politik&kommunikation: Halbzeit

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Die Politikfotos des Jahres 2023

Der Politikbetrieb ist weit entfernt von Parität

Halbzeit

In der Mitte der Legislatur liegen die Nerven blank. Zeit für eine Kabinenpredigt.

Quadriga Media Berlin GmbH ISSN 1610-5060 Ausgabe IV/2023 — Nº 145 www.politik-kommunikation.de

Interview mit dem Wirtschafts­ weisen Achim Truger


Der Wandel kommt überall hin. Gut, dass wir schon da sind. Deutschlands starke Partnerin für Nachhaltigkeit. Auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft kann ganz Deutschland auf die Unterstützung der SparkassenFinanzgruppe zählen. Mit der größten Finanzierungssumme für den Mittelstand und als Partnerin von 40 Millionen Privatkundinnen und -kunden machen wir uns stark für einen Wandel, der für alle zum Erfolg wird. Im Großen wie im Kleinen. Mehr erfahren: sparkasse.de/mittelstand

Weil’s um mehr als Geld geht.


ED ITOR IAL

KONRAD GÖKE ist Chefredakteur von politik&kommunikation.

TRIO SCHIMPFERNALE

A

ls wir entschieden, unser Titelstück der Kommunikationsleistung der Bundesregierung zur Halbzeit der Legislaturperiode zu widmen, war dort schon viel Sand im Getriebe. Dann erklärte das Bundesverfassungsgericht die Haushaltspolitik der Ampelkoalition für verfassungswidrig. Bei unserer Analyse hat uns das geholfen. Danach wurde die Kommunikation der Regierung nicht wirklich schlimmer. Aber die vorhandenen Risse wurden sichtbarer, die Strategien der einzelnen Koalitionspartner noch verbohrter. Wir stellten fest: Wie schon bei den vorhandenen Krisen ist das Hauptproblem, dass die Regierung nicht abgestimmt genug kommuniziert, kein realistisches Erwartungsmanagement betreibt, die Regierungsparteien einander belauern: und weder Wähler noch Journalistinnen große Lust haben, diesem Spiel angesichts sich türmender Krisen weiterhin zuzuschauen. Wie es weitergeht, wissen wir natürlich nicht. Die Lage ist dynamisch. Aber wir haben ein paar Ideen, wie es besser gehen könnte. Welche, das lesen Sie ab S. 14. Wenn es auf der politischen Bühne kracht, entstehen Bilder. Die Anspannung spiegelt sich in den Gesichtern. Zeigen sie gute Miene zum bösen Spiel oder verfinstern sich ihre Züge? Bei politisch relevanten Veranstaltungen sind immer auch Fotografen unterwegs, absolute Profis. Denen entgeht keine Kleinigkeit: Die Krawatte, der Hintergrund, die Körperhaltung, alles kann eine Geschichte erzählen. Wie in jedes Jahr haben wir auch diesmal renommierte Politikfotografen versammelt, um uns ihre Lieblingsfotos des Jahres auszuwählen und zu kommentieren. Sie finden die Fotostrecke ab S. 24.

IV/2023

Einer, der jetzt schon eine gute Figur auf den Bühnen der Macht abgibt, ist der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Nicht wenige finden, dass er der einzige ernstzunehmende Konkurrent ist, der Friedrich Merz die Kanzlerkandidatur für die Union 2025 streitig machen könnte. Natürlich funktioniert kein Politiker als Einzelkämpfer. Auch Wüst hat ein Netzwerk um sich herum, das seine Vorzüge verstärkt und seine Schwächen ausgleicht. Wer diese Köpfe um Hendrik Wüst herum sind, erfahren Sie in einer Neuauflage unseres Formats „Machtsystem“ ab S. 30. Auf den politischen Bühnen sehen wir erfreulicherweise immer mehr Frauen. Gilt dasselbe aber auch für die Schalthebel im Maschinenraum? Johannes Bathelt hat sich für uns in Politik, Medien und Verbänden umgeschaut. Die Zahlen sind ernüchternd: Auf eine Frau in politischen Schlüsselpositionen kommen zwei Männer. Die Zahlen wurden auf einem gemeinsamen Event von „Frauen 100“ und „Quadriga“, die politik&kommunikation herausgibt, erörtert. Die wichtigsten Ergebnisse und die Berichterstattung zur Veranstaltung finden Sie ab S. 74. Beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht es in dieser Hinsicht gut aus. Drei der fünf sogenannten „Wirtschaftsweisen“ sind Frauen. Wir haben mit einem der zwei Männer gesprochen: Achim Truger. Der hat uns im Interview erzählt, wie er mit der Medienmacht umgeht, die ihm als Wirtschaftsweisen zur Verfügung steht. Auch zum Streitbaren sozialen Netzwerk X hat der Professor eine klare Meinung. Das Gespräch lesen Sie ab S. 48. Guten Rat gibt es auch von Verbänden. Als Beileger gibt es für Sie deshalb wieder das Verbandsjahrbuch. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Konrad Göke

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I NH A LT

IV 2023 MACHTSYSTEM WÜST 30

INTERVIEW: ACHIM TRUGER 48 14 HALBZEIT FÜR DIE REGIERUNG

Warum die Ampelkoalition besser kommunizieren sollte aus der Redaktion

22 INTERVIEW: CHRISTIANE HOFFMANN

Die Regierungssprecherin spricht über ihre Aufgaben von Kathi Preppner und Volker Thoms

24 JAHR IM FOKUS

Die Lieblingsfotos des Jahres 2023 renommierter Politikfotografen

30 MACHTSYSTEM WÜST

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst gilt als Anwärter auf eine Kanzlerkandidatur. Wer sind die Menschen im Umfeld des CDUStars? von Tobias Blasius

34 VERDENKZETTELT

Die Halbzeitwahlen in Bayern und Hessen müssen nichts für die Bundestagswahl besagen von Eckhard Jesse

38 TRANSFERKARUSSELL

Darum wechseln Politikjournalisten immer häufiger das Team von Tobias Schmidt

44 SILVESTERREDEN

Die Neujahrsreden der Kanzler sind immer gleich. Und wichtig von Mia Pankoke

AMPEL IN DER KRISE 14 4

48 INTERVIEW: ACHIM TRUGER

Der Wirtschaftsweise im Gespräch von Johannes Bathelt und Konrad Göke

56 HINTERGRUNDGÜTIGER!

In vertraulichen Gesprächsrunden erfährt man mehr als Geheimnisse von Günter Bannas

60 EINFACH SCHWIERIG

Wenn etwas komplex ist, sollte die Politik das aussprechen von Christian Koof

64 ALLHEILMITTEL KOMMUNIKATION? Warum Worte ohne Taten Vertrauen verspielen von Baha Jamous

66 EIN PLAN FÜR GAZA

Israel verteidigt sich, braucht aber eine Idee für danach von Carsten Ovens

70 GUT GERÜSTET

Die Rüstungsindustrie ist heute gefragt. Sie sollte antworten von Jardena Lande und Simon Baumert

74 RARITÄT STATT PARITÄT

Der Berliner Politikbetrieb bleibt männlich dominiert von Johannes Bathelt

86 GLOSSE

Sparzwang!

3 Editorial 5 Schnappschuss 6 Expertentipp 8 Pro & Kontra 10 Fragerunde 10 Floskelalarm 12 Reschs Rhetorik Review 80 Bücher 83 Impressum 84 Ein Tag mit ...

