25jahre Heiligenfeld jubiläumsband 151

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HEILIGENFELD – ein lebendiges Unternehmen!


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25 Jahre

HEILIGENFELD – ein lebendiges Unternehmen!


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Jeder lebendige Gedanke ist eine Welt im Werden, jede wirkliche Tat ein sich offenbarender Gedanke. Sri Aurobindo, Kaskaden des Lichts


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Vorwort der Geschäftsführung

v. li. n. re.: Ralf Heimbach, Dr. Joachim Galuska, Michael Lang

25 Jahre Heiligenfeld. Wir haben dem Firmenjubiläum ein Motto gegeben: „Ein lebendiges Unternehmen“. Die Heiligenfelder Geschichte von 1990 bis heute zeigt, dass Heiligenfeld ein lebendiges Unternehmen ist. Aus einer kleinen psychosomatischen Rehabilitationsklinik wurde eine Klinikgruppe mit mehreren Standorten. Das Klinikkonzept überzeugte von Anfang an, so dass Heiligenfeld Schritt für Schritt aus eigener Kraft wachsen konnte. In unserem Wachstum verloren wir nie unsere Werte aus unseren Augen, denn als Familienunternehmen haben wir immer

neben wirtschaftlichen Werten das Wohl unserer Mitarbeiter, unsere gesellschaftliche und ökologische Verantwortung und eine menschliche Psychotherapie und Medizin gleichwertig beachtet. Heiligenfeld besitzt eine ausgeprägte lebendige Unternehmenskultur, die von den meisten unserer Mitarbeiter mitgetragen wird. Die Abteilungen ziehen an einem Strang und Mitarbeiter bringen beständig neue Ideen und kreative Impulse ein. Von Anfang an wurde ein ganzheitliches Konzept stationärer Behandlung von unseren Mitarbeitern gelebt und verwirklicht. Unsere Patienten fühlen sich daher


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nicht nur mit ihren Störungen gut behandelt, sondern auch als Menschen ernst genommen und angenommen. Und Heiligenfeld ist gut vernetzt und arbeitet eng mit den zuweisenden Ärzten und Psychotherapeuten und seinen diversen Kooperationspartnern zusammen. Über Veranstaltungen und Medien geben wir inspirierende Impulse in das Gesundheitssystem und die Wirtschaftswelt. All diese Themen vertiefen und erläutern wir in diesem unseren Jubiläumsband. Er enthält neben der Beschreibung der Geschichte und der verschiedenen Unternehmensbereiche Einblicke in die Unter-

Dr. Joachim Galuska

nehmens- und Behandlungskonzepte der Heiligenfeld Kliniken. Wir haben Vorträge und Aufsätze zu den verschiedenen Themen aus unterschiedlichen Phasen der Entwicklung der Heilgenfeld Kliniken zusammengestellt. Daneben finden Sie Bilder und Zitate von Mitarbeitern und Patienten zu den diversen Themen. Heiligenfeld ist ein lebendiges Unternehmen und wir hoffen, dies auch mit unserem lebendigen Jubiläumsband sichtbar machen zu können. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Michael Lang

Ralf Heimbach


„Wir

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HEILIGENFELD – ein lebendiges Unternehmen!

inhalt

1990-2015 Meilensteine

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Achtsamkeit in der Psychotherapie

Zahlen & Fakten

Unternehmensphilosophie

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Therapiekonzept

Die Klinikgründer

WERTEORIENTIERUNG

Ganzheitliche Psychotherapie

Religiöse und spirituelle Krisen

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Unternehmensbereiche

Heiligenfelder Essenz

Die Heiligenfeld Kliniken

Soziale Verantwortung und gesellschaftliches Engagement

Akademie Heiligenfeld

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Nachhaltigkeit und Ökologie

Unternehmensberatung Heiligenfeld & Pietzko

unternehmenskultur

Auf dem Weg zu einem Guten leben

Führungskonzept Beseeltes Arbeiten Gesunde Arbeit in den Heiligenfeld Kliniken Die Kunst des Wirtschaftens

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Meilensteine Aus einem Hotel entsteht eine Klinikgruppe

Schon seit vielen Jahrzehnten war das Kurhotel „Fürst Bismarck“ in der Euerdorfer Straße in Bad Kissingen im Besitz der Familie Lang. Gemeinsam mit Dr. Joachim Galuska wandelte Hotelier Fritz Lang das Haus in eine psychosomatische Klinik um. Im Oktober 1990 eröffnete die heutige Fachklinik Heiligenfeld mit 43 Betten und 25 Mitarbeitern.

im Namen wiederfinden. Auch das wurde durch „Heil“ wie heilen, „heilig“ im Zusammenhang mit der spirituellen Ausrichtung der Klinik sowie „Feld“ für das Feld der therapeutischen Arbeit gewährleistet. Somit entstand die Fachklinik Heiligenfeld.

Die Hoteliers-Familie Lang an der Hotel-Rezeption ein Jahr vor der Umwandlung

Namensfindung Nach dreimonatiger Namenssuche für die ganzheitliche Klinik wurde der Name „Heiligenfeld“ gewählt. Beide Geschäftsführer fanden die jeweils für sich wichtigen Aspekte in diesem Namen vereint: Fritz Lang wollte, dass der Name einen regionalen Bezug hat, damit er bei der Kissinger Bevölkerung von Anfang an bekannt war. Da „Heiligenfeld“ die Flurbezeichnung des Grundstücks ist, war diese Voraussetzung erfüllt. Joachim Galuska wollte zudem die inhaltlichen Aspekte des Klinikkonzepts

1990-2015

Die Spezialisierung auf psychische und psychosomatische Krankheiten, ein gutes Qualitätsmanagement in der Klinik sowie das gute Ansehen bei Patienten und Einweisern führten im Jahr 1996 zur ersten Erweiterung der Fachklinik Heiligenfeld auf zunächst 99, später dann auf 108 Krankenhaus- und Rehabilitationsbetten. In der Planungsphase begleitete der zuständige Architekt Peter Hübner eine Woche lang die Therapie, um ein Gefühl für das Haus und die Patienten zu erhalten. Die Patienten wurden in die Gestaltung einbezogen, indem sie malten, schrieben und sangen,

Stellenanzeige

1990

1996

Eröffnung der Fachklinik Heiligenfeld

Bau der ersten Erweiterung


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Historische Aufnahme Café Restaurant Fürst Bismarck

2000

2002

10-jähriges Firmenjubiläum

Eröffnung der Parkklinik Heiligenfeld Gründung der Akademie Heiligenfeld

1990-2015


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Gruppenfoto der Mitarbeiter und Geschäftsführung anlässig des 10-jährigen Bestehens

wie sie sich die Fachklinik vorstellten und wünschten. Die Patienten malten viele Bilder mit Wasser, weshalb schließlich ein Bach und eine kleine Brücke in die Planungen integriert wurden. Daraufhin zeichnete Hübner Entwürfe und baute die ersten Modelle, die nach dem Wunsch der Patienten einen Bachlauf enthielten.

10 Jahre Heiligenfeld Im Jahr 2000 feierte Heiligenfeld das zehnjährige Bestehen mit einer großen Jubiläumsfeier. Hierzu entstand eine eigens gestaltete Jubiläumszeitung. Außerdem gab es einen Tag der offenen Tür, bei dem sich der Bayerische Rundfunk beteiligte und in der Fachklinik Heiligenfeld eine Bühne aufbaute. Joachim Galuska und Fritz Lang standen den Journalisten Rede und Antwort. Zahlreiche Besucher kamen, um am Tag der offenen Tür zusammen mit den Mitarbeitern von Heiligenfeld das Jubiläum zu feiern und um sich über die Klinik zu informieren.

Festrede von Fritz Lang zur Einweihung

Am 4. Dezember 1996 wurde schließlich der Erweiterungsbau der Fachklinik mit einer feierlichen Veranstaltung eingeweiht. Da die Rhythmus-Therapie TaKeTiNa in einer runden Formation stattfindet, wurde 1997 in der Fachklinik ein nahezu runder Raum, der sogenannte Große Saal, gebaut. Damit schuf die Fachklinik optimale Bedingungen für die Therapie der Patienten.

2005

2006

Gründung des Medizinischen

Eröffnung der Heiligenfeld Klinik Waldmünchen

Versorgungszentrums

1990-2015

TaKeTiNa -Therapie


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Kreativtherapie in der Parkklinik

2002 Entstehung der Parkklinik Heiligenfeld Durch die Übernahme des Landhauses Baunach und des Sanatoriums Diana entstand die Parkklinik Heiligenfeld an der Bismarckstraße mit zunächst 60 Behandlungsbetten. Dort können sich Privatpatienten, Selbstzahler und Beihilfepatienten bei psychosomatischen und psychischen Erkrankungen behandeln lassen. Aufwändige Umbaumaßnahmen ließen aus den alten Gebäuden eine farbenfrohe und komfortable Klinik werden. Zum Beispiel wurden die Stockwerke in den Farben der vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft gestaltet. Den Patienten wird durch die kreativ entwickelte farbliche Gestaltung eine Therapie in einem angenehmen Umfeld ermöglicht.

Impression Kongress

2002 Akademie Heiligenfeld Im Jahr 2002 wurde außerdem die Akademie Heiligenfeld gegründet, die Veranstaltungen zu wesentlichen Themen für die Bewusstseinsbildung, persönliches und spirituelles Wachstum, professionelle Fachkompetenz und ethische Verantwortung in der Gesellschaft bietet. Zudem veranstaltet die Akademie jährlich einen großen Kongress, der die Themen Medizin, Psychotherapie und Wirtschaft aufgreift.

Medizinisches Versorgungszentrum

Ambulante Medizin im MVZ Im Jahr 2005 erweiterte die Heiligenfeld GmbH erstmals ihr Angebot über die Psychosomatik hinaus. Durch die Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums engagiert sich die Heiligenfeld GmbH auch im Bereich der ambulanten Versorgung von Patienten. Im MVZ können sich Patienten mit Erkrankungen in den Fachgebieten Allgemein- und Innere Medizin sowie Psychiatrie und Psychotherapie behandeln lassen. Mit dem Medizinischen Versorgungszentrum verwurzelte sich die Heiligenfeld GmbH stärker in der Region und bot so auch der Bad Kissinger Bevölkerung eine ganzheitliche medizinische Versorgung. Die Zusammenarbeit zwischen dem MVZ und den Heiligenfeld Kliniken ermöglichte einen interdisziplinären Austausch, der den Patienten zu Gute kam.

2007

2008

Eröffnung der Luitpoldklinik Heiligenfeld

Umbau der Villa Heiligenfeld zum neuen Verwaltungsgebäude

1990-2015


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Außenansicht der Parkklinik Nord und Süd

2006 Gesundheitszentrum Heiligenfeld Im Sommer 2006 erweiterte Heiligenfeld sein medizinisches Angebot in Bad Kissingen ein weiteres Mal. Es kam das Gesundheitszentrum Heiligenfeld (die heutige Residenz) mit 36 Betten für die Rehabilitation von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen hinzu.

Therapie in der Familienklinik Waldmünchen

2006 Neue Klinik in Waldmünchen Eine zweite große Erweiterung im Jahr 2006 war die Übernahme einer Klinik in der Oberpfalz, die auf die psychische und psychosomatische Behandlung von Familien spezialisiert ist. Die Klinik wurde in Heiligenfeld Klinik Waldmünchen umbenannt und hat heute 120 Betten zur Verfügung. Neben den Patienten können

2007 Übernahme der Luitpoldklinik Neben dem Medizinischen Versorgungszentrum erweiterte Heiligenfeld das somatische Angebot durch eine Rehabilitationsklinik. Die in der Bismarckstraße nahe der Parkklinik Heiligenfeld gelegenen Luitpoldkliniken kamen als Luitpoldklinik Heiligenfeld zur Unternehmensgruppe hinzu. Die Luitpoldklinik bietet 144 Patientenbetten für Anschlussheilbehandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen für Orthopädie, Innere Medizin und Onkologie. 2008 Umbenennung des Unternehmens Die Fachklinik Heiligenfeld GmbH wurde aufgrund der zahlreichen Erweiterungen in Heiligenfeld GmbH umbenannt.

2009

2010

Gründung der Unternehmensberatung

20-jähriges Jubiläum

Heiligenfeld & Pietzko GmbH

1990-2015

auch Begleitpersonen in die Klinik aufgenommen werden. Die Heiligenfeld Klinik Waldmünchen arbeitet nach dem ganzheitlichen, integrativen und menschlichen Konzept wie die Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen. Eine Besonderheit ist die gleichzeitige Behandlung mehrerer Familienmitglieder oder ganzer Familien mit psychosomatischen Erkrankungen. Dabei steht die Eltern-Kind-Bindungstherapie im Vordergrund.


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2008 Verbindung von Parkklinik Nord und Parkklinik Süd Nach nur neun Monaten Bauzeit wurde der neue Verbindungstrakt zwischen der Parkklinik Nord und der Parkklinik Süd fertiggestellt. Die Klinik war nun ein durchgehender Komplex mit 144 Betten. 2008 Umzug der Verwaltung Die Heiligenfeld GmbH übernahm das Kurhaus Tanneck, das nun als Verwaltungsgebäude dient. Alle Verwaltungsmitarbeiter zogen nach Renovierungsarbeiten im Jahr 2008 aus der Fachklinik und der Parkklinik in die neue „Villa Heiligenfeld“, in der nun neben der Unternehmensleitung auch die Abteilungen Buchhaltung, Marketing, Aufnahmemanagement, EDV, Caring und die Akademie Heiligenfeld zentralisiert sind.

Villa Heiligenfeld

2009 Unternehmensberatung Die Heiligenfeld GmbH verfügte über 19 Jahre an Erfahrung im erfolgreichen Aufbau des eigenen Unternehmens und dessen dynamischer Entwicklung. Dieses Wissen und die eigenen praxiserprobten Strategien und Konzepte wollte Heiligenfeld anderen Unternehmen zur Verfügung stellen. Aus diesem Grund gründete die Heiligenfeld GmbH als Gesellschafterin in Kooperation mit dem Business-Coach Albert Pietzko im Jahr 2009 die Unternehmensberatung Heiligenfeld & Pietzko GmbH. Sie steht für eine mehrperspekti-

vische Betrachtung aller erfolgskritischen Aspekte eines Unternehmens.

Workshop

2009 Erweiterung der Akademie Die Akademie Heiligenfeld erweiterte ihr Angebot. Neben dem allgemeinen Akademieprogramm zu den Themen Psychotherapie und Selbsterfahrung und den jährlich stattfindenden Kongressen wurde 2009 als Teilgebiet die „Medizinische Akademie“ gegründet. Diese bietet teilweise von der Ärztekammer zertifizierte Aus-, Fort- und Weiterbildungen für Ärzte und Therapeuten an. Das Streben nach Ganzheitlichkeit, das der therapeutischen und strategischen Arbeit in Heiligenfeld zugrunde liegt, prägt auch den Geist der medizinischen Fortbildungen. Fachliche Qualifizierung nach neuesten medizinischen Erkenntnissen und deren Anwendung gehen einher mit Interventionen zur Selbstreflexion und zum persönlichen Wachstum.

Kongress der Akademie Heiligenfeld

2011

2014

Eröffnung der Rosengarten Klinik Heiligenfeld

Eröffnung der Heiligenfeld Klinik Uffenheim

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20 Jahre Heiligenfeld Im Jahr 2010 feierte die Heiligenfeld GmbH ihr 20-jähriges Jubiläum und blickte auf eine Erfolgsgeschichte im Bereich der stationären und ambulanten medizinischen Versorgung zurück.

sen wurden. Im gleichen Jahr wurde die Rosengarten Klinik Heiligenfeld im ehemaligen Hotel „Kissinger Hof“ als Rehabilitationsklinik für psychosomatische Erkrankungen eröffnet. 2014 Heiligenfeld Klinik Uffenheim Die Heiligenfeld Kliniken gründeten im Jahr 2013 die Heiligenfeld Klinik Uffenheim GmbH und übernahmen zusammen mit dem Landkreis Neustadt an der Aisch die Kreisklinik Uffenheim. Die Klinik wurde bis 2014 umgebaut. Im Mai eröffnete die Heiligenfeld Klinik Uffenheim als Fachkrankenhaus für psychosomatische Erkrankungen mit 54 Betten. Nach der Eröffnung des Neubaus im September 2014 entstanden zusätzliche Kapazitäten, sodass in der Heiligenfeld Klinik Uffenheim heute insgesamt 80 Krankenhausbetten für psychosomatische Medizin zur Verfügung stehen.

Sonderausgabe des Heiligenfeld Journals

2010 Das „Heiligenfeld Journal“ Um sich in der Region Bad Kissingen weiter zu verwurzeln und um die Bürger über das mittlerweile sehr vielschichtige Unternehmen Heiligenfeld zu informieren, brachte die Heiligenfeld GmbH im Jahr 2010 zum ersten Mal ein eigenes Journal heraus. Die erste Ausgabe gab einen Überblick über die Geschichte, alle Einrichtungen der Unternehmensgruppe und präsentierte die langjährigen Partner des Unternehmens. Das Heiligenfeld Journal erscheint mittlerweile jährlich.

Modell des Neubaus Klinik Uffenheim

2011 Expansion und Eröffnung der Rosengarten Klinik Heiligenfeld Heiligenfeld expandierte weiter und erwarb das Hotel Altenberg und das Sanatorium Lechmann, die im Frühjahr 2011 der Parkklinik Heiligenfeld angeschlos-

2014

2015

Nach 2007 und 2011 zum dritten Mal als „Bester

Jubiläumsjahr 25 Jahre Heiligenfeld

Arbeitgeber Gesundheit und Soziales“ ausgezeichnet

1990-2015


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Die Klinikgründer Joachim galuska – Ein Kurzportrait

Als ältester von drei Geschwistern wurde Joachim Galuska am 16.11.1954 in Oppeln/Oberschlesien geboren.

August 1990 als Chefarzt und später als Ärztlicher Direktor und Mitbetreiber der Heiligenfeld Kliniken für Psychosomatische Medizin in Bad Kissingen Nach seinem Abitur in verwirklichen. Zusammen Joachim Galuska Düsseldorf studierte Jomit dem Hotelier Fritz Arzt und Unternehmer achim Galuska Medizin Lang gründete er 1990 und Psychologie an der die Fachklinik Heiligenfeld, Universität Düsseldorf. 1980 erhielt er in der Patienten mit psychosomatischen die Approbation als Arzt und promo- Erkrankungen nach einem ganzheitlichen vierte in Medizin. Nach mehrjähriger und integrativen menschlichen Konzept Assistenzzeit in verschiedenen Kranken- behandelt werden können. häusern und Lehraufträgen an der Fachhochschule Düsseldorf im Fachbereich Neben dem Einsatz für das eigene UnterSozialpädagogik erwarb er 1985 die Zu- nehmen absolvierte Galuska zahlreiche satzbezeichnung „Psychotherapie“. 1986 Weiterbildungen. So erhielt er im Jahr beendete er die Ausbildung zum Facharzt 2000 den Qualifikationsnachweis der Bayfür Psychiatrie. 1994 folgte der Facharzt- erischen Landesärztekammer für Qualititel für Psychotherapeutische Medizin tätsmanagement. (heute: Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) der Bayerischen Landes- Mit dem Master of Business Administratiärztekammer sowie eine Weiterbildungs- on (MBA) beendete er 2002 ein Studium ermächtigung auf dem Gebiet der Psycho- in Betriebswirtschaft für Ärztinnen und somatischen Medizin. Ärzte an der Hochschule Neu-Ulm und ein Jahr später erhielt er die Anerkennung Während seiner Leitungstätigkeit in einer als KTQ-Visitor. Weiter hat er Ausbildunpsychosomatischen Klinik in Bad Zwesten gen in tiefenpsychologischer Psychotheravon 1987 bis 1988 entwickelte Galuska pie, Gestalttherapie, integrativer Therapie ein eigenständiges Klinikkonzept, das die und Orgodynamik sowie in buddhistischer Ganzheitlichkeit des Menschen in den Meditation abgeschlossen und ist unter Mittelpunkt rückt und die Spiritualität anderem autorisierter Meditations-Lehrer. einbezieht. Sein Konzept konnte er ab

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Ehrenamtliches Engagement Im Jahr 1999 war Joachim Galuska Mitbegründer und einige Jahre Sprecher der Direktorenkonferenz Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bayern sowie Mitglied der Expertengruppe „Akutstationäre Versorgung von Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen“ des Bayerischen Gesundheitsministeriums und der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände.

Bayerischen Gesundheitspreis erhielt. Als Gründer der Stiftung Bewusstseinswissenschaften im Jahr 2009 widmet sich Joachim Galuska auch der Bewusstseinsforschung, die im ganzheitlichen Sinne sowohl das individuelle, als auch das kollektive Bewusstsein und deren biologische und kulturelle Grundlagen einbezieht. Die Stiftung fördert die Anwendung und Umsetzung der wesentlichen Ergebnisse angewandter Bewusstseinswissenschaften in Technologien und Gestaltungsformen psyEr ist Mitglied verschiedener Fachgesell- chologischer, sozialer und technischer Art. schaften, unter anderem der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medi- Joachim Galuska gründete außerdem die zin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) Akademie Heiligenfeld, die sich sowohl und der European Academy of Scien- der medizinischen als auch der wirtschaftces and Arts. Joachim Galuska war 1992 lichen Aus-, Fort- und Weiterbildung widMitbegründer und ist heute Ehrenbeirat met und Kongresse und Symposien zu des Spiritual Emergence Network (SEN) wesentlichen Themen der Medizin und Deutschland. 1999 war er Mitbegründer der Wirtschaft anbietet. des Deutschen Kollegiums für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2010 startete Joachim Galuska mit 21 (DKPT), heute Gesellschaft für Bewusst- Chefärzten psychosomatischer Kliniken seinswissenschaften und Bewusstseinskul- einen Aufruf zur psychosomatischen Lage tur (GBB). Außerdem ist er Mitbegründer in Deutschland. Im gleichen Jahr wurde er des Spiritual Venture Network (SpVN) mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und war mehrere Jahre im Vorstand tätig. ausgezeichnet. Joachim Galuska gründete 2008 das Psychosomatische Versorgungsnetz MainRhön aus Ärzten und Therapeuten zur Verbesserung der regionalen psychosomatischen Versorgung, das 2013 den

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Die Klinikgründer Fritz LanG – Ein Kurzportrait

Fritz Lang wurde am 3. Lang, führte das Haus unJuli 1950 in Bad Kissingen ter dem Leitspruch „Der als Ältester von vier GeKonkurrenz immer eine schwistern geboren. Als Nasenlänge voraus“. Das Mitglied einer HoteliersHotel der Familie Lang familie zog es Fritz Lang in Bad Kissingen war das schon früh in die Hotelerste Haus mit eigenem Fritz Lang branche. Bereits während Hallenbad, hatte eine meHotelier und Unternehmer seiner Schul- und Ausbildizinische Bade- und dann dungszeit half er im elterliWellnessabteilung sowie chen Unternehmen „Motel-Kurhotel-Ca- einen Kurarzt im Haus. Schon damals legfé-Restaurant Fürst Bismarck“ regelmäßig te die Familie Lang großen Wert auf eine mit. Er selbst schildert seinen Werdegang gesunde und ausgewogene Ernährung der „vom Schuhputzer über Tellerwäscher Hotelgäste. So hatte Küchenchefin und und Serviceleiter bis zum Direktor“. Nach Diätköchin Erika Lang eines der ersten Diseinem Abitur in Bad Kissingen und dem ätgütezeichen in Deutschland erworben. anschließenden Wehrdienst war er in ver- Diese Tradition wurde von Langs Schwesschiedenen Hotelbetrieben in Deutsch- ter Theresia weitergeführt, die heute für land und Österreich tätig. Im Jahr 1974 das Ernährungskonzept der Heiligenfeld schloss er die Hotelfachschule Dr. Leopold Kliniken verantwortlich ist. in Garmisch Partenkirchen als Jahrgangsbester ab. Danach wurde er im Hotelbe- Umwandlung in eine Klinik trieb seiner Eltern angestellt. Er heiratete Im Laufe der Jahre suchte und durchdie Pädagogin Maria Volk, die von Anfang dachte Fritz Lang verschiedene Ideen, an gut in den Familienbetrieb integriert das Haus, das außerhalb der Kurzone lag, war. Sie haben drei Söhne, davon sind zukunftssicher zu entwickeln. So entstand zwei im Unternehmen Heiligenfeld tätig. 1988 der Gedanke, das Hotel in eine psychosomatische Rehabilitationseinrichtung Im Jahr 1981 wechselte Fritz Lang die Rol- umzuwandeln, jedoch fehlte ihm ein konle mit Vater Ludwig Lang, vom Komman- kretes medizinisches Konzept. Das fand ditisten zum Komplementär der Ludwig er bei Dr. Joachim Galuska, der sich schon Lang KG. Das Unternehmen hatte damals länger selbstständig machen wollte. So zwölf Mitarbeiter und bot Unterkunft begann die Umwandlung des Hotels in für 80 Gäste. Bereits sein Vater, Ludwig die heutige Fachklinik Heiligenfeld, die im

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Maria und Fritz Lang

Oktober 1990 abgeschlossen war. Auch nach der Umwandlung des „Motel-Kurhotel-Café-Restaurant Fürst Bismarck“ in die Fachkklinik Heiligenfeld war das Unternehmen ein Vorreiter in der Region: Bis zur Eröffnung der Fachklinik Heiligenfeld gab es offiziell keine weitere Einrichtung in Bad Kissingen, die als Schwerpunkt psychosomatische und psychische Erkrankungen behandelte. Tätigkeit in der Heiligenfeld GmbH Bis zum Jahr 2012 war Fritz Lang als Kaufmännischer Direktor der Heiligenfeld GmbH tätig. Im Unternehmen war er speziell für die Durchführung von umfassenden Renovierungs- und Erweiterungsmaßnahmen zuständig. Hierbei organisierte er die Kooperation mit Behörden und Banken, die Koordination mit den Betriebsabläufen und die rechtzeitige Fertigstellung. Im Jahr 2014 zog er sich als Geschäftsführer zurück, übergab den Großteil seiner Aufgaben und Geschäftsanteile an seinen Sohn Michael Lang und übt nun eine beratende Tätigkeit als Gesellschafter aus. Er setzt sich seit frühester Jugend besonders für Nachhaltigkeit im Unternehmen in vielfältiger Weise ein.

und Bauplanung absolviert. Zudem hat er eine Ausbildung zum EFQM-Assessor abgeschlossen. Mitgliedschaften und Engagements In der Region ist Fritz Lang stark verwurzelt und verfolgt vielfältige Engagements. So war er zu Zeiten des Hotelbetriebes viele Jahre im Vorstand des Kurvereins Bad Kissingen und im Gaststättenverband tätig. Seit 1971 ist er Mitglied und seit mehreren Jahren im Vorstand der CSU Bad Kissingen. Außerdem engagiert er sich in zahlreichen Arbeitskreisen, wie z. B. dem Gesundheitspolitischen Arbeitskreis, der Mittelstands-Union und dem Arbeitskreis Umwelt der CSU. Weiterhin ist er Mitglied im Gremialausschuss und der Vollversammlung der IHK. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Freundeskreises der Berufsschule und stellvertretender Vorsitzender des Freundeskreises des Rakoczy-Fördervereins und gehört dem Förderverein Gesundheitszentrum Bad Kissingen an.

Weiterbildungen Fritz Lang hat verschiedene Weiterbildungen u. a. zu Betriebsführung, Personalführung, Controlling, Qualitätsmanagement

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Zahlen & Fakten „Heiligenfeld ist ein Ort des Wachsens und der Förderung“ Arzt der Fachklinik Heiligenfeld

Im Herzen von Bad Kissingen liegen die Heiligenfeld Kliniken. In der Fachklinik, derParkklinik und der Rosengarten Klinik werden alle psychischen und psychosomatischen Erkrankungen behandelt. Die Luitpoldklinik ist spezialisiert auf die Behandlung von orthopädisch-unfallchirurgischen, internistischen, onkologischen und urologischen Erkrankungen. Neben stationären sind auch ambulante Behandlungen möglich. In der Oberpfalz betreiben wir mit der Heiligenfeld Klinik Waldmünchen eine weitere psychosomatische Klinik. Hier finden Eltern, Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen professionelle Hilfe. Die Heiligenfeld Klinik Uffenheim erweitert die Standorte unserer psychosomatischen Kliniken. Unsere Kliniken arbeiten nach einem ganzheitlichen und integrativen Therapiekonzept. Wir bieten sowohl Krankenhaus- als auch Rehabilitationsbehandlung an.

Bad Kissingen

Uffenheim Waldmünchen

BAYERN 1990-2015

Standorte


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Parkklinik Heiligenfeld, Bad Kissingen Privatkrankenhaus für psychische und psychosomatische Erkrankungen für Privatversicherte und Selbstzahler

Fachklinik Heiligenfeld, Bad Kissingen Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und für Psychiatrische Rehabilitation

Luitpoldklinik Heiligenfeld, Bad Kissingen Fachklinik für orthopädische, internistische und onkologische Rehabilitation

Rosengarten Klinik Heiligenfeld, Bad Kissingen Fachklinik für psychosomatische Rehabilitation

Heiligenfeld Klinik Waldmünchen Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie für psychosomatische Behandlungen von Eltern, Kindern und Jugendlichen

Heiligenfeld Klinik Uffenheim Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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Entwicklung der Heiligenfeld Kliniken in Zahlen 1990

2000

2005/06

2010

2015

Mitarbeiter

25

195

230

480

790

Auszubildende

--

8

12

60

58

Betten

43

106

347

634

799

ca. 50

482

1185

4712

6760*

Patienten

* Stand 2014

Qualitätszertifizierungen der Heiligenfeld Kliniken

1990-2015

1999

Zertifizierung nach EFQM

2005

Zertifizierung nach IQMP-Reha für exzellente Qualität in der Rehabilitation

2008/2009

Heiligenfeld Kliniken erhalten deutschlandweit das erste vernetzte Qualitätszertifikat für alle Abteilungen im Krankenhaus- sowie im Rehabilitationsbereich

2011

KTQ-Rezertifizierung an allen Standorten in Bad Kissingen

2012

KTQ-Rezertifizierung in Waldmünchen

2014

KTQ-Rezertifizierung in Bad Kissingen und Waldmünchen


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Behandlungsergebnisse und Patientenzufriedenheit im Jahr 2014 Die Unternehmensprozesse werden fortlaufend in ihrer Entwicklung überprüft. Besonders wichtig sind dabei die Messung der Patientenzufriedenheit mit 70 eigens festgelegten Einzelindikatoren sowie der Therapieerfolg. Auch die Zufriedenheit der Zuweiser, Kostenträger und Mitarbeiter wird regelmäßig überprüft.

