Human Resources Manager "Risiko"

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RISIKO


9./10. Juni 2022 Berlin

Digital

Die Konferenz für Employer Branding und Arbeitgeberattraktivität

25+

Referent: innen

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Keynotes

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Best Cases

130+

Teilnehmer: innen

Auf Wunsch mit Zusatzseminar

Auswahl der Referent:innen: Kristine Fratz, Kulturwissenschaftlerin & Zeitgeist Expertin, Lena Weber, TUI, Anna Tomfeah, Weltethos-Institut, Christoph Welz, Porsche, Aquilina Victoria Wockenfuß, Coca Cola, Andreas Doppler, ERGO, Tobias Stephan, Landeshauptstadt München, Theresa Loogen, thyssenkrupp u. v. m.

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EDITORIAL

Sicherheitsbedenken

Sven Lechtleitner, Chefredakteur Human Resources Manager

Coverfoto: crispy_fish_images / Getty Images; diese Seite: privat

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enn etwas Unfassbares geschieht, erinnern wir uns meist noch Jahre später an den Moment, als wir davon erfuhren. So wissen viele von uns noch ziemlich genau, was sie am 11. September 2001 gemacht oder wo sie sich aufgehalten haben – der Tag, an dem Terroristen Linien­ flugzeuge in ihre Gewalt nahmen und sie in das World Trade Center in New York sowie das Pentagon in Washington D. C. stürzen ließen. Der 24. Februar 2022 dürfte die Erinnerung vieler Menschen ähnlich prägen – der Tag, an dem Russland die Ukraine angreift und damit einen Krieg mitten in Europa auslöst. Die Bilder und Nachrichten über Raketenexplosionen, die Menschen auf der Flucht und der Gedanke, dass dies der Anfang eines Krieges in ganz Europa oder gar der Welt sein könnte, all das bestimmt seither unser Denken und Fühlen. Spätestens als der russische Präsident Wladimir Putin den Staaten des transatlantischen Bündnisses bei Einmischung oder NATO-Erweiterung drohte, wurde klar: Angriffe auf weitere Länder sind ein potenzielles Risiko. Während wir die Sorge um die eigene Sicherheit lediglich in Kopf und Herz abstrakt erleben, ist sie für Menschen in der Ukraine grausame Realität. Dieser Krieg zeigt einmal mehr, wie fragil und verletzlich unsere Welt eigentlich ist. Das Oberhaupt eines Landes bringt durch imperiales Denken die Welt in Aufruhr und das Sicherheitsempfinden in ganz Europa ins Wanken. Auch wirtschaftlich sind die Folgen verheerend. Die Gas- und m a i 20 22

Ölproblematik lässt Energiekosten nach oben schnellen. Die Ernteausfälle in der Ukraine betreffen den weltweiten Agrarmarkt und bedeuten für manche Nationen gar Hungersnöte. Hinzu kommen die Auswirkungen der Coronapandemie – seien es Lieferengpässe aufgrund stillstehender Produktionsstandorte in China oder Personalausfälle wegen Erkrankungen hierzulande. Alles hängt in Zeiten der Globalisierung und Vernetzung mehr als zuvor miteinander zusammen. Und für nichts scheint es derzeit noch Sicherheit und Planbarkeit zu geben. Die Ungewissheit als einzige Konstante: Ein Risiko, auf das sich auch die Arbeitswelt einstellen muss. Und wieder einmal ist HR gefordert: erst das Pandemiemanagement, jetzt die Evakuierung von Belegschaften in der Ukraine oder das Schließen von Standorten in Russland. Waren es bis Anfang des Jahres Themen wie hybrides Arbeiten oder virtuelles Führen, beschäftigt HR-Verantwortliche nun die Personalsituation in Osteuropa sowie die Beschäftigung von Menschen aus der Ukraine in Deutschland. Viele Geflüchtete suchen hierzulande nicht nur Sicherheit, sondern ebenso eine Perspektive. Und dazu gehört für viele auch ein Job. Wer eine Anstellung ermöglicht, bietet Geflüchteten auf der einen Seite Arbeit und Einkommen. Auf der anderen Seite kann ein Arbeitsalltag Menschen ein Stück Normalität schenken. Auch das Miteinander und sozialer Austausch hilft, die Schrecken des Krieges zu verarbeiten. Und wer könnte die Menschen im Unternehmen besser zusammenbringen als HR? 3


26 HR hat nicht den Ruf, ein Berufsfeld für besonders Mutige zu sein. Dabei lauern viele Gefahren. Woran lassen sich Risiken erkennen – und wovon hängt es ab, wie wir ihnen begegnen?

Editorial

6 Meine Arbeitswelt Tanja Bender ist Head of Market HR bei Merck. Sie zeigt, wie sich ein Team austauscht, das auf fast 50 Länder verteilt arbeitet.

14 Die Kraft des weiblichen Zorns Wut ist geschlechtsneutral, im Alltag werden wütende Frauen jedoch schnell als hysterisch abgestempelt. Warum? SCHWERPUNKT: RISIKO

MEINUNG 8 Debatte aktuell Sollten Arbeitgeber standard­ mäßig duzen? 13

18 Im Zeitalter der Risiken Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht die Risiken in unserer Wirtschaftswelt. Wie kann HR damit umgehen?

Schnappschuss 22 Im Ernstfall Klaus von Heimendahl, Abteilungsleiter Personal im Verteidigungsministerium, über das Sondervermögen der Bundeswehr. 26 Risiken und Nebenwirkungen Wie kann HR Risiken erkennen und ihnen begegnen?

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30 Raus aus der Wagenburg­ mentalität Wie fehlertolerant kann die Polizei sein? Ein Interview mit Felix Paschek, Vizepräsident des Hessischen Landeskriminalamts 36 Frechheit!? Um als Arbeitgeber aufzufallen, lassen sich einige Unternehmen etwas einfallen. Wie kühn dürfen solche Kampagnen sein? 40 Arbeiten im Risikojob Wie fühlt es sich an, in einem Hochrisikoberuf zu arbeiten? Eine Fluglotsin und ein Winden-Operator berichten 44 Karrierekiller Homeoffice? Welchen Einfluss hat Homeoffice auf die Karriere? Ergebnisse aus der Verhaltensökonomie 48 Der Utopist Chemiefabrikant Hans-Dietrich Reckhaus richtete sein Geschäft neu aus und tolerierte starke Umsatz­einbußen. Ein Porträt

Tanja Bender leitet beim Technologie­ unternehmen Merck die Market-HR-­ Organisation. Sie hat im Zuge der Pandemie und des Krieges neue Kommu­ nikationsformate eingeführt.

52 Kultur der Unvoll­kommenheit Was braucht es, um eine positive Fehlerkultur zu etablieren?

Fotos: filipfoto / Getty Images; Merck / Lichtbildatelier Eva Speith, Darmstadt; Ekaterina Pushina / Getty Images; Sven Lechtleitner; Jacobia Dahm

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IM FOKUS: ­ INTEGRATION 58 Zeit des Zusammenhalts Mittlerweile haben einige Unternehmen Geflüchtete aus der Ukraine eingestellt. Erfahrungen, Tipps und Eindrücke

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ANALYSE 66 Ist der Ruf erst ruiniert Wie Recruitingverantwortliche auf negative Bewertungen im Netz reagieren sollten

Viele der geflüchteten Menschen aus der Ukraine wollen und dürfen hierzulande arbeiten. Wie gestalten Unternehmen diese chancenreiche, aber auch herausfordernde Form des Recruitings?