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S CH N A P P S CH U S S

HIMMELHOCHJAUCHZEND Robert Habeck (Grüne) hat zuletzt ein Wechselbad der Gefühle durchlebt. Zuerst fand der Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler die richtigen Worte, um das Entsetzen über die Gräueltaten der Hamas in Israel und die Sorge vor dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland zu beschreiben. Viele waren begeistert, das fühlte sich gut an. Dann aber folgte die Gerichtsschlappe vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der Haushaltsumschichtung. Habeck reagierte in Interviews dünnhäutig, schmallippig, beleidigt. Jetzt sucht er wieder die Leichtigkeit. Ob er sie hier findet?

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EX PERT E N T IPP

HESSEN, WÜST, ­KOMPLEXITÄT Waren die Landtagswahlen in Hessen richtungsweisend für die Zusammenarbeit der Ampelregierung? Ist eine einheitliche Kommunikationslinie bei drei Regierungsparteien überhaupt möglich?

Hendrik Hagemann

Rüdiger Bachmann

Managing Partner, Rud Pedersen

Stepan Family College, Professor of Economics

Richtungsweisend ist ein starkes Wort, aber die Niederlage der Ampelparteien war ein klares Zeichen des verlorenen Vertrauens in alle drei Parteien.

Katja Kipping

Ehemalige Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin

Nein, aber die Regierungsbildung in Hessen steht für die zunehmende Absage der Union an Schwarz-Grün.

Nein, nicht bei diesen dreien. Ja, es bedarf aber einer anderen, effizienteren Koordinierung der drei wichtigen Player Wolfgang Schmidt, Anja Hajduk und Steffen Saebisch oder den Austausch des Hauptkoordinators.

Wird Hendrik Wüst der nächste Kanzlerkandidat der Union? Ja, aber sie benötigen einen anderen Rahmen. Warum diese aufgezeichnet werden und nicht live vor einem Publikum oder in einer Art Townhall gemacht werden, ist schwer nachvollziehbar.

Immer dieselbe Leier: Sind Silvesteransprachen noch zeitgemäß?

Die Begeisterung für eine TV-Show wie „Wetten dass??“ spricht dafür, dass von solchen Traditionen immer noch eine Faszination ausgeht. Auch wenn diese sich mit einigen Brisen Ironie und Humor mischt.

Sollte die Politik den Bürgern mehr Komplexität zutrauen? Ob einfach oder komplex – entscheidend ist die Übersetzung in die Lebenswelt der Menschen und Entscheidungsfragen, wo alle wissen, ihre Stimme kann den Unterschied machen.

Verhindert die Schuldenbremse, dass Deutschland sich modernisiert? Ist Inszenierung im politischen Geschäft mittlerweile wichtiger als Inhalte? Sollten Rüstungsunternehmen eine Stimme im Verteidigungsdiskurs haben? Frauen sind immer noch unterrepräsentiert: Wird das ohne Quote noch etwas?

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Ja und nein. Sie ist aufgrund politischer und zeitlicher Zwänge mit Fehlern behaftet, grundsätzlich entspricht sie aber dem Verlangen der deutschen Wähler.

Nein, nur wer beides nachhaltig kann, bleibt auf Dauer erfolgreich.

Ja, wie jeder andere auch.

Unbedingt! Wir benötigen – analog zu den USA – eine echte, vom demokratischen Souverän gesteuerte, aber mit den Unternehmen gestaltete Rüstungsindustriepolitik.

Nein, und auch nicht ohne equal pay und nicht ohne gerechte Aufteilung der Care-Arbeit.

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Carolin Zeller

Vizepräsidentin, Quadriga Hochschule Berlin

Valerie Schürenkrämer

Head of Public Affairs, ING Deutschland

Die Probleme sind viel vielschichtiger.

Constantin Wurthmann

Vertretungsprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft, FAU Erlangen-Nürnberg

Volker Thoms Chefredakteur, KOM

Nein, aber dafür, mit wem die CDU in Zukunft im Bundesrat wohl keine Mehrheit haben will.

Vor allem nicht bei so großen inhaltlichen und ideologischen Differenzen.

Verbände schaffen es auch, Vielstimmigkeit bei gemeinsamen Zielen zu einen.

Das hängt von den Umfragen ab: Aktuell tippe ich auf Friedrich Merz.

Das lässt Friedrich Merz nicht zu – und dessen Unterstützer noch weniger.

Es hängt davon ab, wie gut Friedrich Merz sich positioniert. Gleich wie es diesmal ausgeht, hat Herr Wüst sicherlich weitere gute Karriereaussichten.

Sven Liebert

Generalsekretär, Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft

Auf keinen Fall, eher sollten die Menschen anlassbezogen richtig mitgenommen werden. Das versäumt die Bundespolitik leider zu oft.

Sie sollte stattdessen Komplexität abbauen und erklären.

Die Politik sollte gezielter Aufklärung betreiben.

Die Attraktivität von Silvesteransprachen hängt davon ab, wer sie hält.

Deutschland hat sich auch ohne Schuldenbremse nicht modernisiert.

Bei so vielen Krisen muss die Politik erklären und Richtung und Rat wissen. Sie sollte die Bürger nicht weiter überfordern.

Was bringen die besten Zahlen, wenn die Substanz des Landes unter jeglichen Ansprüchen bleibt und wir weiter Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Deutschland verpasst den Anschluss.

Im besten Fall geht es Hand in Hand.

Den Eindruck erwecken die Akteure oft.

Die Erfahrungen und Untersuchungen der letzten Jahre lassen vermuten, dass ohne Quote nur ganz geringe Verbesserungen möglich sind. Eine Quote könnte übergangsweise helfen.

Das bedingt sich gegenseitig. Inszenierung ist aber kein Selbstzweck.

Im Diskurs ja, die Entscheidungen muss aber die Politik treffen.

Die Verantwortung für Diversität auf allen Ebenen sollte allerdings bei den Unternehmen liegen.

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TORSTEN ALBIG

leitet den Geschäftsbereich External Affairs bei Philip Morris

Immer mehr lokale und globale Krisen: Fluch oder Segen für die Versicherungsbranche?

Das hat ganz unterschiedliche Ursachen. Ein Grund: Wenn viel Wind weht, wird mehr Strom produziert als verbraucht oder transportiert werden kann. Dagegen hilft vor allem ein schneller Netzausbau. Daneben braucht es u.a. Speicherausbau und Sektorenkopplung – also die Umwandlung von Strom in Wärme und Wasserstoff.

Auf meinen Reisen quer durch Deutschland fallen mir immer wieder stillstehende Windparks auf. Was muss passieren, dass sich das ändert?

FRAGERUNDE

Sicher, in Zeiten mit multiplen Krisen, neuen unüberschaubaren Risiken sowie enormen gesellschaftlichen Veränderungen stehen Versicherungsunternehmen unter besonderem Anpassungsdruck. Dieser kann sowohl Fluch als auch Segen sein. Wir nehmen diese Herausforderung an. Auch wenn sicherlich nicht alle Risiken und Krisen versicherbar sind: Ziel ist es, den Menschen die Sorge vor vielen alltäglichen Risiken zu nehmen und ihnen wirtschaftliches Handeln ohne Existenzängste zu ermöglichen. Wir vermitteln die Gewissheit, in Notsituationen unter dem Schutz und Schirm einer großen Versichertengemeinschaft zu stehen.

DREI JOBWECHSLER STELLEN SICH GEGENSEITIG FRAGEN BRIGITA JERONCIC

CHRISTINA KREWERTH

leitet den Bereich Kommunikation und Politik bei 50Hertz.

ist Head of Public Affairs der R+V Versicherung.

Es wird inhaltlich gemeinhin überschätzt. Es hilft allerdings sehr bei der Beurteilung, wie politische Entscheidungsprozesse wirklich laufen. Viele Auftraggeber träumen von der direkten Beeinflussung von Entscheidungen durch Lobbyisten („Rufen sie den mal an!“) und auch die Öffentlichkeit hat häufig dieses Bild. Auf der anderen Seite wird über den Versuch in der Regel nur gelacht. Telefonnummern zu kennen ist nicht schlecht, Prozesse zu verstehen, ist aber deutlich besser.