Fremdeinschätzung durch den Arzt

Selbsteinschätzung durch den Patienten

Fremdeinschätzung durch den einweisenden Arzt

Patientenzufriedenheit in Schulnoten

Einweiserzufriedenheit

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Werteorientierung „In Heiligenfeld habe ich Gelegenheit, mich mit meiner Herzensbeteiligung einzubringen.“ Arzt der Heiligenfeld Klinik Uffenheim

Die Heiligenfeld Kliniken besitzen als Familienunternehmen eine werteorientierte Unternehmensphilosophie. Dies bedeutet, dass materielle Werte, wie Wirtschaftlichkeit und Effizienz und immaterielle Werte, wie Menschlichkeit, sinnerfüllte Arbeitsplätze oder gesellschaftliche Verantwortung, im Gleichgewicht stehen. Heiligenfeld versteht sich ebenfalls als lebendiges Unternehmen, das mit seinen Mitarbeitern, Patienten und Kooperationspartnern ständig im Gespräch ist. Auf diese Weise werden die grundlegenden Werte immer wieder miteinander ausgetauscht und dadurch gelebt. Diese gelebte Wertekultur wird auch durch die Patienten wahrgenommen. So wird in Befragungen deutlich, dass die Patienten während ihres Aufenthalts die Werte Achtsamkeit, Ganzheitlichkeit, Menschlichkeit und Gemeinschaft, besonders wahrnehmen.

Werteorientierung


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Werteorientierung


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Die Krise unseres Bewusstseins – Dr. Joachim Galuska, in: Resilienz - Kompetenz der Zukunft, K. Wellensiek, J. Galuska, Beltz Verlag, 2014, S. 159-164

Wir leben nicht nur in einer Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern vor allem in einer Krise unseres Bewusstseins, denn wenn unser ökonomisches und ökologisches Verhalten aus dem Ruder läuft, dann hat dies etwas mit unseren inneren Werten, Prinzipien und Denkgewohnheiten zu tun. Doch die äußere Krise geht noch nicht tief und noch nicht weit genug, um uns zu einem umfassenderen Bewusstseinswandel zu nötigen. Wir sind zu sehr verhaftet in unseren materialistischen, egozentrischen und rationalistischen Paradigmen, als dass wir unsere Angst überwinden könnten gegenüber ideelleren, kollektiveren oder gar komplexeren integralen Denk- und Fühlweisen. Wir brauchen eigentlich nicht nur ein gesellschaftliches Gespräch darüber, wie wir wirtschaften wollen, nach welchen Werten, Prinzipien, Anreizstrukturen und mit welchem Bewusstsein. Wir brauchen ein viel fundamentaleres Gespräch darüber, wie wir leben, unsere Kinder ausbilden, mit Gesundheit und Krankheit umgehen, wie wir mit den Medien umgehen oder uns medial informieren und unterhalten lassen, wie wir uns regieren lassen oder mit Macht umgehen wollen. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche, wie die Politik, die Medienwelt, das Bildungssystem oder das Gesundheitswesen sind bereits in einer Bewusstseinskrise. Aber wir erkennen dies noch nicht tief genug und wursteln noch viel zu sehr im Äußeren an Detailproblemen herum. Hier wird der Dschungel der Regelungen und Paragraphen immer unübersichtlicher, ohne dass es zu grundlegenden Weiterentwicklungen kommt. Viele Menschen verlieren sich in der Unübersichtlichkeit und der Komplexität der modernen Welt Werteorientierung

und versuchen, ganz persönlich und relativ allein, die inneren und äußeren Anforderungen, denen sie ausgesetzt sind, zu bewältigen. Dass unsere Krise eigentlich eine Krise unseres Bewusstseins ist, ist auch an der Zunahme der psychischen Störungen zu erkennen, die in praktisch allen Industrienationen zu vermerken ist. Wir vertreten also die These, dass unsere äußeren Krisen vor allem auf eine innere Krise unseres Bewusstseins verweisen und dass zu ihrer Lösung eine tiefere innere Verankerung und ein kollektiver Bezug, also eine Erfahrung der Verbundenheit miteinander erforderlich sind. Eine tiefere innere Verankerung resultiert aus der Überprüfung unserer inneren Philosophie, unserem Menschenbild, unserem Selbstbild, den Grundwerten, an denen wir uns orientieren. Sie bedeutet eine Verankerung in unserem Herzen, vielleicht in unserer Spiritualität, in der Tiefe und Weite unserer Seele, in der Klarheit und Offenheit unseres Geistes. Die Globalisierung hat uns einen Wettbewerb der Wirtschaftssysteme bereitet. Ausgesprochen planwirtschaftliche Wirtschaftsordnungen sind von den marktwirtschaftlichen Ordnungen verdrängt worden. Innerhalb der marktwirtschaftlichen Systeme scheint es mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Bildung eine Tendenz von puren kapitalistischen zu mehr sozialen Marktwirtschaften hin zu geben. Nach Ansicht verschiedener wirtschaftlicher Vordenker stehen wir gegenwärtig an einer Schwelle zu einer Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft im Sinne einer ökosozialen Marktwirtschaft, wie beispielsweise Franz Josef Radermacher sie in seinem Buch „Balance


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oder Zerstörung“ (2002) darlegt oder einer nachhaltigen Marktwirtschaft, wie sie Michael von Hauff in „Die Zukunftsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft“(2007) nennt. Auf jeden Fall benötigen wir ein viel intensiveres gesellschaftliches Gespräch darüber, wie wir unsere Wirtschaftsordnung als Teil der Weltwirtschaft weiterentwickeln wollen. Wir tragen eben nicht mehr nur Verantwortung für unser eigenes Handeln, sondern ebenfalls für die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen unseres Handelns und zwar nicht nur aus egoistischem Interesse, sondern als Ausdruck unserer Teilhabe an der Lebensgemeinschaft aller Menschen. Wettbewerb der Unternehmensphilosophien Auf der Ebene der Unternehmen finden wir ein ähnliches Bild. Unternehmen unterscheiden sich zunehmend in ihren Unternehmensphilosophien. Unter Unternehmensphilosophie verstehen wir wie dargestellt das grundlegende Unternehmenskonzept, das auf den vorherrschenden Werten und grundlegenden Prinzipien für das wirtschaftliche Handeln eines Unternehmens beruht. Das betriebswirtschaftliche Paradigma beispielsweise einer börsennotierten Aktiengesellschaft folgt primär dem Shareholder-Value. Das bedeutet: Das gesamte wirtschaftliche Handeln ist der finanziellen Wertsteigerung der Investoren verpflichtet. Das Ziel ist die Maximierung der Kapitalrendite, egal in welcher Branche und mit welchem Inhalt das Unternehmen tätig ist. Mitarbeiter sind primär Kosten- und Produktionsmittel, die gesellschaftliche Kultur ist ein Absatzmarkt und die anderen Unternehmen

sind Wettbewerber. In den letzten Jahren hat vor allem Peter Spiegel mit Muhammad Yunus, dem Friedensnobelpreisträger und Begründer der Grameen Bank, die Mikrokredite ausgibt, die Idee eines Social Business bekannt gemacht (Yunus 2010). Darunter versteht man den Einsatz des wirtschaftlichen Instrumentariums eines Unternehmens zur Lösung sozialer Probleme. Entsprechende Unternehmen sind primär an sozialen Werten orientiert, nicht auf maximale finanzielle Profitabilität ausgerichtet, sondern setzen jegliche Profite wieder für soziale Projekte oder Aktivitäten ein. Der Anreiz zur Kosteneffizienz liegt darin, weitere Möglichkeiten für ein Social Business zu erarbeiten. Ein Social Business ist also eigentlich eine soziale Aktivität mithilfe unternehmerischen Handelns. Für die Akteure liegt der Wert in ihrer Sinnerfüllung, ansonsten in der Verbesserung der Lebensbedingungen von benachteiligten sozialen Gruppen. Zwischen Shareholder-Value betriebenen Unternehmen und dem Social Business befindet sich soziales Unternehmertum oftmals in der Form von Familienunternehmen. Die von diesem verfolgten Werte sind heterogener, die Schwerpunkte sind unterschiedlich gelagert. Manche betonen den wirtschaftlichen Erfolg mehr langfristiger oder auch kurzfristiger Art, andere prägt eine Fürsorge für ihre Mitarbeiter und dauerhafte stabile Arbeitsplätze, wiederum andere engagieren sich in ihrer Region oder in Sozialprojekten. Die genaue Mischung hängt vor allem von den Wertesystemen und den Persönlichkeiten der jeweiligen Unternehmer ab (s. Abbildung).

Wirtschaftlicher Erfolg

Shareholder Value

soziales Unternehmen

Social Business Soziale Werte

Werteorientierung


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Werteorientierung


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Neben sozialen Werten können soziale Unternehmen natürlich auch ökologische Werte verfolgen. Auch ein Social Business könnte ein ökologisches Business oder ein ökosoziales Business werden, wenn man die globalen Orientierungen zu den Unternehmensaufträgen machen möchte. Das „Spiritual Venture Network“ – ein Netzwerk von spirituellen Menschen in wirtschaftlicher Verantwortung, das wir 1999 mitgegründet haben, schafft gerade eine Plattform für „sozio-spirituelles Business“. Damit ist die Idee gemeint, unternehmerische oder wirtschaftliche Aktivitäten zur Förderung und Vertiefung eines spirituellen Bewusstseins einzusetzen beziehungsweise Spiritualität für konkretes wirtschaftliches Handeln fruchtbar zu machen. Ein sozio-spirituelles Business könnte sowohl in Form eines spirituellen Unternehmertums als auch in der Form eines spirituellen Business ohne Profitorientierung umgesetzt werden. Unternehmen besitzen heutzutage bereits unterschiedliche Unternehmensphilosophien, denen sie folgen. Ihre Leistungen werden durch sie geprägt und letztendlich auch ihre Marke durch die Unternehmensphilosophie bestimmt. Wenn eine Marke lediglich durch oberflächliche Marketingbotschaften aufgeladen wird, kann sie hohl oder verlogen wirken. Kunden beachten dies zunehmend, denn ihnen wird die Authentizität einer Marke immer wichtiger: Erfüllt die Marke das, was sie vorgibt zu sein? Kunden wählen zunehmend ein Produkt oder eine Dienstleistung nicht mehr nur noch nach Preis und Qualität aus, sondern auch danach, wie viel ökologische Verantwortung es übernimmt, wie es mit seinen Mitarbeitern umgeht und wie viel soziales Engagement es zeigt.

skizziert haben. Die Unternehmen werden aufzeigen, auf welche Werte sie besonders viel Wert legen und welche Werte in ihrem Produkt oder in ihrer Dienstleistung besonders stark zum Ausdruck kommen: sei es der Preis, sei es die funktionale Qualität, die soziale oder ökologisch verantwortliche Produktionsweise, die kundenorientierte oder mitmenschliche Leistung und vielleicht auch das gesellschaftliche oder spirituelle Engagement eines Unternehmens. Dies bewirkt neben den einfachen Billigprodukten eine komplexe Vielfalt von Angeboten und Marken, denen sich Kunden aus ihren eigenen immer komplexer werdenden Wertesystemen verbunden fühlen. Werteorientiertes Business ist damit Ausdruck der Vielfalt des Lebens, das sich nicht nur im Mangel befindet und eine Ökonomie der Befriedigung von existenziellen oder kreierten Mangelzuständen begründet, sondern das auch aus der Fülle schöpfen, unterschiedliche Werte und Ziele verfolgen und diese schöpferisch zum Ausdruck bringen kann. Werteorientiertes Business dient dem Leben und folgt dem Paradigma des kreativen und schöpferischen Ausdrucks eines lebendigen Organismus. Ein solches Unternehmen zu führen ist keine einfache durchrechenbare, durchplanbare oder durchorganisierbare Angelegenheit, sondern erfordert eine Kunstfertigkeit, eine „Kunst des Wirtschaftens“.

Neben einem Preis- und Qualitätswettbewerb werden wir somit zunehmend in einen Wettbewerb der Unternehmensphilosophien eintreten, bei dem die Authentizität der vertretenen Werte eine besondere Rolle spielen wird. Unsere These lautet, dass die Zukunft unternehmerischen Handelns in einem werteorientierten Business bestehen wird, das eine oder mehrere Werteperspektiven zu integrieren versuchen wird, wie wir es schon Werteorientierung


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Das werteorientierte Unternehmen – Dr. Joachim Galuska in: Resilienz –

Kompetenz der Zukunft, K. Wellensiek, J. Galuska, Beltz Verlag, 2014, S. 140-151 Wir sind überzeugt davon, dass in Zukunft eine werteorientierte Unternehmensführung eine entscheidende Rolle spielen wird. Denn der reine Preiswettbewerb ist ruinös, weil er nur durch Größe oder brutale Kostenkontrolle gewonnen werden kann. Der schon weiterentwickelte Wettbewerb um das Verhältnis von Preis und Qualität stellt unsere konventionelle gegenwärtige wirtschaftliche Welt dar und führt zu einer Differenzierung der Angebotsmärkte in billige Massenware, mittlere Qualität für den bewussteren Verbraucher und Luxusgüter. Hier ist zwar eine Differenzierung im Wettbewerb möglich, man stößt aber auch hier alsbald auf seine Grenzen. Denn Kunden fragen zunehmend – neben dem Preis und der Qualität – auch nach den Rahmenbedingungen oder Hintergründen des Produkts beziehungsweise der Dienstleistung: • Von welcher Firma stammt es? • Wie geht diese Firma mit ihren Mitarbeitern um? • Wie geht diese Firma mit der Umwelt um? • Welches sind die Elemente aus denen ein Produkt hergestellt ist? • Woher kommen sie? • Welche ökologischen und sozialen Kosten besitzt dieses Produkt? Kunden wollen also nicht nur ein günstiges Produkt und eine gute Qualität, sondern sie wollen sich damit auch wohl fühlen und das tun sie, wenn es ihrer Wertewelt entspricht. Verhält sich ein Unternehmen nicht integer oder gar destruktiv, so ziehen sich die Kunden zurück. Vertrauen in ein Unternehmen ist also auch ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor geworden. Und dieses Vertrauen gründet sich auf das Werteorientierung

authentische Verwirklichen der verkündeten Werte. Was ist eigentlich ein Wert? Ein Wert besitzt im Grunde zwei Dimensionen: eine subjektive Eigenschaft, die geschätzt, wertgeschätzt, erstrebt wird, also der subjektive Wert von etwas, der eben empfunden wird. Und er besitzt eine objektive Eigenschaft, die die Begründung für eine gerechtfertigte Schätzung ergibt, also der objektive Wert, der sich schließlich in einem Zahlenwert, einem Messwert oder einem Kaufpreis, einem Marktwert ausdrückt. Ein Grundwert könnte als ein wesentlicher Wert verstanden werden, als ein Wert, der auf das Wesen der Menschen bezogen ist. Ein zentraler Grundwert, der letztlich auch alle Ethik begründet, ist Güte, Gutheit. Werte werden empfunden, gespürt. Sie leiten unser Handeln bewusst oder unbewusst. Ein Wertebewusstsein in seiner Komplexität entwickelt sich jedoch erst im Laufe des Lebens. Menschlichkeit etwa nach der Maxime, anderen nicht zu schaden, sondern fürsorglich mit ihnen umzugehen, entwickelt sich erst, zum Beispiel bei einem Kind. Dies setzt die Fähigkeit zur Empathie, also Einfühlungsvermögen voraus. Das ist in der moralischen Entwicklung zu erkennen, und zwar sowohl beim Einzelnen als auch in der Entwicklung der Kulturen. Moralisches Empfinden wird immer mehr verinnerlicht. Zunächst bedarf es äußerer Regeln, Gesetze und Autorität, an denen der Einzelne sich orientiert. Dann mit zunehmender Einfühlungsfähigkeit, Selbstreflexionsfähigkeit und Vernunft orientieren wir unser Handeln an unseren inneren


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Maßstäben. Lawrence Kohlberg (1996) nennt dies die Entwicklung von der egoistischen präkonventionellen Moral, über die konformistische konventionelle Moral, hin zur gewissenhaften postkonventionellen Moral. Diese postkonventionelle Haltung bewegt sich im Raum eines universalen Pluralismus, sie entwickelt Werte, Hierarchien und Wertesysteme und geht mit ihren Wandlungen um. In einer pluralistischen Gesellschaft braucht es Raum für die unterschiedlichen Grade des Wertebewusstseins und für die unterschiedlichen Schwerpunkte. In Zeiten des Wertewandels – wie gegenwärtig – können neue Wertordnungen entstehen, mit der Gefahr des Rückfalls in primitivere Systeme und der Möglichkeit des Fortschritts hin zu weiteren umfassenderen und gleichzeitig tiefer verankerteren Strukturen. In solchen Zeiten mag es nützlich sein, sich auf einige Grundstrukturen zu besinnen, einige Grundprinzipien, die auch in unserer Werteordnung zu erkennen sind. Zu diesem Zweck möchte ich Ihnen Ken Wilbers Vier-QuadrantenModell erläutern und es auf das Gesundheitswesen anwenden. Ken Wilber ist ein zeitgenössischer amerikanischer Philosoph, der sich mit der individuellen Entwicklung des Menschen und der kulturellen Entwicklung der Menschheit beschäftigt hat und versucht hat, Grundprinzipien, Grundzüge darin zu erkennen. Neben einem Stufenmodell für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, in dem er unter anderem die kohlbergsche Theorie der moralischen Entwicklung miteinbezieht, konzipierte er ein Modell der Wirklichkeit, das aus vier Perspektiven oder vier Quadranten besteht (Wilber 1996). Jedes Phänomen, sei es ein Atom, ein Planet, ein Mensch, ein Gedanke oder eben beispielsweise ein Wert, ist in zwei Dimensionen betrachtbar. Es hat eine Innenseite und eine Außenseite. Die Außenseite ist das objektiv Beobachtbare, das Messbare, das empirisch Nachweisbare, das Sichtbare, also in einer gewissen Weise die Oberfläche. Es ist das, was die Physik, die Biologie, aber auch die

Verhaltenswissenschaften untersuchen. Die Innenseite ist das Subjektive, das Erlebte, das Empfundene, das Bewusstsein, in diesem Sinne die Tiefe. Es ist das, was Philosophie, Tiefenpsychologie, Religionen untersuchen. Es bezieht sich aber auch auf die Intention eines Moleküls, die Autonomie einer Zelle und so weiter. Außerdem kann jedes Phänomen in seiner Individualität oder in seiner Kollektivität betrachtet werden. Individuell ist jedes Phänomen eben ein Einzelphänomen, selbstständig, kohärent, auf Eigenständigkeit bedacht. Es wird also als Einzelwesen, wie zum Beispiel eine einzelne Person betrachtet. Gleichzeitig ist jedes Phänomen Teil eines größeren Ganzen, partizipiert am größeren Ganzen, ist Ausdruck eines größeren Ganzen, hat also eine soziale und verbundene Dimension, wie es die Kultur- oder die Systemtheorien beschreiben. Aus den beiden komplementären Paaren subjektiv-objektiv und individuell-kollektiv ergeben sich also vier Perspektiven, vier Quadranten. Für jeden Quadranten können wir typische Denker und Forscher, ja sogar typische Wissenschaften finden. Für jeden Quadranten gibt es eigene Beschreibungen der Gesetze, eigene Wahrheitskriterien und anderes mehr. Bezogen auf uns Menschen finden wir also folgende vier Quadranten: • die individuelle subjektive Welt, also das subjektive Erleben des Einzelnen • das beobachtbare individuelle Verhal ten von Menschen und ihre physische Erscheinung • die subjektive soziale Seite, also die Beziehung von uns Menschen, die schließlich die Kultur ausmachen • das soziale System, die soziale und gesellschaftliche Organisation unseres Lebens Wenn wir nun dieses Modell auf Werte anwenden, so kommen wir zu folgendem Wertesystem (siehe Abbildung auf der nächsten Seite):

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INDIVIDUELL

Menschenwürde Glück Freiheit Lust/Fun Selbstverwirklichung

Besitz Geld, Reichtum Macht Information Erfolg

sozial-kulturelle Werte

gesellschaftliche Nutzwerte

INNEN

persönliche materielle Werte

Liebe familiäre und freundschaftliche Bezüge Frieden, Gerechtigkeit Toleranz und gegenseitiger Respekt Gleichberechtigung Erfurcht vor der Natur

Wertesystem

Gesellschaftlicher Wohlstand und Reichtum Ökonomisches Wachstum Shareholder-Value soziale Sicherheit sozialer Ausgleich Demokratie

SOZIAL

Natürlich ist dieses Schema nicht vollständig. Einige der angeführten Werte können natürlich infrage gestellt werden, andere wären zu ergänzen. Mir kommt es jedoch gegenwärtig nicht auf das Detail an, sondern auf die Perspektiven. Diese vier Quadranten sind fundamentale Perspektiven des menschlichen Lebens. Sie sind sozusagen der gemeinsame Schatz der Menschheit. Das menschliche Leben ist differenzierter und komplexer geworden. Um damit gut und vernünftig umgehen zu können, ist es erforderlich, zunächst einmal diese vier grundlegenden Perspektiven anzuerkennen, die mit ganz unterschiedlichen Werten zusammenhängen. Diese Anerkennung erst ermöglicht ein echtes ganzheitliches Verständnis der Wirklichkeit. Der Schweizer Philosoph Jean Gebser nannte diese Weltsicht integral (Gebser 1973). Angesichts der Herausforderung zu solcher Komplexität stehen wir einigen Gefahren gegenüber. Die naheliegendste Gefahr besteht darin, einen dieser Quadranten oder gar nur einen Teil dieses Quadranten zu verabsolutieren. Dies würde bedeuten, einen Grundwert in den Rang des Höchsten und Dominanten zu erheWerteorientierung

AUSSEN

persönliche ideelle Werte

ben (zum Beispiel Shareholder-Value). Die Folge wäre ein Reduktionismus, ein verkürztes Verständnis der Wirklichkeit, das andere Qualitäten und Perspektiven missachtet. Mit der Missachtung, etwa der gesamten linken und inneren Seite und der damit verbundenen Werte von Humanität und Solidarität, müssen wir gegenwärtig leben, wenn etwa die Wirtschaftlichkeit oder die technische medizinische Qualität die beherrschenden Werte für unser Gesundheitswesen werden. Diese Verkürzungsmöglichkeit, die Identifizierung etwa mit einer Perspektive, also etwa mit einer Ideologie, trägt den Charakter des Dogmatischen und Fundamentalistischen. Dies grenzt aus, dominiert, missachtet, verachtet. Dies ist der Schatten der Einseitigkeit, des Parteiischen, der Polarisierung. Ein integraler Standpunkt basiert auf Anerkennung, auf Respekt, auf Innehalten und Wirkenlassen. Eine weitere wesentliche Gefahr, in der wir gesellschaftlich stehen, ist die des Zerfalls der Werteperspektiven. Menschen, die mit einzelnen dieser Perspektiven identifiziert sind, haben oft gar keinen Kontakt mit Menschen, die andere Perspektiven vertreten.


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Beispiele für den Zerfall der Perspektiven Wir finden es beispielsweise erstaunlich, wie völlig unbeeinflusst die Ethikdiskussion in der Organmedizin ist von Beiträgen der ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten (rechts oben und links oben), oder wie etwa mancher Vertreter eines Kostenträgers nur noch (kollektiv betrachtete) Regelbehandlungsdauern oder Gesamtbudgets vor Augen hat, während der einzelne Patient in seinem Ringen um Heilung möglicherweise jedes Verständnis für die Kosten seiner Behandlung außer Acht lässt. In der tagtäglichen Wirklichkeit einer Klinik ist dies manchmal nicht mehr zu vermitteln. Wie bewerten wir das Selbstbestimmungsrecht eines kranken Menschen, der sich eine bestimmte Behandlung oder eine bestimmte Einrichtung dafür auswählt und aus dem Kalkül einer Versorgungssteuerung durch den Verwaltungsakt eines Rentenversicherungsträgers gegen seinen Willen woanders hingeschickt wird. Das Problem hierbei ist nicht allein die Dominanz eines Grundwerts über einen anderen, sondern das mangelnde Verständnis füreinander, der Zerfall der Perspektiven.

Dies sind unseres Erachtens die beiden größten Gefahren im Umgang mit den Grundwerten: die dogmatische Reduktion auf einzelne Grundwerte und der Zerfall der Werteperspektiven. Wir brauchen ein komplexes Wertesystem und eine innere Grundhaltung, die fähig ist, dies zu handhaben. Jean Gebser nun nennt diese erforderliche Grundhaltung a-perspektivisch (Gebser 1973). Bezogen etwa auf das Modell von Ken Wilber wäre es beispielsweise unsere Position, wenn wir auf diese Perspektiven schauen. Wir sehen diese Perspektiven mit den entsprechenden Grundwerten vor uns, aber wir sind nicht identifiziert mit ihnen. Wir können Perspektiven einnehmen, wir können aber auch in der Position des Betrachters bleiben. Die Position des Betrachters ist a-perspektivisch, nicht gebunden an eine Perspektive, frei von jeder einzelnen Perspektive. Wir können die Wirklichkeit nicht anders als durch diese Perspektiven betrachten. Wir schaffen und konstruieren unsere gesellschaftliche Welt mithilfe dieser Perspektiven. Wie können wir dem Ganzen gerecht werden? Woher wissen wir, welches die richtige oder angemessene Perspektive ist? Dazu wollen wir die

a-perspektive Haltung noch etwas genauer betrachten. Bezogen auf die Werte ist sie wertefrei, aber nicht im konventionellen Sinne „wertfrei“. Sie ist werteerkennend, wertewahrnehmend, den Wert von Werten überhaupt spürend, den Wert der Werteperspektiven erkennend. Die a-perspektivische Haltung ist damit verankert im Wesen des Menschseins. Sie erkennt, dass Werte wahrzunehmen, sich an Werten zu orientieren, Werte fühlen, erkennen und konstruieren zu können, eben eine Eigenschaft, eine Eigenart des menschlichen Wesens ist, genauso eine Eigenart wie die Bewusstwerdung und das Erkennen können oder das Verbundensein mit anderen Menschen und die innere Freiheit Eigenarten des Menschseins sind. Sie ermöglicht somit eine Wahrnehmung der natürlichen Ordnung, der Grundordnung des Seins und ist selbst Ausdruck dieser. Die a-perspektivische, wesensverankerte Haltung ist damit ein echter Standort für eine wirklich integrierende ganzheitliche Position. Erst von hier aus kann gewichtet werden, kann zwischen den Standpunkten und Perspektiven ausgetauscht werden, ohne fundamentalistisch zu sein. Erst hier ist ein echter Pluralismus möglich, ein echter Dialog möglich. Werteorientierung


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UNTERNEHMENSAKTIVITÄTEN Prozesse Unternehmenskultur

ökologische soziale persönliche wirtschaftliche spirituelle

Mitarbeiter

UNTERNEHMENSPHILOSOPHIE Werte

Paradigmen Perspektiven

Maschinen Gebäude

Die Voraussetzungen für einen Dialog sind grundsätzlich: • die Anerkennung des anderen, der Respekt für ihn und die Wertschätzung seiner Position. Dies würde – bezogen auf unser Modell – bedeuten, die Anerkennung der vier Quadranten, der vier Perspektiven, • die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in den anderen hineinzuversetzen, sich einzudenken und hineinzufühlen und ihn zu verstehen, damit also der Perspektivwechsel, • das Innehalten und sich-verankern aufeiner Ebene, die wir gemeinsam teilen, vielleicht der existenziellen Ebene unseres menschlichen Wesens. Dieses Innehalten ist auch ein inneresuns mit den Kräften unserer Intuitionin Verbindung bringt; denn das Gewichten, das Entwickeln eines guten und angemessenen Wertegefüges wird intuitiv geschehen (intuitiv im Sinne einer klaren aufgeklärten offenen Haltung: nicht sentimental, aber auch nicht rationalistisch).

Werteorientierung

Kunden

Prinzipien

gesellschaftliche Aktivitäten

Materialien Kapital

In einem werteorientierten Unternehmen werden nun die wesentlichen Werte oder Wertebereiche explizit formuliert und immer wieder kommuniziert. Regelmäßiger Dialog, sowohl mit den Einzelnen als auch mit den Teams und innerhalb der Führungsebene, über die wesentlichen zugrundliegenden Werte hält das Wertebewusstsein lebendig. So kann der Kern eines Unternehmens, nämlich seine Unternehmensphilosophie, sichtbar gemacht werden. Die Unternehmensphilosophie stellt aus unserer Sicht das grundlegende Unternehmenskonzept dar, das auf den vorherrschenden Werten und grundlegenden Prinzipien für das wirtschaftliche Handeln eines Unternehmens beruht.