PRAXIS 70 Künstliche Empathie Ein Gespräch mit Simon Tschürtz von 100 Worte über Sprachanalyse und eine typgerechte Ansprache im Recruiting 74 Hingehört Michael Asshauer vom Magazin Machen! stellt seinen dazugehörigen Podcast vor. 76 Der Lichtblick Die Dokumentarfilmerin Ronja von Wurmb-Seibel hat ein Buch darüber geschrieben, wie wir mit negativen Nachrichten umgehen sollten. 78 Reingeschaut Ausgewählte Neuerscheinungen aus dem Bücherfrühling

80 Sieben Gedanken Nermin Ismail, Journalistin und Autorin aus Wien, über Hoff­ nung

94 Jetzt bewerben: Nachwuchs­ förderpreis

RECHT

96 Studie zu HR-Kompetenz im ­Aufsichtsrat

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Aktuelle Urteile

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Essay Was bedeutet Environmental So­ cial Governance für die Arbeitsrechtspraxis?

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#WOL4HR Zwischenbericht

12. BPM Arbeitsrechtstag 2022

99 Ukraine-Krieg: Was HR tun kann 100 Stress: Hilfe zur Selbsthilfe

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Impressum LETZTE SEITE

VERBAND 90

Editorial

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Der Personal-Total-Podcast

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Workforce Transformation

48 Die Produkte von Hans-Dietrich Reckhaus vernichten Insekten. Gleichzeitig setzt der Unternehmer sich für den Erhalt ihrer Lebensräu­ me ein. Ein gewagtes Geschäftsmo­ dell. Ein Porträt

102 Fragebogen Ann-Katrin Müller recherchiert für das Nachrichtenmanagazin Der Spiegel unter anderem über die AfD. Was bedeutet für sie Risiko?


MEINUNG

D E B AT T E

Sollten Arbeit­geber standardmäßig ­duzen? Das Du gehört für viele Menschen einfach zum Zeitgeist – gerade in sozialen Netzwerken oder in Start-ups. Auch Konzerne verordnen sich schon mal eine Du-Kultur. Solche Initiativen können jedoch auch ungelenk wirken. Welche Anredeform im Unternehmen ist also angemessen? Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

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urch das Siezen oder Duzen schaffen wir in unserer Kommunikation Distanz oder Nähe. Im 16. Jahrhundert hieß es noch „Hoheit, geht es Euch gut?“ statt „Hoheit, geht es Ihnen gut?“. Autoritäten wurden dadurch nie persönlich angesprochen. Erst ein Jahrhundert später kam das Sie, wie wir es heute verwenden, hinzu. Dieser Plural gilt als taktvolle Anrede, denn Distanz schafft Höflichkeit. Das Du, das uns heute aus unserem virtuellen Leben in den sozialen Netzwerken vertraut ist, möchte diese Distanz überwinden. Das Internet kennt schließlich keine Hierarchien. Auch Start-ups leben diese Kultur und prägen dementsprechend die Arbeitswelt. In Konzernen und Großunternehmen ist die Sache hingegen komplizierter: Einerseits sollen die Menschen vernetzt und agil miteinander arbeiten, andererseits gibt es Hierarchien und Befindlichkeiten, die die Menschen dazu bringen, am Sie festzuhalten. In der Folge haben sich vielerorts Mischformen etabliert. „Schicken Sie/schickt ihr mir dann gerne Ihre/eure Antwort bis Montag“, heißt es 8

dann mitunter im Mailverkehr. Und da sagen noch einige, eine gendergerechtere Sprache bringe Unheil in unsere Kommunikation. Dann gibt es noch jene Unternehmen, die eine Du-Kultur forcieren, um für ein vertrautes und familiäres Gefühl zu sorgen. So möchte manch ein Management von der Belegschaft geduzt werden, Führungskräfte bieten ihren Teams das Du an und Stellenanzeigen werden entsprechend überarbeitet. Dabei kommt es vor allem auf Authentizität an. Wenn Unternehmen nicht wissen, wer sie selbst sind, und ambivalent agieren, können solche Initiativen auferlegt oder unnatürlich wirken. Außerdem kann – je nach Persönlichkeit und Situation – das Sie respektvoller sein. Und auch hilfreich, beispielsweise beim ersten Aufeinandertreffen oder bei Konfliktgesprächen. Andere fühlen sich vom Du sogar überrumpelt oder beleidigt. Schließlich sind viele von uns mit dem Credo groß geworden, dass die ältere Person das Du anbietet, sofern sie das wünscht. Schließlich sollte jede Person selbst entscheiden dürfen, wie sie angesprochen www. hu ma n reso u rce sma n age r. d e


Fotos: Comspace / Tina Linster; Catja Vedder

MEINUNG

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Pro

Contra

Viele denken, dass ein Du alleine noch keine Kultur macht. Ich sage: Es ist ein wichtiges Signal. Denn das Duzen über Hierarchieebenen hinweg signalisiert: Bei uns steht das Gemeinsame im Vordergrund. Im Konzern habe ich erlebt, dass Anreden Grenzen ziehen: Das Du sind wir als Abteilung – das Sie sind die anderen. Duzen als Adelung der beruflichen Beziehung? Man erreicht mehr im Sinne einer modernen Unternehmenskultur, wenn man Duzen zum Standard macht. Die Höflichkeit und Wirkung einer Kommunikation darf nicht von der Anrede abhängig sein. Es gibt da einen Spruch, der besagt, dass es leichter sei, jemanden per Du mit einem Schimpfwort zu belegen als beim Siezen. Ich denke: Wer sich im geschäftlichen Kontext beschimpft, hat tiefergehende Interaktionsprobleme als die Anredeform. Moderne Unternehmen nehmen sich selbst nicht zu ernst – und dazu ist das Du ein wichtiger Schlüssel in einer Reihe von Maßnahmen, die zu einer von Wertschätzung und Augenhöhe geprägten Unternehmenskultur gehören.

Das Du im Unternehmen kann keine Pauschallösung sein. Letztlich ist es eine Entscheidung der Unternehmenskultur und damit auch eine wichtige Frage, wie die eigene Arbeitgebermarke bei Mitarbeitenden sowie Bewerberinnen und Kandidaten wahrgenommen werden soll. Und da gibt es erst einmal kein Richtig oder Falsch, sondern nur einen identitätsbasierten Ansatz, der die Menschen anspricht, die dazu passen – oder eben nicht. Denn es gibt Angestellte, die fühlen sich im eher traditionell-kulturellen Umfeld wohler, weil sie klare Hierarchien bevorzugen. Und dann gibt es eben jene, die in flachen Hierarchien besser zurechtkommen. Soll heißen: Mit Duzen oder Siezen setzen Unternehmen einen Filter, was ja nichts Schlechtes ist, sondern dazu führt, dass Arbeitgeber von vorneherein für diejenigen interessant sind, die auch unternehmenskulturell passen. Um nichts anderes geht es ja im Recruitingprozess.