Wie hilfreich ist es wirklich für den Job als politischer Interessenvertreter, praktische Erfahrungen aus der Politik zu haben?

F LO S KE L A L A R M

„EIN SCHRITT IN DIE RICHTIGE RICHTUNG“ Wenn etwas entschieden wurde in der Politik, werfen Journalisten in den Stunden danach gerne ihre Netze aus, um Reaktionen einzufangen. Einer der Lieblingssätze, die dann in die Mikrofone diktiert werden, ist der vom „Schritt in die richtige Richtung“. Nur ein paar Beispiele aus jüngster Zeit: Der Migrationsbeschluss von Bund und Ländern, der erleichterte Abschuss von Wölfen, die Abschaffung der Hotelmeldezettel: alles „Schritte in die richtige Richtung“. Übersetzt allerdings bedeutet der „Schritt in die richtige Richtung“: Das war ja ganz hübsch, reicht aber

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noch lange nicht. Die Formulierung ist eine Art argumentativer Notausgang. Sie ist nützlich für all diejenigen, die eine Entscheidung nicht in Bausch und Bogen verdammen können, weil sie zum Beispiel selbst mit am Verhandlungstisch saßen – die aber trotzdem kein uneingeschränktes Lob aussprechen wollen, weil sie finden, das passe nicht zu ihrer Jobbeschreibung. Letzteres trifft beispielsweise auf Oppositionspolitiker zu. Politik ist eben einfach sehr oft die Kunst der kleinen Schritte. HENRIKE ROSSBACH IST STELLV. LEITERIN DER PARLAMENTSREDAKTION DER „SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG“.

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VOGELS KLIMACHECK:

WAS IST BESSER – BIOGAS ODER STROM? „Beides. Da, wo E-Mobilität an ihre Grenzen stößt, gehen die bei Post und DHL noch einen Schritt weiter auf dem Weg zum grünen Konzern. Alternativen wie biogasbetriebene LKW sind dabei superwichtige Bausteine, die schon jetzt im Einsatz sind. Läuft.“

GELB IST GRÜN. Selber checken auf: VogelCheckt.de


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AUS DREI MACH EINS Die AMPELKOALITION gibt zur Halbzeit der Legislatur ein zerstrittenes Bild ab. Jetzt geht ihr auch noch das Geld aus. Dabei könnte es schon helfen, wenn sie wie eine Koalition aufträte. VON JUDIT CECH, TOBIAS SCHMIDT UND KONRAD GÖKE

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as will ich Ihnen heute mitteilen“, so war das Video überschrieben. Wenn sich ein Bundeskanzler direkt ans Volk wendet, ist die Lage ernst. Als Olaf Scholz (SPD) am 24. November mit einer Videobotschaft auf seinen Social-Media-Kanälen online ging, war die politische Öffentlichkeit entsprechend gespannt. Und ja, die Lage war ernst, ist ernst. Neun Tage zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht die Haushaltspolitik der Bundesregierung für verfassungswidrig erklärt. Die Videobotschaft gab Scholz die Gelegenheit zu erklären, wie es dazu gekommen war und wie es jetzt weitergeht. Er sagte: fast nichts. Denn Olaf Scholz wollte vor allem eines mitteilen: Alles halb so wild. Er versprach, der Haushalt für 2024 werde „zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt“ überarbeitet. Das Video dauerte drei Minuten. In seiner Regierungserklärung tags darauf hätte Scholz etwas konkreter werden können. Doch auch im Bundestag lullte der Kanzler die Abgeordneten mit Catchphrases wie „You’ll never walk alone“ und dem unvermeidlichen „Unterhaken“ ein. Wen will er damit noch beeindrucken? Die Politprofis auf den Abgeordnetensitzen lachten mehrfach, etwa, wenn Scholz sagte: „Mit dem Wissen des Urteils hätten wir 2021 andere Entscheidungen getroffen.“ Ja, klar. Was außerhalb des Bundestags hängen blieb, ist nicht das Bundestagsgeplänkel, sondern Scholz’ erste Reaktion auf das Gerichtsurteil bei einer Podiumsdiskussion: „Sie sehen mich jetzt hier nicht als Menschen ohne Zuversicht.“ Alles halb so wild. Für Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist nicht alles halb so wild. Er ist selbst wild. Im Deutschlandfunk schimpfte er, der Staat könne durch dieses Urteil die Menschen nicht mehr vor hohen Gas- und Strompreisen schützen. Schuld sei die Union, die das Regierungshandeln von Gerichten prüfen lässt. „Sie klagt dafür, dass Menschen in Deutschland höhere Preise bezahlen“, sagte Habeck – und ätzte: „Schönen Dank, Friedrich Merz.“

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DAS PRINZIP HOFFNUNG Angst geht um in der SPD. Angst, dass „Olaf“ wirklich glaubt, was sein Umfeld verbreitet: Dass die Bundestagswahl 2025 so gut wie sicher ist. Und dass „Olaf“ meint, seine Strategie von 2021 – unterschätzt zu werden, cool zu bleiben, um dann zu siegen - wiederholen zu können. Tatsächlich aber sind SPD-Wählerinnen und -Wähler zurzeit massivst gefrustet vom Ampel-Streit, von „No Go“-Gebieten in Deutschlands Innenstädten, von Heizungs-Wirrwarr, Finanz-Chaos und der Diskussion, ob wahre Arbeit sich überhaupt noch lohnt. Dass auch er in seinem Wahlkreis drängende Fragen wegen der Angleichung von Arbeitslohn und Bürgergeld bekommt, musste sogar SPD-Chef Lars Klingbeil in seinem jüngsten Podcast mit SPD-General Kevin Kühnert eingestehen. Doch statt plausibler Antworten gab es Funktionärs-Folklore von Kühnert – die Warnung, die, die nichts haben „auszuspielen“ gegen die, die nur wenig haben. Und auch Klingbeil fiel nicht mehr ein als Politik-Sprech für die Gen_F(unktionär). Währenddessen fragen sich gestandene Sozialdemokraten in Leitungsfunktionen, woran es liegt, dass das Haus von Arbeitsminister Heil nahezu die Hälfte des Gesamt-Haushalts unter die Menschen bringt (Rentenzahlungen inklusive), Wählerinnen und Wähler aber diese steigenden sozial Wohltaten in Umfragen so gar nicht mit der SPD verbinden. Stattdessen Horror-Werte um die 15 Prozent. Doch Olaf lächelt und bleibt cool. Alles andere bedeutet in seiner Welt Schwäche. Ein Kalkül für seinen Wahlkampf 2025 ist weniger undurchdringlich: Selbst mit dreimal satten möglichen Mehrheiten für die AfD bei den kommenden Ostwahlen sowie einem ebenso hohen AfD-Ergebnis bei der Europa-Wahl 2024, werden die Menschen bei der Bundestagswahl 2025 Mitte vor Rechtsruck und Stetigkeit vor Chaos wählen lassen. Also – nach eigener Wahrnehmung - Scholz statt AfD. Dazu ein bisschen Gro-Ko-Folklore. Motto: Es war nicht alles schlecht. Damit das so kommen kann, wird sich Olaf Scholz von der Ampel distanzieren müssen. Aber das erst wenige Wochen vor der Wahl. Béla Anda ist Chef von „ABC Communication“. Während der Regierung Schröder/Fischer war er Regierungssprecher und leitete das Bundespresseamt.