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In den Heiligenfeld Kliniken haben wir für folgende Wertebereiche wertebezogene Ziele, Indikatoren und Maßnahmen formuliert: wirtschaftliche, patientenbezogene, mitarbeiterbezogene, arbeitsplatzbezogene, ökologische, kooperative und gesellschaftliche Werte. Werte wirtschaftliche patientenbezogenen mitarbeiterbezogene arbeitsplatzbezogen ökologische kooperative gesellschaftliche

Ziele Wirtschaftlichkeit, Expansion, effiziente Prozessorganisation, Innovation hohe Behandlungsqualität, Patientenzufriedenheit, Menschlichkeit Qualifikation, soziale Kompetenz, Inspiration, Gesundheit, Spiritualität, Führungskompetenz lebendige Unternehmenskultur, gute Arbeitsbedingungen, Kooperation biologische Ernährung, Energieeffizienz, effizienter ökologischer Ressourcenverbrauch gute Zusammenarbeit mit Einweisern, ehemaligen Patienten, Kostenträgern, Kapitalgebern und Lieferanten regionale und gesellschaftliche Verantwortung, Öffenlichkeitswirksamkeit

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Das lebendige Unternehmen – Dr. Joachim Galuska, in: Resilienz – Kompetenz der Zukunft, K. Wellensiek, J. Galuska, Beltz Verlag, 2014, S. 140-151

Ein Unternehmen ist ein lebendiger sozialer Organismus. Es besteht aus dem Zusammenwirken von menschlichen Lebewesen, die ein Produkt erzeugen, also eine Ware herstellen oder eine Dienstleistung erbringen. Wie Menschen, Lebewesen oder die Natur überhaupt können wir einen solchen sozialen Organismus nie vollständig verstehen. Er ist eben keine einfache Maschine oder ein kompliziert konstruierter Apparat, sondern etwas Lebendiges, das evolutionär entstanden ist. Um mit seiner Komplexität umgehen zu können, brauchen wir entsprechende Unternehmensmodelle, die vor allem im Rahmen des strategischen Managements entwickelt worden sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Balanced Scorecard. Sie ist ein Führungsinstrument, das von der Vision ausgehend für vier verschiedene Perspektiven eines Unternehmens Ziele, Maßnahmen und Kennzahlen zur Zielerreichung formuliert. Im Zentrum der Balanced Scorecard stehen die Visionen des Unternehmens, die letztendlich aus unserem Herzen, aus unserer Seele stammen. Die Visionen sind jedoch bereits Bilder und Antworten auf unsere innersten Anliegen, die wir mit unserer beruflichen Tätigkeit verbinden. Im Kern der Balanced Scorecard stehen also eigentlich unsere tiefsten inneren menschlichen Anliegen als Unternehmer, Leitende oder Mitarbeiter. Und diese inneren Anliegen beruhen im Grunde auf der Wahrnehmung des Lebensfelds, in dem man eben lebt. Sie beruhen letztlich auf der Offenheit und Rezeptivität für die ganze Welt, für die Evolution, die in sich selbst Keime zur Weiterentwicklung, Entfaltung und Wandlung trägt. Die Entwicklung einer resilienten Organisation basiert also zunächst einmal auf Werteorientierung

einer dynamischen kontinuierlichen Weiterentwicklung der Prozesse und Strukturen. Um zu einem höheren Reifegrad zu kommen, ist es erforderlich, ebenso viel Wert auf eine resiliente Unternehmenskultur zu legen, diese bewusst zu machen und bewusst zu gestalten. Im Kern jeder Unternehmenskultur liegen die wesentlichen Werte, an denen sich sowohl das alltägliche Handeln als auch die strategischen Entscheidungen orientieren. Ein authentischer Dialog über die wesentlichen Werte, ihre Gewichtung und ihr Zusammenspiel lässt eine Unternehmenskultur aufblühen und lebendig sein. Vielleicht geht es letztendlich in der Resilienzentwicklung um die Entfaltung unserer Lebendigkeit, um den Anschluss an das Leben in uns, persönlich, organisatorisch und gesellschaftlich. Ein lebendiges Unternehmen orientiert sich in seinem Kern an der Lebendigkeit. Sie schätzt und achtet das Leben, bejaht es und liebt letztendlich das Leben. Es versteht sich als Ausdruck der Evolution, als Ausdruck des Lebens und entfaltet sich aus sich selbst heraus. Es stellt in den Mittelpunkt nicht die Funktionen und Rollen der Menschen, sondern ihre Lebendigkeit. Es weiß, dass es nur aus lebendigen Menschen besteht, deren Inspiration, Engagement, Leidenschaft, Aktivität und Kompetenz seine Ergebnisse produzieren. Es ermöglicht den Menschen, ihre eigene Lebendigkeit zu spüren und ihr Leben zu erfüllen. Es kreiert eine lebendige Unternehmenskultur der gegenseitigen Unterstützung, Inspiration und Kooperation. Es ermöglicht die Teilhabe am größeren Ganzen, das jedem Einzelnen einen Sinn und eine Orientierung gibt. Ein lebendiges Unternehmen strukturiert und organisiert sich in vielfältiger


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Weise wie das Leben selbst. Es organisiert die Verhaltensweisen der Einzelnen, ihre Kommunikation, die Strukturen der Führung und seine selbstregulativen Prozesse. Es ist selbstreferenziell und reflexiv, es spürt sich auf eine gewisse Weise selbst und verändert sich. Ein lebendiges Unternehmen betrachtet sich als Teil seiner

Mitwelt und tauscht sich aus. Es nimmt auf, was es zum eigenen Leben braucht und wirkt zugleich gestaltend in die Welt hinein. Es dient damit letztendlich dem gesamten Leben und sieht seinen Sinn und seine Bestimmung darin, das Leben zu beschützen, anzureichern und weiterzuentwickeln.

bewusste lebendige Menschen

ko-kreative Entwicklung einer lebenswerten Welt

lebendige evolutionäre Gestaltung kreative lebendige Unternehmenskultur

evolutionäre Organisation

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Unternehmensphilosophie Auszug aus der Wissensbilanz – Unsere Grundidee

Unsere Grundidee besteht in der Verwirklichung und Weiterentwicklung eines ganzheitlichen Unternehmens. Darunter verstehen wir einen mehrdimensionalen oder mehrperspektivischen Ansatz der Unternehmensgestaltung. Ein wirtschaftliches Unternehmen, wie das einer Klinik, verwirklicht grundlegende Ideen, Werte und Prinzipien. Unsere Werte haben einen spirituellen und einen humanistischen Bezug. Damit sind die Werte verankert im Absoluten, Spirituellen, Göttlichen, Einen im Wesen der Dinge. Sie sind auf Wesentliches bezogen, auf fundamentale menschliche Qualitäten wie Achtsamkeit und Bewusstheit, Liebe und Respekt, Freiheit und Verantwortung, Würde, schöpferische Kreativität, Sinn, Effizienz und Heilung. Fundamental ist für uns zunächst jeder einzelne Mensch in seiner existentiellen Dimension und erst in zweiter Linie seine Rolle als Patient, Therapeut, Mitarbeiter, Unternehmer oder Kunde. Für die Betrachtung unseres Unternehmens nehmen wir verschiedene Perspektiven ein, für die wir gute Ergebnisse erreichen wollen. Wir zielen dabei auf eine „Win-Win-Win-Situation“, also darauf, eine Konfiguration guter Ergebnisse in möglichst vielen Perspektiven zu erreichen. Die Verabsolutierung der Dominanz einer Perspektive lehnen wir ab.

Essenzielle Perspektiven: • die betriebswirtschaftlich-organisatori sche Perspektive: Hier zielen wir ab auf Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Profi tabilität. • die Patientenperspektive: Hier zielen wir ab auf Menschlichkeit, Patientenzu friedenheit und Behandlungswirksam keit. • die Mitarbeiterperspektive: Hier geht es uns um gute, lebenswerte, sinner füllte und gesunde Arbeitsplätze. • die regionale und gesellschaftliche Perspektive: Hier tragen wir Mitverantwortung, fördern das gesellschaftliche Bewusstsein und die regionale Wirtschaft. • die Entwicklungsperspektive: Hier streben wir ein gesundes Wachstum, individuelles und organisatorisches Lernen und eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung an. Besondere Qualitäten dieser Verbindung von Werten mit wirtschaftlichem Handeln sind: • eine gegenseitige Befruchtung von Spiritualität und Ökonomie im Sinne dergegenseitigen Förderung und Potenzierung • die Förderung eines guten Lebens als Therapieziel für die Patienten, als Kontext der Behandlung und als Realität für die Mitarbeiter im Sinne der Überzeugung: Arbeitszeit ist Lebenszeit

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• die Entfaltung von Humanität an einem Ort, an dem Wunden behandelt werden, die durch mangelnde Humanität entstanden sind • die Sinnfindung für Patienten in ihrem Leben, das Finden sinnstiftender Aufgaben für die Mitarbeiter und sinnvoller wirtschaftlicher Aktivitäten für die Unternehmer • die Verwirklichung von Kooperation, Vernetzung, Verbindung, Mitgefühl und Mitverantwortung in der Patientengemeinschaft, im kooperativen Handeln im Team und im Verhältnis der Arbeitgeber zu den Mitarbeitern und der Klinik in ihrer Vernetzung mit der übrigen Gesellschaft

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Heiligenfelder Essenz Im Jahr 2010 wurde das Leitbild des Unternehmens durch die „Heiligenfelder Essenz“ ersetzt. In einem mehrwöchig verlaufenden Prozess im Rahmen der Veranstaltung „Organisationsentwicklung“ wirkten ca. 200 Mitarbeiter aller Berufsgruppen und aller Hierarchie-Ebenen mit. Dabei wurden in Kleingruppenarbeit Kernaussagen zu den folgenden Dimensionen und Perspektiven erarbeitet: Das Unternehmen Heiligenfeld Die Mitarbeiter Die Patienten Die Öffentlichkeit Die Struktur und Organisation Die Heiligenfelder Essenz beschreibt das Selbstverständnis unseres Unternehmens, sie ist das, was unser Unternehmen im Wesen ausmacht. Sie ist daher eine Beschreibung dessen, wie die Mitarbeiter das Unternehmen erleben, wofür sie stehen und arbeiten. Die Heiligenfelder Essenz ist somit die von den Mitarbeitern gelebte und erlebte Unternehmenswirklichkeit und beschreibt den Kern des Vorhandenen, Bestehenden und gemeinsam Verbindenden.

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Leben

Heiligenfeld als Ganzes ist ein Ausdruck des Lebens. Darum stehen in seinem Zentrum Lebendigkeit, Liebe zum Leben, Lebensfreude, Entfaltung des Lebens, Kreativität ebenso wie die Annahme von Schmerz, Leid und Tod. In der Verwirklichung von lebensförderlichen Visionen, Werten und Prinzipien ist Heiligenfeld ein Ort des Lebens und Arbeitens und Heilens.

Gemeinschaft

Die Unternehmenskultur ist ein Feld gemeinsamen Arbeitens und Lebens und ein Feld, sich darin zu entwickeln und zu wachsen. Die therapeutische Kultur ist eine Gemeinschaft des Leben Lernens, des sich Beziehens und der Teilhabe an der mitmenschlichen Gemeinschaft und damit verbunden des sozialen Lernens und der gegenseitigen Unterstützung.

Menschlichkeit

Unser Umgang miteinander und mit den Patienten ist geprägt durch Herzlichkeit, Respekt, Ehrlichkeit, Achtung, Wertschätzung füreinander, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit, also durch humanistische Werte.

Achtsamkeit und Präsenz

Heiligenfeld ist ein Feld des Gewahrseins, eine erwachende und bewusstwerdende Organisation. Achtsamkeit, Präsenz und Bewusstwerdung sind auch Kernprinzipien im Heilungsprozess. Eine Verankerung in der eigenen Seele der Mitarbeiter im Sinne einer beseelten Medizin und einer beseelten Psychotherapie fördert eine Öffnung der Seele der Patienten für Selbstreflexion und Heilung.

Entwicklung

Es besteht eine Freude und ein tiefes Anliegen an der Weiterentwicklung des Unternehmens, der Mitarbeiter und der Patienten. Wir leben Visionen, Kreativität und beständige Innovationen. Wir sind eine lernende Organisation im Sinne eines aufrichtigen Bemühens, auf dem Weg zu sein und andere Menschen zu unterstützen, Leben zu lernen und auf ihrem Weg zu sein.

Einzigartigkeit

Jeder Mensch – ob Patient oder Mitarbeiter – ist einzigartig. Heiligenfeld gibt Raum für die Bewusstwerdung und Entfaltung der Einzigartigkeit des Menschen, der zugleich Teil einer mitmenschlichen Gemeinschaft ist.

Sinn und Dankbarkeit

Heiligenfeld gibt dem eigenen Handeln und dem eigenen Leben als Mitarbeiter oder Patient Sinn. Es fördert Sinnfindung, Sinnverwirklichung und Sinnerfüllung. Zugleich sind wir dankbar für diese sinnhaften Lebensmöglichkeiten und letztlich für das Geschenk des Lebens selbst.

Schönheit und Ästhetik

Heiligenfeld trägt bei zur Lebensverschönerung, zur Weltverschönerung sowohl in den Arbeitsbedingungen als auch in den therapeutischen Prozessen. Wir genießen und leben Schönheit.

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Ganzheitlichkeit

Ganzheitlichkeit, Mehrperspektivität, Komplexität, integrierte und integrale Konzepte für das Unternehmen und für Heilungsprozesse entstehen aus dem Respekt vor der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit und der letztlichen Unergründlichkeit des Lebens.

Heilung

Heiligenfeld ist ein Ort der Heilung, schafft Rahmenbedingungen dafür, dass Heilung geschehen kann. Patienten werden mit ihren Fähigkeiten, Störungen und Krankheiten angenommen, gehalten und getragen, so dass sie sich finden, ihre Ressourcen spüren, Kompetenzen entwickeln und sich neu orientieren.

Lebensförderliche Strukturen

Heiligenfeld besitzt klare, transparente Strukturen, die ständig gemeinsam weiterentwickelt werden. Sie dienen der Heilung, der Bewusstwerdung, dem gemeinschaftlichen Leben und Arbeiten und werden durch eine klare Führung und Verantwortlichkeit auf allen Ebenen gelebt.

Flexible Abläufe

Die inneren Werte und Prinzipien stellen die Grundlage für unsere Abläufe dar. Die Prozessorganisation entspricht einem lebendigen, flexiblen Grad an Organisation.

Vernetzung

Heiligenfeld kommuniziert seine Lebensorientierung und seine Werte nach innen und außen. Es besitzt Verantwortlichkeit für die Umwelt und Mitwelt in gesellschaftlicher und ökologischer Ausrichtung und sozialem Engagement. Es fördert Dialog und kollektive Bewusstseinsprozesse im Unternehmen und in der Gesellschaft.

Authentizität

Das Unternehmen, die Mitarbeiter und die Führungskräfte bemühen sich authentisch um die Verwirklichung der grundlegenden Werte und Prinzipien. Ehrlichkeit und Offenheit im Kontakt miteinander, mit den Patienten, Einweisern und Kooperationspartnern gehören ebenso dazu, wie eine integre und glaubwürdige Unternehmensführung

Wirtschaftlichkeit

Wirtschaftlicher Erfolg und finanzieller Gewinn sind Voraussetzungen für die Unternehmenssicherheit und Investitionskraft in die Zukunft. Dies bedeutet, dass Kostenbewusstsein, Profitabilität, Effizienz und ökonomische Verantwortung beachtet werden. Gleichzeitig stehen wirtschaftliche Werte mit immateriellen Werten im Gleichgewicht.

Ökologische Verantwortung

Heiligenfeld versteht sich als Teil einer ökologischen Umwelt, für die es Mitverantwortung besitzt. Dies bedeutet in der Unternehmensführung und im alltäglichen Handeln aller Mitarbeiter, Prinzipien der Nachhaltigkeit im Umgang mit Ressourcen zu berücksichtigen.

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Soziale Verantwortung und gesellschaftliches Engagement Die Heiligenfeld Kliniken sehen ihre soziale Verantwortung als Einrichtung des Gesundheitswesens auf eine ganzheitliche Art und Weise. Über ihre rechtlichen Pflichten hinaus übernehmen sie in Unternehmen sowie anderen Organisationen und Institutionen freiwillig gesellschaftliche Verantwortung. Dabei gelten folgende Grundpfeiler: • vorausschauend wirtschaften • fair mit Beschäftigten umgehen • Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt übernehmen Regionales Engagement Besonders auf regionaler Ebene setzt sich die Heiligenfeld GmbH für die Gesellschaft ein. So werden im Rahmen einer Weihnachtsspende jedes Jahr über 20.000 Euro an gemeinnützige Organisationen rund um die Regionen der drei Unternehmensstandorte Bad Kissingen, Uffenheim und Waldmünchen gespendet. Zudem arbeitet das Unternehmen bevorzugt mit regionalen Firmen zusammen. Ziel ist es, die Wirtschaftskraft in der Region zu stärken und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Der Preis der einzelnen Leistungen ist dabei nicht das einzige Vergabekriterium für Aufträge. Die gelieferte Qualität und die Werteorientierung der Partner sind zusätzliche entscheidende Kriterien. Aufruf zur psychosozialen Lage Im Jahr 2010 initiierte Dr. Joachim Galuska gemeinsam mit 21 Chefärzten einen „Aufruf zur psychosozialen Lage“. Dieser Aufruf möchte auf die erschreckende psychosoziale Lage in Deutschland aufmerksam machen und zu einem Dialog anregen. Mehrere tausend Fachleute aus dem Bereich der Behandlung und der Begleitung psychosozialer und seelischer Probleme sowie Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen unterstützen die Initiative bereits mit ihrer Unterschrift. Die Unterzeichner des Aufrufs wollen nicht bestimmte gesellschaftliche Sektoren für diese dramatische und nicht angemessen erkannte Entwicklung verantwortlich machen, sondern zu einem offenen gesellschaftlichen Dialog über die psychosoziale Lage, die möglichen Ursachen und sinnvolle Handlungsansätze aufrufen. Dabei werden sie nicht von individuellen, berufspolitischen und institutionellen Interessen geleitet, sondern sie wollen sich als Menschen äußern, die in diesen Fachgebieten Verantwortung tragen. Gegenwärtig bereitet Dr. Galuska mit seinen Kollegen die Veröffentlichung eines weiteren „Aufrufs zum Leben“ vor.

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Aktionsbündnis Lernfeld Gesundheit Das Aktionsbündnis Lernfeld Gesundheit wurde im Jahr 2015 gegründet und will Bildungseinrichtungen zu gesunden Lebens- und Entfaltungsräumen für Lehrende und Lernende entwickeln. Denn Gesundheit ist Voraussetzung und Ergebnis von gelingenden Bildungsprozessen. Gesundheitskompetenz umfasst die Fähigkeit, im persönlichen Leben und in individuellen Lebenswelten gesunde Entscheidungen zu treffen. Unsere Bildungseinrichtungen sollten Menschen befähigen, gesund leben zu können und ihr Leben gesundheitsförderlich zu gestalten. Die Grundwerte des Aktionsbündnisses beruhen auf einer ganzheitlichen Betrachtung von Gesundheit und Bildung. Ziele: • Entwicklung von Gesundheitsbewusstsein im Bildungsbereich • Einführung eines Schulfachs „Gesundheit“ • Pilotschulen für Lernmodule aus dem Bereich Gesundheit • Qualifizierung von Lehrkräften für Gesundheitsbildung • Erfahrungsaustausch zur Umsetzung von Gesundheitsthemen im Unterricht • Implementierung von Gesundheitsbildung in Schulentwicklungsprozesse • Entwicklung von Bildungseinrichtungen als gesunde und gesundheitsfördernde Lernorte • Gesundheitsförderung für Lehrer und Lernbegleiter Selbstmanagement für Auszubildende Die Fortbildungsreihe „Selbstmanagement für Auszubildende“ wird von einem branchenübergreifenden Netzwerk von Unternehmen aus der Region Main-Rhön für ihre Auszubildenden organisiert. Das Weiterbildungsprojekt wurde im Jahr 2012 von Dr. Joachim Galuska und Christine Seger, Geschäftsführerin der Seger Transporte GmbH & Co. KG, initiiert, um den Lehrlingen wichtige psychosoziale Kompetenzen zu vermitteln, die in der fachlichen Ausbildung und an Schulen nicht gelehrt werden. Durch die Anleitung zum Selbstmanagement sollen die Auszubildenden Entscheidungshilfen erhalten und lernen, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Es werden unter anderem die Themen Selbstmanagement und Selbstführung, Umgang mit Geld, Gesundheitsmanagement, Stressmanagement sowie Dialog und Beziehung behandelt. Die Inhalte werden im Rahmen von zwölf Nachmittagen innerhalb von drei Jahren vermittelt. Jedes Modul besteht aus einer theoretischen Einleitung ins Thema und einem Praxisteil. Auch Coaching in Kleingruppen sowie der Dialog spielen eine große Rolle. Ziele des Konzepts: • die Verbesserung von Selbststeuerung und Selbstführung • die Verbesserung der Fähigkeiten zum Dialog und zur Kooperation • die Verbesserung des Umgangs mit der eigenen Gesundheit • die Verbesserung des Umgangs mit den Herausforderungen der modernen Welt Psychosomatisches Versorgungsnetz Main-Rhön Das Psychosomatische Versorgungsnetz Main-Rhön ist ein Arbeitskreis aus verschiedenen Berufsgruppen und Einrichtungen, die in der Region Main-Rhön Leistungen zur psychosomatischen Versorgung erbringen. Das Versorgungsnetz wurde im Jahr 2008 von Dr. Joachim Galuska mit dem Ziel der Verbesserung der regionalen psychosomatischen Versorgung gegründet. Zu den Mitgliedern gehören Fachärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Krankenpflegepersonal, Psychosomatische Kliniken, Sozialarbeiter und Kreativtherapeuten sowie Beratungsstellen und Sozialpsychiatrische Dienste. Im Jahr 2013 wurde der Arbeitskreis in der Kategorie „Gut versorgt in der Region“ mit dem Bayerischen Gesundheitspreis ausgezeichnet. Mit zahlreichen Maßnahmen, wie der Einrichtung einer offenen Sprechstunde sowie dem Angebot einer Krisengruppe zur kurzzeitigen Behandlung, soll eine Verbesserung der Kooperation und Vernetzung der Werteorientierung


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ambulanten und stationären psychosomatischen Behandlungsangebote in der Region erreicht werden. Aktuell sind weitere Projekte, wie die Einrichtung von Informations- und Übungsgruppen für Patienten und Angebote sozialarbeiterischer Beratung, in Arbeit. Spiritual Venture Network Das Spiritual Venture Network ist ein von Dr. Joachim Galuska initiiertes Netzwerk für Menschen, die in ihre wirtschaftliche Verantwortung eine gelebte Spiritualität einbringen wollen. Es will dazu beitragen, spirituelles Bewusstsein in der Wirtschaft zu entwickeln und zu verbreiten. Das Netzwerk lebt durch die Aktivitäten seiner Mitglieder und aller, die an diesen Themen interessiert sind. Dazu werden Veranstaltungen organisiert, regionale Aktivitäten gefördert und Arbeitsgruppen unterstützt. Stiftung Heiligenfeld e.V. „Wir wollen auch jenen Menschen eine therapeutische Behandlung und persönliche Entwicklung ermöglichen, die infolge ihres geistigen, seelischen oder körperlichen Zustands oder aufgrund finanzieller Beschränkungen nicht eigenständig dazu in der Lage sind.“ Aus dieser Überzeugung heraus entwickelten ehemalige Patientinnen und Patienten der Fachklinik Heiligenfeld die Idee zur Gründung des Vereins. Die Stiftung Heiligenfeld e.V. organisiert die selbstlose Hilfe und das persönliche Engagement von (ehemaligen) Patienten für Patienten. Dazu werden finanzielle Mittel verwaltet und verteilt, die Förderer und Patienten dieser Initiative zur Verfügung gestellt haben. So wird beispielsweise die Übernahme von Kosten notwendiger stationärer Behandlung ermöglicht, die nicht von anderen Kostenträgern übernommen werden. Außerdem werden Nachsorgeprojekte, Selbsthilfegruppen, Patienten- und Fortbildungsveranstaltungen sowie Angehörigenarbeit gefördert. Auch die Bewusstseinsbildung zur Entwicklung von Nachhaltigkeit im ökologischen und globalen Sinne gehört zum Zweck der Stiftung Heiligenfeld e.V. Dazu werden nationale und internationale ökologische Projekte, wie z. B. zur Aufforstung von Regenwald, Schutzwäldern oder besonderer Mischwälder, unterstützt. Stiftung Bewusstseinswissenschaften „Unsere grundlegende Überzeugung besteht darin, dass der entscheidende Schritt in der Evolution der Menschheit gegenwärtig die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist.“ Die Stiftung Bewusstseinswissenschaften wurde im Jahr 2008 von Dr. Joachim Galuska und seiner damaligen Frau Dorothea Galuska mit dem Ziel gegründet, eine anwendungsbezogene Bewusstseinsforschung zu fördern. Dazu sollen im ganzheitlichen Sinne sowohl das individuelle als auch das kollektive Bewusstsein und deren biologische und kulturelle Grundlagen einbezogen werden. Sie fördert darüber hinaus die Anwendung und Umsetzung der wesentlichen Ergebnisse angewandter Bewusstseinswissenschaften in Technologien und Gestaltungsformen psychologischer, sozialer und technischer Art. Dies geschieht beispielsweise durch die Einrichtung von Stiftungsprofessuren, Forschungsaufträge, die Entwicklung von Geschäftsmodellen und die Unterstützung von entsprechenden geschäftlichen Aktivitäten, Aus- und Weiterbildung und Beratung. Ziel der Tätigkeit der Stiftung ist, dazu beizutragen, dass die Menschen fähig werden, bewusste Gestalter ihres eigenen Bewusstseins und damit ihres Lebens zu werden. Es geht darum, für die Lebensgestaltung ein höheres Maß an individueller Freiheit und zugleich eine höhere Kompetenz zur Teilhabe am Zusammenleben und der Menschheitskultur zu erwerben.

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Weltinnenraum und Bewusstseinswissenschaften – Dr. Joachim Galuska, in:

Bewusstseinswissenschaften, Via Nova, 2011, S. 4-10

Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum. Rainer Maria Rilke

„Weltinnenraum“ dieser Begriff von Rilke war der letzte Anstoß einer Vision, unserer Außenorientierung, die auf eine gewisse Weise in der Erforschung des Weltraums gipfelt, eine Innenorientierung, die Erforschung des Weltinnenraums gegenüberzustellen. Doch der Weltinnenraum ist nicht unser Gehirn, das ist auch eher unsere äußere biologische Struktur, sondern es ist unser Geist, unser Bewusstsein. Wir investieren enorme Summen in die Naturwissenschaften, also die Erforschung der äußeren Natur, und innerhalb der Medizin in die Biologie des Menschen. Wir haben enorme Einsichten gewonnen über das Funktionieren der natürlichen Prozesse und daraus eine Fülle von Technologien entwickelt, mit der wir unseren Planeten umgestalten und unser Leben bequemer machen. Aber wir haben diese Technologien nicht mehr unter Kontrolle, wenn man etwa an die Ausbreitung der Informationstechnologien, des Verkehrs in vielen Ländern, der Umweltbelastungen, des Energieverbrauchs usw. denkt. Wir haben die Erforschung des Inneren vernachlässigt, so dass wir keine gemeinsamen stabilen inneren Kriterien besitzen, nach denen wir diese Technologien anwenden. Und diese Entwicklung ist nicht neu! Schon Albert Schweitzer hat sie 1923 (in seiner Schrift „Kultur und Ethik“) beklagt: „Das Verhängnis unserer Kultur ist, dass sie sich materiell viel stärker entwickelt hat als geistig. Ihr Gleichgewicht ist Werteorientierung

gestört. Durch die Entdeckungen, die uns die Kräfte der Natur in so außerordentlicher Weise dienstbar machen, haben die Lebensverhältnisse der Einzelnen, der Gesellschaftsgruppen und der Staaten eine totale Umwälzung erfahren. Unser Wissen und Können ist in einem Maße, wie man es nicht für möglich gehalten hätte, bereichert und gesteigert. Dadurch sind wir instand gesetzt, die Daseinsbedingungen des Menschen in mancher Hinsicht unvergleichlich günstiger zu gestalten als früher. In der Begeisterung über die Fortschritte des Wissens und Könnens sind wir aber zu einer fehlerhaften Auffassung der Kultur gelangt. Wir überschätzen deren materielle Errungenschaften und haben die Bedeutung des Geistigen nicht mehr in erforderlicher Weise gegenwärtig. Nun kommen die Tatsachen und rufen uns zur Besinnung. Sie lehren uns in grausig harter Sprache, dass die Kultur, die sich nur nach der materiellen und nicht auch in entsprechendem Maße auf der geistigen Seite hin entwickelt, dem Schiffe gleicht, das mit defektem Steuerapparat in stetig beschleunigter Fahrt seine Steuerbarkeit verliert und damit der Katastrophe zutreibt.“ Albert Schweitzers Konsequenz ist die Entwicklung einer Ethik von der Ehrfurcht vor dem Leben. Also wer ist der Steuermann in Albert Schweitzers Bild? Es ist letztlich unser Bewusstsein, doch wir trei-


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ben dahin, ohne seine Strukturen in ausreichender Weise zu erforschen und uns entsprechend darin zu führen. Um in dieser Situation, die sich fast ein Jahrhundert später eher noch verschärft hat, einen kleinen Beitrag zu leisten, habe ich eine Stiftung gegründet, die dabei helfen soll, uns Menschen zu befähigen, bewusste Gestalter unseres eigenen Bewusstseins und damit letztlich unseres gemeinsamen Lebens zu werden. Wie bin ich dazu gekommen? Ich bin in Oberschlesien geboren und die ersten vier Jahre meines Lebens deutschsprachig in einer polnischen Sprachkultur erzogen worden. Als ich vier Jahre alt war, habe ich meine Heimat verloren. Meine Eltern sind mit uns Kindern nach Westen ausgewandert und meine weitere Familie war überall in Deutschland verstreut oder in Polen geblieben. Ich wurde streng katholisch erzogen, von Familie und Kirche, und bin gleichzeitig in einem sozialen Brennpunkt aufgewachsen. Deswegen habe ich mir schon als Jugendlicher grundsätzliche Fragen danach gestellt, wohin ich gehöre, was ich glauben soll, wer ich bin, was der Sinn des Lebens ist und ob es etwas gibt, was mir Orientierung im großen Gefüge des Kosmos gibt. Nachdem ich mich von Familie und Kirche gelöst habe, habe ich Medizin und Psychologie studiert, mehr um herauszufinden, was uns als Menschen ausmacht, als um einen Beruf zu lernen. Um mich selbst mehr zu verstehen, habe ich verschiedene Psychotherapieausbildungen gemacht, Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie an der Universität, tiefenpsychologische Psychotherapie in meiner psychiatrischen Facharztausbildung, dann noch Gestalttherapie und Körpertherapie. All dies hat mir nicht ausgereicht – ich habe andere Kulturen besucht, mich insbesondere mit den asiatischen Wegen des Buddhismus und Hinduismus beschäftigt und Meditation und Spiritualität entdeckt. Mit eigenen veränderten Bewusstseinszuständen konnte ich besser Menschen mit psychotischen Erfahrungen verstehen und Menschen, die auf ihrer Suche nach sich selbst in tiefe Krisen geraten waren. Ich selbst, so begann ich zu verstehen, war wesentlich mehr als alles, was ich in einzelnen Systemen, sei es die Hirnfor-

schung, die Psychologie, die verschiedenen Psychotherapien oder die religiösen und spirituellen Wege beschrieben fand. Überall fand ich Wahrheit in dem Sinne, dass ich sie in meinem eigenen Erleben, in meinem eigenen Denken oder in meiner eigenen Praxis nachvollziehen konnte. In meiner Suche nach irgendetwas Integrierendem traf ich auf Ken Wilbers mehrperspektivisches Modell, in dem praktisch alles, was ich überzeugend fand, irgendwo seinen Platz hatte. Wilbers Modell zeigte mir, dass die Wirklichkeit nicht auf eine bestimmte Weise ist, sondern dass wir sie durch unterschiedliche Perspektiven erkennen, die alle ihre Gültigkeit besitzen. Wissenschaften basieren also auf Perspektiven, innerhalb derer sie ihr Wissen entfalten. Sie gewinnen also immer perspektivisches Wissen und stehen im Kontext anderer Perspektiven. Dies trifft selbstverständlich auch für die Psychosomatische Medizin und die Psychotherapie zu. Die Identifizierung und Verabsolutierung einer Perspektive oder gar eines Paradigmas innerhalb einer Perspektive macht sie zur Ideologie, quasi zur Weltanschauung, wie wir es ja auch heute noch in der Psychotherapie mit den verschiedenen Schulen erleben. Doch wenn wir das Bewusstsein betrachten, das diese Perspektiven kreiert, das sich innerhalb von Perspektiven bewegen kann, aber auch zwischen Perspektiven wechseln kann, dann finden wir eine Bewusstseinshaltung, die Jean Gebser das „integral-aperspektivische Bewusstsein“ genannt hat. Jean Gebser ist der Meinung, dass das Menschheitsbewußtsein aus magischen und mythischen über rationale vernunftbestimmte Denkformen hin zu einem integral aperspektivischen Denken kommen kann, das größere und komplexere Zusammenhänge erfahren und erkennen kann. In meiner Auseinandersetzung mit meiner Aufgabe als Arzt und Psychotherapeut, aber auch mit meiner Aufgabe als Unternehmer und Leiter eines mittelständischen Unternehmens ist mir zunehmend die Bedeutung des eigenen Bewusstseins wichtiger geworden.

