Es liegt – und hier sind wir sehr schnell bei Unter nehmenskultur und Digital Leadership – an Unterneh men, ein Umfeld zu schaffen, in dem das Marketing seine Briefings und sogar den Unternehmenszweck konstruk tiv hinterfragen kann. Und es liegt am Marketing, diese Kultur einzufordern. Echte Schnittstellen zu anderen Abteilungen zu schaffen. Überall dort Mehrwert anzu bieten, wo sich Kunde und Unternehmen berühren – in der Breitseitenkommunikation, im Verkauf, im Kunden dienst, in Produkt und Leistung selbst. Die Herausforderung ist dabei, eine über m ehrere Dekaden verfolgte Strategie der kosteneffizienten Abtei lungsspezialisierung so schnell wie möglich aufzu brechen. Wo sämtliche Kunden-Touchpoints über alle Unternehmensbereiche hinweg verteilt sind – Produkt management, R&D, Marktforschung, PR, Service und Support, Vertrieb – ist eine homogene Kommunika tion, die in jedem Kundenkontakt ein allen gemeines Markenversprechen einlöst, praktisch gar nicht möglich. Ein selbstbewusstes und gut aufgestelltes Marketing kann hier Treiber des ganzen Unternehmens sein – oder aufgeben und zusehen, wie die Impulse von jemand anderem kommen.
In Zeiten großer Stabilität und vorhersehbarer Ent wicklungen gibt es für ein Unternehmen nichts Besse res als Spezialisierung und Skalierbarkeit. Fein aufge schlüsselte Lasten- und Pflichtenhefte, klare Skalenvor teile, Mitarbeiter, die sich darauf einrichten, die nächsten 30 Jahre die gleiche Aufgabe in planbarer Qualität und zu planbaren Kosten zu erledigen. Dass wir diese Zeiten großer Stabilität und vorher sehbarer Entwicklungen aber hinter uns haben, ist offen sichtlich. Im Marketing wird das so unmittelbar, mess bar, beweisbar deutlich wie in keiner anderen Unter nehmensdisziplin. Die Herausforderung: Diese Einsicht in den Rest des Unternehmens zu tragen. Nicht zuletzt
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eben weil man sich so lange mit der Rolle der Werben den zufrieden gegeben hat. Ein Marketing-Department hat hier drei Und/Oder- Möglichkeiten: Es kann intern Aufklärer und Antreiber sein – im Dialog mit Vorstand und Disziplinen. Es kann als Dienstleister anderen Abteilungen helfen, digitale Projekte zu realisieren – und sich so auch selbst erneu ern und positionieren. Oder es kann Fakten schaffen: Mit dem eigenen Budget die digitalen Produkte bauen, die fehlen. Denn wo Unternehmen in Trotzstarre ver harren, wo Vorstände direkt nach jeder mutigen Ent scheidung schon das Distanzierungszucken packt, ist es manchmal einfacher, um Vergebung zu bitten als um Erlaubnis.
Es ist ja nicht so, dass erst soziale Medien und digi tale Vernetzung Marken- und Produktversprechen über prüfbar gemacht haben. Doch sie erhöhen zum einen die Zahl der Touchpoints durch eine Multiplikation der Kanäle, der Servicemöglichkeiten und der mit dem Pro dukt unmittelbar und mittelbar verbundenen Leistun gen. Zum anderen erhöhen sie die Reichweite eines jeden Kunden, dessen Produkt- und Serviceerlebnis eben nicht mehr im Privaten oder der Telefonwarte schleife stattfindet. Über eine Vielzahl dieser Touchpoints und die meis ten Aspekte des Produkterlebnisses hat das Marketing aber keine Kontrolle, will sie vielleicht auch gar nicht. Marketing arbeitet auf der Grundlage von Briefings und MaFo-Erkenntnissen – und formuliert Botschaften, die beim relevanten Verbraucher klicken. Die Erfüllung der dabei transportierten Versprechen kann Marketing aber weder gewährleisten noch dafür in die Pflicht genom men werden. Eine bequeme Position, eine gefährliche Position für alle, die mehr als nur Ausführen wollen.
Die Neudefinition liegt so nahe. Denn wenn die Digitalisierung die Kontaktoberfläche vergrößert und
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