Eva Stock, Chief People and Marketing Officer

Sascha Theisen, Berater bei Employer Telling

bei Comspace sowie Bloggerin und Autorin

und Experte für Arbeitgeberkommunikation

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TITEL

RISIKO

IIm m er t l a t i e Z Zeitalter r e d der n e k i s i R Risiken 18

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Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine macht deutlich: Die Wirtschaftswelt der Moderne wird geprägt von Risiken und Ungewissheiten. Wie können Unternehmen und auch HRAbteilungen damit umgehen? Ein Beitrag von Jan Schulte

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och spät am Abend des 24. Februar appellierte UN-Generalsekretär António Guterres an Wladimir Putin: „Geben Sie Frieden eine Chance“. Genützt hat es nicht. Wenige Stunden später sprach der Präsident Russlands von einer „Militäroperation“, warnte die NATO-Staaten vor einem Eingriff und feuerte kurz darauf die ersten Raketen auf die Ukraine ab. Eine „Militäroperation“ ist es nur in der russischen Propaganda. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Angriff, der längst zu einem Krieg geworden ist – mitten in Europa. Der Frieden, der für uns als selbstverständlich galt und für den die Europäische Union einst den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist vorbei. Die Gewissheit über die ewige Sicherheit ist tot. Deutschland und Europa müssen sich neu sortieren, politisch wie wirtschaftlich. Denn die Folgen sind unmittelbar: Deutschland muss sich mit einem Ende der russischen Gaslieferungen auseinandersetzen. Die Energieversorgung steht auf dem Spiel und die Wirtschaftswelt vor einer noch nie da gewesenen Herausforderung. Unternehmen ziehen sich aus Russland zurück. Menschen flüchten aus der Ukraine nach Europa, auch nach Deutschland. Es herrscht Verunsicherung. Die Wirtschaftswelt hält zahlreiche Risiken bereit – sei es durch Cyberangriffe, die Coronakrise oder den Fachkräftemangel. Doch der Krieg in der Ukraine verdeutlicht einmal mehr die Dringlichkeit des Themas: Die Wirtschaft bewegt m a i 20 22

sich in einem Hochrisikoumfeld, in dem lange Planungszeiten kaum etwas nützen, stattdessen in jedem Bereich Agilität gefragt ist. Doch wie sollen wir mit der permanenten Unsicherheit umgehen? Die Suche nach Antworten auf eben diese Frage kann zu Michael Grömling führen. Er ist Leiter der Forschungsgruppe Gesamtwirtschaftliche Analysen und Konjunktur beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Grömling wirft in seinem Job einen Blick auf das große Ganze – und das ist nicht gerade rosig. „Bereits bestehende Probleme verschärfen sich gerade deutlich“, sagt er. Dass die aktuelle Zeit und die jüngere Vergangenheit risikoreicher sind, sei zwar erst einmal ein Gefühl, das viele hätten. „Doch es geht auch darüber hinaus“, sagt Grömling mit Blick auf die jüngsten Krisen. Die Finanzkrise von 2007/2008, die Fluchtbewegung von 2015, die Coronakrise, die über allem schwebende Klimakrise, der Handelsstreit zwischen den USA und China, all das überschreite Ausmaß und Taktung vorheriger Jahrzehnte, sagt Grömling. Alleine die Überschneidung zwischen Coronapandemie und Krieg in der Ukraine sei für die Wirtschaft eine nie da gewesene Herausforderung, wie eine Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft von Ende März 2022 zeigt. Selbst wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, so beschreibt es darin Grömling selbst, seien die Wirtschaftseinbrüche bis heute zu groß gewesen, um wieder das Niveau vor der Pandemie zu erreichen. Darüber, wie sich der Krieg weiter auf die 19


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Im Ernstfall

Foto: picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt

Im März wurde vom Bundeskabinett beschlossen, dass die Bundeswehr ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro erhält. Es soll für die Finanzierung bedeutsamer militärischer Ausrüstung und Vorhaben zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit eingesetzt werden. Welche Auswirkungen hat das für das Personal der Bundeswehr? Fünf Antworten des Abteilungsleiters Personal im Verteidigungsministerium Klaus von Heimendahl.

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Herr von Heimendahl, zu welchen Teilen wird das geplante Geld in die personelle Infra­struktur fließen? Es wird derzeit noch darüber beraten, wie und für was dieses Geld verwendet wird. Letztlich entscheidet das Parlament, also der Deutsche Bundestag. Auswirkungen für das Personal der Bundeswehr ergeben sich aus den konkreten Beschaffungsentscheidungen. Sowohl Stärke als auch Qualifikationen und Fähigkeiten des Personals müssen mit den technischen Entwicklungen und Anforderungen Schritt halten. Eine bedarfsgerechte und einsatzbereite Personalausstattung ist der Kernauftrag unseres Personalmanagements. Ziel ist die Sicherstellung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Wie wirkt sich der Krieg in Europa und das akute Risiko auf die Personalpolitik aus? Die Bereitschaft, unserem Land gerade auch in diesen Krisenzeiten zu dienen und die Bundeswehr zu unterstützen, ist generell hoch. Wir regis­ trieren seit dem Ausbruch des Krieges eine erhöhte Zahl an interessierten Menschen, die Kontakt mit uns aufnehmen und unsere Karriereberatung aufsuchen. Auch seitens der Reserve gibt es eine erhöhte Bereitschaft an Reservedienstleistungen. Andererseits erreichen uns auch Anträge auf Kriegsdienstverweigerung. Wie sich die Entwicklungen auf das konkrete Bewerbungsaufkommen auswirken werden, ist noch nicht abzuschätzen. In Bezug auf unser Bestandspersonal richten sich unsere Maßnahmen der Personalbindung – unabhängig vom aktuellen Geschehen – vor allem an gefragte Spezialkräfte mit dem Ziel, sie an Bord zu halten. Wie wird innerhalb der Bundeswehr das Risiko thematisiert, das 23


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Von Risiken und ihren Nebenwirkungen Das Personalmanagement hat nicht unbedingt den Ruf, ein Berufsfeld für besonders Mutige zu sein. Aber potenzielle Gefahren lauern dennoch allerorten. Woran erkennen wir eigentlich ein Risiko – und wovon hängt es ab, wie wir ihm begegnen?

Ein Beitrag von Anne Hünninghaus

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Abbildung: filipfoto / Getty Images

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tellen Sie sich vor, Ihnen würde in diesem Augenblick ein Würfel in die Hand gedrückt. Sie haben einen einzigen Versuch: Fällt eine Eins, Zwei, Drei oder Vier, bekommen Sie ab sofort doppeltes Gehalt und dürfen zudem allen aus Ihrem Team einen Wunsch erfüllen – von der langersehnten Weiterbildung bis zum Sommerurlaub mit der ganzen Familie. Starrt Sie der Würfel hingegen mit fünf oder sechs Augen an, müssen Sie gleich morgen unwiderruflich und ohne Abschied Ihren Posten räumen. Sie haben zehn Sekunden Zeit zu entscheiden, ob Sie das Spiel spielen möchten – mit allen Konsequenzen. Und los! Ein solches Gedankenexperiment kann helfen, sich den Charakter eines prototypischen Risikos zu vergegenwärtigen. Es besteht immer aus zwei Komponenten, die in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen. Part Nummer eins: ein drohender Schaden. Part Nummer zwei: die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Verlust eintritt. Im Würfelbeispiel lassen sich diese beiden Komponenten sogar berechnen. Die Wahrscheinlichkeit, zu verlieren, liegt bei rund 33 Prozent. Die Gewinnchance indessen – also die Inversion des Risikos – liegt doppelt so hoch, also bei gut 66 Prozent. Ob Sie sich gerade spontan dafür oder dagegen entschieden haben, hängt unter anderem von äußeren Umständen ab: Wenn Sie ohnehin mit einer anderen Stelle liebäugeln oder bequem mehrere Monate finanziell überbrücken könnten, werden Sie eher zum Zocken bereit sein. Wäre es Ihr schlimmster Albtraum, Team und Unternehmen zu verlassen, werden Sie es angesichts der recht hohen Gefahr des Scheiterns vermutlich lassen. Im echten Leben ist Risiken einzugehen nicht immer gleichbedeutend mit Zockerei. Zudem sind Stochastik und Folgen selten so klar umrissen und gut berechenbar. „Die Schadensgröße ist für Menschen in der Abwägung meistens die ausschlaggebendere Komponente, weil sie mit Wahrscheinlichkeiten oft weniger gut umgehen können“, beobachtet daher Jörg Rieskamp. Der Leiter des Center for Economic Psychology an der Universität Basel ist Experte für Risiken. Eine gemeinsame Studie mit dem Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hatte vor wenigen Jahren die These belegt, dass wir alle zudem über eine individuelle Risikobereitschaft verfügen, analog zum Konzept der Intelligenz und deren Messung durch den Intelligenzquotienten. Das heißt: Ob wir eher risikoaffin oder -avers handeln, ist nicht ausschließlich situationsabhängig. Es ist auch fest in unserer Persönlichkeit verankert. Das hat mit unserer Genetik sowie mit gewonnenen Erfahrungen, also dem Alter, und unserem kulturellen Hintergrund zu tun. So sind zum Beispiel ältere deutsche Frauen im Durchschnitt weniger bereit, Risiken einzugehen, als männliche m a i 20 22

Jugendliche aus den USA. Im Einzelfall kann das natürlich ganz anders aussehen.