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Was ist eine günstige Bewusstseinshaltung eines Psychotherapeuten im Psychotherapieprozess? Wie wirken sich die Äußerungen unserer Patientinnen und Patienten in unserem Bewusstsein aus? Wie wirken sich perspektivisch identifizierte oder aperspektivisch freie Haltungen eines Psychotherapeuten aus? Und wie kann ein Psychotherapeut seinen eigenen Bewusstseinszustand erkennen, im Psychotherapieprozess modulieren und verändern? Wie geschieht dies in Führungssituationen einer Führungskraft? Wie kann sich eine Führungsperson in der Komplexität eines solchen Unternehmens wie einer Klinik zurechtfinden und sie steuern?

Was ist eine günstige Bewusstseinshaltung für einen Wissenschaftler? Wie wirkt sich sein Bewusstsein auf den Forschungsprozess und den Forschungsgegenstand aus? Wie kann er seine Bewusstseinszustände und seine innere Verankerung steuern? Wie bildet sich sein Forschungsgegenstand in seinem wie gestalteten Bewusstsein ab? Mit welchem Bewusstsein führen wir eigentlich unser Leben? Führen wir es bewusst oder treiben wir, reagieren wir in Halbtrance? Wie können wir steuernd in unser Leben eingreifen und es so gestalten, wie es uns entspricht?

Welche Perspektiven soll sie einnehmen?

Mit welchem Bewusstsein begegnen wir anderen Menschen, gestalten wir unsere Kultur?

Wie wirkt sich ihr Bewusstsein auf die Mitarbeiter und den Erfolg des Unternehmens aus?

Wie bilden sich überhaupt kollektive Bewusstseinsprozesse und wie sind sie steuerbar?

Mit solchen Fragen beschäftigte ich mich immer eingehender in den letzten 10 Jahren und bin zu dem Schluss gekommen, dass es eine Wissenschaft oder besser noch eine Gruppe von Wissenschaften braucht, die sich grundsätzlich und eingehender damit beschäftigt. Ich selbst habe für den Bereich der Psychotherapie und für die Unternehmensführung dazu auch einige eigene Gedanken entwickelt und sie in den alljährlichen Heiligenfelder Kongressen auch vorgetragen.

mehr darum herauszufinden, wie wir es beeinflussen und verändern können. Von einer Wissenschaft um ihrer selbst willen halte ich nicht viel. Ich denke, Wissenschaft steht immer im Dienst des Lebens von uns Menschen und soll einen Beitrag dazu leisten, dass wir unser Leben unserer Würde gemäß verstehen, leben und entfalten können. Das Modell des Bewusstseins ist somit ein Kompetenzmodell.

Für unsere Stiftung und die Bewusstseinswissenschaften habe ich ein Modell entwickelt, das eine Art thematischer Rahmen für die Arbeit der Stiftung und die Forschung im Feld der Bewusstseinswissenschaften darstellen könnte. Mir persönlich geht es in den letzten Jahren weniger darum zu beschreiben, wie die Wirklichkeit ist oder wie das Bewusstsein ist, sondern Werteorientierung

In seinem Zentrum steht die Bewusstheit. Bewusstheit für die Gesamtheit des Erlebens und seine Inhalte und für den Prozess des Erlebens ist eine Grundvoraussetzung für jegliche Formen der Gestaltung des eigenen Bewusstseins. Dabei gibt es sicherlich unterschiedliche Grade der Bewusstheit, vom momentanen Bewusstwerden über die Fähigkeit zur Bewusstheit und kontinuierliche Bewusstheit bis hin zu


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vertiefter und erweiterter Bewusstheit. Selbstverständlich gibt es auch verminderte Bewusstheit, Halbbewusstheit oder tranceartige Bewusstheit und schließlich Nichtbewusstheit. Den zweiten Bereich nenne ich Bewusstseinstechnologie. Bewusstseinstechnologie meint die Kompetenz der Steuerung des eigenen Bewusstseins im jeweiligen Moment und dem damit verbundenen Bewusstseinszustand. Kern einer Bewusstheitstechnologie ist die Bewusstheit für die aktuelle Situation und die eigene Steuerungs- und Gestaltungskompetenz. Bewusstseinstechnologie meint einen breiten Kompetenzbereich von Beobachtungsfähigkeit über Selbststeuerung bis hin zur bewussten Intuition oder gar non-dualen Präsenz. Sie ist somit die Fähigkeit zur Modulation und Ausrichtung des eigenen Bewusstseins. Einen dritten Bereich nenne ich Bewusstseinsgestaltung. Bewusstseinsgestaltung ist Selbstführung und Selbstmanagement im weiteren Sinne, darüberhinaus aber auch Teilhabefähigkeit und Beziehungsgestaltung. Bewusstseinsgestaltung meint auch die Fähigkeit zur Gestaltung komplexer Situationen und Ereignisse und das Selbst-Design im Sinne der Konfiguration der eigenen Kompetenzstruktur. Sie zielt schließlich ab auf eine kompetente und erfüllende Lebensführung. Sie ist in diesem Sinne die Fähigkeit, sein eigenes Leben gemäß des eigenen Wesens und der mitmenschlichen Gemeinschaft zu gestalten. Den vierten Bereich möchte ich Bewusstseinskunst nennen. Bewusstseinskunst meint die Gestaltung von Lebenserfahrung und Lebensabläufen nach ästhetischen, kreativen oder auch künstlerischen Gesichtspunkten im Sinne der Lebenskunst. Dies beinhaltet auch die bewusste Evolution des eigenen Bewusstseins hin zu veränderten und höheren Bewusstseinsformen und zur Teilhabe an kollektiven Bewusstseinsprozessen, die über den eigenen Lebensraum hinausgehen.

Diese Beschreibung orientiert sich an der persönlichen subjektiven Bewusstseinsgestaltung. Bewusstsein ist aber ein komplexes Phänomen, wie uns das Leib-SeeleProblem oder das Gehirn-Geist-Problem zeigt. Ken Wilbers Quadrantenmodell konfiguriert vier wesentliche Perspektiven, die zumindest zu betrachten sind. Sie ergeben sich daraus, dass jedes Phänomen, somit auch das Bewusstsein, eine individuelle und eine kollektive Seite besitzt. Bewusstsein ist also das Bewusstsein eines einzelnen Menschen und zugleich seine Teilhabe am kollektiven Bewusstsein seiner Kultur oder gar der gesamten Menschheit. Darüber hinaus ist Bewusstsein ein subjektives und ein objektivierbares Phänomen. Bewusstsein wird also erlebt und erfahren, was der Terminus „Bewusst-sein“ uns nahelegt. Es wird aber auch getragen von einem Nervensystem oder einem Gehirn bzw. vielen Gehirnen, die miteinander kommunizieren und in Beziehung stehen. Wenn wir die vier Kompetenzfelder nun mit den vier Quadranten zusammenfügen, so können wir feststellen, dass Bewusstheit nicht nur individuell erlebt wird, sondern auch etwa als Kopräsenz kollektiv erlebt werden kann und eine bestimmte Funktionsweise des Gehirns dabei benötigt. Bewusstseinstechnologien sind sicherlich nicht nur subjektive Steuerungstechniken, wie z. B. die Lenkung der Achtsamkeit für die meditative Veränderung verschiedener Bewusstseinszustände, sondern auch kollektive Technologien im Sinne der Entwicklung von Gruppenbewusstsein oder kulturellen Bewusstseinsformen und schließlich auch physikalische und biologische Methoden zur Bewusstseinsveränderung. Auch die Bewusstseinsgestaltung bezieht sich nicht nur auf das eigene Leben, sondern auch auf die Gestaltung von Gemeinschaft und Kultur, auf Dialoge zwischen einzelnen Gestaltungen von Unternehmenskulturen oder gar den Dialog der Religionen. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Bewusstseinskunst. Die physikalische Beeinflussung unseres Gehirns durch Licht und Ton, wie in 3D-Filmen oder im Cyberspace, ist noch wenig erforscht, aber technologisch bereits entwickelt. Werteorientierung


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Wer sind wir als Menschen? Was macht uns eigentlich aus? Was ist das Besondere unserer Spezies? Ist es unser hochentwickeltes komplexes Gehirn? Ist es unsere Fähigkeit, lieben zu können, empathisch empfinden zu können, miteinander zu sprechen und uns sozial und kollektiv zu verbinden? Sind es unsere tieferen und essenziellen Werte, an denen wir uns orientieren, vielleicht sogar unsere Ehrfurcht vor dem Leben? Ist es unsere Fähigkeit zu beobachten und zu reflektieren, die Tatsache, dass wir aufgewacht und bewusst geworden sind und vielleicht eine komplexe, nicht nur kognitive, sondern auch emotionale oder gar spirituelle Intelligenz besitzen?

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Wahrscheinlich macht das alles unsere Besonderheit und Eigenart in der Evolution auf diesem Planeten aus. Bewusstsein jedenfalls – das besitzen wir alle. Bewusstheit für unser Bewusstsein – das besitzen wir noch viel zu wenig. Strukturen unseres Bewusstseins beginnen wir erst zu verstehen. Die Welten unseres Bewusstseins können wir erleben und weiter erforschen. Die Reichweite unseres Bewusstseins kennen wir nicht. Sie ist offen – und das ist das Wunderbare an unserem Bewusstsein, das Schöne auch an diesem Begriff und an einer Wissenschaft, die sich mit dieser Besonderheit, mit dieser Würde des Menschen beschäftigt.


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Nachhaltigkeit und Ökologie Nachhaltigkeit und Ökologie in den Heiligenfeld Kliniken

Interview mit Fritz Lang

„Nachhaltiges Wirtschaften ist die Grundlage von wirtschafltichem Wachstum.“ Fritz Lang

Was bedeutet Nachhaltigkeit für Heiligenfeld? Nachhaltigkeit ist von Anfang an ein fester und wichtiger Bestandteil der Heiligenfelder Unternehmensphilosophie. Das Thema erstreckt sich über alle Bereiche: seien es Vollwertkost, möglichst aus ökologischem Anbau, bauliche Maßnahmen, der Gebäudeunterhalt oder die Zusammenarbeit mit Partnerbetrieben. Dort prüfen wir regelmäßig die ökologische Ausrichtung. Besonders am Herzen liegt uns jedoch der nachhaltige Umgang mit den Menschen, mit den Mitarbeitern und Patienten der Heiligenfeld Kliniken. Jeder Einzelne steht für uns im Mittelpunkt. Wie vereinbaren die Heiligenfeld Kliniken wirtschaftliches Wachstum mit Nachhaltigkeit und Ökologie? Wirtschaftliches Wachstum und Nachhaltigkeit liegen sehr nah beieinander. Nachhaltiges Wirtschaften ist die Grundlage von wirtschaftlichem Wachstum. Die ökologische Ausrichtung ohne Vernachlässigung der ökonomischen Anforderungen ist auch manchmal ein Spagat. Im Laufe der Jahre sind wir aber zu dem Schluss gekommen, dass sich Mehraufwendungen in Nachhaltigkeit für uns lohnen und sich langfristig auszahlen. Denn heutzutage achten auch die Patienten immer mehr auf die ökologische Ausrichtung und suchen Werteorientierung

gezielt nach einer Klinik mit einem nachhaltigen Konzept. Natürlich ist Nachhaltigkeit in allen Unternehmensbereichen auch für Mitarbeiter und Bewerber ansprechend. Heiligenfeld hat spezielle Angebote zur Förderung der Mitarbeitergesundheit, wie beispielsweise ein Konzept zum betrieblichen Gesundheitsmanagement, welches Maßnahmen wie Massagen, Entspannung oder Wellnessbehandlungen für Mitarbeiter beinhaltet. So können wir uns als Klinik, aber auch als Arbeitgeber positionieren. Welche konkreten Maßnahmen werden umgesetzt? In den Heiligenfeld Kliniken wird besonders auf den effektiven Energieeinsatz geachtet. Zum Beispiel erfolgt die Stromerzeugung in der Fachklinik und in der Parkklinik Heiligenfeld über Blockheizkraftwerke. Außerdem gibt es in allen Kliniken ein Patienten-Umweltamt. Das heißt, dass aus der Patientenschaft ein Vertreter gewählt wird, der die Themen Nachhaltigkeit und Ökologie unter den Patienten immer wieder benennt und diskutiert. Zudem werden Heizung und Strom in allen Patientenzimmern automatisch abgeschaltet, wenn sich niemand darin befindet. So konnten wir beispielsweise nach der Erweiterung der Fachklinik Heiligenfeld erreichen, dass trotz der Verdrei-


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Dachbegrünung der Fachklinik Heiligenfeld

fachung der Gebäudefläche nur ungefähr ein Drittel mehr an Energie verbraucht wird. Außerdem beinhaltet das Ernährungskonzept aller Kliniken für Patienten und Mitarbeiter vorwiegend vegetarische Vollwertkost. Die Zutaten enthalten keine künstlichen Zusatzstoffe und stammen zu einem großen Teil aus biologischem Anbau sowie von regionalen Lieferanten. Welche weiteren Maßnahmen sind in Zukunft geplant? Das nächste Projekt wird die Installation eines Blockheizkraftwerks für die Luitpoldklinik sein, die nötigen Komponenten sind bereits bestellt. Für die Klinik in Waldmünchen ist ein Wasserrad in Planung. Dieses Wasserrad soll Energiequelle und gleichzeitig touristisches Highlight für die Region werden. Ein konkretes Ziel ist außerdem die Öko-Zertifizierung unserer Kliniken. Daran arbeiten aktuell zwei Mitarbeiter aus der Technik-Abteilung, die zunächst als Grundlage alle nötigen Informationen sammeln, das bisher Erreichte bewerten und neue Ideen entwickeln. Wir

hoffen, dass wir in ein bis zwei Jahren alle nötigen Kriterien erfüllen können. Was tun Sie persönlich, um die Umwelt zu schonen und nachhaltiger zu leben? Meine Frau Maria und ich leben auch privat umweltorientiert. Wir haben in unserem Haus eine Solarheizung eingerichtet und fahren seit nunmehr acht Jahren ein Hybrid-Fahrzeug. Außerdem ernähren wir uns vollwertig. Bei uns kommen viel Obst und Gemüse aus biologischem Anbau und dafür weniger Fleisch auf den Tisch. Privat engagiere ich mich im Arbeitskreis Umwelt der CSU Bad Kissingen und unterstütze verschiedene Umweltaktivitäten der IHK und der Region Mainfranken, wo ich meine Erfahrungen einbringen und erweitern kann.

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Unternehmenskultur „Das Einzigartige in Heiligenfeld ist die Unternehmenskultur, die von den Mitarbeitern geprägt und gelebt wird! Daraus resultiert aus unserer Empfindung die Kraft und Stärke, die das Unternehmen trägt!“ Aus den Heiligenfelder Essenzen

Die Heiligenfeld Kliniken verwirklichen ein Konzept der Verbundenheit eines ganzheitlichen Menschenbildes mit Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Für uns ist jeder Mensch wichtig, jede einzelne Person mit ihren körperlichen und seelischen Leiden. Wir bemühen uns sowohl um die Heilung unserer Patienten als auch um das Wohl unserer Mitarbeiter. Fachkompetenz, soziale Verantwortung und ein herzlicher Umgang miteinander stehen im Gleichgewicht. Wir bieten unseren Patienten und unseren Mitarbeitern einen besonderen Ort - eine Atmosphäre, die geprägt ist von den humanistischen Grundprinzipien der Achtsamkeit, des Respekts und der Offenheit. Das therapeutische Handeln in den Heiligenfeld Kliniken bezieht alle Ebenen der Person mit ein: die erkrankte Seele, den Körper, die geistig-spirituelle Ebene, die sozialen Beziehungen und die berufliche Situation. Indem wir unsere Patienten als ganze Personen wahrnehmen, ihr Erleben und ihre individuelle Lebenssituation sehen, können wir ihre Bedürfnisse erkennen und ernst nehmen. Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins und unseres Handelns findet ausdrücklich Beachtung.

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Die Unternehmenskultur der Heiligenfeld Kliniken – Dr. Joachim Galuska, in: Resilienz - Kompetenz der Zukunft, K. Wellensiek, J. Galuska, Beltz Verlag, 2014, S.132-136

Die Unternehmenskultur dient den grundlegenden Prinzipien und Werten eines Unternehmens und seiner Unternehmensphilosophie. Sie ist so etwas wie der gemeinsame Geist oder auch die Seele eines Unternehmens. Sie zeigt sich vor allem im Kontakt, im Umgang miteinander und der Ausstrahlung der Führungskräfte und Mitarbeiter einer Organisation. Sie macht letztendlich ein Unternehmen einzigartig. Und wenn sie authentisch gelebt wird, ist sie für seine Kunden, Kooperationspartner und die umgebende Gesellschaft authentisch und damit attraktiv. Da es bisher wenig umfassende praktisch anwendbare Modelle zur Entwicklung der Unternehmenskultur gibt, haben wir für uns einmal sieben Prinzipien formuliert und mit erfahrbaren Qualitäten verbunden: Kooperation und Teamgeist, die auf der Qualität der Verbundenheit basieren Gesundheit sowohl körperlicher als auch psychosozialer Art Inspiration, die über Motivation hinausgeht und auf einer beseelten Haltung zur Arbeit basiert

Für jedes dieser Prinzipien haben wir größere Maßnahmen formuliert, die den klassischen Managementinstrumenten entsprechen, und darüber hinaus kleine Gesten implementiert, die kaum etwas kosten, aber die Unternehmenskultur erst richtig lebendig sein lassen. Kooperation – Verbundenheit Kleine Gesten Freundlichkeit und Kontakt (in die Augen Sehen, Grüßen), Kommunikation im Fahrstuhl, Ansprechen von „Neuen“, „Wir“ statt „Ihr“ = Wirgefühl, „Danke!“ (persönlich, elektronisch), persönliche und elektronische Abschiede, „suche“–„biete“ (elektronisch) Größere Maßnahmen Mitarbeiterversammlungen, Mitarbeiterzeitung, Unternehmensgespräche, Teamsystem, Teamräume, Fortbildungen, Teamarbeit, Teamtage, Teamsupervision, Patensystem für „Neue“, Betriebsfeste und -ausflüge, Beschwerdemanagement für Mitarbeiter, Mitarbeiterbefragungen, QM-Gruppen, Intranet

Innovation, die Kreativität voraussetzt

Gesundheit – Gesunde Arbeit

Sinn und Spiritualität, die wir durch die Betonung von Achtsamkeit angehen Entwicklung und Lernen, die auf individuelles Wachstum und organisationales Lernen ausgerichtet sind

Kleine Gesten stille Phasen zur Entspannung, kostenlose Getränke und Obst, gelegentlich Vitamincocktails, Fahrradwochen, Schulter-Nacken-Massage am Arbeitsplatz, aktive Pausen, Körperübungen

Führungskunst, die über Management weit hinausgeht und auf einer Verantwortlichkeit basiert

Größere Maßnahmen Erweiterung der Stelle Betriebsarzt zum betrieblichen Gesundheitsmanagement,

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hausinterne Wellness-Oase, WellnessGutscheine, Gesundheitserziehung für Azubis, vollwertige Ernährung, Fastenwoche, Rückenschule, Stressmanagement, Raucherentwöhnung, gesunder Arbeitsplatz, Influenza-Impfung Inspiration – Beseelte Arbeit Kleine Gesten kleine Überraschungen am Arbeitsplatz, frisches Obst, Getränke, Kuchen, Lächeln, Humor, Herzlichkeit, persönliches Interesse, Fahrstuhlgespräche, Frage nach dem „Seelenfunken“ in der Arbeit, Kultur des Dankens, sich in die Augen schauen, das Anderssein anerkennen und sich gegenseitig Fragen stellen, Selbstbewertungskonzept der Abteilungen zur Begeisterung Größere Maßnahmen Wertemanagement und Wertekommission, Leitbildprozess mit zwei Dritteln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Mitarbeiterbefragungen, Arbeitszeitkonto, Teilzeitmodelle, Tankgutscheine, Kindergartenzuschuss, Beteiligungsmodell, Wellness-Konzept Innovation Kleine Gesten kurze Besinnungen in Teamveranstaltungen, Caring-Gutscheine bei guten Ideen, Befragungen von Praktikanten, Patienten, Hospitanten, Besuchern und Einweisern nach Verbesserungsvorschlägen, ästhetische Arbeitsumgebung, Hospitationen in anderen Abteilungen mit Ideenabfrage Größere Maßnahmen Organisationsentwicklung (Großveranstaltung), Ideenmanagement, Meinungsforum, Fehlerkultur, systematischer Einsatz von Qualitätsmanagement, Wissensbilanz, Wertemanagement, Marktforschung, QM-Projekte wie Leitlinienentwicklung, Ressourcenverantwortung, Ästhetik am Arbeitsplatz, Erstellung eines Kalenders

Spiritualität – Achtsamkeit Kleine Gesten Momente der Stille oder kurze besinnliche Texte in Team- oder Therapieveranstaltungen, kurzes Innehalten in Arbeitsabläufen, kurze Körperwahrnehmung, gelegentliche innere und äußere Verlangsamung, nach eigener Vision/Werteverwirklichung im Mitarbeitergespräch fragen Größere Maßnahmen Tage der Achtsamkeit, Werteorientierung im Leitbild, Pavillon und Weg der Religionen, Meditationen für Mitarbeiter, Veranstaltungen und Weiterbildungen zu Achtsamkeit und Spiritualität zum Beispiel „Beseelte Psychotherapie“, Wertemanagement mit Projekten zur Achtsamkeit, Mitarbeiterbibliothek: Vorträge, Videos, Artikel Entwicklung und Lernen – Wachstum Kleine Gesten Hospitation der Mitarbeiter in anderen Abteilungen, Rotationssystem in eigener Berufsgruppe, Fragen zur Besinnung und Reflexion: „Was nehme ich heute aus dieser Veranstaltung mit?“, „Wie setze ich das für mich in meiner Arbeit um?“, keine beschämende Fehlerkultur Größere Maßnahmen kostenlose Teilnahme an Akademieveranstaltungen, individuelle Personalentwicklung, für Führungskräfte internes/externes Coaching, differenzierte Einarbeitungskonzepte mit Paten, jährliche Weiterbildungsgespräche für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Einteilung in Anfänger/ Fortgeschrittene/Routinierte (bei Therapeutinnen/Therapeuten auch Supervisorinnen und Supervisoren) Unser wichtigstes Instrument zur Entwicklung der Unternehmenskultur ist eine Veranstaltung, die wir „Organisationsentwicklung“ nennen. Hier kommen einmal in der Woche für 75 Minuten alle therapeutischen Mitarbeiter, alle Mitarbeiter der Verwaltung, aus dem Marketing, der EDV, alle leitenden Mitarbeiter und ausUnternehmenskultur


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gewählte Mitarbeiter aus den Bereichen Küche, Hauswirtschaft und Facility-Management zusammen. In dieser Großveranstaltung beschäftigen wir uns einerseits mit klassischen Themen wie zum Beispiel der Vorbereitung auf eine Zertifizierung, Überblick und Ideensammlung für das Marketing, Fehlermanagement oder Kundenorientierung. Andererseits haben wir uns auch intensiv mit dem beschäftigt, was das Wesentliche, die Essenz von Heiligenfeld ausmacht. Wir haben statt eines Leitbilds unsere essenziellen Werte formuliert. Wir haben aber auch nach Trends und Veränderungen gefragt und wie wir darauf reagieren können. Wir haben die Heiligenfelder politischen Positionen formuliert und diskutiert. In dieser Großveranstaltung kommen wir also mit etwa 150 bis 200 Mitarbeitern zusammen und nach einer Erläuterung des Rahmenthemas teilen wir uns in der Regel nach Abteilungen oder abteilungsübergreifenden gemischten Gruppen auf, in denen wir die vorgegebenen Themen diskutieren und Ideen dazu entwickeln. Das Ganze wird protokolliert und systematisch ausgewertet.

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Einige Vorschläge oder Positionen werden auch beispielhaft in der Großgruppe kommuniziert. Aus solchen Ideen heraus und aus weiteren Impulsen entstehen für einen Teil des Jahres Projektgruppen, die sich für zwei bis drei Monate innerhalb der gleichen Zeit (dann findet keine Großgruppe statt) in der Regel abteilungsübergreifend zusammengesetzt treffen und spezielle Konzepte und konkrete Umsetzungsvorschläge erarbeiten. Diese Veranstaltung ist ein zentrales Element unserer Unternehmenskulturentwicklung. Sie schafft ein gemeinsames Bewusstsein für das, was uns am Herzen liegt. Sie lässt einen wesentlichen Teil der Mitarbeiter zu Wort und ins Gespräch kommen und nutzt das Potenzial sowohl der leitenden als auch der nicht-leitenden Mitarbeiter zum Erkennen von Veränderungen, Chancen, Gefahren und Schwachstellen des Unternehmens und sie bringt eine Fülle von Ideen und konkreten Vorschlägen hervor, sodass die weitere Entwicklung unseres Unternehmens lebendig bleibt.


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Führungskonzept „Das gegenseitige Unterstützen und die Offenheit der Leitungsebene lässt Vertrauen entstehen“ Krankenschwester der Parkklinik Heiligenfeld

Die Heiligenfelder Führungsprinzipien sind Teil unserer werteorientierten Unternehmensphilosophie und damit Ausdruck der grundlegenden Werteorientierung, Ziele und Überzeugungen, die das Unternehmen tragen und beleben. Sie orientieren sich zugleich an ihnen und dienen ihnen. Daher gehört zur Führung auch die Vermittlung der Unternehmensphilosophie. Dies geschieht durch einen beständigen Austausch über die grundlegenden Werte, Ziele und Überzeugungen im gesamten Unternehmen. Führung verankert sich in diesem „gemeinsamen Geist“, was eine gemeinsame Ausrichtung und ein Zusammenwirken zur Folge hat. So ist das Verhältnis von persönlicher Anschauung des Einzelnen und Teilhabe an der gemeinsamen Unternehmensphilosophie komplementär und bedarf einer beständigen lebendigen Abstimmung. Führung ist in Heiligenfeld dann besonders fruchtbar, wenn die Personen im Einklang mit der Unternehmensphilosophie oder in lebendiger authentischer Auseinandersetzung mit ihr handeln.

Führungsdimensionen Das Heiligenfelder Führungsverständnis lässt sich darstellen in einem ganzheitlichen Führungskonzept mit folgenden Dimensionen: Selbstführung, Mitarbeiterführung, Management, Unternehmenskultur, strategische Führung. Selbstführung Selbstführung ist die Basis der Führung. In ihrem Zentrum liegen die grundlegenden eigenen Werte und Lebensvisionen. Sie enthält auch den eigenen Führungsanspruch, das Interesse, sich und andere führen zu wollen. Dies kann darüber hinaus als innere Berufung verstanden und erfahren werden. Selbstführung bezieht sich konkret auf die gegenwärtige Situation, auf kurz-, mittel- und langfristige Selbstgestaltung. Selbstführung ist zunächst einmal Selbststeuerung, unmittelbare Selbstregulation

in den verschiedenen unterschiedlichen Momenten des Lebens und insbesondere des Führungshandelns. Dies erfordert, zentriert zu sein, sich in ein inneres Gleichgewicht zu bringen, innere Achtsamkeit zu besitzen, seine Gefühle wahrzunehmen und sich selbst auch im Kontakt zu regulieren. Selbststeuerung bedeutet weiterhin das Management akuter Stresssituationen und die Fähigkeit, sich aus Verwicklungen immer wieder herauszulösen. Selbstmanagement meint die Fähigkeit, sich selbst Ziele zu setzen, seine eigenen Lebensbereiche und Arbeitsbereiche sinnvoll zu planen, ein effektives Zeitmanagement durchzuführen, seinen Arbeitsplatz, seine Informationsverarbeitung und seine Büroordnung gut zu organisieren. Langfristig betrachtet bedeutet Selbstführung, sein eigenes Leben gestalten zu können, sich gemäß der eigenen LebensviUnternehmenskultur


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sionen zu verwirklichen, Partnerschaft und Familie zu gestalten, die eigene Karriere zu planen und Erfüllung in seinem beruflichen Handeln zu finden. Auf diese Weise ist Selbstführung auch Kern der Entwicklung von Resilienz und damit die Basis der psychosozialen Kompetenz.

Bei der Führung therapeutisch ausgebildeter Mitarbeiter ist die Verführung, sich eher einseitig auf emotionale Beziehungsreflexion zu konzentrieren, zu beachten.

Mitarbeiterführung Mitarbeiter sind die Hauptzielgruppe der Führungskräfte, die durch ihre Mitarbeiter wirken. In der Mitarbeiterführung müssen Aufgabenorientierung und Personenorientierung gemäß den Unternehmenswerten und der Unternehmensziele sinnvoll verbunden werden. Aufgabenorientierung ist sachbezogen und inhaltslogisch. Entscheidungen werden nicht primär aus persönlichen Motiven oder aus Rücksicht auf persönliche Interessen getroffen, sondern sind transparent, nachvollziehbar und vernünftig begründet. Aufgabenorientierung bedeutet auch, die Gegebenheiten und ihre Grenzen anzuerkennen und sich darauf auszurichten, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen.

• Vermittlung von Werten und Visionen, Ausrichtung von Konzepten, Entscheidungen und Beurteilungen an ihnen

Personenorientierung basiert auf der Fähigkeit zur Empathie, zur Einfühlung in die Welt eines anderen, zum Perspektivwechsel. Die innere Situation eines Mitarbeiters zu spüren und darauf sowohl verständnisvoll als auch sachgerecht reagieren zu können, macht die eigentliche Dialog- und Führungsfähigkeit aus. Eine kompetente Führungskraft besitzt die Fähigkeit zur überzeugenden und klaren Kommunikation in Verbindung mit einer konsequenten Zielorientierung. Der Führungsstil wird somit je nach Situation und Person mehr aufgabenorientiert (Ziele setzen, planen, organisieren, entscheiden, kontrollieren) oder mehr personenorientiert (informieren, kommunizieren, delegieren, Ziele vereinbaren, beurteilen, fördern) sein. Je nach Reifegrad der Mitarbeiter steht beim Führungsstil eher im Vordergrund: anweisen (bei niedrigem), partizipieren (bei mittlerem), delegieren und coachen (bei hohem Reifegrad).

