STADTGESTALTEN I HIMBEER I 19
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„DU MUSST DEINE TRÄUME REALISIEREN“ Text: Jörg Oberwittler | Fotos: Sarah Winborn
Noch mit 81 Jahren und mit großem Engagement leitet Volkmar Neumann das KinderMusicalTheater in Berlin. Seit 2004 hilft er Kindern und Jugendlichen, ihr Talent zu entdecken und das Publikum zu begeistern. Im Dezember mit dem Musical „Alice im Wunderland“. Dessen Kernaussage passt erstaunlich gut auf sein eigenes Leben.
jungen Talenten aber nicht nur den Weg zu einer Bühnenkarriere öffnen, sondern Kindern eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anbieten und junge Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenbringen. „Wir haben alle Erdteile und alle Religionen dabei“, sagt Neumann. „Alle Kinder vereint das Ziel, eine gute Vorstellung zu spielen.“
Die Kobolde tragen heute, bei der Probe, Zopf und Dutt, die Schmetterlinge haben frei und Alice selbst steht in schwarzer Strumpfhose und schlichtem T-Shirt auf der Probebühne. Die erste Probe nach den Sommerferien in der Turnhalle der City-Grundschule in Mitte. Junge Mädchen tänzeln über die Bühne, schwingen die Arme, sprechen ihren Text: „Kann man das Geheimnis von der Herz-Königin lüften?“ – „Glücklich ist, wer glücklich macht.“ – „Ist sie wirklich die Alice, die alle erwarten?“
Zusammen mit seiner Frau Barbara Radunz, die am Friedrichstadt-Palast Öffentlichkeitsarbeit gemacht hat, schrieb er Stücke wie „Die Hochzeit der Schneekönigin“ oder „Der kleine Muck“ und „Alice im Wunderland“, das am 9. Dezember in der Urania Premiere feiern wird. Er schreibt – sie redigiert. Kennt ein so erfahrener Theatermann überhaupt noch Lampenfieber? „Na klar! Bei mir setzt es immer vor der ersten Hauptprobe ein, wenn die Kostüme, das Licht und der Ton zusammenkommen.“ Die Kostüme sind aufwändig, die Musik wird professionell interpretiert. Neumann und Radunz haben den Roman von Lewis Carroll an die Neuzeit angepasst: Das weiße Kaninchen lockt Alice über ein Smartphone ins Wunderland und führt weiter durch die Handlung.
Volkmar Neumann sitzt auf der Bank. Er guckt kritisch. Nach zwanzig Minuten sagt er mit ruhiger Stimme und beeindruckender Autorität: „Vorhang zu! So, kommt einfach mal ran.“ Die Mädchen formen einen Halbkreis und lauschen. Neumann befindet, sie haben den Text zu sehr aufgesagt, aber zu wenig gespielt. „Ihr müsst deutlicher sprechen und mehr Engagement zeigen. Ihr erwartet doch alle Alice!“ Später wird er sagen, dass diese Autorität eigentlich Vertrauen ist. Die Kinder vertrauen ihm aufgrund seiner langjährigen Erfahrung: Mehr als 50 Bühnenjahre bringt er mit. Dabei ging es bei ihm selbst erst im Erwachsenenalter mit der BühnenWelt los: Als Post-Angestellter hat er zunächst angefangen, Briefe ausgetragen und am Schalter gesessen. Über eine Laien-Kabarettgruppe hat er erste Erfahrungen gesammelt. Am Maxim Gorki Theater anschließend seine Ausbildung erhalten, in Leipzig Theaterwissenschaften studiert und sich an der Volksbühne als Schauspieler, Regie-Assistent und Regisseur profiliert. Er entdeckt seine Zuneigung zur heiteren Muse und wird 1973 vom damaligen Intendanten des Friedrichstadt-Palastes engagiert. Dort hat er erfolgreich große Revuen und Kinderrevuen inszeniert. Stars wie Caterina Valente, Manfred Krug, Dagmar Koller und Nina Hagen spielten unter seiner Regie – heute sind es die Kinder, die ihn jenseits des Renteneintrittalters noch in ihrem Sturm und Drang faszinieren. „Ich möchte meine Kraft auf keinen Fall nur zur Pflege unseres Gartens einsetzen.