Finanzminister Christian Lindner ist weder zuversichtlich noch wild, sondern gibt sich zufrieden. „Wir haben eine neue Rechtsklarheit, die die Staatspraxis ändert“, sagte er im Handelsblatt. Ganz so, als ob er nicht beim Tricksen erwischt worden wäre. Ganz so, als ob Experten nicht von Anfang an gewarnt hätten, dass seine Schattenhaushalte auf verfassungsrechtlich wackligen Beinen stehen. Dass die im Ministerium unter seinem Vorgänger und Jetzt-Chef Olaf Scholz entworfen wurden, geschenkt. Dass ausgerechnet Lindner jetzt „Haltet den Dieb“ ruft, ist schon mutig. Lindner hilft wenig, dass die verfassungswidrige Haushälterei im Ministerium unter seinem Vorgänger und JetztChef Olaf Scholz entworfen wurde. Dafür hat er den Finanzstaatssekretär Werner Gatzer gefeuert. Der hatte sich das Konstrukt gemeinsam mit Wolfgang Schmidt unter dem Finanzminister Olaf Scholz ausgedacht. Dass Lindner dafür jetzt die Prügel vor dem Bundesverfassungsgericht kassiert hat, ist natürlich ungerecht. Trotzdem trägt er als Minister die Verantwortung. Gatzer ist ein Bauernopfer.

Immer wieder gab es Krach Ein Problem – drei Botschaften. Das beschreibt anschaulich das Problem, das die Ampel hat, eigentlich seit ihrem Zusammenkommen im Herbst 2021. Ihr fehlt eine gemeinsame Erzählung, eine gemeinsame Problemdiagnose, oft genug auch die gemeinsame Lösung. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ hatte sich die Koalition vorgestellt. SPD, Grüne und FDP waren angetreten, um Deutschland nach der Corona-Pandemie zu modernisieren, den Klimawandel zu bekämpfen und die soziale Gerechtigkeit zu stärken. In seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 2021 sprach der damals frischgebackene Bundeskanzler Scholz viel von Aufbruch und Fortschritt.

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Doch dann kam etwas dazwischen: Am 82. Tag der Regierungszeit griff Russland die Ukraine an und die Ampel fand sich in einer Situation wieder, mit der bisher keine ihrer Vorgängerinnen in der Bundesrepublik zu kämpfen hatte. Das schweißte die Koalition zusammen. Die Energiekrise 2022 wurde überstanden, die Deutschen kamen gut durch den Winter und dank der Energiepreisbremse hielten sich die finanziellen Härten für die meisten Bürger in Grenzen. Alles in allem stand die Ampel in der Gunst der Bürger Anfang 2023 deshalb nicht schlecht da: Im Deutschland-Trend vom Februar 2023 waren noch 33 Prozent der befragten Bürger zufrieden oder sehr zufrieden - angesichts der Ukraine- und Energiekrise kein schlechtes Ergebnis. Doch immer wieder gab es Krach. Und mit ihm das Misstrauen der Bürger. Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine sollte Deutschland aufnehmen? Wie sollte die CO2-Bepreisung aussehen? Wie viel Geld sollte für Bürgergeld und Kindergrundsicherung ausgegeben werden – und woher sollte es kommen? Die SPD und die Grünen

wollten mehr Klimaschutz, mehr Förderung, mehr soziale Leistungen. Die FDP wollte mehr Eigenverantwortung, mehr Marktwirtschaft, mehr Haushaltskonsolidierung. Die Kompromisse, die gefunden wurden, waren oft faul.

Vor Gerichten warten schon die nächsten Schlappen Jetzt ist die Ampelkoalition in der Mitte ihrer Amtszeit angekommen – und in der Krise. Schon wieder. Der Ampel fehlt jetzt das Geld für ihre wichtigsten Projekte: die Modernisierung der Wirtschaft, die Bekämpfung des Klimawandels, die Stärkung des Sozialnetzes. Doch die nächsten Probleme für die Ampel stehen schon in den Startlöchern. In Gerichten laufen noch weitere Verfahren, die die Regierung in Bedrängnis bringen könnten: zur Wahlprüfung in Berlin, zum Heizungsgesetz, zur Verkürzung der Informations- und Auskunftspflichten des Parlaments und zur Verweigerung eines Untersuchungsausschusses in der Warburg-Affäre um Scholz. Die Ampel

UNBESUNGENE HELDEN I Wie schafft man es, in einer kriselnden Partei zu sein, und trotzdem ordentlich dazustehen? Einige haben es geschafft – innerhalb und außerhalb des oberen Machtzirkels.

SPD

Carsten Schneider Die aktuellen Prognosen zeigen es deutlich, die SPD hat – mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern – zunehmend ein großes Problem im Osten. In der Bundesregierung konnte allerdings ein SPD-Politiker mit dem Thema Ostdeutschland punkten. Der gebürtige Erfurter Carsten Schneider verkörpert seit zwei Jahren zum einen durch seine eigene authentische Ost-Biografie und zum anderen durch erfolgreiche Standort- und Wirtschaftspolitik eine neue und selbstbewusste Ostpolitik und empfiehlt sich für noch höhere Aufgaben in der Bundesregierung.

Boris Pistorius Er kam nach einem Jahr für die glücklose Lambrecht und überzeugte direkt medial, aber auch „in der Truppe“ durch angemessene Tonalität, Ernst und guten Auftritt. Er befand sich eigentlich bereits im niedersächsischen „Polit-Vorruhestand“ und avancierte in kürzester Zeit zum beliebtesten Politiker Deutschlands. Ob er diese Werte über die kommenden knapp zwei Jahre halten kann, gilt es abzuwarten. Bisher schaffte es das BMV fast jeden Minister oder Ministerin zu entzaubern.

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Lars Klingbeil Ihm ist es gelungen, seine Partei flügelübergreifend auf einen fundamentalen Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik einzuschwören. Trotz andauernder SPD-Talfahrt in den Prognosen und teils vernichtender Niederlagen in den Ländern steht die Partei weiterhin loyal hinter der Politik von Olaf Scholz. Das ist auch Klingbeils Verdienst, der zweifellos – trotz Co-Vorsitzender Esken – weitestgehend allein die Verantwortung im Willy Brandt Haus trägt. Würde es morgen Neuwahlen geben und die CDU das Rennen machen, wäre der 45-jährige Niedersachse mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit der nächste Vize-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland.

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WANDLUNGSKÜNSTLER DER MACHT DAS MACHTSYSTEM Hendrik Wüst hat verstanden, dass in der modernen Mediendemokratie Performance wichtiger ist als Programmatik. Ist man als professionelle Projektionsfläche für möglichst viele Unionswähler der ideale Kanzlerkandidat? VON TOBIAS BLASIUS

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n einem Mittwochabend Anfang Oktober muss Hendrik Wüst gut 1500 Kilometer von zu Hause entfernt mal wieder eine dieser lästigen Abwägungsentscheidungen treffen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident steht im Alten Rathaus von Vilnius vor schweren goldfarbenen Gardinen und wird gleich zu rund 400 Gästen sprechen, die vor allem seinetwegen gekommen sind. Seit Russland die Ukraine überfallen hat, geht in Litauen die Angst um. Die Balten fürchten, als nächstes dran zu sein. Deutsche Soldaten sind deshalb selbst in einem Land, das schwer unter der Nazi-Barbarei gelitten hat, hochwillkommen als Verstärkung an der NATO-Ostflanke. Wüst ist gerade vom Bundeswehr-Kontingent am Stützpunkt Rukla zurückgekehrt, wo er im Flecktarnparka Panzer fahren durfte. Jetzt muss er beim Abendempfang vor allerlei Lokalpolitikern, Diplomaten und Wirtschaftsleuten den richtigen Ton treffen. Ein paar Begrüßungsworte in der Landessprache machen sich immer gut. Das signalisiert Empathie und Weltläufigkeit. Ein wenig radebrechen im Namen der Völkerverständigung lässt Mächtige sogar menschlich wirken. Doch Litauisch gilt als zweitschwerste Sprache der Welt nach Chinesisch. Sieben Deklinationsfälle, viele Zungenbrecher. Wüst verwirft