Unternehmenskultur

Die Mitarbeiterführung orientiert sich an folgenden Prinzipien:

• existentielle Anerkennung und persönliche Wertschätzung für die Menschen, partnerschaftliche Einstellung der Führung • konstruktive Rückmeldung im Sinne von ehrlichem Feedback, Lob und Korrektur • Förderung der Entwicklung im Sinne von persönlichem Wachstum und fachlicher Qualifikation nach dem Prinzip des Forderns und Förderns • Förderung von Gesundheitsverhalten und Korrektur gesundheitsschädigender Verhaltensweisen, insbesondere Co-Abhängigkeit • Förderung von Eigenverantwortung durch Partizipation, Delegation und Eröffnung von Handlungsräumen • Förderung von Innovationsbereitschaft und Kreativität • Transparenz durch Kommunikation und Information, mit Informationspflicht der Leitenden und Selbstinformationspflicht der Mitarbeiter • leitende Mitarbeiter sind persönliches und fachliches Vorbild in Haltung und Handlung und bemühen sich um Authentizität und Integrität • jede Führungskraft trägt Mitverantwortung für den Ruf, die Belegung und das Employer Branding der Kliniken • Aufgabenstellungen durch die jeweiligen Vorgesetzten besitzen, abgesehen von Notfällen, oberste Priorität


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Management Die Managementdimension der Führung bezieht sich auf die Steuerung aller Prozesse der Organisation. Sie besteht aus Planung, Organisation und Kontrolle der verschiedenen Aufgaben und ist damit funktional orientiert. Management wird systematisch durchgeführt im Sinne der Festlegung operativer Ziele, der Planung, Durchführung möglichst reibungsloser Abläufe, der Überprüfung der Prozesswirksamkeit, möglichst durch Erfolgskennzahlen, und der weiteren Anpassung der Abläufe gemäß der vorgegebenen Ziele. Somit orientiert sich der Managementprozess am PDCA-Zyklus (Plan-DoCheck-Act). Typische Managementprozesse sind das Finanzmanagement, Personalmanagement, Risikomanagement, Qualitätsmanagement, strategisches Management, Projektmanagement, Verhandlungsmanagement usw. Die Weiterentwicklung des Managements ist die klassische Organisationsentwicklung. Führung bedeutet, die Reife der Organisation ständig weiterzuentwickeln. Dies geschieht durch intensive Nutzung von Qualitätsmanagement und Prozessoptimierung, Fehlermanagement und insbesondere den Einsatz eines intensiven Controlling-Prozesses.

Unternehmenskultur Die Unternehmenskultur ist die gemeinsame Ausrichtung auf die grundlegenden Anliegen, Werte und Ziele des Unternehmens. Sie ist so etwas wie der gemeinsame Geist oder auch die Seele des Unternehmens. Sie zeigt sich vor allem im Kontakt und im Umgang miteinander und der Ausstrahlung der Führungskräfte und der Mitarbeiter des Unternehmens. Sie macht letztendlich das Unternehmen einzigartig und attraktiv. Die Unternehmenskultur ist darüber hinaus der größte Quell der Inspiration, Begeisterung und der Sinnerfahrung für die Mitarbeiter. In der Heiligenfelder Unternehmenskultur werden sieben Prinzipien formuliert und mit erfahrbaren Qualitäten verbunden: I. Kooperation und Teamgeist, die auf der Qualität der Verbundenheit basieren II. Gesundheit im Sinne von gesunder Arbeit, sowohl in körperlichen, seelischen, geistigen als auch sozialem Sinne III. Inspiration, die über Motivation hinausgeht und auf einer beseelten Haltung zur Arbeit basiert IV. Innovation, die Kreativität voraussetzt V. Sinn und Spiritualität, die durch die Betonung von Achtsamkeit gefördert wird VI. Entwicklung und Lernen, die auf individuelles Wachstum und organisationales Lernen ausgerichtet sind VII. Führungskunst in diesem ganzheitlichen Sinne, die auf einer Verantwortlichkeit für sich und das gesamte Unternehmen basiert

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Strategische Führung Strategische Führung bedeutet, von der Zukunft her und in die Zukunft hinein zu führen. Sie betrachtet das Unternehmen als ein komplexes wirtschaftliches und soziales Gefüge im Kontext des Gesundheitsmarktes und orientiert so die gesamte Unternehmensentwicklung. Im Kern jeder strategischen Führung liegt das strategische Bewusstsein als innere Verankerung. Es bedeutet inne zu halten, einen leeren Geist und ein offenes Herz herzustellen und bewahren zu können, den inneren Raum so weit werden zu lassen, dass alles in Innen und Außen sich zeigen kann, insbesondere das Umfeld, Zukunftstrends, aber auch Dynamiken und Möglichkeiten des Unternehmens und eigene Ideen dazu. Strategisches Bewusstsein bedeutet, ganzheitlich und komplex denken zu können, die unterschiedlichen Perspektiven zuzulassen und die Blickrichtungen zu wechseln. Es bedeutet, Möglichkeiten zu sehen, Schritte zur Verwirklichung vorwegzunehmen und deren Auswirkungen spüren zu können. Strategisches Bewusstsein basiert im Wesentlichen auf der eigenen Intuition im Sinne der Fähigkeit, Erleben und Handeln steuern zu können. Der Strategieprozess beinhaltet die strategische Analyse sowohl des Umfeldes und des Wettbewerbes nach Chancen und Risiken als auch des eigenen Unternehmens nach Stärken, Schwächen und Ressourcen. Die strategische Planung ist der grundsätzliche Orientierungsrahmen für die zentralen Unternehmensentscheidungen und beinhaltet die strategischen Ziele für das gesamte Unternehmen, aber auch für die unterschiedlichen Bereiche. Die strategische Planung leitet die operative Planung, also die konkrete Orientierung für das tägliche Handeln, in Form von Jahres-, Monats- oder gar Tagesplänen. Die Implementierung der Strategie bedeutet, das Handeln strategiegeleitet durchzuführen und insbesondere die Strukturen und Managementsysteme im Sinne der Gesamtstrategie zu führen. Strategiekontrolle bezieht sich auf die Überprüfung des gesamten strategischen Unternehmenskultur

Prozesses und nutzt die unterschiedlichsten Systeme sowohl des Controllings als auch der Unternehmenskultur und jeglicher Formen von Interaktion. Führungskräfteentwicklung Führung in Heiligenfeld wird verstanden als eigener zu erlernender Beruf. Daher spielt die Führungskräfteentwicklung eine zentrale Rolle. Neben der kontinuierlichen fachlichen Weiterbildung und dem Überblick über aktuelle Entwicklungen im eigenen Fachbereich wird von den Führungskräften auch eine fortlaufende Verbesserung ihrer Führungs- und Managementfähigkeiten erwartet. Dazu gibt es ein umfassendes Programm zur Führungskräfteentwicklung, das auf der Unterscheidung von strategischen Leitern, Abteilungs- und Bereichsleitern, neuen Führungskräften und Stellvertretern basiert. Für jede dieser Gruppen gibt es eigene Weiterbildungsreihen, darüber hinaus gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen, Supervision und Coaching. Führungskräfteentwicklung findet aber auch im beruflichen Handeln statt, so dass für jede dieser Gruppen ein Maßnahmenprogramm durchgeführt wird. Alle ein bis zwei Jahre wird jede Führungskraft dahingehend beurteilt, inwieweit sie vorgegebene Kriterien eines Stellvertreters, eines neuen Leitenden, eines Abteilungsleiters oder eines strategischen Leiters erfüllt. Dies betrifft folgende Kriterien: Arbeitsorganisation, Selbstmanagement, Loyalität, Teamführung, Mitarbeiterentwicklung, Konzepterstellung, Marketing, Arbeitsrecht, fachliche Qualifikation und Qualitätsmanagement. In den Führungsentwicklungsgesprächen werden dann Schwerpunkte und Maßnahmen für das nächste Jahr vereinbart. Das Konzept der Führungskräfteentwicklung ist Bestandteil der umfassenden Personalentwicklung, die Mitarbeiter anleitet und fördert gemäß ihrer Begabungen, Fähigkeiten, Werte und Ziele, um an ihrem Platz die Aufgaben, Werte und Ziele des Unternehmens zu erfüllen.


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Beseeltes Arbeiten „In Heiligenfeld zu arbeiten bedeutet für mich, etwas wirklich Sinnerfülltes zu tun.“ Sozialpädagogin der Rosengarten Klinik Heiligenfeld

Arbeiten mit Geist und Seele – Albert Pietzko

Arbeiten mit Geist meint, die Arbeitsprozesse und Arbeitsergebnisse so zu gestalten, dass sie effizient, präzise, von hoher Qualität, nachhaltig und ökonomisch sind. Es ist Arbeiten mit der bestmöglichen Nutzung menschlicher Intelligenz, der Anwendung spezifischer Fachkompetenz und Methodenkompetenz sowie der Berücksichtigung des aktuellen Standes wissenschaftlicher Forschung. Das Ergebnis einer solchen Arbeit ist ein gut funktionierendes Produkt mit hoher Qualität und einem guten Preis-/ Leistungsverhältnis. Nimmt man die immer bedeutender werdende ethische Dimension hinzu, ist es darüber hinaus ein Produkt, bei dessen Herstellung auch die ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte berücksichtigt sind. Übertragen auf eine Dienstleistung bedeutet Arbeiten mit Geist, dass der Kunde umfassend informiert und beraten wird und die Dienstleistung nach den geltenden Standards des jeweiligen Gewerbes durchgeführt wird. Hinzu kommen noch Servicequalitäten wie Freundlichkeit, Termintreue, Individualität und Kulanzbereitschaft. Unter einem Arbeiten mit Geist verstehe ich den intelligenten, ökonomischen und ökologischen Aspekt von Produktionsverfahren oder einer Dienstleistung. So ist es intelligent, auf Qualität, Effizienz, Nachhaltigkeit und Freundlichkeit zu achten und ebenso die Organisation der Arbeit, das Qualitätsmanagement und die Aufbau- und Ablauforganisation im Unternehmen klug zu steuern. Es geht also um die Anwendung und Nutzung der menschlichen Intelligenz auf die Arbeit. Dieser technische und rationale Aspekt der Arbeit ist lernbar, verbesserbar und messbar. Arbeiten mit Seele ist die spirituelle Dimension der Arbeit. Hier geht es um die innere Haltung zur Arbeit, das Anliegen, das jeder Arbeit von ihrem Wesen her innewohnt, und um den Aspekt der Verwirklichung des Menschen durch sein Tun. Diese Dimension umfasst drei wesentliche Aspekte: das Wesen der Arbeit, Achtsamkeit und Präsenz bei der Arbeit und das persönliche innere Anliegen in der Arbeit.

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Das Wesen der Arbeit Arbeit ist zunächst ein Tätigsein, um leben und überleben zu können. Arbeit in ihrem Ursprung war „unbezahltes Tun“, es war Tausch von Gütern und Leistungen, um in einer Gemeinschaft Leben zu sichern, also Nahrung, Behausung, Kleidung und Kunst. Daraus haben sich bis heute und über alle Kulturen hinweg sehr komplexe und hoch spezialisierte Tätigkeiten und damit verbunden sehr differenzierte Entlohnungsund Bewertungssysteme für die unterschiedlichsten Arten von Tätigkeiten und Produkten entwickelt. Der Kern jedoch ist gleich geblieben: Bei der Arbeit geht es um den Austausch von Leistungen, Wissen, Gütern und Kultur. Dieser Austausch hat eine funktionale und eine spirituelle Dimension. Die funktionale Dimension zeigt sich in unseren sichtbaren und gelebten Wirtschaftssystemen. Die spirituelle Dimension erschließt sich uns, wenn wir erkennen, dass der Einzelne nicht ohne den anderen existieren kann. Das Tätigsein, die Arbeit vieler Menschen und das Zusammenwirken unterschiedlichster Kompetenzen ermöglichen Leben und Überleben. Arbeit weist auf die Verbundenheit und Bezogenheit der Menschen untereinander hin. Sie ist der Ausdruck von Solidarität, gegenseitiger Unterstützung und Fürsorge und im Kern der Ausdruck von Liebe. Arbeit ist ein Akt der Liebe oder wie Khalil Gibran es ausdrückt: „Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.“ Wenn der Mensch aus diesem Geist heraus arbeitet, erschließt sich ihm in der Arbeit ein tiefes Verständnis für sein Menschsein, für seine Verbundenheit mit anderen und seine Anbindung an die Schöpfung. Arbeiten mit Präsenz und Achtsamkeit Leben vollzieht sich im Augenblick, in diesem einen Atemzug, in dieser Sekunde, in diesem einzigen Wimpernschlag. Leben ist Augenblick. Und Arbeiten im Augenblick meint die Präsenz für diesen Moment, für diesen einen Hammerschlag, für diese EMail, für dieses Kundengespräch, für diese Sitzung. Das Wahrnehmen der Einmaligkeit eines Momentes macht dieses Geschehen zu einem besonderen, einmaligen Akt des Lebens. Arbeiten im Augenblick ist vertieft sein in das Tun und das Richten der Unternehmenskultur

Aufmerksamkeit auf das, was in diesem Arbeitsschritt getan werden muss. Es meint auch, diese eine Tätigkeit auszuführen und nicht fünf Dinge gleichzeitig zu tun und zu denken. Arbeiten mit Präsenz meint, mit allen Sinnen und den Gedanken da sein, wo die Tätigkeit meine Aufmerksamkeit und Hingabe braucht, um zu einem guten Ergebnis zu führen. Die im Arbeitsleben geforderte Konzentrationsfähigkeit ist nur möglich, wenn zwischen der Tätigkeit und dem Menschen, der sie ausführt, eine innere Bezogenheit entsteht, eine Schwingung, ein Interesse. Gute Arbeit und gute Arbeitsergebnisse sind ohne die Hingabe des Tätigen an seine Tätigkeit und den Gegenstand seines Tuns nicht möglich. Hingabe ist daran erkennbar und spürbar, wenn Arbeit und Arbeitender zu einer Einheit verschmelzen, Maler und Bild im Augenblick des Entstehens ein einziger Ausdruck desselben Geistes werden und Tänzer und Tanz nicht trennbar voneinander zu denken sind. Durch Arbeit im Augenblick formt der Mensch sein Ich im Außen und wird gleichzeitig durch dieses Selbst-Tun geformt. Es ist Bewusstheit um die Einmaligkeit dieses Augenblicks und die Einmaligkeit dieses Lebens. Aus diesem Bewusstsein entwickelt sich die Achtsamkeit für das Leben und für die Gegenstände, das Gebrauchsmaterial, die Maschinen, die Produkte, die Achtsamkeit für die Regeln und Vereinbarungen, Achtsamkeit für die Mitarbeiter, Kollegen und Kunden. Schonender und effizienter Umgang mit Ressourcen kann dauerhaft nicht durch Regeln und Leitlinien entwickelt werden, sondern nur durch das Wissen um die Verletzlichkeit des Lebens und die Empfindsamkeit für das „Du“. Dies schließt auch die Achtsamkeit für die eigene Person ein, für die Wahrnehmung von Grenzen und für die eigene Gestimmtheit. Achtsamkeit macht wach und klar und verhindert Trance und Routine. Achtsamkeit im Arbeitsprozess ist die Voraussetzung für kreative und effiziente Arbeitsergebnisse, für Weiterentwicklung und Innovation und der Schlüssel für nachhaltiges, ethisches und spirituelles Bewusstsein in der Wirtschaft.


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Das innere Anliegen in der Arbeit Die Arbeit, die der Mensch ausführt, kann er mit Herz und Freude tun oder mit Missmut und Ärger. Es liegt nicht an der Art der Tätigkeit oder an der Arbeit, ob der Mensch Freude oder andere positive oder negative Empfindungen erlebt. Natürlich gibt es bei jeder umfassenden Arbeit angenehme und unangenehme Teilaspekte. Letztlich aber entscheidet unsere innere Haltung, ob diese Tätigkeit in Freude und mit dem Herzen ausgeführt wird oder mit Widerstand und Groll. Gleiche Tätigkeiten werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeführt. Die Einstellung zur Arbeit bestimmt das Erleben in der Arbeit. Wenn wir eine Tätigkeit ausführen müssen, die unangenehm ist oder gegen die wir im Widerstand sind, wird die Arbeit umso schwerer erlebt, je mehr der Widerstand zugelassen wird. Widerstand selbst ist unangenehm und anstrengend. Hilfreich ist eine Haltung zur Arbeit, die gelöst ist vom Lust- und Unlustprinzip. Die Arbeit ist um ihrer selbst willen da und will um ihrer selbst willen getan werden. Die fraglose Annahme von Arbeit als Teil des Lebens eröffnet die Freiheit, alle Arbeit gleichermaßen tun zu können. Widerstand gegenüber einer bestimmten Arbeit oder einer bestimmten Form der Arbeit ist die Verweigerung, das Leben als Ganzes mit allen seinen Lichtseiten und Schattenseiten gleichermaßen anzunehmen. Leid und Frustration entstehen durch die Bewertung. Die fraglose Annahme von Arbeit kann ein Übungsfeld sein, das Leben selbst als Ganzes in all seinen angenehmen und unangenehmen Facetten anzunehmen. Wenn die Arbeit, die wir ausüben, aus unserem Sein fließt, also Ausdruck eines inneren Anliegens unseres Herzens und Wesens ist, dann können sich im Tun Raum und Zeit auflösen und es findet sich keine Unterscheidung mehr von Arbeit und Leben. Arbeit kann dann als ein schöpferischer Akt erlebt werden. In diesen besonderen Momenten fließt etwas von unserem Herzen in das hinein, was wir gerade tun. Und in dem Moment, in dem wir die Arbeit mit unserem Herzen berühren, werden wir selbst von unserer Arbeit berührt.

Arbeiten mit Geist und Seele verbindet die rationalen, technischen, ökonomischen und methodischen Aspekte der Arbeit mit der inneren Haltung zur Arbeit, der Achtsamkeit, Präsenz und den inneren Anliegen des Herzens. In den folgenden Kapiteln werden einige Aspekte von Arbeit näher ausgeführt. Arbeitszeit ist Lebenszeit Die Zeit, in der der Mensch tätig ist, ist Teil seiner Lebenszeit. Wenn wir im Berufsleben stehen, entfällt auf diese Zeit der größere Anteil unserer gesamten Lebenszeit. Wir können diese Lebenszeit zu einer Zeit des Lebens und des Erlebens gestalten und zwar so, dass diese Zeit uns nährt, inspiriert und zur Freude wird. Wenn wir Arbeitszeit als notwendiges Übel wahrnehmen, als Zeit, die es zu überstehen gilt, als Zeit, die abzuarbeiten ist, dann erleben wir die Arbeitszeit als einen Zeitraum, den es zu überwinden gilt, um danach wieder zu leben. Leben findet dann nach 18 Uhr statt, am Wochenende und in den Ferien. Erlebtes und gefühltes Leben reduziert sich dann auf einen kleinen Zeitraum. Ebenso verhält es sich, wenn Leben und Erleben auf die Zeit des Ruhestandes verlegt wird. Nach der Pensionierung das Leben mit all dem Unerlebten und Gesehnten füllen zu wollen heißt, das Leben verschieben zu wollen auf ein Später – das es dann häufig gar nicht mehr gibt. Wie kann nun Arbeitszeit mit Leben und Lebendigkeit gefüllt und erfüllt werden? Es braucht zunächst die Einsicht, dass Arbeit und Tun Teil der Existenz sind – also die Annahme, das innere „Ja“ zu einem Leben, das in seiner Ganzheit Arbeit und Tun einschließt. Im Coaching mit Menschen in beruflichen Krisen und Umbrüchen erlebe ich häufig, dass es Widerstände gegen Arbeit oder eine bestimmte Form von Arbeit oder das Zuviel von Arbeit sind, an denen sich die Menschen reiben. Arbeit verursacht manchmal auch Leid, Schmerz und Anspannung. Es braucht die Annahme, die Aussöhnung mit genau diesen realen Bedingungen und Konstellationen. Also die Annahme und die Betrachtung, dass alles mein Leben ist – was ich lebe und arbeite und wie ich lebe und arbeite. Unternehmenskultur


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Nicht anders, sondern genau so. Im Hader und im Widerstand zu sein, bedeutet eine Polarisierung und Abwertung in „lebenswerte“ und „nicht lebenswerte Zeit“. „Annahme“ meint natürlich nicht eine gleichgültige und fatalistische Haltung, in der ich mich mit allem abfinde und nicht mehr nach Verbesserungen und Veränderungen suche. Sie bedeutet vielmehr, an Verbesserungen und Veränderungen zu arbeiten, Grenzen zu erweitern und gleichzeitig die Begrenzungen, die Widerstände und die Enge zu erkennen und anzunehmen. Aus dieser Perspektive sind Probleme mit Arbeitsabläufen, Schwierigkeiten mit Kollegen und Vorgesetzten, Überforderungen und auch Monotonie und Langeweile nicht nur als Herausforderungen der Arbeit zu sehen. Sie sind vielmehr der Ausdruck des Lebens, so wie es sich in dieser Lebensphase zeigt. Arbeit selbst ist Leben, Abenteuer, Herausforderung, Kreativität, Ringen und Bemühen. In der Arbeitszeit erleben wir Leben, mit allen angenehmen wie unangenehmen Aspekten. Gesellschaftlich gibt es einen Trend, Abenteuererlebnisse, Kreativität, Herausforderungen, Erlebniskicks und Formen des sich Spürens immer mehr in die Freizeit zu verlegen. Im Job wird gearbeitet – in der Freizeit wird erlebt. Und die Freizeitindustrie fördert diesen Trend. Es wird suggeriert, dass man die verrücktesten Dinge tun sollte, um richtig auszuspannen, sich zu erholen und sich zu belohnen. Menschen stürzen sich dann voller Energie und Tatendrang in die Freizeit. Das geschieht dann, wenn die Arbeit zu wenig Lebendigkeit, Erlebnismöglichkeiten und Sinn bietet, also Leben nicht am Arbeitsplatz erlebt werden kann. Ich nenne das „Flucht in die Freizeit“. Es gibt auch den Aspekt der „Flucht in die Arbeit“, der später erläutert wird. Dabei kann die Arbeit selbst zu einer aufregenden, inspirierenden und spannenden Angelegenheit werden und der Arbeitsplatz zu einem Abenteuerspielplatz. Arbeitszeit ist somit freie und zur Verfügung stehende Lebenszeit für Kreativität, Begegnungen Unternehmenskultur

mit Menschen und Zeit, sich selbst zu spüren und Leben zu erfahren. Arbeit ist Dienst an der Gemeinschaft Menschen wollen gestalten, verändern und forschen. Menschen wollen auch Mitgestalter und Mitschöpfer ihrer Umgebung und Umwelt sein. Jede Arbeit, die wir tun, umfasst verschiedene Wirkkreise. So dient Arbeit zunächst mir selbst als Existenzsicherung, als Möglichkeit der Selbstverwirklichung, als Chance für die Positionierung in der Gesellschaft, als Möglichkeit zur Gestaltung. Über diese subjektiv gefärbten Motive hinaus ist Arbeit aber auch als Beitrag des Einzelnen für das Ganze zu sehen. Arbeit dient mir und dem anderen. Arbeit ist nicht nur Selbstzweck, sondern immer auch ein Arbeiten im Sinne der und für die Gemeinschaft. Der kollektive Aspekt wird jedoch immer weniger beachtet, wahrgenommen und wertgeschätzt, was sicher mit der fortschreitenden Teilung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen einhergeht. Es wird nicht mehr erlebt, wie das Produkt am Ende aussieht, wie es eingesetzt wird, von wem es benutzt wird. Produkte werden weiter und weiter verarbeitet und finden sich dann als eines von tausend Elementen in einer großen Maschine wieder. Das gilt zunehmend auch für Dienstleistungen. Das Bewusstsein für das Ganze geht verloren. Wenn in diesem Sinne die Arbeit zu klein wird, enthält sie kein Geheimnis mehr, keinen Sinn und keine Leidenschaft. Sie wird dann zu entseelter Mühe und fällt heraus aus der großen Ordnung. Aber unser Wesen, unsere Seele drängt nach dem Großen und will sich entfalten, das Ganze verstehen, sich im Unendlichen entdecken und spiegeln. Wenn der Mensch diesen Anschluss an das Grosse im seinem Inneren verliert, nimmt er nicht mehr die Teilhabe an der Schöpfung wahr und fühlt sich nicht mehr verbunden mit dem Ganzen. Damit geht ihm eine wesentliche Dimension seines Menschseins verloren: das Gefühl der Zugehörigkeit, das Gefühl des Eingebundenseins und der Geborgenheit und des Aufgehobenseins in einer größeren Ordnung. Der Mensch will sich gebraucht fühlen, spüren und erleben, dass er ein wesentliches Mitglied der Gemeinschaft, der


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Gesellschaft und der Menschheit ist. Gegenseitiges Geben und Nehmen ist unmittelbarer Ausdruck und Prinzip des Lebendigen. Wenn Menschen nicht mehr die Freude des Gebens und das Glück des Empfangens erleben, werden sie müde, in sich gekehrt, leblos. Sie fühlen sich vom Leben ausgegrenzt. Nicht mehr gebraucht zu sein, ist für viele Menschen wie ein Todesurteil. Es wirkt wie der Ausschluss aus der Gemeinschaft, der kollektiven Weiterentwicklung und dem evolutionären Geschehen. Dies ist die tiefere, die eigentliche Tragik der Arbeitslosigkeit, neben den sozialen und ökonomischen Problemen der Arbeitslosen. „Wir brauchen dich nicht“ ist wie der Platzverweis aus der Gemeinschaft, ist tiefste Kränkung und greift unmittelbar die menschliche Würde an. Arbeitslosengeld deckt nur den Teil der reinen Existenzsicherung und wird zum Almosen für diejenigen, die aussortiert sind. Das Thema „Arbeitslosigkeit“ wird fast ausschließlich ökonomisch betrachtet und diskutiert – aus meiner Sicht viel zu wenig unter dem Aspekt der Menschenwürde. Grundlegende Bedürfnisse des Menschen nach Zugehörigkeit, Mitgestaltung, Bedeutung, Selbstverwirklichung und Würde bleiben unberührt. Arbeit und Entseelung Wenn Arbeit nicht aus dem Herzen fließt, macht sie hart und ist unmenschlich. Bedingung für eine Arbeit mit Herz ist der harmonische Dreiklang der Dimensionen Können – Wollen – Sollen: Das Können. Unsere Fähigkeiten und Kompetenzen und auch unsere Intelligenz. Wenn Menschen Dinge tun müssen, denen sie nicht gewachsen sind oder die sie auch trotz großer Anstrengungen nicht lernen können, sind sie einer permanenten Überforderung ausgesetzt. Das Wollen. Die Frage lautet: Ist das, was du tust, wirklich das, was du tun willst? Ist die Tätigkeit, die du täglich tust, so beschaffen, dass du ein „Ja“ für sie hast? Das Wollen bezieht sich immer auf unsere tieferen Anliegen, im Idealfall entspricht es unserer Berufung. Unser Wollen ist von unseren Hoffnungen und Sehnsüchten geleitet, die wir von einer und durch eine

Tätigkeit erwarten. Wenn wir uns durch Arbeiten und unser Tun etwas erwarten, sei es Geld, Status, Selbstverwirklichung, Freude, Bestätigung oder Erfolg, haben wir ein „Ja“ und werden tätig. Wenn Sie Menschen bei der Arbeit beobachten, an der Kasse im Supermarkt, in der Bank, beim Friseur, werden Sie rasch erkennen, wer mit dem Herzen arbeitet und wer mit seinem Herzen unverbunden ist. Ein „Nein“ zur Arbeit führt im Inneren des Menschen zu Abspaltungen, Zynismus und Depression und im Außen zu schlechten Arbeitsergebnissen und schlechtem Klima in der Abteilung. Das Sollen. Sollen ist die Aufgabenstellung selbst. Das, was zu tun ist, und unter welchen Bedingungen dies zu geschehen hat. Dazu gehören Vorgaben wie Qualitätsstandards, Stückzahlen, Terminvorgaben oder Arbeitsprozesse. Es meint aber auch die Arbeitsbedingungen im Unternehmen, die technische Ausstattung, die Führungskultur, Gehaltsstruktur und die weichen Faktoren der Unternehmenskultur. Sollen – Wollen – Können stehen im Idealfall in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Zwei Phänomene, Burnout und Arbeitssucht, sind als Folge einer Störung dieses Gleichgewichts zu sehen. Burnout Burnout ist nicht die Folge von zu viel Arbeit – Burnout ist die Folge von zu viel entseelter Arbeit. Die Stundenzahl ist kein Indikator. Viele Menschen arbeiten sechzig bis siebzig Stunden in der Woche und sind vital und gesund, während sich andere nach einem Halbtagsjob erschöpft fühlen. In vielen Krisencoachings mit Führungskräften und Selbstständigen, nach einem physischen oder psychischen Zusammenbruch und bei Sinnkrisen hat sich gezeigt, dass dem Burnout eine lange Zeit – vier bis sieben Jahre – vorausgeht, in der Arbeit mehr und mehr den Sinn verloren hatte. Der einstmals erstrebte Beruf hatte von seinem Reiz und seinem Glanz verloren. Die Gründe dafür sind sehr individuell: falsche Vorstellungen – also Desillusionierung, Abgleiten in die Routine, Veränderung von Rahmenbedingungen beispielsweise durch gesetzliche Änderungen und komplexere Unternehmenskultur


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Leistungsanforderungen. Auch die Fixierung auf Karriere und Aufstieg fördert die Entseelung. Gelingt der Karrieresprung – ist alles wunderbar –, dann wird der nächste vorbereitet. Misslingt der Aufstieg, folgt der Absturz ins Jammertal der Selbstabwertung und der Abwertung anderer – des Rivalen, der Vorgesetzten und der ganzen Firma. All diesen Phänomen liegt zugrunde, dass die äußere Arbeit, also die Erfüllung von Aufgaben, das Leben dominiert, ohne dass der Blick nach innen gerichtet wird, auf das Herz, das Wesen oder die Seele. Wenn ich im Coaching die Menschen frage: Was will eigentlich Ihre Seele oder Ihr Herz? Wollen Sie die Karriere, Aufstieg, mehr Geld? Dann wird es meist ganz still. Viele Menschen haben in der Arbeit den Bezug zum eigenen Inneren, zum Wesen, zum Herzen verloren. Der Blick richtet sich ausschließlich nach draußen. Auf äußeren Erfolg, Befriedigung des Egos, soziale Anerkennung. Wenn wir den Herzinfarkt als die massivste Form eines Burnout betrachten, so kann er als Symbol der Trennung, der Verleugnung und der Missachtung des eigenen Herzens angesehen werden. Bei der Aufarbeitung von Burnout geht es aus meiner Erfahrung nur zu einem Teil um die Arbeitsentlastung und Entschleunigung. Es geht viel stärker darum, den Blick von außen nach innen zu lenken, die eigene Mitte wieder zu entdecken, die Schönheit des Lebens in sich zu spüren, sich inspirieren zu lassen und die Freude am Sein und am Wirken wieder neu zu entdecken. Fast alle Empfehlungen zur Burnout-Prophylaxe betonen zu einseitig die äußeren Aspekte und nur selten die innere Haltung, die Selbststeuerung und die Selbstverantwortung. Arbeitssucht Ich differenziere Arbeitssucht und Burnout. Der Mensch mit Burnout hat sich und sein Herz verloren und ist nur noch auf die Erfüllung äußerlicher Pflichten ausgerichtet. Bei Menschen mit Arbeitssucht wird das Leben in der Arbeit gesucht. Arbeit wird zum eigentlichen Leben. Arbeit ist das Leben. Es vollzieht sich eine „Flucht in die Arbeit“. Leben außerhalb der Arbeit erscheint dem Menschen wenig aufregend, Unternehmenskultur

leer, überfordernd. Die Arbeit wird zu einem Lebensbereich, in dem man sich spüren und fühlen kann und sich die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse erhofft. In ihr drückt sich das Bedürfnis nach Sicherheit, Selbstverwirklichung, Bewunderung, Ekstase und Unsterblichkeit aus. Die Sucht will durch das Außen, in diesem Falle durch die Arbeit, das füllen, was im Innen, in der Seele, als Leere wahrgenommen wird. Das Fühlen dieser inneren Leere ist sehr schmerzlich, fast unerträglich. Sie wird aber nicht als innere Leere gedeutet, sondern als Getriebensein, Unentbehrlichsein oder Wichtiges tun zu müssen wahrgenommen. Arbeiten ist dann der Versuch, innere Leere mit Aktivitäten im Außen zu kompensieren. Es braucht immer neue Reize und Herausforderungen. Leben spielt sich um den Beruf und in der Firma ab. In diesem Verleugnungs- und Suchprozess findet eine Fixierung statt, zum Beispiel auf das Projekt, die Kontrolle der Zahlen, die Position und den Rang oder die ganze Firma. Die Arbeit ist das Leben, dem ich alles von mir gebe, in der Hoffnung, das zu bekommen, was ich wirklich zum Leben und vom Leben brauche. Spirituelle Suche kann verstanden werden als die Suche nach Sinn, nach Bedeutung des Lebens, nach Deutung der Welt und als ein Weg, uns als Mensch zu erkennen und das Göttliche in uns zu entdecken. Wenn wir die Arbeit selbst als einen Weg spiritueller Suche verstehen, so kann es nicht um die Fixierung auf die Arbeit selbst gehen, sondern um die hinter der Arbeit liegenden Aspekte wie Verbundenheit, Offenheit, Achtsamkeit, Schönheit, Weite, Leere und Liebe. Wenn wir das in unserer Arbeit finden, sind wir im Inneren erfüllt und tun im Außen das, was durch uns getan sein will. Innere und äußere Arbeit – Arbeit als Weg zum eigenen Selbst In jeder Arbeit, sei es in einer kleineren Firma, einem Großunternehmen oder auch die Arbeit in der Selbstständigkeit, gilt es, im Laufe eines Arbeitslebens parallel zwei Herausforderungen von Arbeit gleichzeitig zu erfüllen. Ich nenne dies die „äußere Arbeit“ und die „innere Arbeit“.