Was heißt denn schon „mutig“? Risiken lauern auch in der Unternehmenswelt allerorten und treffen HR mitten ins Herz: Wie hoch ist die Gefahr, dass Stellen nicht besetzt werden können? Oder dass die hauseigenen besten Talente abgeworben werden? Dass die Führung versagt, die Motivation der Belegschaft sinkt? Diese Szenarien klingen dramatisch, sind angesichts von Fachkräftemangel, Pandemie und Krieg in Europa jedoch nicht weit hergeholt. Den Ruf einer besonders mutigen Disziplin hat das Personalwesen dennoch nicht. Auch Angélique Thranberend, Director People Central Europe der Warner Music Group, fremdelt mit dem Begriff des Risikos. Das Wort klinge so groß und bedrohlich. Im Berufsalltag bei dem Hamburger Musikunternehmen spricht sie lieber von Handlungen und deren Konsequenzen. Thranberend meint aber auch: „Wenn wir im Personalmanagement Risiken komplett ausklammern würden, dann könnten wir keine Fortschritte machen und wären somit strategisch irrelevant.“ Jegliche Innovationen, bestätigt auch Experte Rieskamp, seien schließlich mit einem Risiko verbunden. Entscheidet sich ein Unternehmen dafür, Vertrauensarbeitszeit einzuführen, ist die Chance groß, auf dem Arbeitsmarkt und in der Belegschaft als modern zu erscheinen. Gleichzeitig besteht vielleicht ein Risiko, dass die altgediente Führungsgarde angesichts des empfundenen Kontrollverlusts querschießt. Aber wo anfangen? „Das größte und vermeidbarste HR‑­ Risiko geht erst einmal die Unternehmensführung ein, wenn sie HR kleinhält, nicht im Management berücksichtigt und den Verantwortlichen keine Gestaltungsfreiheit einräumt“, sagt Personalerin Thranberend. Beherzt und innovativ kann

„ Wenn wir im Personal­ management Risiken komplett ausklammern würden, könnten wir keine Fortschritte machen und wären strategisch irrelevant.“   Angélique Thranberend, Director People Central Europe, Warner Music Group

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Raus aus der Wagenburg­ mentalität Die Polizei Hessen möchte ihre Fehler- und Führungskultur entwickeln und hat dazu eine neue Stabsstelle unter der Leitung von Felix Paschek eingerichtet. Im Interview erklärt er, mit welchen Risiken die Polizei kämpft und wie fehlertolerant die Exekutive sein kann.

Foto: picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow

Ein Interview von Mirjam Stegherr

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Herr Paschek, Ihre Stabsstelle wurde als Reaktion auf Skandale um Rechtsextremismus innerhalb der hessischen Polizei initiiert. Sie behandeln aber zudem ganz grundlegende Fragen der Polizeiarbeit. Wie können auch andere Ihre Ergebnisse nutzen? Ich bin mir sicher, dass die Probleme, denen wir uns widmen, nicht nur in Hessen bestehen. Es ist bei uns nur offenkundig geworden, was in anderen Polizeien möglicherweise unter der Oberfläche verbirgt. Die Strukturen und Herausforderungen sind bei allen gleich. Darum glaube ich, dass unsere Arbeit eine gute Blaupause für moderne Polizeiarbeit ist. Mit der Stabsstelle hat das Innenministerium Hessen öffentlich ein Zeichen gesetzt. Wie waren die Reaktionen in den eigenen Reihen? Ambivalent. Eine der ersten Empfehlungen, die wir umgesetzt haben,

war, die über 20.000 Bediensteten der hessischen Polizei zu informieren. In Transparenzveranstaltungen haben wir ihnen gezeigt, welche Inhalte in den rechtsextremen Chat-Gruppen teilweise über Jahre hinweg verschickt worden sind. Das hat alle Anwesenden tief erschüttert. Es war ein wichtiger Impuls, um zu überlegen, wie so etwas entstehen kann, warum keiner adäquat darauf reagiert hat und wie sich unsere Kultur ändern muss, damit es nicht wieder passiert. Es gab auch Bedienstete, die sich unter Generalverdacht gestellt gesehen haben. Das ist ein immer mitschwingender Vorwurf und meines Erachtens eine Ursache, warum die Polizei in Teilen eine Art Wagenburgmentalität aufweist. Wir sind als Polizei häufig mit Kritik konfrontiert, oft auch unberechtigt. Dann werden uns pauschal Dinge unterstellt, die Einzelne anrich31


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Wie frech darf HR sein?

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Um als Arbeitgeber aufzufallen, reicht eine schnöde Stellenanzeige längst nicht mehr aus. Heute müssen Unternehmen sich was trauen. Doch wagemutige Personalmarketingkampagnen können mitunter auch für Empörung statt für Begeisterung sorgen.

Ein Beitrag von Petra Walther

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Foto: filistimlyanin / Getty Images

ussicht beschissen? Perspektive top!“ Mit diesen Worten warben die Helios-Kliniken im Herbst vergangenen Jahres um Auszubildende. Das dazugehörige Foto: Eine junge Frau, die lächelnd, wie für ein Foto posierend, in eine hochgehaltene Bettpfanne blickt. #EchtesLeben, lautet der Claim. Dass diese Recruiting-Kampagne unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat, mag kaum überraschen. Finden einige die Verbindung von Fäkalien und Beförderung schlicht daneben, gibt es laut Alexander Schröder viele, die die Kampagne als mutig und humorvoll ansehen. Alexander Schröder ist Leiter Employer Branding bei Helios und bestätigt: Diese Kampagne polarisiert bewusst. „Wir wollten keinen Shitstorm entfachen, auf jeden Fall aber provozieren. Dazu haben wir uns der Vorurteile über die Berufsbilder in der Pflege bedient, die unserer Meinung nach fast schon klischeehaft in den Köpfen der Menschen verhaftet sind.“ Marketing sei schließlich etwas, an dem sich die Menschen stark reiben können. Aufmerksamkeit zu erzeugen, ist dabei laut Schröder das oberste Ziel gewesen.