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den Gedanken sofort wieder. Stattdessen liest er Textbausteine aus seiner Fachabteilung auf Deutsch wortgetreu vom Blatt ab und lässt sie simultan übersetzen. Was er gesagt hat, ist bereits vergessen, als die ersten Häppchen gereicht werden. Wüst hat nicht geglänzt. Aber eben auch nicht gepatzt. Das zählt. Wüsts öffentliche Rede ist oft ein Einwegartikel, der seinen Zweck erfüllt. Wüst legt Wert auf Fehlervermeidung, die Sucht nach Glanz im Auftritt hält er für riskant. Im Herbst 2021 wird er Ministerpräsident in Düsseldorf und Chef des mitgliederstärksten CDU-Landesverbandes NRW. Spätestens jetzt, sagt er einmal intern, habe er sich „Flapsigkeits-Verbot“ auferlegt. Sein Gefahrenradar arbeitet seither sensibler als jede NATO-Defensivwaffe. Er ist überzeugt, er müsse rollengerecht sprechen und auftreten. Sollen Journalisten ihn doch als hölzernen Münsterländer verlachen, der Erfolg gibt ihm bis-

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lang Recht. Authentizität in der Politik scheint ihm kein Wert an sich zu sein. Eine politische Figur muss nach dieser Logik zuallererst Fremderwartungen gerecht werden.

Themenkonjunktur des modernen Politikbetriebs zu lesen versteht. „Es ist eine Riesenleistung, dass er uns fehlerfrei durch den Landtagswahlkampf geführt hat. Das finde ich wirklich bemerkenswert. Tag für Tag im Fokus zu stehen Erstaunlich trittsicher und dabei sauber durchzukommen, das schafft gerade in unserer heutigen Medienwelt längst nicht jeder. Da hat „Hendrik ist bei öffentlichen Auftritten immer top-prosich für mich endgültig gezeigt: Er kann’s“, sagt der Vorsitfessionell vorbereitet. Er weiß genau, was er sagen will und zende des CDU-Sozialflügels CDA, Karl-Josef Laumann, lässt sich nicht locken. Er ist kontrolliert und macht nie mit der eigenen Wahlkampferfahrung aus drei JahrzehnFreestyle, was für die Medien vielleicht manchmal nicht so ten. Der smarte Familienvater Wüst liefert bessere Fotos spannend wirkt, aber das ist politisch ziemlich klug“, urteilt als der lachende Laschet, bietet weniger Verhetzungsder CDU-Europaabgeordnete und langjährige Wüst-Verpotenzial als der immer wieder aus der Hüfte formulietraute Dennis Radtke. Mit dieser keimfreien Methode wird rende Merz und wirkt sogar zugewandter als der hanseman jedoch schwer greifbar. Zumal der immer noch erst atisch-wortkarge Kanzler Scholz. Mag die Opposition in 48-jährige Wüst als Wandlungskünstler der Macht nach Düsseldorf ihn als „Insta-Präsidenten“ verhöhnen, der es oben gekommen ist. Seit er mit 15 die Junge Union in seiner nur auf schöne Fototermine statt auf politische ProblemHeimatstadt Rhede wiederbelebte, hat er es immer wielösung abgesehen habe – er kommt damit bislang durch. der geschafft, ein neues öffentliches Bild von sich zu entWüst gehörte nie zu den kreativen Vordenkern der werfen. Er startete als schneidiger Jungunionist, machte Union. Durch die Schule (Abiturnote 2,5) und das Studium Karriere als rechter Hardliner, erfand hat er sich zum Volljuristen eher gequält. sich nach einem Absturz als Mann des „Wüst verfügt über ein Aber er verfügt über ein außergewöhnliCDU-Wirtschaftsflügels neu und kommt außergewöhnliches Maß ches Maß an Selbstreflexion und einen heute im Gewand des sanften Konservaan Selbstreflexion.“ scharfen analytischen Blick für Mentiven mit schwarz-grüner Agenda daher. schen und Machtgelegenheiten. WegEr betreibt Politik diszipliniert wie ein Leistungssportler gefährten beschreiben ihn als „lernendes System“. Wüst und ist in der Lage, sich programmatisch immer wieder selbst sagt über sich: „Es gibt Leute, die kommen in ein zu häuten – wenn es denn der Zeitgeist diktiert. Amt und verströmen so dieses Selbstbewusstsein: ,Jetzt Aber wofür steht er? Wofür brennt er? Wer Wüst in bin ich endlich, was ich ja eigentlich schon immer war. den vergangenen 15 Jahren aus der Nähe beobachtet hat, Gefühlt hätte ich das Amt schon vor zehn Jahren bekomgerät gelegentlich ins Staunen, wie trittsicher sich dieser men müssen.‘ Diese Haltung war mir immer fremd.“ Politiker irgendwo auf der Nahtstelle zwischen filigranem Populismus, Anpassungsfähigkeit, Cleverness und Flexi„Hendriks schwarze Boygroup“ bilität bewegt. Inzwischen sogar Richtung Kanzlerkandidatur 2025, die er Parteichef Friedrich Merz zumindest Der NRW-Regierungschef gehört zur ersten Generanicht mit der Selbstverständlichkeit des „ersten Zugriffstion von Spitzenpolitikern, die konsequent akzeptiert, dass rechts“ überlassen dürfte. Wüst hat sich längst als unidas Performative bei der Mehrheitssuche längst wichtiger onsinterne Alternative mit dem „Herzschlag der Mitte“ in geworden ist als das Programmatische. Inhaltlich steuert Stellung gebracht und pocht darauf, dass die CDU-Laner deshalb immer bloß dorthin, wo gerade einigermaßen desverbände in der K-Frage mitreden werden. Eine klakonfliktfrei die gesellschaftliche Mitte verortet werden rere Kampfansage in diese Richtung wird man von ihm kann. Nie ausfallend, selten fordernd. Wüst weiß: Polifreilich nie hören. Alle wichtigen Positionen seiner Kartiker müssen heute jederzeit damit rechnen, mit besonriere erkämpfte er nicht mit offenem Visier, sondern als derer Elle gemessen zu werden. Sie haben immerzu den politischer Dominospieler, dessen Steine im entscheidenrichtigen Eindruck zu erwecken oder besser noch: den falden Moment richtig fielen – ob einst CDU-Landtagswahlschen zu vermeiden. In einer meinungsstarken, bildmächkreiskandidat in Borken und Junge Union-Landeschef in tigen Echtzeitgesellschaft sind sie nie außer Dienst, sonNRW oder Landesverkehrsminister und Ministerpräsident. dern permanent auf der Hut. Jeder Mitschnitt einer ParWüst hat mit den Jahren immer stärker verinnerlicht, lamentsrede, jede Szene einer Podiumsdiskussion, jeder dass er als Projektionsfläche für eine immer weiter ausVideoschnipsel einer unbedeutenden Abendveranstalfransende Unionswählerschaft funktionieren muss. Er tung irgendwo in der Provinz kann durch den Katalysaist dabei wohl mit dem größten Talent gesegnet, alle drei tor der sozialen Medien mittlerweile Karrieren beenden. Wurzeln seiner Partei gleichermaßen zu wässern: die Das leitet ihn und sein engstes Team, das sich fast christlich-soziale, die liberale und die konservative. Bei ausnahmslos aus mittelalten, weißen Männern mit Junseinem fulminanten Landtagswahlsieg in NRW im Mai ge-Union-Vergangenheit zusammensetzt. In Düsseldorf 2022 bewies Wüst, dass er die schnelllebige Typen- und ist von „Hendriks schwarzer Boygroup“ die Rede. Wer

