Berlin Marketing Journal

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Es liegt – und hier sind wir sehr schnell bei Unter­ nehmenskultur und Digital Leadership – an Unterneh­ men, ein Umfeld zu schaffen, in dem das Marketing seine Briefings und sogar den Unternehmenszweck konstruk­ tiv hinterfragen kann. Und es liegt am Marketing, diese Kultur einzufordern. Echte Schnittstellen zu anderen Abteilungen zu schaffen. Überall dort Mehrwert anzu­ bieten, wo sich Kunde und Unternehmen berühren – in der Breitseitenkommunikation, im Verkauf, im Kunden­ dienst, in Produkt und Leistung selbst. Die Herausforderung ist dabei, eine über m ­ ehrere Dekaden verfolgte Strategie der kosteneffizienten Abtei­ lungsspezialisierung so schnell wie möglich aufzu­ brechen. Wo sämtliche Kunden-Touchpoints über alle Unternehmensbereiche hinweg verteilt sind – Produkt­ management, R&D, Marktforschung, PR, Service und Support, Vertrieb – ist eine homogene Kommunika­ tion, die in jedem Kundenkontakt ein allen gemeines Marken­versprechen einlöst, praktisch gar nicht möglich. Ein selbstbewusstes und gut aufgestelltes Marketing kann hier Treiber des ganzen Unternehmens sein – oder aufgeben und zusehen, wie die Impulse von jemand anderem kommen.

In Zeiten großer Stabilität und vorhersehbarer Ent­ wicklungen gibt es für ein Unternehmen nichts Besse­ res als Spezialisierung und Skalierbarkeit. Fein aufge­ schlüsselte Lasten- und Pflichtenhefte, klare Skalenvor­ teile, Mitarbeiter, die sich darauf einrichten, die nächsten 30 Jahre die gleiche Aufgabe in planbarer Qualität und zu planbaren Kosten zu erledigen. Dass wir diese Zeiten großer Stabilität und vorher­ sehbarer Entwicklungen aber hinter uns haben, ist offen­ sichtlich. Im Marketing wird das so unmittelbar, mess­ bar, beweisbar deutlich wie in keiner anderen Unter­ nehmensdisziplin. Die Herausforderung: Diese Einsicht in den Rest des Unternehmens zu tragen. Nicht zuletzt

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eben weil man sich so lange mit der Rolle der Werben­ den zufrieden gegeben hat. Ein Marketing-Department hat hier drei ­Und/Oder-­ Möglichkeiten: Es kann intern Aufklärer und Antreiber sein – im Dialog mit Vorstand und Disziplinen. Es kann als Dienstleister anderen Abteilungen helfen, digitale Projekte zu realisieren – und sich so auch selbst erneu­ ern und positionieren. Oder es kann Fakten schaffen: Mit dem eigenen Budget die digitalen Produkte bauen, die fehlen. Denn wo Unternehmen in Trotzstarre ver­ harren, wo Vorstände direkt nach jeder mutigen Ent­ scheidung schon das Distanzierungszucken packt, ist es manchmal einfacher, um Vergebung zu ­bitten als um Erlaubnis.

Es ist ja nicht so, dass erst soziale Medien und digi­ tale Vernetzung Marken- und Produktversprechen über­ prüfbar gemacht haben. Doch sie erhöhen zum einen die Zahl der Touchpoints durch eine Multiplikation der Kanäle, der Servicemöglichkeiten und der mit dem Pro­ dukt unmittelbar und mittelbar verbundenen Leistun­ gen. Zum anderen erhöhen sie die Reichweite eines jeden Kunden, dessen Produkt- und Serviceerlebnis eben nicht mehr im Privaten oder der Telefonwarte­ schleife ­stattfindet. Über eine Vielzahl dieser Touchpoints und die meis­ ten Aspekte des Produkterlebnisses hat das Marketing aber keine Kontrolle, will sie vielleicht auch gar nicht. Marketing arbeitet auf der Grundlage von Briefings und MaFo-Erkenntnissen – und formuliert Botschaften, die beim relevanten Verbraucher klicken. Die Erfüllung der dabei transportierten Versprechen kann Marketing aber weder gewährleisten noch dafür in die Pflicht genom­ men werden. Eine bequeme Position, eine gefährliche Position für alle, die mehr als nur Ausführen wollen.

Die Neudefinition liegt so nahe. Denn wenn die Digitalisierung die Kontaktoberfläche vergrößert und

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