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Die „äußere Arbeit“ beinhaltet das Erlernen von notwendigem Fachwissen und Methodenkompetenz sowie fortlaufende Updates des vorhandenen Wissens. Außerdem gehören hierzu auch, die Organisation selbst kennen zu lernen, Zuständigkeiten und organisationstypische Abläufe zu wissen, die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln zu verinnerlichen und die Unternehmenskultur zu verstehen. Das Lernen in diesem Feld beginnt spätestens mit dem Eintritt und endet mit dem Verlassen des Unternehmens. In diesem Wertschöpfungsprozess wachsen die Kompetenzen und das Wissen des Mitarbeiters. Die Aufgabe des Mitarbeiters besteht darin, sich fortlaufend immer neuen Lernanforderungen zu stellen. Die Aufgabe des Unternehmens besteht darin, Mitarbeitern immer neue, dem Prozess der Unternehmensentwicklung angepasste Lernanforderungen zu stellen. Die „innere Arbeit“, die im Laufe eines Berufslebens zu leisten ist, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Arbeit kann verstanden werden als Möglichkeit der Begegnung mit mir selbst. Jede Arbeit, die der Mitarbeiter ausführt, jede Weiterentwicklung eines Produktes, jede Verbesserungsmaßnahme der Qualität, jede Optimierung von Prozessen und Strukturen ist letztlich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Das gilt auch in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunden, Kollegen und Vorgesetzten. Es ist die Auseinandersetzung mit persönlichen Grenzen (zum Beispiel Leistungsgrenzen), mit der Organisation von Komplexität, mit den Fragen nach Prioritäten, den Aspekten von Macht, Unterordnung, Geltung und Stolz. Es ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen. Im Arbeitsprozess begegnen wir im Laufe der Berufsjahre allen Facetten menschlicher Existenz. Allen Höhen und Tiefen des Lebens selbst. Im Arbeitsprozess reift und entwickelt sich neben den Fachkompetenzen auch die Persönlichkeit. In der Arbeit tauchen im Laufe der Jahre alle noch unerledigten Themen der eigenen Biographie wieder auf. Ungelöste Autoritätsthemen ebenso wie nicht verarbeitete Rivalitätsthemen (Geschwisterrivalität). Narzisstische Kränkungen ebenso wie

Themen von Minderwertigkeit, Angst und Sinnsuche. Jeder Mitarbeiter ist ein Mensch mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, die sich auf jeweils ihre Weise mit den Gegebenheiten im Unternehmen auseinandersetzt, reibt und weiter entwickelt. Da es in jeder Lebensbiographie Lichtseiten und Schattenseiten gibt, tauchen diese auch in der Arbeitsbiographie wieder auf. So können die Lichtseiten wie Urvertrauen, Freude am Erfolg, hohe Leistungsbereitschaft oder Kooperationsfähigkeit im Kontext des Unternehmens weiter wachsen und damit zum persönlichen wie auch zum unternehmerischen Erfolg beitragen. Andererseits hindern die unbearbeiteten Schattenseiten die persönliche Weiterentwicklung, die Produktivität und den Teamgeist. Im beruflichen Coaching ist deshalb darauf zu achten, dass die subjektiv erlebten Probleme des Coaches nicht einseitig auf die Organisationsstrukturen und die Kollegen und Vorgesetzten projiziert werden, sondern zunächst die Eigenverantwortlichkeit für alle Themen gestärkt wird. So liegen in den Konflikten mit Vorgesetzten und Kollegen, in unsicheren Zeiten bei Veränderungen der Organisation, im Erkennen von eigenen Leistungsdefiziten oder im Erleben von Ohnmacht bei Entscheidungen der Geschäftsführung enorm große Chancen, sich mit der eigenen Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsentwicklung auseinander zu setzen. Wie bei allen kritischen Lebensereignissen, wie beispielsweise dem Verlust von Angehörigen, Ehekrisen oder Krankheit, sind kritische Ereignisse im Beruf und im Unternehmen wichtige Einschnitte, die eigenen Wertvorstellungen, Lebenskonzepte und Einstellungen zu reflektieren. Aus dieser Perspektive ist der Arbeitsplatz eine fortwährende Selbsterfahrungsgruppe, in der Wachstum, Reifung und auch Heilung stattfinden kann.

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Zusammenfassende Betrachtungen zur Arbeit Arbeit ermöglicht dem Menschen das Erleben und Entfalten der eigenen Person zu ihrer wahren Größe, Aufrichtung und Würde. Arbeit birgt in sich die Möglichkeit, zu wirken, sich den Menschen und der Welt gegenüber zu zeigen und sich auszudrücken. In der Arbeit werden wir Menschen als Menschen sichtbar. In der Arbeit liegt die Möglichkeit, dass wir unsere Dankbarkeit für unser Dasein zum Ausdruck bringen können. Durch Arbeit haben wir teil am „Großen Geben und Nehmen“. Arbeit ist die Chance, diese Dankbarkeit für das Sein und für die Schöpfung zum Ausdruck zu bringen. So wie wir um des Lebens willen leben – und uns um der Liebe willen lieben –, so arbeiten wir auch um der Arbeit willen – Arbeit ist von ihrem Wesen her auf keine äußere Absicht, Dank oder Lohn ausgerichtetes Tun. Arbeit trägt ihren Lohn in sich. Der Lohn ist das Tätigsein selbst. Arbeit wird freier, je weniger sie anderen Zwecken dient als sich selbst. Durch die Arbeit können wir unsere menschliche Würde erfahren. In dem Erkennen unserer Weite und Begrenztheit haben wir die Chance, in aufrechter Demut unsere Stärken und unsere Größe ebenso zu erleben wie unsere Grenzen und unsere Kleinheit – und das in Würde vor uns selbst, den Menschen und der Schöpfung. In der Arbeit liegt die Möglichkeit des Staunens und des Wunderns. Wir können uns als Teil eines großen Ganzen und der Schöpfung begreifen. Jedes Tun und Arbeiten irgendwo in der Welt nimmt Einfluss auf das Ganze. Jeder von uns ist Mitgestalter unserer Welt. Es ist gut, darauf zu achten, was wir arbeiten und produzieren und in welcher Weise wir es tun. Jeder trägt in seiner Arbeit die Sorge und Verantwortung für uns und die Schöpfung. In der Arbeit liegt die Möglichkeit zu erfahren, dass alles mit allem verbunden ist. In der Arbeit begegnen wir allen zentralen Themen menschlicher Existenz.

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Gesunde Arbeit in den Heiligenfeld Kliniken „In Heiligenfeld zu arbeiten bedeutet für mich, an einem heilsamen Ort tätig zu sein, an dem ich Wertschätzung erfahre und mir Vertrauen in meine therapeutische Arbeit geschenkt wird.“ Physiotherapeutin der Luitpoldklinik Heiligenfeld

Die Heiligenfeld Kliniken haben zur Prävention und Gesundheitsförderung ein Gesundheitsmanagementsystem eingeführt, das in die Bereiche Verhältnismanagement, Verhaltensmanagement, Erlebens- und Kulturmanagement aufgeteilt ist. elle Gesundheitsförderung erhalten, die genau auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist.

Beim Verhältnismanagement geht es darum, die Rahmenbedingungen für ein gutes Leben der Beschäftigten zu schaffen, also z. B. in der Kantine gesunde Mahlzeiten anzubieten, ergonomische Sitzmöbel bereitzustellen, die Arbeitsumgebung zu optimieren sowie die Arbeit gesundheitsförderlich zu organisieren.

Die Bereiche Verhältnis- und Verhaltensmanagement werden in den Heiligenfeld Kliniken durch Erlebens- und Kulturmanagement ergänzt. Erlebensmanagement bedeutet, dass die Mitarbeiter bei allen Aktionen einen Sinn sehen und es für sie eine Art Gesundheitserlebnis ist. Mitarbeitergespräche zu sinnstiftender Arbeit, Rückkehrgespräche nach längerer Krankheit, individuelle Supervisionen, Gesundheits-Angebote während der Arbeitszeit (Massage, Wellness, Physiotherapie) und kostenfreies Obst, Getränke und Kuchen für die Mitarbeiter sind nur einige Angebote der Klinikgruppe.

Das Verhaltensmanagement richtet sich an den Einzelnen, der die Verantwortung für die eigene Gesundheit trägt. Hierbei können z. B. Fortbildungen zu den Themen Selbstmanagement, Stressmanagement und „Work-Life-Balance“, Gesundheitsangebote in den Bereichen „Ernährung und Bewegung“ sowie eine arbeitspsychologische und gesundheitliche Beratung Hilfestellung geben. Bemerkenswert ist dabei, dass die Beschäftigten hier eine individu-

Kulturmanagement bezieht sich auf die Entwicklung einer komplexen gesundheitsfördernden Unternehmenskultur und -philosophie, die den Werterahmen des Unternehmens für die Mitarbeiter vorgibt. In den Heiligenfeld Kliniken ist das Thema „Gesundheit“ im Leitbild des Unternehmens verankert, neue Mitarbeiter erhalten Fortbildungen, um ihnen den Zugang zum Unternehmen und seiner Kultur zu erleichtern.

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Ein wichtiger Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsförderung ist das Einbeziehen der Interessen und Kompetenzen der Mitarbeiter. So werden in den Heiligenfeld Kliniken, auf Anregung von Mitarbeitern, entspannungsorientierte, meditative und sportliche Aktivitäten der betrieblichen Gesundheitsförderung angeboten. Der weit überwiegende Teil der Trainer und Referenten dieser Veranstaltungen rekrutiert sich aus hausinternen Fachleuten. Das Unternehmen übernimmt die Umsetzung der Maßnahmen mit Organisation, Beschaffung von Gerätschaften, Räumlichkeiten etc. Zu den Angeboten „von Mitarbeitern – für Mitarbeiter“ gehören zum Beispiel ein Lauftreff, Zumbakurse, Yoga oder Mitarbeitermeditation.

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Auszüge aus: Spiritualität und Gesunde Arbeit in der Unternehmenskultur der Heiligenfeld-Kliniken – Dr. Joachim Galuska, Dorothea Galuska, in: Führen mit Herz und Verstand, H. Wrelens, J. Kamphausen-Verlag, 2006, S. 258-271

Denn ob etwas ein Leben werden kann, das hängt nicht von den großen Ideen ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen ein Handwerk schafft, ein Tägliches, etwas, das bei einem aushält bis ans Ende. Rainer Maria Rilke

Spiritualität und Seele Eine spirituelle Grundhaltung bedeutet, einen bewussten erfahrbaren Bezug zur Transzendenz herzustellen, wie auch immer Transzendenz konzeptualisiert wird. Spirituelle Wege beschreiben Methoden und Schritte zu einer Erfahrung des Jenseitigen, Göttlichen, Absoluten oder Unbekannten. Letztlich geht es dabei um eine Weiterentwicklung des Bewusstseins, die in moderner Form auch auf eine religionsfreie direkte Weise geschehen kann. Diese Weiterentwicklung basiert auf der Selbstreflexionsfähigkeit unseres rationalen und personalen Bewusstseins und unserer Fähigkeit, dies zu einem transrationalen und transpersonalen Bewusstsein hin zu überschreiten. Hier geschieht dann eine Verankerung in der eigenen Seele, in den Grundwerten des menschlichen Geistes, im Unterschied zur Verankerung in einem narzisstischen und übermäßig individualistischen Ich-Bewusstsein. Seele wird hier verstanden als Essenz, unsere Wesenhaftigkeit, unser eigentliches ursprüngliches Selbst. Wir spüren unsere Seele als Präsenz, als Gegenwärtigsein, als bewusstes Anwesendsein. In der eigenen Seele bewusst verankert zu sein, öffnet verschiedene Wesensqualitäten, wer wir

in unserer Tiefe als Menschen wirklich sind: Wachheit, Weite, Offenheit, Freiheit, Mitte, Stille, Frieden, Leere, Ehrfurcht, Liebe, Mitgefühl, Leidensfähigkeit, Glücksfähigkeit, Verbundenheit. Unsere Seele folgt ihrer eigenen Wahrheit in aufrichtiger Weise. Damit ist sie auch der Ort der inneren Werte und Prinzipien, an denen sie sich in ihrem Handeln orientiert. Darüber hinaus ist sie offen, sowohl für das Persönliche und Individuelle als auch für das Überpersönliche und Universelle. In der Tiefe ist die Seele also offen und aufgehoben im Absoluten, im Göttlichen, im Geheimnis. Sie kann somit auch verstanden werden als die individuelle Art und Weise, wie das Unbekannte sich in diesem Menschen manifestiert und seinem Erleben eben seine persönliche Gestalt gibt. Damit ist sie der Wandlungsprozess des Absoluten und Unbekannten in das gegenwärtige individuelle Leben. Der spirituelle Weg ist also ein Weg der Bewusstwerdung, ein Weg des Erwachens der Seele oder des Erwachsens zu unseren Wesensqualitäten individuell, als jeweiliger Mensch, und kollektiv als Menschheit. Der Bewusstwerdungsprozess lässt uns erkennen, dass wir ein Ausdruck der Evolution von etwas Unbekanntem sind und dass wir zugleich Unternehmenskultur


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auf unsere Weise diese Evolution weiter entfalten. Dies bedeutet natürlich auch, dieses Bewusstsein und diese Seelenverankerung in wirtschaftliche Prozesse und insbesondere in die Unternehmensführung hineinzubringen. Ein Unternehmen ist für uns ein lebendiger sozialer Organismus. Es besteht aus dem Zusammenwirken von menschlichen Lebewesen, die ein Produkt erzeugen, also eine Ware herstellen oder eine Dienstleistung erbringen. Wie Menschen, Lebewesen oder die Natur überhaupt, können wir einen solchen sozialen Organismus nie vollständig verstehen. Er ist eben keine einfache Maschine oder ein kompliziert konstruierter Apparat, sondern etwas Lebendiges, das evolutionär entstanden ist. Im Kern eines Unternehmens sind seine tiefsten inneren Anliegen, was es also in die Welt bringen will und verwirklichen möchte. Die inneren Anliegen eines Unternehmens beruhen im Grunde auf der Wahrnehmung des Lebensfeldes, in dem es existiert. Sie beruhen letztlich auf der Offenheit und Rezeptivität für die Evolution, die in sich selbst Keime zur Weiterentwicklung, Entfaltung und Wandlung trägt. Ein inneres Anliegen drückt diese Keime aus. Deswegen hat das innere Anliegen auch etwas Überpersönliches. Wir finden es in unserem Herzen, wenn wir auf die Stimme der Seele hören, z. B. zur Heilung beizutragen, ein Grundbedürfnis, wie Essen oder Trinken, zu erfüllen, die Welt schöner zu machen, die Natur zu schützen, die Kommunikation zwischen den Menschen zu verbessern, Spiritualität in die Welt zu bringen usw. Diese Anliegen verbinden sich mit der Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt und erzeugen daraus Visionen und Konzepte, die dann in der Unternehmensrealität verwirklicht werden. Solche Visionen sind häufig in Leitbildern konkretisiert und ausgestaltet. Auch dies soll am Beispiel unserer Klinik veranschaulicht werden.

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Leitbild Heiligenfeld Die Heiligenfeld-Kliniken sind ein Ort der Gesundheit und Menschlichkeit. Hier können ganzheitliche Entwicklung und Heilung, ein gutes und würdevolles Leben und eine achtsame und liebevolle zwischenmenschliche Begegnung erfahren werden. Wir bemühen uns um die Anerkennung dessen was ist: Chancen und Möglichkeiten für Therapie und Gesundheitsförderung und die Grenzen von Heilung und Wachstum. Unser ganzheitliches Unternehmenskonzept integriert humanistische und spirituelle Werte mit wirtschaftlichem und qualitativem Wachstum. Unser Handeln ist ausgerichtet auf die Schaffung eines Unternehmensgewinns, eines Gewinns für den Einzelnen - Mitarbeiter, Patienten und Kunden - und eines Gewinns für die Schöpfung - im Sinne eines Beitrags zu einem menschenwürdigen Leben. In Verantwortung gegenüber unseren Patienten, den Mitarbeitern, dem Unternehmen und der Gesellschaft orientieren wir uns in unserem therapeutischen und unternehmerischen Handeln an folgenden Leitgedanken: Wir fördern ganzheitliche Entwicklung und Wachstum Das Tun unserer Klinik zielt ab auf die Förderung einer ganzheitlichen Entwicklung von Person, Unternehmen und Gesellschaft. Wir tragen dazu bei, die Polaritäten und die Dualität des menschlichen Daseins zu integrieren, sich in der Verbindung mit der Welt auszudrücken und sich auf ein höheres und universelles Sein auszurichten. Ein Leben in Selbstbestimmung und Verantwortung Wir verstehen die Selbstbestimmung als Grundrecht des Menschen. In Verantwortung gestalten wir unser Leben, unsere Beziehungen und unser Umfeld. Wir betrachten die Sinnhaftigkeit menschlichen und unternehmerischen Handelns Die existentielle Frage nach der Sinnhaftigkeit unseres menschlichen Seins und Handelns ist ausdrücklich Gegenstand unserer therapeutischen Arbeit, unseres un-


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ternehmerischen Handelns und unseres gesellschaftlichen Engagements. Wir gestalten einen besonderen Lebensund Erlebensraum Die Klinik versteht sich als ein Ort für Heilung und Menschlichkeit. Sie kreiert innere Erfahrungs- und Erlebnisräume und fördert sinnhafte mitmenschliche Begegnungen. Die Gestaltung der Räume und die Architektur entsprechen menschlichen Bedürfnissen nach Schutz und Geborgenheit, nach Begegnung und Lebendigkeit, nach Stille und Besinnung. Die Basis: Wirtschaftlichkeit und Qualität In Verantwortung gegenüber unseren Patienten und den Menschen, die die Ressourcen für unsere betrieblichen Aktivitäten zur Verfügung stellen, fühlen wir uns zu Wirtschaftlichkeit, Qualität und Effizienz verpflichtet.

Unternehmenskultur Die Heiligenfelder Unternehmenskultur versteht sich als Ausdruck des ganzheitlichen Unternehmenskonzepts, in der die Vielschichtigkeit des Unternehmens und die Mehrdimensionalität menschlichen Daseins gewürdigt und angesprochen wird. In der Heiligenfelder Unternehmenskultur werden folgende Prinzipien und Werte gepflegt: Kooperation und Teamgeist Gesundheit Beseelte Arbeit mit Herz Sinn und Spiritualität Entwicklung und Lernen Alle diese Prinzipien sollen sich im Erleben (E), im Verhalten (V), im Klima (K) und den Arbeitsbedingungen (A) darstellen.

Das Spannungsfeld: Vision und Wirklichkeit Wir nehmen bewusst die Herausforderung des Spannungsfeldes eines ganzheitlichen Unternehmenskonzeptes an. Unsere innere Vision ist vom Herzen und der Verankerung im Existentiellen getragen. In Anerkennung des Soseins üben wir uns in der Demut gegenüber der Form, Zeit, Kultur, Gesellschaft und den Zwängen, Anforderungen und täglichen Aufgaben. Wir erkennen dieses Spannungsfeld an und bemühen uns um die Integration dieser Polaritäten und die Auflösung der Dualität durch die ständige Besinnung auf die aller Dualität innewohnenden Einheit und Ganzheit des Seins. Die Würdigung der Grenzen unseres Wachstums und das gleichzeitig stete Bemühen um Weiterentwicklung lassen uns das Menschsein fühlen und erleben. Im Respekt um die Größe und Schönheit der Existenz erkennen wir uns in unserer Begrenztheit als Teil des Ganzen.

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Beispielhaft wird das Prinzip „Sinn und Spiritualität“ erläutert in Bezug auf Ist-Zustand und geplante Maßnahmen: Sinn und Spiritualität Auf der Erlebnisseite bedeutet dies, transpersonale und spirituelle Erfahrungen in der Arbeit zu ermöglichen und sich spirituell verwirklichen zu können. Verhaltensorientiert geht es darum, eine geistig-spirituelle Kompetenz zu entwickeln im Sinne der Bewusstseinsentwicklung. Dafür ist es hilfreich, ein förderndes und reichhaltiges, geistig-spirituelles Klima in der Klinik zu schaffen und dies auch strukturell zu verankern. Dies kann durch folgende Strukturen verwirklicht werden (Ist-Zustand): siehe Maßnahmen. Maßnahmen Die Betonung und Vermittlung spiritueller Werte wie Achtsamkeit, Bewusstwerdung, spiritueller Bezug, Dienen, Begeisterung usw. Die Kommunikation humanistischer und spiritueller Anliegen und der Vision eines Ortes der Heilung, der Liebe und des Lebens in unserer Klinik und die Vermittlung eines ganzheitlichen Unternehmens- und Behandlungskonzeptes Stille Phasen und spirituelle Texte in Teamsitzungen Resonanzkreise in Teamsitzungen und mit Patienten Gemeinsame Meditationen mit Mitarbeitern Gesellschaftliches Engagement durch Tagungen und Veranstaltungen zu Spiritualität und Transpersonalität Strukturierung der Mitarbeitergespräche bzgl. Vision und Werte des Unternehmens und Sinnfindung in der eigenen Arbeit Kooperation mit Institutionen zu Forschung und Beratung im Bereich spiritueller und transpersonaler Erfahrungen und Probleme (z. B. DKTP, SEN, Parapsycholog. Beratungsstelle) Möglichkeit zur Teilnahme an einer wöchentlich angebotenen Frauenmeditation Artikel, Bücher und Kassetten zu Spiritualität, auch in Verbindung mit Therapie, in Infomappe, Mitarbeiter-Bibliothek und Intranet Weiterbildung in spirituell bzw. transpersonal orientierter Psychotherapie durch Fortbildungs-Stunden, Ko-Leitung, Meditationsschulung, Intensivwochen u. Ä.

E

V

K

A

X

X X X X

X X X X

X

X

X

X X

X X X

X

(E) Erleben, (V) Verhalten, (K) Klima, (A) Arbeitsbedingungen

Geplante Maßnahmen • kommentierte Adressenlisten/Datenbank spiritueller Zentren, Lehrer und Fachleute • Teamtage zu Sinn und Erfüllung der Arbeit, insbes. für Hausteam und Verwaltung • Weiterentwicklung zur „Conscious Organisation“ bzw. zum „transpersonalen Unternehmen“ • Achtsamkeits-Projekte für Mitarbeiter

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Gesunde Arbeit Moderne Gesundheitsmodelle verstehen Gesundheit als ein mehrdimensionales Geschehen. Hurelmann (1998) definiert Gesundheit als einen Zustand subjektiven und objektiven Befindens einer Person, die in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den äußeren Lebensbedingungen ist. Aus einem ganzheitlichen Menschenbild, das den Menschen als Körper, Seele und Geist in einer Beziehung zur Umwelt und den anderen Menschen sieht, und der Tatsache, dass Gesundheit subjektiv erlebt wird und objektiv beurteilt werden kann, könnte man ein komplexes Gesundheitsmodell entwerfen:

Körper

Seele

Geist

Beziehung

Subjektive Gesundheit Wohlbefinden Körperliches Wohlbefinden = Wellness Vertrauen in den eigenen Körper Lust versus Unlust Vitalität, Spannkraft Genuss, Sinnesfreude Befriedigung Seelisches Wohlbefinden = Glück Selbstvertrauen (personales Vertrauen) Zufriedenheit versus Unzufriedenheit Lebensfreude, Erfüllung, Optimismus, Schönheit Geistiges Wohlbefinden = Sinn Spiritueller Bezug (transpersonales Vertrauen) Innere Freiheit versus Identifizierung Klarheit, Bewusstheit, Verständnis, Werteverankerung, transpersonale Erfahrungen Soziales Wohlbefinden = Liebe Interpersonales Vertrauen Verschmelzung/Begegnung versus Einsamkeit Frieden versus Konflikt Verbundensein, Bezogenheit, Berührtsein

Objektive Gesundheit gesunde Funktionen Körperliche Leistungsfähigkeit = Fitness Biomedizinischer Status Ausdauer, Kraft, guter Bewegungsapparat, psychovegetative Stabilität, immunologische Abwehrfähigkeit, optimale Schmerzschwelle Seelische Kompetenz = Selbstmanagement Erweiterter psychischer Befund Emotionale Kompetenz (EQ) Handlungsfähigkeit Geistig-spirituelle Kompetenz = Bewusstsein Kognitive Kompetenz (IQ) Spirituelle Kompetenz (SQ) Kreativität Bewusstseinssteuerung

Soziale Kompetenz = Beziehungsgestaltung Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit Empathie Bindungsfähigkeit Konfliktkompetenz

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Erlebnis-, Verhaltens- und Verhältnismanagement Ein positives Gesundheitsverständnis besagt also, dass Gesundheit sich zeigt in Wellness und Fitness, Glück und Selbstmanagement, Sinn und Bewusstsein, Liebe und Beziehungsgestaltung. Daraus ergeben sich nun Handlungsmöglichkeiten und Angebote, die diese Qualitäten wecken bzw. fördern. Eine Maßnahme kann gerichtet sein auf das Erlebnis, das Verhalten, den Kontext des Verhaltens, also die Verhältnisse eines Menschen, und das Klima, in dem er arbeitet. Bezieht man dies nun auf das Quadrantenmodell von Ken Wilber, so ergeben sich Maßnahmen zum Erlebnismanagement, zum Verhaltensmanagement, zum Kulturmanagement und zum Verhältnismanagement innerhalb eines Unternehmens. Das folgende Schema gibt Beispiele aus den Heiligenfeld Kliniken. Angebot

Körper

Seele

Erlebnismanagement Erlebnissteuerung Empfindungen Erleben den Körper entdecken Körpererfahrung Wellness Sinnliche Genüsse Lusterfahrungen Erot.-sex. Genuss Relaxation sich selbst entdecken Selbsterfahrung Glücksmomente erfahren Lebensfreude wecken (Tanz, kreative Medien) Lachen und Humor Spielen sich selbst finden und die Seele spüren sich selbst ausdrücken

Geist

das Geistig-Spirituelle entdecken spirituelle Erfahrungen Sinnfindung Bewusstseinserfahrungen: Achtsamkeit, veränderte Bewusstseinszustände Energet. Erfahrungen Transpersonale Erfahrungen

Beziehung

andere Menschen entdecken Beziehung erfahren Liebe, Zuwendung, Freundlichkeit und Wertschätzung erfahren Berührung erfahren Einfühlung erfahren Tiefere Begegnungen erleben

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Verhaltensmanagement Verhaltensprävention Kompetenzen Handeln den Körper trainieren Körperliches Fitnesstraining Bewegung u. Sport Körperpflege u. Kosmetik Regeneration u. Erholung Schlafhygiene sich selbst steuern Selbstmanagementübungen Stressbewältigung Gefühlssteuerung Entspannungsübungen Willenstraining

Verhältnismanagement Verhältnisprävention Strukturen Verändern gute Bedingungen für den Körper schaffen Lebensraum gestalten Ernährung gestalten Risikofaktoren meiden Natur erfahren Rhythmen regulieren gute Bedingungen für sich selbst und die Seele schaffen Alltag regeln (Arbeit und Freizeit) Gefühlshaushalt regeln Stress reduzieren Musik, Spiele Vergnügungen, Tanzen Ästhetische Umwelt sähaffen. gute Bedingungen für den Geist entwickeln Geist und Spiritualität Gehirnjogging schaffen Zeitmanagement Aufmerksamkeitssteuerung Informationsaufnahme regulieren Meditation Meditation im Alltag Gebet künstler.-kreative Phasen künstlerische Tätigkeit im Alltag kulturelle Aktivität geistige Kreativitätsübun- kulturelle Aktivitäten Bücher, Filme, Reisen, gen Bildungsaktivitäten Sozialverhalten entwickeln gute soziale Netzwerke schaffen Kontakt herstellen Partnerschaft Nähe-Distanz-Regulation Familie Oberflächliche und tiefe Freunde Begegnungen herstellen Kollegen Einfühlung üben Gesellige Bekanntschaften Menschen kennenlernen Gesellschaftliches oder Freunde finden soziales Engagement Altruistische Tätigkeiten


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Maßnahmen zur Gesundheitsförderung Erlebnismanagement • Mitarbeitergespräche zu sinnstiftender Arbeit • Rückkehrgespräch nach längerer Krankheit • individuelle Supervision • Caring-Angebote (Massagen, Wellness) • Überraschung der Caring-Managerin • „freies“ Obst, Getränke, Kuchen

Verhaltensmanagement • individualisierte Gesundheitsförderung • individuelle Arbeitsplatz-Visite • Mitarbeiterleitlinie „Umgang mit akutem und chronischem Stress“ und individualisiertes Stressmanagement • Bewegungs- und Rückenschule für Mitarbeiter • Erlernen von Entspannungsverfahren • Gesundheitsvorträge für Mitarbeiter • Möglichkeit zur Ernährungsberatung und Raucherentwöhnung

Kulturmanagement • Verankerung von Gesundheit im Leitbild der Klinik • Kommunikation über Gesundheit in Mitarbeiterversammlungen • Teamsupervision • körperkontaktfreundliche kollegiale Atmosphäre • gemeinsame Events wie Tönen • Kultur des Dankes • Mitarbeiterdisco • gegenseitiges Abklopfen im Team • ästhetische Arbeitsumgebung

Verhältnismanagement • organisiertes Gesundheitsmanagement • Qualitätsmanagement – Projekte zu Gesundheitsthemen • Mitarbeiterbefragung zur Gesundheitsförderung • gesunde Ernährung, Bestuhlung, Raumgestaltung, Beleuchtung • Massnahmen des Arbeitsschutzes • rauchfreie Gelände • Sauna- und Schwimmbadnutzung • Arbeitszeitmodelle z. B. Ketten unbezahlter Urlaube • verbilligte Fitness-Studio-Nutzung

Daraus ließe sich die Idee eines gesunden Unternehmens ableiten, dessen Ziel sich auch in allen vier Quadranten darstellen lassen. Ein gesundes Unternehmen hat:

Zufriedene und erfüllte Mitarbeiter

Arbeitsfähige und leistungsfähige Mitarbeiter

Ein gesundes und kooperatives Betriebsklima

Gesunde Zahlen, eine gesunde und produktive Unternehmensstruktur

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Am Beispiel der Heiligenfeld-Kliniken haben wir gezeigt, dass und wie Spiritualität ein Unternehmen durchdringen kann. Spiritualität als innerer Bezug zum Größeren, Unbekannten, Göttlichen und Absoluten weckt unsere Seele, die der innere Ort unserer tiefsten inneren Anliegen als Menschen ist, der Ort unserer Werte und unserer Bewusstwerdung. Unsere Seele ist sowohl persönlich als auch überpersönlich und mit ihr sind wir auch in unserer Arbeit als Unternehmer, Leitende oder Mitarbeiter eines Unternehmens anwesend. Vor allem in der Unternehmenskultur zeigt sich, ob diese Verankerung lebendig ist, ob das Unternehmen eine spirituelle Ausstrahlung hat, ob die Menschen mit ihrem Herzen dort arbeiten und zusammen wirken. Deswegen ist die aktive Gestaltung und bewusste Weiterentwicklung der Unternehmenskultur auch so wesentlich für die Verwirklichung von Spiritualität in der Unternehmens- und Personalführung. Ein spirituell geführtes Unternehmen kann dazu beitragen, dass unser Wirtschaftsleben eine neue Orientierung und Richtung erhält, nämlich einen echten Bezug zu den wesentlichen Werten des Menschseins, einen Bezug, den das Wirtschaftsleben verloren hat, weil es nur noch an seine eigene Bewertung glaubt, nämlich die des Geldes. Spiritualität besitzt auf diese Weise das Potenzial, das Wirtschaftsleben in den Dienst einer höheren Wertigkeit zu stellen, nämlich den Menschen, dem Leben und der Evolution zu dienen, statt sie zu funktionalisieren und zu verwerten. Spiritualität nutzt also das kreative und schöpferische Potenzial wirtschaftlichen Handelns, um zu einem schöneren und menschlicheren Gestalten der Welt beizutragen. Literatur Kaplan, R. F., Norton, D. P. (1997), Balanced Scorecard, Schäffer-Pöschel, Stuttgart. Wilber, K. (1996), Eros, Kosmos, Logos, Krüger, Frankfurt.