“ Die Arbeit mit den Kindern in diesem Ensemble halte ihn jung – und es komme von den Kindern auch viel zurück, erzählt er nach der Probe auf einer Bank vor der Turnhalle, wie zum Beispiel die Freude der Kinder bei der Arbeit zu spüren und eine gewisse Dankbarkeit. Es entwickelten sich hier erstaunliche Talente, wofür er das KinderMusicalTheater als Schmiede versteht. Hier erhalten 120 Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren eine professionelle Ausbildung in Schauspiel, Gesang und Tanz. Der Anspruch ist sehr hoch, bis zu viermal pro Woche proben die Darsteller. Für andere Hobbys, wie eine Sportart, bleibt da kaum Zeit. Lohn der Mühen: Die ersten spielen bereits in hochkarätigen Musicals Hauptrollen. Volkmar Neumann will den Kindern aber nichts vormachen; das Leben als Musicaldarsteller ist kein leichtes. Die Absprungrate im KinderMusicalTheater ist jedoch erstaunlich gering. Alle Rollen werden dreifach besetzt, sodass für ein Kind nicht zu viele Aufführungen anfallen. 2004 hat Volkmar Neumann zusammen mit anderen erfahrenen Künstlern den Verein gegründet. Gemeinsam wollen sie
Volkmar Neumann hat fünf Kinder, zehn Enkel – und inzwischen sogar sechs Urenkel. Eine große Familie. Es sei nicht immer leicht gewesen, diese mit dem Verdienst eines Kulturschaffenden durchzukriegen, erinnert sich Neumann. Jahrelang hangelte er sich von Jahresvertrag zu Jahresvertrag. Nach der Wende dann der Umbruch: Er wechselte vom Palast in die Selbstständigkeit und baute eigene Shows mit Kindern auf. Die Botschaft seines neuesten Stückes ist im Grunde auch der rote Faden seines eigenen Lebens: „Du musst deine Träume realisieren.“ So wie Alice, die ihrer Neugierde nachgeht und ins Wunderland rutscht. Außerdem gehe es im Stück zentral um Vertrauen und Freundschaft. „Wenn Sie das den Kindern vermitteln, machen ihnen auch die Proben Spaß.“ Ähnlich wie Alice hat auch Volkmar Neumann zwei Leben: das vor dem Eintritt ins Wunderland und das danach. Seine Jahre als aktiver Schauspieler, Sänger, Synchronsprecher und Gastdozent an der Hochschule für Musik Hanns Eisler und seine Arbeit mit den Kindern am Friedrichstadt-Palast. Dem ersten trauert er nicht hinterher: „Die Arbeit mit Kindern ist mir geblieben. Das andere ist vorbei.“ An seine eigene Kindheit erinnert er sich hingegen schweren Herzens zurück: 1935 in Potsdam geboren, die harten Kriegsjahre, vor allem das Kriegsende hat er in Berlin miterlebt. Bombenangriffe, Panzer, Hunger. „Meine Kindheitserlebnisse sind im Grunde der tiefe moralische Ansporn, die Kinder vor dem zu bewahren, was ich erlebt habe“, sagt er heute und wird still. Was würde der damals Zehnjährige zum heutigen 81-Jährigen sagen? Da muss er eine Weile überlegen, dann lächelt er in sich hinein und meint: „Er würde sagen: Mach weiter so!“ ALICE IM WUNDERLAND IST VOM 9.-28.12.2016 IN DER URANIA ZU SEHEN, WWW.KINDER-MUSICAL-THEATER-BERLIN.DE.