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VERDENKZETTELT Bei den Halbzeitwahlen in BAYERN und HESSEN wurden die Berliner Regierungsparteien abgestraft. Für den Ausgang der Bundestagswahl muss das nichts heißen. VON ECKHARD JESSE

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m Vorfeld der Wahlen am 8. Oktober in den Flächenländern Bayern und Hessen, mitten in der Legislaturperiode der Bundestagswahl, wurde in dieser politisch bewegten Zeit – geprägt von Migrationsdruck, dem Krieg gegen die Ukraine, der Klimakrise – mit Verlusten für die Berliner Regierungsparteien gerechnet. Die Umfragen verhießen für die Rechtsaußenpartei AfD einen Höhenflug und für Die Linke vom anderen politischen ­Spek­trum einen schweren Absturz. Fast jeder vierte Bundes­bürger war zur Teilnahme an dieser „kleinen Bundestagswahl“ aufgerufen. Die Demoskopen prophezeiten den drei Regierungsparteien also Unheil – und sollten Recht behalten. Auch die Postkommunisten litten wie prognostiziert. Die AfD legte dagegen deutlich zu, ebenso wie – besonders in Bayern – die Partei der Freien Wähler. Die Unionskräfte behaupteten erwartungsgemäß den ersten Platz – mit starken Gewinnen für die CDU und leichten Verlusten für die CSU. Die Schwesterparteien hatten ganz unterschiedliche Akzente gesetzt. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder meldet sich gern kritisch zur Bundespolitik. Er schloss eine Regierung mit den Grünen durch seine „Negative-Campaigning-Strategie“ kategorisch aus. Sein hessischer Amtskollege Boris Rhein (CDU) hob dagegen die gute Zusammenarbeit mit den Grünen hervor (dass er sich nach der Wahl für ein Bündnis mit den Sozialdemokraten entscheiden sollte, war nach seinem Wahlkampf

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kaum abzusehen). Der Amtsbonus beider Regierungschefs nutzte ihren Parteien. Im Gegensatz dazu spürten SPD, Grüne und Liberale auch in den Ländern den heftigen Gegenwind, der ihnen in Berlin entgegenschlägt. Die Migrationsproblematik, die stotternde Energiewende mit dem Hin und Her rund um das Heizungsgesetz, die hohe Inflationsquote – die Mehrheit der Bürger ist höchst unzufrieden und machte das an den Wahlurnen deutlich. Die Kritik gilt nicht nur der mängelbehafteten Kommunikation der Regierung, sondern ebenso dem als führungsschwach wahrgenommenen Kanzler.

Verluste für die Berliner Regierungsparteien Die Kanzlerpartei SPD brach geradezu ein. Das lag weniger an landespolitischen Themen, die im Wahlkampf ohnehin kaum eine Rolle spielten. Die Gründe sind bundespolitisch – aber auch personell bedingt. Der SPDSpitzen­kandidat in Bayern, Florian von Brunn, blieb im Wahlkampf ein „Nobody“, ebenso wie der Grüne Frontmann Ludwig Hartmann. Die Frau im grünen Spitzenduo, K ­ atharina Schulze, ist im Freistaat bekannter, aber nicht besonders beliebt. Die SPD-Spitzenkandidatin in Hessen, Nancy Faeser, hatte keine Probleme mit ihrer Bekanntheit. Dafür litt

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Die politischen Farbenspiele sind nach den Landtagswahlen in Bewegung. Wie geht es weiter?

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ON GORD SKI ­REPIN

MICHAEL BRÖCKER

TRANSFER­KARUSSELL Vom Volontariat bis zur Rente bei einer Medienmarke – das war einmal. Immer mehr POLITIK­ JOURNALISTEN wechseln immer häufiger die Farben. p&k hilft, den Überblick zu behalten. VON TOBIAS SCHMIDT

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richtiger Transfer-Coup gelungen ist und wer zukünftig auf Stars und langjährige Leistungsträger verzichten muss.

Der Krösus: „Stern“

MARIA FIEDLER

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s gibt erfahrene Redakteure, die Institutionen sind bei ihren Marken: Robin Alexander bei der „Welt“; Melanie Amann und Markus Feldenkirchen beim „Spiegel“; Bernd Ulrich bei der „Zeit“. Die Tendenz, den nächsten Karriere- (und Gehalts-)Sprung durch einen Arbeitgeberwechsel zu machen, war im Journalismus stets weniger verbreitet als etwa im PR- oder Public-Affairs-Bereich. Doch das Blatt, beziehungsweise die Blätter, haben sich gewendet. Seit wenigen Jahren dreht sich im deutschen Politikjournalismus ein Transferkarussell. Die deutsche Medienlandschaft hat sich lange der Logik des modernen Arbeitnehmermarktes für gut ausgebildete Fachkräfte entzogen. Jetzt werden die alten Werte Markentreue und Identifikation nivelliert. Professionell gesehen normalisiert sich Politikjournalismus. Auch 2023 hat es wieder jede Menge Wechsel gegeben. Der Medien-Arbeitsmarkt ähnelt zunehmend einem Transfermarkt, wie wir ihn aus dem Fußball kennen. Wir analysieren, welche Medienmarken sich wie verstärkt oder neu aufgestellt haben, wem ein

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Einen Vorgeschmack auf das Jahr 2023 gab es schon im Sommer des Vorjahres. Nico Fried heuerte zum 1. August 2022 nach 22 Jahren bei der „Süddeutschen Zeitung“, davon 15 als Leiter der Parlamentsredaktion, als Politikchef im Berliner Büro des Magazins „Stern“ an. Dieser Wechsel bildete den Auftakt einer sehr aktiven Transferperiode der Hamburger Traditionsmarke. Unter der Leitung des Chefredakteurs Gregor Peter Schmitz (kam 2022 von der „Augsburger Allgemeinen“) erfindet sich der „Stern“ gerade neu. Dabei hilft ihm, dass die Muttergesellschaft Bertelsmann im Februar 2023 und im Zuge der Zusammenlegung von „RTL“ und der Verlagsgruppe Gruner + Jahr nicht nur rund ein Drittel der Belegschaft entließ, sondern auch die Hälfte der hauseigenen Medienmarken einstellte. Die verfügbaren Mittel fließen seitdem hauptsächlich in das Flaggschiff-Medium „Stern“. Die Zugänge 2023 spiegeln die neuen Möglichkeiten der Zeitschrift. Auf Nico Fried folgten im Sommer Veit Medick vom „Spiegel“ sowie Sven Böll und Miriam Hollstein von „T-Online“, zwei weitere Größen des Polit-Journalismus.