Mehr Wagnis durch den Fachkräftemangel Sich bei der Werbung um Pflegepersonal provokativ zu zeigen und mehr zu wagen kommt derzeit häufiger vor. Das Klinikum Bielefeld jedenfalls sorgt mit der Kampagne #teil­ desganzen mit Sätzen wie „Heute schon in Scheiße gegrifm a i 20 22

fen?“ sogar noch drastischer für Aufmerksamkeit, als es die Helios-Kliniken tun. Daniela Eisele-Wijnbergen, Professorin für Human Resource Management an der HSBA Hamburg School of Business Administration, bringt die wagemutigen Kampagnen mit der dringenden Suche nach Pflegepersonal in Verbindung: Krankenhäuser würden versuchen, mit mehr Kreativität hervorzustechen. Die beschriebenen Recruiting-Maßnahmen schießen ihrer Meinung nach aber nicht über das Ziel hinaus. Sie seien extravagant und anders und entsprächen damit dem Zeitgeist. „Vor 20 Jahren hätte man sich das nicht getraut. Durch Social Media haben die Unternehmen heute jedoch die Möglichkeit, eine Anzeige beziehungsweise einen Spot schneller wieder vom Markt zu nehmen, sodass weniger Scheu vor ausgefalleneren Aktionen besteht“, sagt Eisele-Wijnbergen. Branchenübergreifend fielen die Recruiting-Kampagnen der jüngsten Zeit kaum durch freche Elemente und Wagemut auf. Für Andreas Ernst, Geschäftsführer von Jung von Matt Next Alster in Hamburg, hat das Personalmarketing gar einen Nachholbedarf, was Kreativität und Mut betrifft. Infolge hinke es hinter dem Niveau guter Kommunikation hinterher, die auffällig und mutig sein müsse. „Wenn ich die Menschen zum Lachen oder Schmunzeln bringe, bewirke ich viel mehr als mit nüchternen Informationen. So begeistere, inspiriere, erreiche ich sie“, sagt Ernst. Menschen wollen schließlich unterhalten werden. All dies sei im Personalmarketing jedoch kaum zu finden. 37


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Arbeiten im Risikojob Personalverantwortliche müssen sich häufig mit Risiken befassen und sie steuern. Es gibt schließlich zahlreiche gefährliche Jobs: vom Handwerk bis zur Flugsicherung. Wie fühlt es sich an, in einem Hochrisikoberuf zu arbeiten? Eine Fluglotsin und ein Winden-Operator berichten. Ein Beitrag von Anna Friedrich

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er schon einmal jemanden beim Fensterreinigen in schwindelerregender Höhe beobachtet hat, weiß: Das sieht ziemlich gefährlich aus. Wie groß das Risiko wirklich ist, zeigt sich beim Blick auf die Versicherungen. Menschen in diesem Beruf zahlen einen vergleichsweise hohen Beitrag für eine Berufsunfähigkeitsabsicherung. Auch Dachdecker oder Pilotinnen müssen für die Police tief in die Tasche greifen. Für Sprengberechtigte oder auch Rennsportlerinnen und Profirennfahrer sieht es noch schlechter aus: Sie haben oftmals kaum Aussichten darauf, überhaupt eine private Absicherung zu erhalten – ihre Jobs sind einfach zu risikoreich. Natürlich können auch Personalverantwortliche solche gefährdeten Berufsgruppen nicht grundsätzlich vor Unfällen oder Stress bewahren. Sie können jedoch sehr wohl dafür sorgen, dass die Beschäftigten optimal auf ihre Rolle vorbereitet sind. Das beginnt mit einer soliden Ausbildung, fachlichen Schulungen, Sicherheitsunterweisungen und Gesundheitsangeboten. HR und Führungskräfte müssen die Risiken, denen die Menschen ausgesetzt sind, nicht nur verstehen, sondern auch steuern. Dazu gehört zum Beispiel, bestimmte Verhaltensregeln festzulegen: Was passiert, wenn es doch einmal zu einem Unfall kommt? Wer trägt die Verantwortung für einen herausfordernden Einsatz? Welches Risiko darf eingegangen werden und welches nicht? Die Antworten auf diese Fragen hängen naturgemäß von der jeweiligen Branche und dem Tätigkeitsfeld ab. Eines ist aber für alle gleich: Sind Angestellte einem Risiko ausgesetzt, braucht es klare Regeln und eine vertrauensbasierte Unternehmenskultur. 40

Wie das in der Praxis funktionieren kann, berichten Fluglotsin Damaris Schröder und Winden-Operator Sebastian Schneider. ***

Flugsicherung: Die Fluglotsin am Radarschirm „Als Fluglotsin höre ich das Wort Risiko natürlich gar nicht gerne. Wir sprechen von Verantwortung. Seit fünf Jahren verantworte ich einen Luftraum östlich des Frankfurter Flughafens, in dem viele Anflüge geführt werden. Ich arbeite als sogenannte Centerlotsin in der Kontrollzentrale, das heißt, ich überwache alle Flieger, die in meinem Bereich in der Luft sind. Zu Spitzenzeiten sind das schon mal zwölf Flugzeuge gleichzeitig. Ich führe die Flugzeuge, deren genauen Standort ich auf dem Radarmonitor sehe, durch meinen Luftraum. Am Flughafen übernehmen dann Tower-Lotsinnen und -Lotsen, sie geben die Starts und Landungen der Maschinen frei. Die Verantwortung trage ich natürlich nicht alleine. Wir arbeiten immer zu zweit. Eine Person sitzt am Radarschirm und kommuniziert mit dem Cockpit im Flugzeug. Direkt nebendran sitzen die Koordinationslotsinnen und -lotsen und informieren die benachbarten Lufträume, wenn einer unserer Flieger beispielsweise in einer anderen als der geplanten Höhe in einen angrenzenden Luftraum einfliegen wird. Im Einsatzplan sehe ich, welche Position ich wann ausfülle – wir sind für beide Rollen ausgebildet. Mein rund achtstündiger Arbeitstag hat viele Pausen. Die brauche ich auch, damit ich stets voll konzentriert arbeiten www. hu ma n reso u rce sma n age r. d e


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„ Nach maximal zwei Stunden am Stück mache ich mindestens 30 Minuten Pause.“   Damaris Schröder, Centerlotsin bei der

Foto: DFS

DFS Deutsche Flugsicherung in Langen

kann. Nach maximal zwei Stunden am Stück mache ich mindestens 30 Minuten Pause. Dann gehe ich spazieren, lese oder esse etwas. Manche von uns machen in ihren Pausen Sport. Für uns steht Sicherheit an oberster Stelle. Deshalb gelten auch strenge Regeln: Wir müssen die Pausen penibel einhalten. Und nur, wer hundertprozentig fit ist, kommt zur Arbeit. Wache ich morgens beispielsweise mit Kopfweh auf, bleibe ich daheim. Ich bin mir meiner Verantwortung jederzeit bewusst. Aber sie belastet mich nicht, im Gegenteil. Fluglotsinnen und -lotsen brauchen räumliches Vorstellungsvermögen, Nervenstärke und natürlich Verantwortungsbewusstsein. Die Ausbildung hat mich darauf vorbereitet, auch in komplexen Situationen besonnene Entscheidungen zu treffen. Das begann schon mit dem Einstellungstest: Nur fünf Prozent der Bewerberinnen und Kandidaten schaffen es überhaupt durch den Test. Im ersten Jahr übt man sämtliche Situationen im Simulator. Anfangs ist das recht einfach: Im Luftraum fliegt eine Maschine, die man lotsen muss. Dann kommen zwei Flieger, später kreuzen sich die Wege in der Luft. Erfahrene Fluglotsinnen und -lotsen betreuen m a i 20 22

uns in diesem Ausbildungsabschnitt und geben uns Feedback. Danach geht es schon an den späteren Arbeitsplatz: Hier sitzt die Ausbilderin oder der Ausbilder immer direkt daneben. Anfangs hatte ich beispielsweise Schwierigkeiten, Sprechfunk mit starkem Akzent zu verstehen. Im Sommer ist es sehr herausfordernd, wenn plötzlich eine Gewitterzelle auftaucht und Maschinen diese Gebiete umfliegen. Wer in der Luft ist, kann da nicht einfach so weg. So etwas kann man im Simulator nur bedingt trainieren. Die Praxisphasen in der Ausbildung dauern unterschiedlich lang. Es geht bei uns nicht um Schnelligkeit, sondern um Sicherheit. Daher gibt es für die Dauer der praktischen Ausbildung keine strengen Zeitvorgaben. Der individuelle Fortschritt ist entscheidend, bei Unsicherheiten kann das Training verlängert werden. Es fällt mir leicht, in meinem Job ruhig und gelassen zu bleiben, denn ich habe stets einen Plan B im Kopf. Wir werden auch immer nur für einen Luftraum ausgebildet. Meiner ist ein Dreieck: Frankfurt – Nürnberg – Stuttgart. Der deutsche Himmel ist in viele verschiedene Lufträume unterteilt, wie ein Puzzle. Ich kenne in meinem Luftraum jeden Flugplatz, alle Streckennetze und die angrenzenden Lufträume. Jeden Morgen schaue ich am PC nach etwaigen Änderungen, manchmal ist ein Flugplatz gesperrt oder eine Wegeführung ändert sich. Ich bin Spezialistin – und das muss ich auch sein, denn Komplexität hat auch ihre Grenzen. Fluglotsinnen und -lotsen haben einen eigenen Tarifvertrag und verdienen im Schnitt 120.000 Euro im Jahr. 41