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Die Kunst des Wirtschaftens „Wir brauchen eine intelligente Form des Wirtschaftens, die in unseren tiefen inneren Werten gründet und die zugleich effizient unter den jeweils gegebenen realen Bedingungen wirkt und funktioniert – und dies ist eine „Kunst des Wirtschaftens.“ Dr. Joachim Galuska

Dr. Joachim Galuska, in: Die Kunst des Wirtschaftens, J. Kamphausen Verlag, 2010, S. 18-28

Was könnte eine Kunst des Wirtschaftens bedeuten und wie kann sie uns inspirieren? Der Begriff ‚Kunst‘ besitzt nach dem Duden und anderen Wörterverzeichnissen im Grunde zwei Bedeutungen: „Schöpferisches Gestalten aus den verschiedensten Materialien oder mit den Mitteln der Sprache, der Töne in Auseinandersetzung mit Natur und Welt“ wie z. B. die bildende Kunst, die darstellende Kunst, angewandte oder abstrakte Kunst. Damit können auch ein einzelnes Werk oder die Werke eines Künstlers oder einer Epoche gemeint sein. Hierbei geht es also um künstlerisches Schaffen.

1.

„Das Können, besonderes Geschick, (erworbene) Fertigkeit auf einem bestimmten Gebiet“ wie z. B. die ärztliche Kunst. Hiermit ist also eher ein meisterliches Können, eine Kunstfertigkeit, gemeint. Können wird eine zunehmende Bedeutung erhalten, meint Christine Ax und sieht uns auf dem Weg von einer Wissensgesellschaft in eine „Könnensgesellschaft“ (2009), in der neben der eher unpersönlichen Information des Wissens die praktische Erfahrung von kompetenten Menschen benötigt wird.

2.

Eine Kunst des Wirtschaftens wird zunächst einmal eine Kunstfertigkeit darstellen – eine Art Meisterschaft auf den Feldern des Wirtschaftens. Wie könnte eine Kunst aussehen, ein Unternehmer zu sein? Ein solches Unternehmertum wird heutzutage gelegentlich als Entrepreneurship bezeichnet. Andy Freire (2006), ein aus Argentinien stammender Unternehmensberater, der in den USA seit vielen Jahren in Organisationen zur Förderung von Entrepreneuren arbeitet, nennt elf ultimative Bedingungen eines Entrepreneurs: • Freiheit und Unabhängigkeit als Hauptmotiv • wenig Ambitioniertheit bzgl. Geld • Leidenschaft • Ergebnisorientierung • Spiritualität • immer wieder neu beginnen und lernen den Weg genießen • Erfolge teilen • Entschlossenheit • Optimismus und Träume • bedingungslose Verantwortlichkeit für das eigene Tun

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Was einen Unternehmer, schreibt er, „wirklich zu einem besseren Unternehmer macht, sind diese elf Voraussetzungen: Sie machen ihn zum Visionär, lassen ihn die Rolle des aktiv Gestaltenden übernehmen, der immer wieder Neues lernen möchte und sich seinem persönlichen Wachstum widmet, der seinen Selbstwert entwickelt, um so zu klareren Entscheidungen zu kommen, der sich in seine Projekte verliebt und sich ihnen bedingungslos verpflichtet, der lernt, mit seinem Team zu teilen, der Risiken auf sich nimmt, um Unabhängigkeit zu erlangen, und der vor allem lernt, sich am Prozess selbst, ob Erfolg oder Misserfolg zu freuen.“ (S. 288) Er nennt solche Unternehmer „Gladiatoren“: „Sie spüren das unternehmerische Blut in ihren Adern fließen, und sie werden – unabhängig vom Zusammenhang – Unternehmer. Selbst wenn ihnen andere Möglichkeiten offen stehen, entscheiden sie sich für eine Laufbahn als Unternehmer. Auch wenn sie von Gelegenheiten gerne profitieren, fühlen sie sich unabhängig von Trends oder Umständen dem verpflichtet, was sie tun. Dies sind die wirklichen Entrepreneure.“ (S. 299) Auch die „Führungskunst“ unterscheidet sich von der reinen Managementkompetenz, wie es heute vielfach beschrieben wird (z. B. Covey, 2006). Während Manager die richtigen Dinge tun, tun Führer das Richtige. Während Manager wie Baumeister seien, seien Führer die Architekten. Während Management auf Planung und Kontrolle aufbaue, konzentriere sich Führung auf die gemeinsame Vision. Lance Secretan (2007) beschreibt 6 Prinzipien einer neuen im Grunde kunstfertigen Führung. Er nennt sie die „CASTLE-Prinzipien“. Die sechs „CASTLE-Prinzipien“ lauten: • Mut • Echtheit • Dienen • Wahrhaftigkeit • Liebe • Effektivität

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Wir könnten diese Betrachtung nun noch weiter in ein Unternehmen hinein verlagern z. B. in den Service eines Hotels. Klaus Kobjoll vom Hotel Schindlerhof in Nürnberg sagt dazu: „Nicht das Handwerk, sondern das Kunsthandwerk des Servicemanagements ist für uns letztlich die entscheidende Komponente. Und das feine Ausbalancieren der verschiedenen Servicefaktoren ist für uns nun mal Kunsthandwerk. Unternehmen, die ihr Servicemanagement konsequent vorantreiben, entfernen sich immer weiter von den Unternehmen, für die Service nur eine Trainingssache oder ein Schulungsprogramm oder irgendwie sonst etwas Nettes darstellt.“ (Kobjoll, 2004, S. 166) Er spricht von einer Kunst des Housekeepings, einer Kunst, Gästewäsche zu pflegen oder der Kunst, Gäste zu begeistern. Aus diesen Beispielen können wir erkennen, dass eine Weiterentwicklung unseres einseitigen, auf Renditeorientierung und betriebswirtschaftliche Effizienz ausgerichteten Denkens vor allem eine Frage des Bewusstseins ist, was sich aus ganz anderen als aus betriebswirtschaftlichen Theorien im engeren Sinne herausbildet. Für eine Kunstfertigkeit des Wirtschaftens können wir also zu lernen versuchen von anderen Kunstfertigkeiten in unserer Gesellschaft. Könnten wir also Inspirationen gewinnen, beispielsweise von der Baukunst, der Kampfkunst, der Kochkunst oder der Heilkunst? Mir als Arzt liegt natürlich die Heilkunst nahe. Eine Heilkunst wäre eine intelligente Medizin mit Geist und Seele (Galuska, 2010). Sie würde die einseitige, somatisch orientierte Schulmedizin und die eher technologisch ausgerichtete evidenzbasierte Medizin weiterentwickeln zu einer ganzheitlichen mehrperspektivischen Medizin, die die Schicksalhaftigkeit der Erkrankung und die Notwendigkeit eines mitmenschlichen Beistands würdigt und mit einbezieht. Die moderne Medizin folgt gegenwärtig einer Spezialisierung und Technologisierung ohne Seele. Auf diese Weise steht sie aber auf dem Kopf, nämlich auf ihrem organmedizinisch fixierten, einseitigen perspektivischen Wissen, nicht auf dem Boden des Schicksals der Men-


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schen, der Vielschichtigkeit einer Person, der Komplexität der Erkrankungen und ihrer Verarbeitungen. Heilkunde ist aber zu allererst eine mitmenschliche Angelegenheit. Eine Heilkunst besteht darin, die ganze Person des Erkrankten zunächst einmal wirken zu lassen, intuitiv innezuhalten und zu überprüfen, welche der verschiedenen Perspektiven diesem Menschen wirklich helfen könnte: die klassische somatische, die seelische, die soziale, die geistig-kognitive oder spirituelle Perspektive, die störungsspezifische oder die sogenannte resourcenorientierte gesundheitsbezogene Perspektive oder gar alle zusammen. Eine Kunstfertigkeit in der Medizin bestünde eben darin, innerhalb jeder der Perspektiven sowohl die wissenschaftliche Evidenz als auch die eigene Erfahrung als Arzt oder Therapeut und die Vorstellungen der Patienten - gemäß der jeweiligen Perspektive - zu integrieren und die Bedeutung der mitmenschlichen Beziehung zwischen Arzt oder Therapeut und Patient mit einzubeziehen. Und die dafür erforderliche Kernkompetenz ist meines Erachtens die Intuition. Intuition ist nach meiner Vorstellung kein Bauchgefühl, sondern die steuernde Funktion unseres Bewusstseins. Intuitiv richten wir unsere Aufmerksamkeit aus, verarbeiten unsere Wahrnehmungen, entscheiden, handeln und spüren wieder die Folgen unseres Tuns. Ausgereifte Intuition ist eine offene unbestimmte gewissermaßen bereite Haltung, die nicht in einer Perspektive gefangen ist, die aber gleichzeitig auf alle bewussten und unbewussten Kompetenzen zurückgreifen kann. Insofern ist sie nicht nur die entscheidende Kompetenz eines Arztes, um eine gute Diagnose zu treffen, die Auswirkungen der eigenen Interventionen und Behandlungsmaßnahmen angemessen zu beurteilen und den Patienten einen unterstützenden mitmenschlichen Beistand geben zu können. Sondern sie ist letztlich das Herzstück einer Kunst des Wirtschaftens. Intuition bedeutet zunächst einmal eine große Offenheit und innere Freiheit zu besitzen, nicht gefangen zu sein in einem Wertesystem, in einer Perspektive oder einem Paradigma. Intuition bedeutet zunächst einmal beobachten:

• das Unternehmen • den Markt • die Menschen • die Zahlen • die Prozesse • die Rahmenbedingungen Intuition bedeutet all das in sich aufzunehmen, in sich zu spüren, in sich wirken zu lassen. Und so ein inneres Verständnis für das eigene Unternehmen, für die eigene Person, für die gegenwärtige Situation entstehen zu lassen. Manchmal ist dieses Verständnis nicht einfach, nicht exakt beschreibbar, sondern eher ein Bild, eine Vision oder lediglich ein Impuls. Intuition ist ein kreativer Akt, vielleicht bringt sie ein neues Konzept hervor, eine neue Idee oder sie bestätigt nur etwas Vorhandenes, folgt einem Trend, gibt etwas auf, lässt etwas los. In jedem Fall wirkt sie unmittelbar. Ihre Impulse und Äußerungen besitzen eine Stimmigkeit und Angemessenheit. Der Sinn erscheint dem Handelnden evident. In seiner Intuition bewusst verankert zu sein bedeutet, sich ganz zur Verfügung zu haben, letztlich inmitten seines Lebens zu stehen, inmitten seines Erlebens und Handelns zu sein. Dies ist es auch, was mich an begnadeten Künstlern am meisten beeindruckt. In dem Film „Trip to Asia“, der die Konzerttournee der Berliner Philharmoniker zusammen mit Sir Simon Rattle zeigt, kann man beobachten, wie Simon Rattle als Dirigent inmitten der Musik zu floaten scheint, sie spürt und zugleich lenkt, sie empfindet und sie gestaltet und nuanciert, so dass ein gemeinsamer Klang, ein Einklang, entsteht, wie er es auch in einem der Interviews beschreibt. Im Einklang mit der Melodie unseres Lebens zu sein, das ermöglicht die Intuition. Im Einklang mit unserem wirtschaftlichen Handeln zu sein, das könnte eine Kunst des Wirtschaftens darstellen. Künstlertum und wirtschaftliches Handeln Und dies bringt uns schließlich zu der zweiten Definition von Kunst, nämlich der schöpferischen Gestaltung, dem eigentlichen Künstlertum. Können wir für eine Kunst des Wirtschaftens etwas von Künstlern selbst lernen? Und dafür bieten sich vor allem darstellende Künstler an: DiriUnternehmenskultur


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genten, Musiker, Choreographen, Tänzer, Regisseure. Denn sie gestalten, wie wir in der Wirtschaft, ein Event, sie produzieren ein Erlebnis, sie wirken zusammen in einem gemeinsamen Prozess, in dem sie ihr Handeln aufeinander abstimmen und zu einem gemeinsamen Ergebnis bringen. Um uns diesen Blickwinkel nahe zu bringen, möchte ich ihnen einige Passagen des Dirigenten Christian Gansch aus seinem Buch ‚„Vom Solo zur Sinfonie – was Unternehmen von Orchestern lernen können“ (2006) zitieren: „Ein Dirigent oder Unternehmer müsste unendlich viele Hände haben, um alle Koordinations- und Führungsprozesse selbst bewältigen zu können. Aber das ist weder nötig noch sinnvoll. Denn es sind ja gerade diese autark-internen Führungsprozesse, welche Spitzenteams von eher durchschnittlichen Ensembles unterscheiden. Die permanente abteilungsübergreifende Interaktion aller beteiligten Instrumentengruppen unter der verantwortungsbewussten Führung ihrer Vorspieler ist die entscheidende Basis für ein lebendiges gemeinsames Musizieren und bildet die Voraussetzung für den gemeinsamen Erfolg.“ (Seite 24) Wir können ein Unternehmen nicht vollständig in den Griff bekommen. Es ist eben keine Maschine, sondern ein lebendiger sozialer Organismus. Führung geschieht überall, nicht nur an der Spitze und basiert auf unserer Selbstführung, unserer Selbststeuerung. Wie kann es gehen, das Führungsprinzip überall im Unternehmen lebendig werden zu lassen?

„Freiheit darf für den einzelnen Musiker nicht Selbstzweck sein. Freiheit kann nur in dem Sinne verstanden werden, dass eine einzelne Solo-Stimme ihre persönliche Stimme zwar einbringt, aber stets im Kontext des bereits zuvor Entstandenen und Erlebten, also im Kontext einer stetigen Entwicklung, die vor dem Musiker, der sich entfalten will, begonnen hat und nach ihm weitergeht.“ (Seite 149) Hieraus klingt für mich das Geheimnis einer gelingenden Arbeit, nicht nur einer guten Führung: die Verbindung von Gestaltung und demütiger Teilhabe, von individueller Selbstverwirklichung und Dienerschaft gegenüber dem Ganzen. Und wir vergessen in unserer ich-bezogenen Kultur oft die Verantwortung für das gemeinsame Ergebnis, für das Team, das Unternehmen, die Gesellschaft, denen wir dienen und die uns einen Platz und einen Sinn geben im großen Gefüge des Lebens. Eine Gestaltung in Hingabe, ein rezeptives, offenes hingegebenes Gestalten, das ist für mich eine Kunst der Führung. Das gemeinsame Ziel eines Orchesters beschreibt Gansch folgendermaßen: „Ein vielschichtiges Gefüge aus unterschiedlichsten Qualitäten, die miteinander in Beziehung stehen, bildet aus vielen Stimmen einen Gesamtklang, in dem sich alle Beteiligten nach ihren Möglichkeiten einbringen und wiederfinden.“ (Seite 86)

Gansch schreibt weiter: „Ein Team muss „instrumentiert“ werden. Ein Wechselspiel unterschiedlicher Charaktere und Temperamente ist das Ziel. Einer spielt Geige, ein anderer Trompete, ein Dritter schlägt die Pauke. Jeder hat im entscheidenden Moment seinen Auftritt.“ (Seite 99)

„Einheit und Vielfalt sind eben kein Widerspruch, denn nur auf diese Weise gelangt man innerhalb des Unternehmens „Orchester“ vom individuellen Solo zur vielstimmigen Sinfonie. Erst die Fülle der individuellen Fähigkeiten und Charaktere, die sich gemeinsamen Werten verpflichtet fühlen, ergeben einen tragfähigen Gesamtklang. Viele Stimmen – ein Ziel. Dies sollte auch in anderen Unternehmen stets gegenwärtig sein.“ (Seite 203)

„Würde sich jede einzelne Stimme eines Ensembles gleichberechtigt selbstverwirklichen, so würde dies nur Verwirrung stiften, da sich keine Struktur mehr mitteilen kann, welche eine übergeordnete Vision erst erfassbar und erlebbar macht.“ (Seite 117)

Der Gesamtklang, der Einklang, die gemeinsame Melodie, die den Menschen berührt, könnten das nicht auch Attribute einer hohen Kunst des Wirtschaftens sein? Eines Wirtschaftens, das sich selbst als Kunst versteht im Sinne eines schöpferischen Gestaltens der Wirklichkeit? Und

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hätte nicht ein ganzheitlich verstandenes Wirtschaften die Chance, sowohl unsere Bedürfnisse zu befriedigen als auch kulturell künstlerische Impulse zu geben, sowohl profitorientiert zu arbeiten als auch humanistische oder gar ästhetische Werte zu verfolgen, sowohl den grauen Alltag zu organisieren als auch tiefe Erfahrungen des gemeinsamen Wirkens zu ermöglichen, sowohl nützliche und preiswerte Produkte und Dienstleistungen anzubieten als auch die Herzen der Menschen zu berühren? Eine neue Form des Wirtschaftens wird also vielleicht eine Kunst des Wirtschaftens sein. Denn sie wird unter sich verändernden Werten und Paradigmen unserer Wirtschaftsordnungen komplexere Wertegefüge berücksichtigen und komplexere Unternehmensphilosophien berücksichtigen müssen. Dies wird nicht nur eine gewisse Kunstfertigkeit im Prozess des Wirtschaftens erfordern, sondern unterschiedlich gewichtete und damit individuellere Unternehmungen zur Folge haben. Unternehmen werden ein jeweils eigenes Profil entwickeln und durch ihre Einzigartigkeit wirken und auf sich aufmerksam machen. Sie werden ihr Wesen, ihr Selbstverständnis und ihre Form des Austausches mit ihren Kunden auf ihre Weise zum Ausdruck bringen und eine entsprechende Resonanz erzeugen. In diesem schöpferischen Gestaltungsprozess wird unser wirtschaftliches Handeln eine zusätzliche kreative Komponente, vielleicht auch eine ästhetische und hoffentlich auch eine spielerische Komponente hinzu gewinnen. Und so werden wir vielleicht einmal unsere Unternehmungen selbst als „lebendige Kunstwerke“ betrachten können, als Ausdruck unserer Lebensfreude und als Dank für das Geschenk des Lebens selbst.

Literatur Ax Christine (2009): Die Könnensgesellschaft; Rhombos Covey Stephen R. (2006): Der 8. Weg: Von der Effektivität zur wahren Größe; Gabal Freire Andy (2006): Persönliche Wege von Unternehmensberatern, im: Wielens Hans: Führen mit Herz und Verstand, Kamphausen Galuska Joachim (2010): Psychotherapie und Medizin mit Geist und Seele, in Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1, 2010, S. 6 – 16 Gansch Christian (2006): Vom Solo zur Sinfonie – Was Unternehmen von Orchestern lernen können, Eichborn Gilmore Jim, Pine Joe (2007): Authenticity; Harvard Business School Press Kobjoll Klaus (2004): Tune: Neue Wege zur Kundengewinnung und –bindung; Orell Fuessli Radermacher Franz Josef (2002): Balance oder Zerstörung, Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung; Ökosoziales Forum Europa Riegler Josef, Moser Anton (1977): Ökosoziale Marktwirtschaft; Stocker Secretan Lance (2007): Ganz oder gar nicht. Die sechs Prinzipien bewusster Führung und die Kunst, Unternehmen vom Sand im Getriebe zu befreien, Kamphausen Spiegel Peter (2006): Muhammad Yunus, Banker der Armen; Herder von Hauff Michael, Kleine Alexandro (2009): Nachhaltige Entwicklung, Grundlagen und Umsetzung; Oldenbourg

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Ganzheitliche Psychotherapie Ein Patient wird als ganzer Mensch angenommen, mit seinen Stärken und Schwächen – aus den Heiligenfelder Essenzen

„Heiligenfeld ist für mich eine ganz große Möglichkeit, bei mir anzukommen, Zeit für mich zu haben, weil diese ganzen Alltagsbelastungen abfallen. Die vielfältigen Therapieangebote und auch die Erfahrung mit der Gruppentherapie haben es mir ermöglicht, ganz viele neue Erfahrungen zu sammeln, ganz viel über mich zu erfahren. Deshalb ist Heiligenfeld für mich eine ganz riesengroße Chance, um in meinem Leben anders weiterzugehen.“ Patientin der Parkklinik Heiligenfeld

Die Heiligenfeld Kliniken verwirklichen ein Konzept der Verbundenheit eines ganzheitlichen Menschenbildes mit Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Für uns ist jeder Mensch wichtig, jede einzelne Person mit ihren körperlichen und seelischen Leiden. Wir bemühen uns sowohl um die Heilung unserer Patienten als auch um das Wohl unserer Mitarbeiter. Fachkompetenz, soziale Verantwortung und ein herzlicher Umgang miteinander stehen im Gleichgewicht. Wir bieten unseren Patienten und unseren Mitarbeitern einen besonderen Ort - eine Atmosphäre, die geprägt ist von den humanistischen Grundprinzipien der Achtsamkeit, des Respekts und der Offenheit. Das therapeutische Handeln in den Heiligenfeld Kliniken bezieht alle Ebenen der Person mit ein: die erkrankte Seele, den Körper, die geistig-spirituelle Ebene, die sozialen Beziehungen und die berufliche Situation. Indem wir unsere Patienten als ganze Personen wahrnehmen, ihr Erleben und ihre individuelle Lebenssituation sehen, können wir ihre Bedürfnisse erkennen und ernst nehmen. Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins und unseres Handelns findet ausdrücklich Beachtung.

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Psychotherapie und Bewusstsein – Grundlagen des therapeutischen Handelns – Dr. Joachim Galuska, in: Bewusstsein – Grundlagen, Anwendungen und Entwick-

lung, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2014, S. 105-117 Psychotherapie verstehe ich als Veränderung des Bewusstseins eines Patienten oder einer Patientin durch das Bewusstsein von Therapeuten mit dem Ziel, zu lernen, das eigene Leben in Verbundenheit mit der mitmenschlichen Gemeinschaft so zu gestalten, wie es diesem Menschen entspricht. Konventionelle Psychotherapie reflektiert dabei nicht primär den Bewusstseinszustand des Therapeuten, sondern richtet sich vorwiegend auf die Patienten, ihr Erleben und Verhalten, unter theoriegeleiteten Gesichtspunkten. Der konventionelle Bewusstseinszustand, aus dem heraus therapeutisch gehandelt wird und der als Grundlage für die gemeinsame therapeutische Arbeit mit den Patienten dient, ist in der Regel das Ich-Bewusstsein. Ich-Identität Die Ich-Entwicklung ist, wie uns Ken Wilber (1996) gezeigt hat, ein Teil einer umfassenderen Bewusstseinsentwicklung, die er in Form einer Reihe von aufeinander folgenden Stufen oder Wellen der Struktur unseres Bewusstseins beschreibt. In ihnen unterscheiden sich jeweils das gesamte Selbstverständnis, unsere Beziehung zur Welt, die kognitiven Funktionen, die Gefühlswelt, das moralische Empfinden, das spirituelle Erleben usw. Das bei Erwachsenen vorherrschende Ich-Bewusstsein oder personale Bewusstsein entwickelt sich aus sogenannten präpersonalen Stufen, in denen magisches, mythisches und vorrationales Denken noch vorherrschen. Im Einklang mit der tiefenpsychologischen Entwicklungspsychologie und Identitätstheorie kann man sagen, dass das bei Erwachsenen vorherrschende Bewusstsein im Wesentlichen Ich-Bewusstsein ist. Es ist begründet und bewirkt durch den Identifizierungsprozess, der im Zentrum der so Ganzheitliche Psychotherapie

genannten Ich-Struktur oder Ich-Organisation steht. Die Identifizierung bewirkt letztlich die Ich-Identität, also ein stabiles zusammenhängendes Konzept von uns selbst. Als Ich erfahre ich mich, wenn ich mich ständig mit meinem Erleben identifiziere. Somit ist das Gefühl „ich“ zu sein eigentlich ein permanenter Prozess des Sich-Identifizierens mit Gedanken, Empfindungen, Impulsen, Gefühlen und Wahrnehmungen. Aus der Fülle unserer Erlebnisse, mit denen wir uns identifizieren und an die wir uns erinnern, entwickeln wir offenbar ein Konzept von uns selbst. Es besteht aus Vorstellungen und Gefühlen darüber, wer ich bin, wie ich mich anfühle, verhalte, mit anderen Menschen umgehe. Dieses Konzept ist somit eine mentale und psychische Konstruktion, eben ein Konzept, so etwas wie ein inneres Modell. Ständig muss ich es neu erschaffen, arbeite es weiter aus, vergewissere mich seiner. Aus unseren Erfahrungen abstrahieren wir beständig, bilden Konzepte über uns selbst, die anderen Menschen und die Welt. Erst durch den Identifizierungsprozess – das bin ich, das ist ein anderer, das ist ein Gegenstand – entsteht unser alltägliches Selbstverständnis und Weltverständnis. Meine Innen- und meine Außenwelt bestehen dann in der Folge aus konzeptualisierten Objekten. Es geht nicht so sehr um mein Denken oder Fühlen, sondern um meine Gedanken und meine Gefühle. Andere Menschen sind Objekte meiner Begierden und Interessen. Eine sogenannte „Objekt-Beziehungs-Theorie“ von Kernberg beschreibt die verschiedenen Identifizierungsprozesse hin zur Ich-Identität. „Die Ich-Identität ist die umfassende Strukturierung von Identifizierungen und Introjektionen unter dem steuernden Prinzip der synthetischen Funktion des Ich“,