Neustart: „The Pioneer“ Meldungen „in eigener Sache“ sind immer auch Versuche, die Deutungshoheit über eine Situation zu gewinnen. So las sich auch das Pioneer-Briefing am Morgen des 23. Oktober 2023. Chef Gabor Steingart nahm dort ausführlich Stellung zur internen Umstrukturierung seines Hauses. In den Wochen zuvor waren bereits Informationen durchgesickert, wohin Chefredakteur Michael Bröcker („Table Media“) und sein Stellvertreter Gordon Repinski („Politico“) ab dem 1. Januar 2024 wechseln würden. Der Abgang des kongenialen Duos, das für den täglichen Newsletter „Hauptstadt – Das Briefing“ verantwortlich war, stand schon länger fest und bedeutete für die Marke einen herben Verlust. Die Journalisten waren vor vier beziehungsweise drei Jahren Königstransfers. Sie haben „The Pioneer“ mit aufgebaut und sind schwer zu ersetzen. Das gilt auch für den Parlamentskorrespondenten Rasmus Buchsteiner, den es zum „Spiegel“ zieht. Dennoch sind die Abgesänge verfrüht, die „The Pioneer“ für das nächste Jahr bereits Schiffbruch voraussagen. Gründer und Herausgeber Steingart verteilt die Last auf mehrere, vor allem weibliche Schultern. Er baut dabei auf Talente aus den eigenen Reihen, aber nicht nur. Neben ihn in die Chefredaktion rückt die bisherige Chefreporte-

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„WENN ICH MÖCHTE, KANN ICH EINEN DISKURS ­STARTEN“ ACHIM TRUGER ist einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als Berater der Bundesregierung hat der „Wirtschaftsweise“ nach dem Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts gegen den Nachtragshaushalt gut zu tun. Im Interview mit p&k spricht er außerdem darüber, dass die Vergütung für Wirtschaftsweise nicht an die Inflation angepasst wird, was nach dem Gerichtsurteil jetzt geschehen muss und welche Macht er als Wirtschaftsweiser in der Öffentlichkeit hat – und welche Verantwortung. INTERVIEW JOHANNES BATHELT UND KONRAD GÖKE

Herr Truger, wie weise fühlen Sie sich? Ich fühle mich ganz kompetent, aber „weise“ ist ein fürchterliches Wort. Nach fast fünf Jahren im Sachverständigenrat wundert es mich nicht mehr, als Wirtschaftsweiser angesprochen zu werden. Aber eine glückliche Zuschreibung ist das nicht. Was soll das schon heißen? Weisheit ist irgendwie etwas Übermenschliches. Haben Sie den Eindruck, dass der Titel Wirtschafts­weiser Ihren Aussagen mehr ­Legitimität verleiht als der Titel Professor? Wir stehen ja nicht für uns, wir haben einen riesigen Stab aus 15 bis 18 Leuten. Das sind hochqualifizierte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an unserem Standort im Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Der Anspruch ist, dass wir gründlich und evidenzbasiert arbeiten. Wenn wir Dinge analysiert haben, dann ist das kein Schnellschuss und insofern herausgehobener, als wenn sich irgendwer mal eben äußert. Trotzdem sollte jeder dieselbe Autorität genießen, wenn er eine Frage wissenschaftlich und gründlich untersucht hat. Unabhängig von Titel oder Ratsmitgliedschaft. Wie oft sind Sie in der Hauptstadt und beraten den Kanzler?

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Wir haben mehrere Ratssitzungen in Berlin und treffen mindestens zweimal auf den Kanzler: wenn wir das Jahresgutachten übergeben und bei der Übergabe unserer Konjunkturprognose im Frühjahr. Darüber hinaus treffen wir das Wirtschaftskabinett und in regelmäßigen Anhörungen auch die zuständigen Bundesminister und Bundesministerinnen. Außerdem haben wir diverse Verbändeanhörungen in Berlin. Wir sind also häufiger da. Es ist auch kein Geheimnis, dass wir umziehen möchten. Wir sind zuversichtlich, demnächst in Berlin zu sitzen. Im Vorgespräch erwähnten Sie, dass die Vergütung für die Mitarbeit im Sach­ verständigenrat über 33.000 Euro jährlich lange nicht mehr erhöht wurde. Hat Sie die Inflation hart g ­ etroffen? (Lacht.) Das wäre Jammern auf hohem Niveau. Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Vergütung erhöht würde. Es ist auch seltsam, dass sie seit über zehn Jahren nicht einmal an die Inflation angepasst wurde. Aber was soll‘s, so ist es eben. In Folge des Verfassungsgerichtsurteils zum Nachtragshaushalt 2022 kann die Bundes­ regierung Weisheit jetzt gut gebrauchen.

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ACHIM TRUGER (54) ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den fünf sogenannten „Wirtschaftsweisen“. Dazu berief ihn die Bundesregierung 2019 auf Vorschlag der Gewerkschaften. Der gebürtige Kölner ist Professor am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg Essen. Zuvor war er Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. 2020 wurde er mit dem Kurt-Rothschild-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.

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EINFACH SCHWIERIG Einfache Lösungen versprechen billigen Beifall. Wenn es die Politik aber wagt, KOMPLIZIERTES richtig anzusprechen, kann sie noch mehr gewinnen: Vertrauen. VON CHRISTIAN KOOF

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Diskurs durch eindimensionales Denken und Kommunizieren. Das geschieht entweder durch einfache Lösungen oder durch moralische Appelle. Nassehi stellt fest, dass politische Botschaften, unabhängig davon, ob sie links oder konservativ sind, der Komplexität der Gesellschaft immer weniger gerecht werden. Keine Lösung für ein Problem ist so einfach, wie es die politische Debatte nahelegt. Für beide Muster der unterkomplexen politischen Kommunikation – einfache Lösung oder Appell – gibt es zahlreiche Beispiele. 1

Die einfache Lösung

CDU-Chef Friedrich Merz weiß, dass Migration und Integration komplexe Themen mit vielen Facetten sind, die vor allem Zeit erfordern. Ihm ist klar, dass die Forderung, Israel als Voraussetzung für die Einbürgerung anzuerkennen, weder die Integration fördert noch den Antisemitismus eindämmt. Doch die Idee ist einfach, leicht verständlich und wird morgen vermutlich schon vergessen sein.

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Der Appell

iel liest man von der Krise des demokratischen ParBesonders beliebt ist der politische Appell im Gewand lamentarismus. Wichtigstes Indiz für dessen Nieemotionaler Anteilnahme. Ein Beispiel hierfür ist die deutdergang, so ein verbreitetes Narrativ, ist das Erstarsche Außenministerin in Nahost. Trotz der komplizierten ken des linken und rechten Populismus. Dieser gibt Gemengelage lenkt sie den kommunikativen Fokus wiesimple Antworten auf immer schwierigere Fragen und entderholt auf die „ganz normalen Menschen in der Region, spricht damit dem Wunsch vieler Wähler und Wählerindie alle der Wunsch eint, in Frieden zu leben“. Das klingt nen nach Einfachheit und Klarheit. schön, bleibt aber nur das: ein Wunsch. Das komplexere Und in der Tat: Politikerinnen und Politiker in parThema bleibt unbeantwortet: Warum ist der ersehnte Frielamentarischen Demokratien sind zunehmend überforden seit Jahrzehnten unerreichbar, und wie könnte man dert, einer demokratischen Pflicht nachzukommen, die für ihn zukünftig herstellen? Annalena Baerbock gibt darauf Autokraten oder Gotteskrieger bequemerweise seit jeher keine Antwort, vermutlich weil sie keine hat. Da kommt nicht gilt: politische Zusammenhänge in einer zunehder Appell gelegen. mend komplexen Welt nachvollziehDer Kardinal von Wien appelliert in bar und glaubhaft zu erläutern. Anders „Wähler wünschen sich einer Videobotschaft, in der sein erhoausgedrückt: Was in Ministerien und Klarheit.“ bener Zeigefinger nicht sicht-, aber hörBehörden entschieden wird, ist für Bürbar ist, an die Menschen, den Opfern gerinnen und Bürger meist unverständlich. Und jene, von Missbrauch zuzuhören und ihnen zu glauben. Das die das Volk in Parlamenten und Regierungen vertreten, erkennt weder die Schuld der Kirche an, noch wird es der sind kaum mehr in der Lage, dieses Verständnis wieder Komplexität der erforderlichen Entschädigung gerecht. ­herzustellen. Eine echte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld Daher überrascht es nicht, dass die zunehmende Komist schwierig, daher erscheint der Appell als bequemer plexität der Welt und die generell abnehmende AufmerkAusweg. samkeitsspanne in starkem Kontrast zueinander stehen. Zu ergänzen wäre ein drittes Muster, das vor allem dem Die Krankenhausreform in einem 15-Sekunden-­Statement jetzigen Kanzler zu Beginn seiner Amtszeit zum Verhängund ein wichtiges Raketenabwehrsystem für Deutschland nis wurde. in einer 280-Zeichen-Nachricht zu erklären, ist kaum 3 Schweigen ­möglich. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi, Autor des 2015 erschienenen Buches „Die letzte Stunde der WahrAngesichts des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die heit“, beschreibt zwei einfache Muster, mit denen Politik Ukraine fand man schnell das Wort „Zeitenwende“. Aber auf Komplexität reagiert. Sie verhindert einen aufgeklärten was bedeutet es? Welche administrativen und politischen