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Der Utopist Die Produkte von Hans-Dietrich Reckhaus vernichten Insekten. Gleichzeitig setzt der Unternehmer sich für den Erhalt ihrer Lebensräume ein. Ein gewagtes Geschäftsmodell, das sich erst in ferner Zukunft auszahlt – oder vielleicht nie. Ein Porträt von Sven Lechtleitner

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Falls er nicht gerade geschäftlich reist oder sich am Standort in der Schweiz aufhält, ist er jeden Morgen vor acht Uhr im Betrieb, aber mittlerweile ist er längst nicht mehr vor allen anderen da. Die Produktion startet bereits um sechs Uhr. Es herrschen weitestgehend feste Arbeits- und Pausenzeiten, wie es in Produktionsbetrieben üblich ist. Wenn er nach acht Uhr komme, habe er ein schlechtes Gewissen und entschuldige sich bei seinem Team. Niemand der rund 50 Beschäftigten ist überrascht, wenn der Chef vorbeigeht, ein Gespräch sucht oder Produkte begutachtet. Mit dem morgendlichen Rundgang möchte er seine Wertschätzung ausdrücken. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler ist sich der harten Arbeit in der Fertigung bewusst. Er selbst hat lange Zeit in der Produktion verbracht. Trotz der Nähe zur Belegschaft wird er traditionell mit „Sie“ und teils mit Doktortitel angesprochen. Dabei sei allen bekannt, dass sie ihn gerne ohne akademischen Grad ansprechen könnten.

Sinn vor Sicherheit

Foto: Sven Lechtleitner

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orgens um 7:50 Uhr geht Hans-Dietrich Reckhaus gern eine Runde durch den Betrieb. Sein Weg führt vorbei an Packtischen, an denen Angestellte mit kleinen Fläschchen hantieren oder grünes Pulver in Papierschachteln abfüllen. Über kurze Verbindungsgänge gelangt der 56-jährige Unternehmer von Halle zu Halle. Es gibt viele solcher Tunnelstücke zwischen den Gebäuden auf dem 15.000 Quadratmeter großen Firmengelände. Die Fertigung beansprucht jedoch nur einen Teil des Geländes am Stadtrand von Bielefeld. Der meiste Platz dient als Lagerfläche, auf der voll beladene Produktpaletten auf ihre Fuhre zum Handel warten. Die verschlungene Anordnung der Hallenwege gleicht einem Labyrinth – nicht jedoch für den Familienunternehmer in zweiter Generation. Sein Vater hatte seit Gründung der Firma im Jahr 1956 nach und nach die Produktionshallen bauen lassen und im Jahr 1995 das Ruder an die beiden Söhne übergeben. Heute verantwortet Hans-Dietrich Reckhaus die Geschäfte alleine. Er kennt jeden Winkel und Lagerplatz, weiß, wie Maschinen funktionieren, hat sie teils selbst mit konzipiert. Das Sortiment reicht von Klebefallen und Mottenpapier über Ameisenpulver und Lufterfrischer bis hin zu Insektensprays für Privathaushalte – sei es als eigene Marke oder Private Label für große Einzelhandels- und Drogerieketten. „Viele Jahre war ich morgens der Erste in der Firma und abends der Letzte“, sagt Hans-Dietrich Reckhaus. Er hat am großen Konferenztisch im Meetingraum Platz genommen. m a i 20 22

Sein Geschäftsmodell hinterfragte Reckhaus früher nicht weiter und führte das Unternehmen zunächst risikoarm im Sinne seiner Eltern weiter – bis eines Tages die Konzeptkunst eine Sinnfrage aufwarf. Für ein neuentwickeltes Produkt im Jahr 2011 stand dem kleinen Betrieb kein großes Werbebudget zur Verfügung. Dennoch sollte die insektizidfreie Fliegenfalle für Fenster ein Verkaufsschlager werden. Reckhaus meldete darauf ein Patent an, das erste der Firmengeschichte. Der Literatur- und Kunstliebhaber beauftragte zwei ihm bekannte Konzeptkünstler aus der Schweiz mit der Vermarktungsidee, Frank und Patrik Riklin. Nach einer Bedenkzeit wollten die beiden ihn jedoch nicht unterstützen, aus ethischen Gründen. Er erinnert sich an die Frage, die sie ihm stellten: „Wie kannst Du nur den ganzen Tag Tötungsprodukte produzieren?“ Ihr Vorschlag: Statt eine Fliegenfalle zu vermarkten, solle er lieber mit einem Dorf darüber diskutieren, wie viel Wert eine Fliege habe. Das wollten sie mit einer der größten Fliegenrettungsaktion der Welt verbinden. „Bis zu dem Moment habe ich nie ein schlechtes Gewissen wegen meiner Produkte gehabt, aber auch nie über den Wert von Insekten nachgedacht“, sagt der gebürtige Bielefelder. Künstlerisch hatten die beiden ihn überzeugt, aber für das Geschäft war die Idee zu unbrauchbar. Indirekt würde er den Menschen raten, seine Produkte nicht zu kaufen. Doch die Idee ließ ihn nicht los. Zwei Nächte konnte er nicht schlafen und meldete sich im Büro ab. Am dritten Tag entschied er sich, die Aktion zu realisieren. Eine weitere Forderung der Künstler lautete: Reckhaus solle die 49


TITEL

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RISIKO

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Die Kultur der ­Unvoll­ kommenheit Jeder Mensch macht Fehler. Aber nicht jeder weiß, richtig mit Fehlern umzugehen. Eine positive Fehlerkultur verhilft zu einer besseren Zusammenarbeit – wenn man sich denn darauf einlassen kann. Ein Beitrag von Mirjam Stegherr

Foto: Vitaliy Krivchikov / Getty Images

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er eine Bruchlandung hinlegt, scheitert. So lautet die Definition. Elon Musk aber feierte es als Erfolg, als letztes Jahr eine Rakete seiner Firma SpaceX nicht nur zu Bruch, sondern durch eine Explosion bei der Landung sogar in Flammen aufging. „Mars, wir kommen“, schrieb Musk anschließend auf Twitter. Das Ziel, Menschen ins All zu transportieren, sei durch den Fehler beim unbesetzten Prototyp näher gerückt: SpaceX hat Daten generiert, die es zur weiteren Entwicklung nutzt. Der Fehler ist kein Scheitern, sondern Teil des Systems. Selten sind Fehler bei einer Entwicklung so sichtbar. Und selten werden sie so gelobt. Dabei haben viele große Erfindungen ihren Ursprung in Fehlern: Penicillin zum Beispiel oder Teflon. Penicillin wurde entdeckt, weil eine Petrischale dreckig herumstand, Teflon, weil ein Behälter mit Gas länger gefroren wurde als geplant. „Wenn wir wollen, dass Innovationen entstehen, müssen wir akzeptieren, dass Fehler passieren. Denn Innovationen brauchen Experimente, und Experimente gehen immer mit Fehlern einher“, sagt Professor Ralf Kemmer, Experte für positive Fehlerkultur an der Fachhochschule SRH Berlin. Kemmer hat die Fuckup Nights in die Hauptstadt geholt, das war vor knapp zehn Jahren. Bei den Abenden berichten die Anwe53


