich arbeite mit Fotomaterial. Anfangs zeichne ich vor allem ihn. Danach konzentriere ich mich auf Orte, in denen seine Abwesenheit spürbar ist.

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Ist das hier eigentlich zu persönlich? Das Autobiographische ist die Ausgangslage für etliche künstlerische Auseinandersetzungen und total legitim! Björk David B. Julie Doucets Nando von Arb Oskar Kokoschka Tracey Emin Mirjam Cahn Sophie Calle Julia Weber Knausgard Marianne Satrapi Eva Aeppli Niki de Saint-Phalle Louise Bourgeois Hannah Höch Marina Abramovic Frida Kahlo Yoko Ono Käthe Kollwitz Charlotte Salomon Annie Ernaux etc.....

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Wie kann ich Bilder erzeugen, die aufgeladen sind mit persönlichen Ereignissen, die aber für alle zugänglich sind. Wo erkennen sich Menschen in meinen Erinnerungen? Sind es überhaupt meine Erinnerungen oder konstruierte Bilder für Ihre Geschichte. Wer ist sie, wer ist ich? Um eine stimmungsvolle Raumsituation zu schaffen muss ich die Kontraste erhöhen. Ich arbeite dunkle Flächen in die Zeichnungen ein, arbeite mit Licht und Schatten - auf Photoshop verstärke ich die Kontraste abermals. So unterscheiden sich meine Originale von den „fertigen“ Bildern, die erst nach der digitalen Bearbeitung im Buch verwendet werden. Ich spiele mit den Möglichkeiten des Radiergummis. Ich lasse Linien verschwinden und nur noch die verwischten Spuren eine Präsenz andeuten. Die Überbleibsel des Radiergummi arbeite ich extra in die Zeichnung mit ein - sie unterstreichen das Suchende in meiner Erzählung.

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Ich suche nach Bilder für Gemeinsamkeit, wie beispielsweise Zahnbürsten, Gläser oder ein paar Schuhe vor der Haustür. Diese alltäglichen Details zeigen das Fehlen, die Abwesenheit einer Person. Sie sind bedeutsam für meine Liebesgesschichte. Einige Zeichnungen sortiere ich sofort aus. Viele Motive sind nicht genug stark um die ganze Fläche der A4 Seite für sich zu beanspruchen. Sie wirken aufgeblasen (Gläser) oder langweilig (Schuhe). Einige Sujets sind mir zu banal (Blumen). Ich zeichne einige Portraits von ihm. Wenn seine Züge das Blatt einnehmen, ist er mir zu nahe. Ich möchte die Betrachtenden nicht so an ihn heranlassen. Ich löse die Probleme, die die Grösse des Papiers mit sich bringt, indem ich die Seite in vier/zwei Teile untereteile. So erhalten diese Motive weniger Gewicht. Das Zeichen fällt mir einfacher so - ich habe weniger Druck, das perfekte Bild zu schaffen. Gross zeichne ich vorallem Orte, die eine Stimmung vermitteln können. Sie dürfen den Raum des Papiers einnehmen.

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Für viele Zeichnungen brauche ich Referenzfotos aus unserer gemeinsamen Zeit. Mein Buch soll aber kein Fotoalbum werden. Ich versuche dem entgegenzuwirken, indem ich mehr Zeichnungen unfertig lassen - so entstehen zeichnerische Fragmente, die nicht so fix abgezeichnet wirken. Durch die suchenden Bleistiftlinien entsteht eine Bildsprache, die langsam und tastend eine Geschichte heraufbeschwört. Ich verwende ebenfalls Fotomaterial aus dem Internet, welches zu der Stimmung passt, die ich abbilden möchte. Ich mag es, dass nicht alles „meine“ Sujets sind. Es ist spannend zu sehen, wie sie sich in die Geschichte integrieren und sie weiterspinnen. Hier lehne ich mich an die Strategie der Autofiktion, die ich schon beim Schreiben verwendet habe - um Distanz zu meinen Zeichnungen und Erzählungen zu bekommen.

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Ich bin mir unsicher, ob ich mich vom Schwarz-Weiss lösen soll und Farbe in die Zeichnungen einarbeiten will. Wenn ich die Zeichnungen mit Farbstift ergänze, wirken sie bloss ausgemalt - die Farbpallette viel zu wirr und die Zeichnung eher banal. Ich suche nach Referenzen in der Kunst und entdecke Marie Jacotey. Sie inspiriert mich - sie setzt die Farben so stimmungsvoll ein. Ich möchte, dass meine Zeichnungen malerischer werden. Da mich der Versuch mit Farbstift nicht überzeugt hat, färbe ich die Bilder nun digital ein. Ich finde sie schön, aber die Farben geben den Zeichnungen nichts. Sie dekorieren sie und machen sie hübsch. Das passt nicht zu meinem Inhalt. Es braucht sie nicht, ich entscheide mich dafür, beim Bleistift zu bleiben.