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Ein Gefechtshelm mit weißer Lilie. Diese Blume wird in Deutschland auch Friedenslilie genannt.

GUT GERÜSTET Die Zeitenwende gilt auch und besonders für die ­RÜSTUNGSINDUSTRIE. Im Gegensatz zu früher ist sie plötzlich auch öffentlich gefragt. Sie sollte antworten. 70

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VON JARDENA LANDE UND SIMON BAUMERT

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Am 27. Februar 2022 diagnostizierte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagte er in einer außerordentlichen Sitzung des Bundestages. Diese Einsicht ist von großer Bedeutung. Mit der Invasion russischer Truppen in die Ukraine hat sich Europa verändert. Viele Menschen haben verstanden, dass es notwendig ist, sich zu verteidigen und eine Abschreckung mit Waffen aufrechtzuerhalten.

Plötzlich systemrelevant

er Schock saß tief im Februar 2022. „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr Die Umbrüche sind für die Rüstungsindustrie sowohl oder weniger blank da“, schrieb Heeresinspekteur eine Herausforderung als auch eine Chance. Die GesellAlfons Mais frustriert auf dem Netzwerk Linkedin. schaft zeigt sich zunehmend offen dafür, dass die RüsDeutschland könne sein Militärbündnis kaum unterstüttungsindustrie eine Rolle in der öffentlichen Diskussion zen. Zwei Tage zuvor hatte Russland die Ukraine überfalspielt. Das eröffnet Möglichkeiten für einen Dialog, der len, ganz konventionell, mit Bodentruppen, Panzern, Flugzuvor nur schwer vorstellbar war. Dennoch muss die Induszeugen und Artillerie. In der politischen Diskussion stellte trie noch viel tun, damit die Bevölkerung ihr noch mehr vertraut. Das geht nur mit mehr Transparenz. sich schnell heraus, dass Deutschland solches Gerät kaum noch einsatzfähig in seinen Garagen und Hangars hat. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat vieSeitdem ist viel gesprochen worden: von Politikern, len Menschen die Bedeutung einer leistungsfähigen und Soldatinnen und Diplomaten. Eine wichtige Stimme aber fortschrittlichen Rüstungsindustrie vor Augen geführt. kam zunächst zu kurz: derjenigen, die militärische Mittel In einer Umfrage des ARD-DeutschlandTrends sprachen entwickeln und bauen. Die Stimme der sich unmittelbar nach dem russischen Rüstungsindustrie. Wer aber weiß bes„Das geht nur mit mehr Einmarsch in der Ukraine im Februar ser, welche Geräte verfügbar sind, wann Transparenz.“ 2022 rund 61 Prozent der Befragten für sie geliefert werden können und – was Waffenlieferungen an die Ukraine aus. das kostet? Wenige Wochen vor Beginn des Krieges lag die ZustimDie Rüstungsindustrie hat in der Bundesrepublik tramung noch bei lediglich 20 Prozent. Ein Jahr nach Beginn ditionell einen äußerst problematischen Ruf. Der Grund des Krieges stieg der Wert derer, die bisherige militäriliegt auf der Hand: Zwei Weltkriege, die nationalsozialissche Hilfen beibehalten oder noch ausweiten wollen, auf tische Schreckensherrschaft und der Kalte Krieg sind im fast drei Viertel der Menschen, wie das ZDF-Politbarokollektiven Gedächtnis des Landes verankert. Die Deutmeter ermittelte. schen sehen mit äußerstem Argwohn, dass in ihrem Land Die öffentliche Meinung hat sich dabei nicht nur im noch Rüstungsgüter produziert werden. Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine fundamenIn einer YouGov-Umfrage vom Mai 2018 sprachen sich tal gewandelt. Zwei Drittel der Deutschen befürworten etwa knapp zwei Drittel der Befragten für einen sofortigen jetzt, dass Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel der NATO Stopp aller Rüstungsexporte aus. Eine Studie der Deuteinhält, 26 Prozent könnten sich sogar vorstellen, einen schen Gesellschaft für Wehrtechnik aus dem gleichen Jahr gesetzlichen Feiertag abzuschaffen, um das zu finanzieren. kam zu dem Ergebnis, dass 43 Prozent der Deutschen ein Das äußert sich auch am Kapitalmarkt. Viele Mennegatives Bild von der Branche haben und lediglich 17 Proschen zeigen sich offener, ihr Geld in Aktien von Sicherzent eine positive Wahrnehmung. heits- und Verteidigungsunternehmen anzulegen. Das Im nahen Ausland ist das anders. Nachbarländer wie hat die Debatte neu entfacht, wie diese Unternehmen in Frankreich nutzen ihren Nationalfeiertag, um stolz die der geplanten Sozialtaxonomie der Europäischen Union Innovationskraft und Stärke ihrer heimischen Rüstungseingestuft werden sollen. Die soll – analog ihrer grünen industrie zu präsentieren. In Deutschland redet man dageVariante – den investierenden Banken Auskunft darügen sehr zurückhaltend darüber, Produktionskapazitäten ber erteilen, welche Firmen und Branchen dem Gemeinzu beschaffen, zu innovieren und strategisch auszurichten. wesen dienen und deshalb den sozialen Standards entSetzen wir uns als Gesellschaft nicht mit den Themen sprechen. Nach Schätzungen von Bloomberg soll im Jahr der Rüstungsindustrie auseinander, weil wir zu wenig 2025 rund ein Drittel aller weltweiten Geldanlagen nach Bescheid wissen über Geopolitik oder liegt es an einem ESG-Kriterien vermarktet werden. Das Thema ist für die simplen Pazifismus der Wählerinnen und Wähler? Diese Finanzierungsmöglichkeiten der Industrie also nicht zu Begründungen wären zu einfach. unterschätzen.

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STEUER HOCH GASTRO ZU? Die Mehrwertsteuer in der Gastronomie wird zum Jahreswechsel von 7 auf 19 Prozent erhöht – mit großen Auswirkungen auf eine Branche, die schon jetzt mit Personalmangel, hohen Energiekosten und steigenden Lebensmittelpreisen zu kämpfen hat. Wir befürchten: Für viele, vor allem kleine Betriebe, wäre dann Schluss. Weitere Belastungen durch mehr Regulierung zeichnen sich ab - z.B. durch eine erweiterte Haltungs- und Herkunftskennzeichnung auf Speisekarten und eine 30-prozentige Bioquote in der Außer-Haus-Verpflegung. Deshalb fordern wir: Weg von noch mehr Bürokratie für die Gastronomie!

METRO AG, Public Policy, Charlottenstraße 46, 10117 Berlin


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