IM FOKUS

I N T EG R AT I O N

Der Krieg in der Ukraine hat die größte Fluchtbewegung innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Viele der Geflüchteten wollen und dürfen arbeiten. Wie gestalten Unternehmen diese chancenreiche, aber auch herausfordernde Form des Recruitings? Ein Beitrag von Jeanne Wellnitz

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Abbildung: Ekaterina Pushina / Getty Images

Zeit des Zusammenhalts


IM FOKUS

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ave Ulrich hebt eine Hand. Sie steht für die Menschen in einer Organisation. Hinzu kommt die andere Hand als Faust. Sie repräsentiert die Organisation. Der amerikanische HR-Experte bettet die Faust in seine offene Hand und blickt in die Kamera. So entstehe Leadership, sagt er. Dann streift er mit beiden Händen über seine Unterarme, sie stellen das verbindende Element dar: Die HR-Services. Es ist der 17. März 2022 und Dave Ulrich sitzt mit seiner Geschäftspartnerin und Frau, Wendy Ulrich, in einem Livestream, der später unter dem Titel Rise! auf Youtube zu sehen ist. Der Untertitel lautet: How Human Resources Can Lead the Organization Through The Current Humanitarian Crisis And Beyond. Dave Ulrich fordert: Für die HR-Profession sei es nun an der Zeit, sich als globale Community hervorzutun. „HR“ solle nicht mehr für Human Resources stehen, sondern für Humanitarian Relief – also die Linderung menschlicher Not. An diesem Tag im März ist es 21 Tage her, dass die russische Armee die Ukraine angegriffen hat. Es herrscht Krieg in Europa und damit auch Aufruhr, Bestürzung und Handlungsbedarf in den Personalabteilungen. HR-Verantwortliche müssen in dieser schmerzvollen Zeit vieles gleichzeitig umsetzen: Ukrainische Mitarbeitende und deren Familien müssen aus den umkämpften Gebieten in Sicherheit gebracht werden. Zudem verlangt das immense soziale Engagement in vielen Belegschaften Priorisierung und Koordination. Zahlreiche arbeitsrechtliche Fragen kommen auf. Führungskräfte brauchen Unterstützung, um mit ihren Teams ins Gespräch zu kommen, insbesondere mit ukrainischen und russischen Mitarbeitenden. Es braucht Raum für Austausch, die Ohnmacht muss ausgehalten, die eigene Betroffenheit verarbeitet werden. m a i 20 22

Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 sind mehr als 5,1 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet oder vertrieben worden: 379.123 davon hatten Deutschland als Ziel (Stand 25. April). Knapp die Hälfte der ukrainischen Geflüchteten sind Kinder, die Erwachsenen überwiegend Frauen. Belastbare Angaben zur Demografie und Sozialstruktur liegen jedoch noch nicht vor, ist in dem Bericht Geflüchtete aus der Ukraine: Eine Einschätzung der Integrationschancen nachzulesen. Er wurde im März vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlicht. Inwieweit sich die Demografie und Sozialstruktur der Geflüchteten verändern werde, hänge auch davon ab, ob künftig Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Kriegsgebiet verlassen dürften und wie viele Menschen wieder zurückkehrten.

Perspektive und Halt Die erste Zeit war von Schock und Alarmbereitschaft, schnellem Handeln und Organisationsaufwand geprägt. Es ging darum, Leben zu retten. Jetzt haben viele das Bedürfnis, mehr zu tun. Neben Sicherheit geht es nun auch darum, eine Perspektive zu bieten. „Unternehmen wollen Chancen schaffen durch Praktika und Arbeitsplätze“, sagt Sarah Strobel vom Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge. Sie ist Projektleiterin des Netzwerkteams und sieht auch an den steigenden Registrierungszahlen, dass die Unternehmen sich auf die Fluchtbewegung einstellen. Es werden Bewerbungsgespräche geführt, manche Arbeitsverhältnisse sogar bereits zum 1. April umgesetzt. Und es gibt viele Fragen, die das Netzwerk aus den Personalabteilungen erreichen: Auf welchen Plattformen sollten sie Jobangebote veröffentlichen? Gibt es Zugang zu Fördermöglichkeiten? Was muss arbeitsrechtlich beachtet werden? 59


RECHT

E S S AY

Environmental Social ­Governance im Arbeitsrecht Environmental Social Governance – kurz ESG – ist seit einiger Zeit in aller Munde. Die Arbeitsrechtspraxis erkennt die Bedeutung dieser Thematik erst langsam. Dabei hat ESG das Potenzial, im Arbeitsrecht eines der bestimmenden Themen der kommenden Jahre zu werden. Ein Gastbeitrag von Till Heimann und Christoph Seidler

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achhaltigkeit und Arbeitsrecht – vor nicht allzu langer Zeit wäre man für diese Begriffskombination belächelt worden. Doch die Zeiten ändern sich. Der Begriff „Green HRM“ ist schon länger präsent. Auch in das Arbeitsrecht strahlt die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit aus. Unter der Abkürzung „ESG“ gelangt Environmental Social Governance als Thema rund um Nachhaltigkeit und verantwortliche Unternehmensführung auch arbeitsrechtlich in den Fokus. Manches erinnert an die Anfangszeiten des Allgemeinen Gleich­ behandlungsgesetzes. Auch dieses basierte auf europäischen Vorgaben und wurde bei Schaffung durchaus kritisch gesehen – und hinsichtlich seiner Tragweite unterschätzt. Jahre später sind Auseinandersetzungen rund um „AGG-Hopper“ – also Klagen, die systematisch Entschädigungen wegen Diskriminierung in Stellenanzeigen vor den Arbeitsgerichten bezwecken – längst im Mainstream angekommen. Auch die (vermeintliche) Altersdiskriminierung bei Sozialplänen oder Entgelttransparenz beschäftigt die Arbeitsrechtspraxis immer wieder. Vieles spricht dafür, dass das Thema Environmental Social Governance ebenfalls eine solche im Wortsinne nachhaltige Bedeutung im Arbeitsrecht erlangen wird.

Die Europäische Union erweist sich auch beim Thema Nachhaltigkeit als maßgeblicher Treiber. Für Arbeitgeber ist insoweit besonders die wohl im dritten Quartal 2022 in Kraft tretende Corporate Social Responsibility Directive von Bedeutung. Diese europäische Richtlinie sieht voraussichtlich ab dem Wirtschaftsjahr 2023 umfangreiche Berichtspflichten für mittlere und große Unternehmen aller Branchen vor. Große kapitalmarktorientierte Unternehmen – insbesondere börsennotierte Unternehmen, Banken und Versicherungen – müssen im Vergleich zur aktuellen Rechtslage dann deutlich detaillierter berichten. Ab 2026 werden derartige Berichte für alle kapitalmarktorientierten Unternehmen relevant, die zwei von drei Kriterien (ab zehn Beschäftigten, 350.000 EUR Bilanzsumme oder 700.000 EUR Umsatzerlös) erfüllen. Neben dem Thema Umweltschutz sind vor allem die Berichtspflichten zum Thema sozialer Nachhaltigkeit für HR relevant. 84

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Grafik: Prostock-Studio / Getty Images

Eine neue EU-Richtlinie als Aufhänger


IMPRESSUM

Berichte werden zukünftig insbesondere Angaben zur sozialen Verantwortung des Unternehmens und dem Umgang mit Beschäftigten, über Chancengleichheit (die Wahrung von Geschlechtergerechtigkeit und Lohngleichheit), Inklusion, Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben und die Schaffung eines gesunden und sicheren Arbeitsumfelds enthalten müssen. Offenzulegen sind ferner Informationen zu Arbeitsbedingungen, einschließlich Angaben zu Tarifverhandlungen und sozialem Dialog. Um nur ein Beispiel zu nennen: Unternehmen, die sich mit Gewerkschaftsforderungen konfrontiert sehen, werden hierzu künftig berichtspflichtig sein.