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Zusammen

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Wie kombiniere ich Text und Bild? Die Gegenüberstellung von Bild und Wort zeigt, dass die Textabschnitte zu viel aussagen. Die Bilder brauchen keine Erzählungen oder Erklärungen, sondern nur Anstösse. Ich fragmentiere den Text weiter - suche nach bedeutungsvollen Sätzen. Die Bild-Text Kombination öffnet sich so, sie lässt mehr Freiraum für Bild und Wort und führt zu einem harmonischen Zusammenspiel. Es entsteht ein evokativer Effekt, der je nach Betrachtender Person verschiedene Geschichten entstehen lässt. Ich spiele mit den verschiedenen Satz-Bild Anordnungen und erstelle eine erste Reihenfolge. Dabei ist mir wichtig, dass es sich nicht um eine chronologische Erzählung handelt. Das digitale Blättern auf issuu erleichtert meinen Prozess, ich schiebe Bilder und Sätze umher, lösche sie oder füge weitere hinzu. Dabei fällt mir auf, dass die angedachten Bild-Bild Seiten nicht so gut funktionieren. Nach weiterem Zeichnen und Ausprobieren entscheide ich mich, nur eine einzelne BildDoppelseite zu behalten. Sie ergibt visuell und inhaltlich Sinn und zeigt die beiden Hauptfiguren getrennt und doch zusammen, zum einzigen und letzten Mal gemeinsam auf einer Seite - bevor sich die Geschichte dem Ende zuneigt. Daneben finden sich nun drei Kombinationsversionen im Buch wieder: nur Bild, nur Text und Text-Bild. Die nervösen Linien der Bleistifzeichnungen vertragen dieses klassische Layout gut. Es passiert bereits genug. Zwischenzeitlich hinterfrage ich die Buchform. Ich überlege mir, die Zeichnungen als Originale zu präsentieren, sie ebenso wie die Texte - auf losen Blätter fragmentarisch und frei auszulegen und das Publikum so in die Konstruktion der Geschichte physisch eingreifen zu lassen. Ich verwerfe diese Idee, weil ich präzise mit der Bild-Text Kombination arbeiten möchte und den Blick der Betrachtenden führen will. Sie sollen dieses Bild und diesen Text gemeinsam sehen.... Die Idee den Text als Audiospur laufen zu lassen, verwerfe ich aus demselben Grund. In meiner letzten Jahresarbeit habe ich eine ähnliche Installtionsform gewählt und die Hörenden dadurch verloren, dass sie frei im Raum herumschauten und so während des Hörens andere Dinge betrachteten, als ich antizipiert hatte. Ich kehre deshalb zum Buchformat zurück.

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Die Frage nach der passenden Typographie erweist sich als zentral und schwierig. Lange überlege ich mir, die Texte von Hand zu schreiben. Meine Handschrift macht das Ganze aber noch persönlicher, ich mochte die Distanz, die die Computerschrift mit sich brachte. Optisch gefällt mir die Lösung, doch inhaltlich macht sie keinen Sinn. Es ist kein Tagebuch. Die einzigen handgeschriebenen Sätze finden sich in den Zeichnungen, dort sind sie mit „ihr“ verbunden und deshalb auch im „ich“ geschrieben. Sie sollen sich von den Sätzen der Erzählung unterscheiden. Ich entscheide mich für eine moderne Schrift und gegen Serifen, es ist ein guter Kontrast zu dem traditionellen Medium des Bleistifts. Ich formatiere den Text so, dass er durch die prominente Grösse eine Wichtigkeit bekommt. So ist er den Bildern gleichgestellt. Die Sätze wirken nicht mehr wie die „Überbleibsel“ oder Ausschnitte aus einem Roman, sondern erhalten eine Entschiedenheit, die den einzelnen Fragmenten zu mehr Kraft und Präzision verhilft. Ich schaue mir nachwievor viele Künstler*innenbeispiele an. Bei der Edition Moderne finde ich viele Graphic Novels, die sich mit scheinbar autobiographischen Inhalten in Zeichnung und Text auseinandersetzen. Das Format der vier Kästen in meinen Zeichnungen erinnert zum Teil ebenfalls an einen Graphic Novel. Ich suche in diesem Bereich nach Inspiration für die Verbindung von Text und Bild und Einsatz von Typographie. Ich treffe letzte Entscheidungen bezüglich Format, Platzierung, Typographie, Layout, Bearbeitung der Bilder etc. Es handeln sich um minime Details, die ich aber genau durchdenken möchte.

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An diesem Tag war alles grell. Für den Titel wähle ich einen Satz aus dem Buch. Er könnte den ersten oder den letzen Tag andeuten. Jenachdem, wie der Satz gelesen wird, verändert sich dann die Bedeutung der Geschichte. Werktext: Zeichnend und Schreibend erzähle ich eine Geschichte über das Loslassen. Mich interessiert es, Stimmungen zu erzeugen und Gefühle auf Papier zu übersetzen. Ich suche nach Melancholie, nach Trauer und Hoffnung. Die Anatomie einer Trennung wird aufgespaltet in fragmentarische Augenblicke. Ich versuche zu begreifen, was bleibt, wenn die Liebe aufhört.

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Mirja Ruch Wachtelweg 21 3012 Bern mirja.sophia.ruch@gmail.com Reflexive Bachelorthesis und Dokumentation der Praxis BA Vermittlung in Kunst und Design Hochschule der Künste Bern Mentorat Praxis: Karoline Schreiber, Francesco Micieli Mentorat Theorie: Francesco Micieli Mit besonderem Dank an Karoline Schreiber und Francesco Micieli. Ein tausendfaches Merci für die geduldige und inspirierende Begleitung und die anregenden Gespräche - für die extreme Hilfsbereitschaft und Spontanität! Danke an Lisa Mathis und Julian Valcke fürs Mitdenken und Gegenlesen. Schrift: Acumin Variable Concept Druck: Druckerei Hofer Bümpliz AG (druckfrisch) Bern, Juni 2022

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