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) (Quadriga Media) Dr. Emmanuel Siregar (BPM) Redaktion

Die Berichtspflicht – ein zahnloser Tiger?

Sven Lechtleitner (sl) Chefredakteur sven.lechtleitner@quadriga.eu

Nähere inhaltliche Vorgaben zu Sozialthemen – wie zu Beschäftigungsquoten – enthält die Corporate Social Responsibility Directive (noch) nicht; die erforderlichen technischen Vorgaben werden durch die EU-Sozialtaxonomie derzeit noch erarbeitet. Ihrer Bedeutung für die Arbeitswelt schon jetzt tut das jedoch keinen Abbruch. Denn die Berichtspflichten dienen insbesondere dazu, Investitionsentscheidungen auf eine europaweit vergleichbare Basis zu stellen. Es wird sich also eine Art Nachhaltigkeitsranking herausbilden, das als Grundlage für den Zugang zum Kapitalmarkt dienen wird. Wer in seinen jährlichen Lageberichten Auskunft etwa über die Herstellung von Lohngerechtigkeit oder die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben geben muss, wird zumindest in einem ersten Schritt eine Bestandsaufnahme durchführen müssen. Hier können nicht länger nur beschönigende Darstellungen oder die Beschreibung wohlklingender, aber tatsächlich wirkungsloser Maßnahmen ausreichen. Unternehmen werden daher regelmäßig versuchen wollen, erkannte Missstände zu verbessern. Das nicht nur aus Eigeninteresse: Die Corporate Social Responsibility Directive sieht als Sanktionen unter anderem die öffentliche Anprangerung von Verstößen sowie (noch nicht näher konkretisiert) Geldbußen vor. Ob diese das abschreckende Niveau der Datenschutzgrundverordnung erreichen werden, bleibt abzuwarten. Was (aufgrund der noch ausstehenden Umsetzung noch) fehlt, ist eine Regelung zur individuellen Durchsetzung bestimmter ESG-Pflichten. So hat die deutsche Gesetzgebung in Umsetzung der Antidiskriminierungsregelungen der Europäischen Union Schadensersatzansprüche von Betroffenen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgesehen. Ob die Ampelkoalition bei der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht über die Vorgaben hinausgeht und Sanktionen für Unternehmen vorsieht, bleibt abzuwarten.

Jeanne Wellnitz (jew) Redakteurin jeanne.wellnitz@quadriga.eu

ESG und Arbeitsrecht – vielfältige Bezüge Losgelöst davon bilden die Berichtspflichten eine nicht zu unterschätzende Quelle für individualrechtliche Streitigkeiten. Beschäftigte, die individuelle Ansprüche aus einer Verletzung von Sozialstandards herleiten wollen – denkbar sind beispielsweise Verstöße gegen die Lohngerechtigkeit, unzureichende Inklusion oder ein vermeintlich unsicheres Arbeitsumfeld –, könnten sich auf die ESG-Berichte stützen. Unter Hinweis auf allgemeine Versäumnisse, die in den Berichten erkennbar werden könnten, ließen sich individuelle Klagen führen. m a i 20 22

Senta Gekeler (sg) Online-Redakteurin senta.gekeler@quadriga.eu Charleen Rethmeyer (cr) Werkstudentin charleen.rethmeyer@quadriga.eu Autoren und Autorinnen der Ausgabe Anna Friedrich, Till Heimann, CianiSophia Hoeder, Anne Hünninghaus, Nermin Ismail, Markus Latzke, Wolfgang Mayrhofer, Katharina Pernkopf, Jan Schulte, Christoph Seidler, Mirjam Stegherr, Matthias Sutter, Pascal Verma, Petra Walther Lektorat Christa Melli, Gaby Flemnitz Gestaltung Marcel Franke, Damian Strohmaier Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de

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LETZTE SEITE

Die Wage­ mutige Ann-Katrin Müller ist Redakteurin im Haupt­ stadtstudio des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Die 35-Jährige ist bekannt für ihre Recherchen über die AfD sowie ihre Berichter­ stattung zu sexualisierter Gewalt.

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es darum geht, ungerechtfertigte Ängste bei meinen Informantinnen und Gesprächspartnern abzubauen. Ansonsten überrede ich niemanden dazu, mir Dinge zu sagen, die sie oder er nicht sagen möchte. Mein persönlich größtes Risiko bin ich eingegangen, als … ich über jemanden berichtet habe, der angedroht hatte, mich an einer Laterne aufzuknüpfen. Ich bin das Wagnis eingegangen, weil … ich weiß, dass ich den Spiegel im Rücken und tolle Menschen um mich herum habe. Froh macht mich, … dass mir so viele Personen Informationen anvertrauen. Nach einer aufwendigen ­Recherche kann es passieren, dass … die Nachbereitung ähnlich viel Zeit frisst, weil Menschen, über die ich berichtet habe, uns verklagen. Bislang haben wir am Ende jedoch fast immer recht bekommen. Es hilft mir in dieser Zeit, … mir zu vergegenwärtigen, was die Veröffentlichung bewirkt hat. Und Schokolade! Die hilft immer.

Drohungen und Schikanen ­gegenüber journalistischer Arbeit bewirken ... bei mir eine Art Trotzreaktion, erst recht weiter zu recherchieren und mir nicht den Mund verbieten zu lassen. Ich wünsche mir von den Medien, dass … sie weiter viele Ressourcen in aufwendige Recherchen stecken. Ich gehe niemals aus dem Haus, ohne … einen externen Akku für mein Smartphone. Denn das brauche ich immer für meine Recherchen. Die Fragen stellten Charleen ­Rethmeyer und Jeanne Wellnitz.

Ann-Katrin Müller ist Politikredakteurin im Hauptstadtstudio des Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Sie ist bekannt geworden durch ihre Recherchen zu Vorwürfen sexualisierter Gewalt im Leistungssport und in der Unterhaltungsbranche. Ihr Volontariat absolvierte sie beim Polittalk Hart aber fair. Sie ist Co-Autorin von Die Unsichtbaren. Wie Geheimagentinnen die deutsche Geschichte geprägt haben.

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Foto: Jacobia Dahm

Risiko bedeutet für mich, … dass ich aufpassen muss, was ich an persönlichen Daten preisgebe – und wo ich mich bei Demonstrationen von Rechtsaußen oder Querdenkern aufhalte, um nicht wieder getreten, bespuckt oder angerempelt zu werden. Eine riskante Situation im Job habe ich zuletzt erlebt, als … ich bei einer AfD-Veranstaltung von zwei Sympathisanten der Partei bedrängt und bedroht wurde, weil ihnen meine Berichterstattung nicht passte. Ich bin Journalistin geworden, weil … ich Dinge aufdecken möchte und es wichtig finde, dass man mächtigen Menschen auf die Finger schaut. So gut das eben geht. Besonders wichtig sind mir Recherchen zu … demokratiefeindlichen Personen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten. Pikante Details bringe ich in Erfahrung, indem … ich nicht davor zurückschrecke, mit zahlreichen Menschen zu sprechen und Berge von Akten und Unterlagen zu lesen. Viel Überzeugungsarbeit braucht es, wenn …


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