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schreibt Kernberg (1981). Anschaulicher sagt es vielleicht Karl Popper: „Das Ich ist nicht nur ein ‚reines Ich‘, d. h. ein loses Subjekt, es ist vielmehr unglaublich reich. Wie ein Steuermann beobachtet und handelt es gleichzeitig. Es ist tätig und erleidend, erinnert sich der Vergangenheit und plant und programmiert die Zukunft; es ist in Erwartung und disponiert. Es enthält in rascher Abfolge oder mit einem Mal Wünsche, Pläne, Hoffnungen, Handlungsentscheidungen und ein lebhaftes Bewusstsein davon, ein handelndes Ich zu sein, ein Zentrum der Aktion. Und es verdankt diese Ichheit weitgehend der Wechselwirkung mit anderen Personen, mit dem Ich anderer, und der Welt 3“, der Kultur (Popper zitiert in Hinterhuber, 2001, S. 149). Das reife Ich steht also im Zentrum unserer Wahrnehmung und Handlung. „Ich denke, also bin ich“, ist nach Descartes der Ausgangspunkt aller Philosophie. „Ich denke“, identifiziere mich also mit meinem eigenen Denken, das ich als meines betrachte. „Also bin ich“, diese Identifizierung mit meinem Denken erschafft meine Existenz, gibt mir erst Substanz. Ich bin also die Folge meiner Gedanken und meines Denkens. Und dies ist nicht statisch zu verstehen, als etwas Gegebenes, sondern als ein Prozess, der sich beständig wiederholt und mein Selbstverständnis und mein Weltverständnis validieren muss, wie die Ich-Psychologen und Objekt-BeziehungsTheoretiker uns gezeigt haben. Mein Leben lang muss ich also erkannt werden, anerkannt werden, gesehen und bestätigt werden, als der, für den ich mich halte, und muss mich meiner selbst und meiner Vorstellungen über meine Mitmenschen vergewissern. Im Grunde besitzt die ausgereifte Ich-Struktur zwei Aspekte: die Entfaltung der Individualität und der Bezogenheit. Individualität bedeutet Selbstverwirklichung, Autonomie, Authentizität, Fähigkeit zu schöpferischem und kreativem Handeln. Die humanistische Psychologie betont auch die Entwicklung von Lebensfreude und Lebensgenuss, innerer Schönheit und innerem Reichtum. Sie fordert eine Aufgabe der Opferperspektive, eine Rücknahme der Projektion der Verantwortung für die eigene Entwicklung auf

die äußeren Bedingungen oder die eigene Biographie und eine Entwicklung hin zur Übernahme vollständiger Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung, für die eigenen Antworten auf die Bedingungen, in denen wir leben. Bezogenheit meint die Fähigkeit zum Du, zur Begegnung, zum Dialog, damit also zur Wahrnehmung des anderen Menschen als ebenso ein Ich, wie ich es bin, damit also als ein Subjekt dieser Inter-Subjektivität. Dies ist die Voraussetzung zur Partizipation am Wir, an der Gemeinschaft, zur Übernahme von Mitverantwortung und damit zur Bildung von reifen Paarbeziehungen und reifen Familienstrukturen. Damit wird das eigene Leben auch anerkannt in seiner Bezogenheit auf den historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext und gelebt in engagierter Verantwortung, Solidarität und Sorge für die Mitmenschen und die Natur (Petzold 1993). Selbstgestaltung und Weltgestaltung sind wesentliche Herausforderungen der Ich-Struktur. Konventionelle und beseelte Psychotherapie Konventionelle Psychotherapie basiert in der Regel auf der Ich-Struktur und dem Ich-Bewusstsein eines Therapeuten und den damit verbundenen Identifizierungen mit dem Menschenbild und den Konzeptionen seiner psychotherapeutischen Ausbildung. So hilfreich die entsprechende Einflussnahme auf die Patienten auch sein mag, ein solches Handeln ist letztendlich konzeptionell gefangen. Wir behandeln auf diese Weise nicht die Krankheiten oder Störungen unserer Patienten, sondern nur unsere Vorstellungen davon, unsere Konzepte. In unserer Diagnostik filtern wir gemäß unseres Störungskonzeptes die entsprechenden Aspekte heraus, erklären dies unseren Patienten und intervenieren dann gemäß unserer Theorie. So bringen wir den Patienten unser Störungsverständnis bei. Die Patienten ersetzen also ihr offenbar untaugliches Modell von sich selbst durch das Modell des Therapeuten. Da unsere schulenspezifischen Modelle wahrscheinlich besser sind als die unserer Patienten, funktioniert dies auch ein wenig. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass nach Therapiestudien nur 15 bis 30 Ganzheitliche Psychotherapie


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Prozent der Wirksamkeit auf die Methode zurückzuführen sind, der Rest auf die therapeutische Beziehung und andere Faktoren. So übertragen wir aber auf die Patienten ein ideologisch geprägtes einseitiges reduziertes Menschenbild. Wir betrachten sie nicht als lebendige Menschen, als Wunder der Schöpfung, als verirrte Seele, denen wir beistehen können, zu heilen und zu ihrem Leben zu finden. Das Problem ist noch nicht einmal die Perspektive, der Blickwinkel, sondern die Ideologisierung. Wir sind gefangen in unseren Perspektiven und werden aggressiv, wenn uns einer darauf hinweist. Dies liegt wohl daran, dass sie uns Halt gibt, Identität, eine Rolle, einen Beruf, gesellschaftliche und persönliche Anerkennung. Wir müssen sogar aufpassen, dass wir nicht zu Fundamentalisten der Psychotherapie werden. Therapie ist für mich ein Weg der Veränderung, der Überwindung oder Bewältigung von Krankheiten, der Heilung, des Leben Lernens. Psychotherapie ist, wenn wir sie als Wissenschaft betrachten, eine Veränderungswissenschaft. Es geht nicht um richtige oder falsche Modelle über die Wirklichkeit, sondern um Veränderungen, um Prozesse und Methoden, die dabei hilfreich sind. Und was hilfreich ist, wird erfahren, gespürt und nicht erdacht. Eine hilfreiche Methode wirkt. Die Wirkung wird gespürt. Der Weg aus der Ideologie heraus ist also ein Weg aus dem Denken heraus zum Spüren. Das Wesentliche wird nicht gedacht oder theoretisch entwickelt, sondern als wesentlich gespürt, gefühlt und erst dann beschrieben. Um von der Ideologie ins Spüren zu kommen, ist es zunächst notwendig, die eigene Perspektive, den eigenen Blickwinkel zu relativieren. Dazu ist eine mehrperspektivische Betrachtungsweise hilfreich. Wenn ich oft genug die Perspektiven wechsle und andere Blickwinkel, andere wissenschaftliche oder weltanschauliche Betrachtungsweisen einnehme, dann entsteht in mir eine Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Diese Fähigkeit ist nicht mehr in einer Perspektive gefangen. Sie ist davon unabhängig, wird also im Sinne von Jean Gebser (1986) aperspektivisch. Eine solche aperspektivische Haltung ist frei und offen für alle möglichen Informationen, offen für unterGanzheitliche Psychotherapie

schiedliche Blickwinkel, nicht identifiziert oder zumindest fähig, Identifizierung loszulassen, Modelle als Modelle zu sehen und vielleicht auch offen zu sein für etwas völlig Neues. Eine solche Verankerung ermöglicht, nach dem Wesen der Dinge zu fragen, nach dem Wesen der Psychotherapie, nach dem Wesen des Menschseins. Albert Schweitzer schreibt dazu (1999, S. 406): „Zum Wesen des Denkens gehört, dass es nicht Halt mache, bis es die Fragen des Daseins bis dahin verfolgt hat, wo jede Frage mit den anderen zu der einen großen Frage nach dem Verhältnis meines endlichen Daseins zum unendlichen Dasein zusammenfließt und in ihr aufgeht. Das Denken ist eine Welle, die nicht zur Ruhe kommt, bis sie am Gestade des Unendlichen anschlägt. Keine der Fragen, die das Dasein an mich stellt, ist etwas für sich. Alle sind nur Gestalten, die die große Frage des Verhältnisses meines Seins zum unendlichen Sein annimmt. Nur in ihr offenbaren sie sich dem Wesen nach; nur in ihr sind sie lösbar, sofern sie es überhaupt sind.“ Das Wesentliche erschließt sich uns also nicht durch Nachdenken, sondern durch eine Offenheit für das Unendliche, wie Schweitzer es nennt, man könnte auch sagen für den Grund unseres Erlebens, den wir nicht denken, aber spüren können. Karl Rahner hat ja bekanntlich einmal gesagt: „Der Fromme von morgen wird ein „Mystiker“ sein, einer der etwas „erfahren“ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Es geht ihm also auch um die Erfahrung jenseits des Glaubens. Vielleicht wird analog dazu der Psychotherapeut von morgen auch ein Mystiker sein, einer der mehr spürt, als seinen Konzepten und seiner Weltanschauung zu folgen. Und dann könnte es analog zu dem heute notwendigen Dialog der Religionen einen echten Dialog der Psychotherapien geben, einen Dialog in Respekt, der die Schönheit und Kompetenz der eigenen Religion oder Schule, aber auch die der anderen würdigt. Seine Basis wäre der konzeptionsfreie Grund unseres Bewusstseins, aus dem heraus sich eine integrierte Psychotherapie entwickeln könnte. Der wesentliche Schritt liegt also in der Entfaltung unseres Bewusstseins als Therapeuten.


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Funtamentalismus

Unterwerfung der anderen Ideologien

„Politik“ der PsychotherapieVerbände

Konzeptionelles Gefangensein

Psychotherapeutische Schulen

Perspektive

Eigener Blickwinkel

Psychotherapeutische Kompetenze

Mehrperspektive

Perspektivenwechsel

Integrierte Psychotherapie

Wesen, Seele

„Beseelte“ Psychotherapie

Unbekannten Leben

Psychotherapie als angewande Bewusstseinswissenschaft?

Ç

Ideologie

È È È È

Aperspektivität

Offenheit

Von der Ideologie zur Offenheit

Um dies zu verwirklichen, ist es zunächst einmal hilfreich, den eigenen Bewusstseinszustand zu erkennen und ihn dann zu öffnen und zu vertiefen hin zur Erfahrung unserer Seele (siehe vorhergehenden Artikel in diesem Buch). Es gibt verschiedene Zugänge zur Verankerung in unserer Seele, zur Bewusstwerdung unserer Seele. Der direkteste ist wohl der des bewussten Anwesendseins, der Vergegenwärtigung unseres Daseins. Ein weiterer Zugang besteht darin, unsere Aufmerksamkeit von den Inhalten des Erlebens abzuwenden und zu unserem inneren Gewahrsein hinzulenken, also vom Beobachtungsinhalt zum Beobachter, der dann vertieft wird zum sogenannten Zeugen-Bewusstsein. Eine kontinuierliche fließende Achtsamkeit, das Kontinuum unserer Awareness, kann ebenfalls dieses Bewusstsein herstellen. Jede Meditationsmethode ist im Grunde darauf ausgerichtet, Bewusstseinsqualitäten zu bewirken, wie Stille, Leere, Weite, Unendlichkeit, Klarheit, Losgelöstsein, Verbundensein usw., die wir als Kern-eigenschaften unserer Seele beschreiben können. Man könnte sich auch unmittelbar auf eine solche reine Bewusstseinsqualität konzentrieren, sich in diese vertiefen oder von ihr ergreifen lassen. Interessant ist, dass jede dieser Qualitäten relativ leicht die Erfahrung anderer solcher Qualitäten eröffnet. Wir können

uns also innerhalb dieser verschiedenen Seelenqualitäten bewegen. Da das „Herz“ ja nicht ohne Grund auch eine wesentliche Metapher für unsere Seele ist, führt die Öffnung unseres Herzens für uns selbst, für andere Menschen und die Welt im Grunde auch zu einer Berührung und Öffnung unserer Seele. Wie wirkt sich nun eine solche Seelenverankerung aus in der Form einer „beseelten Psychotherapie“? Wenn ein Verhaltenstherapeut, ein Psychoanalytiker, ein Systemiker oder ein humanistischer Psychotherapeut mit seinem gesamten Wissen und seiner gesamten methodischen Kompetenz her beseelt handelt, begegnet er dem Menschen anders, als wenn er ihn nur als ein psychodynamisches Wesen sieht, das von Triebkräften gesteuert wird, die miteinander in Konflikt stehen, oder wenn er ihn als Patienten sieht, der mit seinen Kognitionen bessere Wege gehen muss oder als ein Klientensystem, das in familiensystemischen Zusammenhängen gefangen ist und dafür neue Lösungen finden muss. Beseelte Psychotherapie ist in diesem Sinne eigentlich keine Technik und keine Methode, sondern sie nutzt Techniken und Methoden und wendet diese beseelt an, handelt beseelt. Mehrperspektivische Diagnostik Die Verankerung in unserer Seele führt dazu, dass der Therapeut die IdentifizieGanzheitliche Psychotherapie


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rung mit seinen Theorien und Modellen immer wieder lösen kann und damit eine vielschichtige mehrperspektivische Diagnostik betreiben kann, dass er seinen Vorlieben, seinen methodischen und schulenspezifischen Prägungen nicht so ausgeliefert ist und auf diese Weise dem Patienten gerechter werden kann. Und aus dieser Sicht wäre keine der Perspektiven, in denen heute die Psychiatrie oder die Psychotherapie denkt, falsch oder schlecht, sondern sie wären eben immer nur Perspektiven. Ken Wilber (1996) erläutert, dass wir jedes Phänomen, also auch einen Menschen unter vier Aspekten betrachten können, nämlich sein Inneres und Subjektives, sein Äußeres und Objektives, seinen individuellen autonomen Aspekt und seinen sozialen bezogenen Aspekt. Daraus ergeben sich vier Quadranten oder vier Perspektiven, die die unterschiedlichen Schulen und Richtungen jeweils in ihren Vordergrund stellen: Die individuelle subjektive Welt, das subjektive Erleben, das wir zu verstehen versuchen. Es ist das Feld der tiefenpsychologischen und humanistischen psychotherapeutischen Perspektive. Seine subjektiv soziale Seite, wie er seine Beziehungen erlebt zu seinen Nächsten, zum Therapeuten, aber auch am Arbeitsplatz und innerhalb seiner Kultur. Dies

wäre die be-ziehungsmäßige und sozialkulturelle Perspektive, etwa der Gruppentherapie und der Paar- und Familientherapie. Das individuell objektive beobachtbare Verhalten des Klienten, auch das Somatische. Es betrifft all das, was sich messen lässt und objektivieren lässt. Es ist die behavioristische und medizinisch-naturwissenschaftliche Perspektive. Sein objektives Sozialverhalten und seine Einbettung im Sozialsystem, wie beispielsweise Arbeitsfähigkeit, Krankheits- und Behandlungskosten, aber auch objektivierbares kommunikatives Verhalten. Das ist die systemisch-soziale Perspektive der Sozialarbeit und der Sozialpsychiatrie. Während also die diversen „Schulen“ ihren Schwerpunkt in einem dieser Quadranten besitzen oder gar auf ihn fixiert und beschränkt bleiben, ist eine mehrperspektivische Diagnostik in der Lage, alle wesentlichen Perspektiven einzunehmen und im Einzelfall zu gewichten. Sie würdigt also das subjektive Erleben, in das wir uns einfühlen und das wir zu verstehen versuchen, ebenso wie das beobachtbare Verhalten, das zu objektivierbaren Befunden führt, wie seine Art der Beziehungsgestaltung und sein Sozialverhalten (Abb. Integrale Diagnositik).

INDIVIDUELL

Beobachtbares Verhalten

Biografisches Verständnis Psychodynamik Entwicklungslinien Innere Konflikte

Verhaltensmuster Psychopathologischer Befund ICD 10-Diagnostik Organmedizinische Befunde

Sozialverhalten

Beziehungsgestaltung

AUSSEN

INNEN

Subjektives Erleben

Wohnsituation Finanzielle Bedingungen Familiensystem Ausbildung und Arbeit

Beziehungsniveau Beziehungsmuster Beziehungsebenen

SOZIAL

Integrale Diagnostik Ganzheitliche Psychotherapie


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Selbst-Entwicklung

(Objekt)-Beziehungen

Abwehrfunktionen

kognitive Entwicklung Affekte (u. a. Angstniveau) moralische Entwicklung religiös-spirituelle Entwicklung Weitere Linien, z. B. Ästhetik, Bedürfnisse

Säugling

Kind Erwachsener Transzendenz präpersonal personal transpersonal

Entwicklungslinien

Integrale Diagnostik Das individuelle subjektive Erleben bezieht sich darauf, wie der Patient sich selbst erlebt, sein Leben und seine Probleme versteht, seine Ressourcen und Kompetenzen kennt. Hieraus kann ein biographisches Verständnis entwickelt werden. Eine Erarbeitung der typischen inneren Konflikte ergibt die tiefenpsychologisch bekannte Psychodynamik. Die Diagnostik der individuellen subjektiven Welt kann sich auf alle Entwicklungslinien beziehen. Das Konzept der Entwicklungslinien geht zurück auf Blanck und Blanck (1982) und wurde von Ken Wilber (2001) um einige weitere Entwicklungslinien ergänzt. Neben der Entwicklung des Konzeptes von uns selbst und der Art der Beziehung zu anderen Menschen können insbesondere die Entwicklung der Abwehrfunktionen, die kognitive, die affektive, die moralische Entwicklung und die religiös-spirituelle Entwicklung analysiert und beschrieben werden. Auf jeder dieser Linien machen wir Menschen eine typische Entwicklung durch, die häufig in Stufen oder Phasen erfolgt. Ken Wilber ergänzt die präpersonalen Phasen oder Stufen der Kindheitsentwicklung um die personalen der reifenden Erwachsenenentwicklung und die darüber hinausgehenden transpersonalen Ebenen und Möglichkeiten (Abb. Entwicklungslinien).

In einer differenzierten Analyse könnte der Entwicklungsstand eines Patienten für jede dieser Entwicklungslinien beschrieben werden. Die Diagnostik der subjektiv sozialen Seite, also der Beziehungsgestaltung, meint zunächst einmal die Diagnostik des Beziehungsniveaus, das abhängig ist von der entsprechenden Entwicklungslinie der inneren Beziehungsfähigkeit des Patienten. Gestaltet er seine Beziehungen sehr kindlich, jugendlich oder reif? Dies ergibt sich auch aus der Analyse der Beziehungsmuster, seiner typischen Beziehungsgestaltungen. Es ist die Art und Weise, wie er sich selbst und andere in seinen Beziehungen erlebt und wie er von diesen erlebt wird. Die Analyse der Beziehungsebenen meint die Ebenen der therapeutischen Beziehung, die weiter unten beschrieben werden. Die Diagnostik des individuell beobachtbaren Verhaltens führt aus der Zusammenschau der organmedizinischen Untersuchungsbefunde, der Verhaltensmuster des Patienten und der psychopathologisch relevanten Befunde und Symptome zur Diagnose gemäß der ICD 10 bzw. der DSM 4. Diese diagnostischen Systeme beschreiben ja keine Krankheitseinheiten im engeren Sinne mehr, sondern zunehmend typische Ganzheitliche Psychotherapie


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Cluster oder Syndrome operationalisierter Symptomkonstellationen. Das Sozialverhalten des Patienten bezieht sich auf seine Wohnsituation, seine finanziellen Bedingungen, seine Ausbildung, seine Arbeitssituation und seinen Familienstatus. Hier ist auch seine Stellung im Gesundheits- und Sozialsystem zu erläutern. Eine mehrperspektivische Diagnostik ist somit grundsätzlich offen für eine ganzheitliche Betrachtung. Innerhalb der vier Quadranten könnten sowohl gestörte als auch ungestörte Phänomene beschrieben werden. Neben der üblichen krankheitsorientierten Perspektive könnte also auch eine Gesundheitsperspektive mit Beschreibung der personalen, sozialen und spirituellen Ressourcen und Kompetenzen eingenommen werden. Therapeutische Haltung Das Wesentliche einer über die mehrperspektivische Betrachtung hinausgehenden beseelten Psychotherapie ist die therapeutische Grundhaltung. Sie ist zunächst einmal verankert in der Seele des Therapeuten und offen für das ganze Sein seiner Patienten. Da ein beseelter Psychotherapeut in der Lage ist, seine Gefühle zu betrachten und auch die, die in ihm durch den Patienten ausgelöst werden, befindet er sich in einer inneren Position jenseits von Übertragung und Gegenübertragung, so dass ihm eine solche Verankerung ermöglicht, auch mit schwierigen Patienten umzugehen, ohne sich mit ihnen zu verwickeln oder sie sich vom Leibe halten zu müssen. Der innere Seelenraum erst lässt die Übertragungsprozesse, also wen oder was dieser Patient in mir sieht, und meine Reaktionen darauf, also die Gegenübertragung, betrachten. Und dies ermöglicht, auch mit heftigen Prozessen wie bei BorderlinePatienten umzugehen. Diese Funktion, sich in der Offenheit und Präsenz der eigenen Seele zu verankern und in dieser Verankerung im Kontakt mit unseren Klienten zu fließen, ist unsere Intuition. Intuition ist meines Erachtens die Kernkompetenz eines Psychotherapeuten, aber auch die Kernkompetenz einer Ganzheitliche Psychotherapie

Führungskraft und letztlich die Kernkompetenz eines reifen Menschen, der sein eigenes Leben in der Offenheit für die Welt und das, was sie transzendiert, eben führt und gestaltet. Intuition basiert auf dem offenen Spüren meiner Wirklichkeit und der Wirklichkeit meines Gegenübers. Damit ist nicht das Wahrnehmen von Bauchgefühlen gemeint, sondern das Spüren der inneren Wirklichkeit. Unser übliches alltägliches Ich-Bewusstsein hat Gefühle und Gedanken, denen sich ein anderer beobachtender Teil gegenüberstellen kann. In der Tiefe unserer Seele und unseres Geistes aber spüren und erleben wir, wie sich die eigene innere Welt und die unserer Patienten jeweils anfühlt. Intuitives Fühlen schöpft aus der Fülle dessen, was uns bewusst ist, aber auch aus dem, was uns noch unbewusst und unbekannt ist. Intuitives Gespür nutzt unseren Verstand und unsere Modelle und entscheidet, welche brauchbar sind und welche nicht, oder ob wir vielleicht sogar ein neues Modell entwickeln müssen. Intuitiv entscheiden wir als Therapeuten, welches Fachwissen, welche eigenen Erfahrungen, welche persönlichen Reaktionen oder Antworten aus den Tiefen unserer Seele wir angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Situation und der Wirklichkeit unserer Patienten ausdrücken. Jede dieser Antworten kann ein neuer kreativer Moment sein, der diesen Menschen berühren, trösten, heilen und weiterbringen kann. Intuition bedeutet innehalten, spüren, die inneren und äußeren Eindrücke verarbeiten, wirken lassen, entscheiden, antworten und wieder innehalten, spüren, wirken lassen, antworten. Intuition ist ein offener wacher Fluss unserer Lebensbewegung. Wir haben sie nicht unter Kontrolle, sondern es ist eher umgekehrt: Sie leitet uns, sie führt uns. Ohne es zu merken leben wir intuitiv unser Leben und handeln letztlich auch intuitiv als Therapeuten. Durch unsere konzeptualisierende Verengung und unsere ideologischen Verhaftungen begrenzen wir ihr Potenzial. Die Wirklichkeit von uns Menschen und damit auch unserer Fachgebiete ist aber wesentlich komplexer, tiefer, weiter, mysteriöser, und darum braucht es eine Befreiung unser Intuition, eine Erweiterung, die unserer Zeit und unserer Würde als Menschen angemes-


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sen ist. Eine beseelte und intuitive und in diesem Sinne intelligente Medizin und Psychotherapie wäre wieder eine Heilkunst, die unserer Technologisierung und Evidenzbasierung einen ihr angemessenen Ort zuweist. Beseelter Therapieprozess Das Wesen einer beseelten Psychotherapie besteht darin, dass die Problematik, die Störung, die Krankheit des Patienten in der Seele von uns Menschen aufgehoben wird. Dies bedeutet zunächst, in unserer Seele offen zu sein für das ganze Sein unserer Patienten, für ihren Schmerz, ihr Leid, ihr Schicksal, aber auch für ihre Hoffnungen, ihre Stärke, ihre Größe und ihr Potenzial. Dieses Offensein bedeutet, sich in unserem Inneren von unseren Patienten berühren zu lassen, sie auszuhalten, sie zu ertragen, sie in uns zu tragen, sie in uns wirken zu lassen und dann aus der Tiefe unserer Seele, unserer Stille, unserer Weite, unserer Herzensverbindung, unserer Unberührtheit, unserer Ehrfurcht oder unserer Erschütterung heraus Antworten entstehen zu lassen. Dies sind dann Antworten unserer Seele, die die Seele unserer Patienten ansprechen, ihren eigenen Seelengrund wecken. Die Ausstrahlung der Seele des Therapeuten kann die Seele des Patienten wecken, zum Strahlen und Leuchten bringen und damit ein Gefäß schaffen, einen Kontext für seine Störung, für seine Erkrankung, für sein Schicksal. Die Seelenverbindung innerhalb einer beseelten Psychotherapie kann Heilungs- und Selbstheilungsprozesse in Gang setzen, die aus einer größeren

Tiefe und Weite stammen als die unserer Einsichten und Techniken. Wahrscheinlich ist es die Berührung der Ganzheit, Tiefe und Weite unserer Seele mit unseren Verletzungen und Störungen, was das Heilsame ausmacht. Wenn das seelische Überpersönliche und Unendliche also das gestörte Persönliche berührt, kann Heilung geschehen. Eine beseelte Psychotherapie hält diesen Kontext für essenziell und nutzt Methoden und Fachwissen nur in diesem Sinne. Psychotherapie als angewandte Bewusstseinswissenschaft Vertieft sich das Bewusstsein des Therapeuten weiter von der Seele hin zum nondualen Geist (siehe vorhergehender Artikel in diesem Buch), so verwirklicht es das Unbekannte in der therapeutischen Arbeit. Eine so verankerte Psychotherapie ist eigentlich eine angewandte Bewusstseinswissenschaft. Sie stellt sich in den Dienst der Entfaltung des menschlichen Bewusstseins. Ihre Aufgabe besteht im engeren Sinne darin, die Integrität des Bewusstseins wieder herzustellen, wenn Hindernisse, Schwierigkeiten, Blockierungen, Dissoziationen und Desintegrationen auftreten. Eine solche Psychotherapie will nicht nur den Einzelnen heilen, sondern fördert auch grundsätzlich die Entfaltung des menschlichen Bewusstseins, indem sie auf Fehlentwicklungen, Verwirrungen und Zerrüttungen des kollektiven Bewusstseins von uns Menschen hinweist. Wir benötigen gegenwärtig eine Psychotherapie, die den Mut hat und bereit ist, uns unserer eigenen Natur zunächst einmal im Nichtwissen, ohne jedes Konzept

Reaktion als Abwehr: Gegenübertragung, „Pathologisierung“, technisches Handeln, Konzepte, Überengagement – Angst

aushalten innehalten

ertragen

in sich tragen

in sich wirken gemeinsamen Raum lassen erfahren

offen und verbunden sein: progressive Impulse, heilende Kraft, Liebe, kreative Idee – keine Antwort

Beseelter Therapieprozess Ganzheitliche Psychotherapie


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entgegenzustellen und in der Bereitschaft, vor der Unergründlichkeit, Tiefe und Unerfassbarkeit unseres Seins zu leben und eben auch als Therapeuten zu handeln. Nur wenn wir das Leiden unserer Patienten auch in seiner Ursprünglichkeit, Unergründlichkeit und Unerklärlichkeit ertragen können, können wir ihnen erst die Möglichkeit geben, ihr Leben so anzunehmen, wie es wirklich ist, statt sich mit Illusionen und pädagogischen Konzepten darüber zu beschäftigen, wie wir es uns als Therapeuten vorstellen. Die Theorien, die wir über unsere Patienten haben, bilden doch nur die Oberfläche ihrer schicksalhaften Betroffenheit ab. Ihr wirkliches Leben ist etwas viel Unergründlicheres, Tieferes und Fundamentaleres, als wir es uns vorstellen, aber etwas, das wir ständig spüren, dessen Präsenz uns ständig fühlbar ist, dessen Ursprünglichkeit uns ständig andrängt. Auf diesen Grund jenseits aller unserer Konzepte und schulischer Theorien könnten wir uns beziehen. Dieser Grund könnte uns einen, denn wer diesen Grund erfahren hat, spürt, dass es der gemeinsame Grund ist. Er wäre ein Grund für eine erneuerte Psychotherapie, die völlig offen für das Leiden und das Schicksal dieser Menschen ist, die zu uns als Patienten kommen. Dieser Grund ermöglicht uns, ihnen unmittelbar entgegenzutreten und unvoreingenommen diesem Mysterium eines anderen Lebewesens zu begegnen, aus dem auch das Unbekannte spricht. Es geht also darum, eine Offenheit für diese völlig andere, vielleicht zerrüttete Erlebens- und Bewusstseinswelt eines anderen Menschen herzustellen und diese zu realisieren, ohne sie abwehren zu müssen. Ein im Unbekannten verankertes nonduales Bewusstsein trägt in sich selbst eine innere Freiheit. Es ist frei zu antworten oder auch nicht, etwas in voller Bewusstheit stehen zu lassen oder es einfach verklingen zu lassen. Dies ist eine innerlich souveräne Position zu entscheiden, in welche Perspektive, welches Thema, welches Problem, welche Figur eingetaucht werden möchte, welche wir durchleben wollen und welche nicht. Der nonduale Geist kann sich nicht wirklich verwickeln, da er die Muster erkennt als die, die sie sind. Er Ganzheitliche Psychotherapie

besitzt daher eine innere Freiheit innerhalb der Verwicklung, spürt sie, schmeckt sie, ohne an sie gebunden zu sein. Hier entsteht ein gemeinsames Gefühl, eine Wahl zu besitzen, herauszutreten aus den prägenden Mustern, oder sie in einer anderen Richtung weiterzuleben. Vielleicht kann der Patient sich selbst erkennen im Spiegel dieser Bewusstheit als der, der er ist, wie er sich selbst versteht, was ihm selbst wesentlich ist und an welcher Stelle seines Schicksals er eben gerade steht. Wenn in dieser Vergegenwärtigung keine Lösung für die Schicksalsproblematik oder die Zerrüttung der Bewusstseinsstruktur gefunden wird, sucht der nonduale Geist nicht weiter im Fachwissen, der Lebenserfahrung oder dem Raum der Seele, sondern wendet sich dem Unbekannten zu, ist bereit, etwas völlig Neues zu betrachten. Ein so verankertes Bewusstsein kann gemeinsam warten und nicht wissen, ob eine Lösung entsteht. Und wir können es auch annehmen, wenn keine Lösung entsteht, denn dies ist manchmal Schicksal. „Aus dem Ewigen gibt es keinen Ausweg“, sagt Rilke. Im Unbekannten ist alles geborgen, hier löst sich alles auf. Auch die Psychose, auch das absolute Grauen hat hier seinen Platz und ist aufgehoben. Hier kann das Leiden über das Persönliche hinweg erkannt werden als Dukkha, wie der Buddhismus sagt, als Leiden eines einzelnen Menschen, das nicht nur seine persönliche Biographie ist, sondern erfahrenes Leid, das eben Menschen besitzen. Dann ist es nicht länger mein Schmerz, meine Angst, meine Verletztheit, sondern der Schmerz und die Angst, Verletztheit, Zerrissenheit, Krankheit als menschliches Schicksal. Dann kann auch eine tiefere Art von Mitgefühl sowohl bei uns als Psychotherapeuten als auch bei unseren Patienten entstehen, sich selbst und anderen Menschen gegenüberzutreten und unsere Geschichte und unser Leiden als menschliches Leiden zu respektieren, als menschliche Verletzung, als menschliches Schicksal. Das kann dazu beitragen, dass wir uns selbst überhaupt einmal fundamental annehmen und aushalten können, und dies ist angesichts des wahrscheinlich kollektiven Traumatisiertseins von uns Menschen die einzige Haltung, aus der eine Heilung unseres kollektiven menschlichen Schicksals möglich ist.


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Nahezu jeder von uns trägt in sich selbst Gefühle des Überfordertseins, Überflutetseins, des Verlorenseins im Schmerz, in der Angst, in der Verzweiflung irgendeiner Traumatisierung, um die herum wir allerlei Schutzmechanismen, Abwehrformen und Muster konstruiert haben. Doch diese beherrschen häufig unser Leben, verhindern, dass wir offen aufeinander zugehen können und uns wirklich aufeinander einlassen können. Eine Heilung dieser Traumatisierungen ist nur möglich, wenn das Grauen und der Schmerz, die in diesem inneren Abgrund liegen, erkannt werden und wenn wir realisieren, wie diese Wunde uns prägt und wie wir dies annehmen können als menschliches Schicksal, als Teil des existenziellen Geschehens, dem wir eben ausgeliefert sind. Dieser Realität ins Auge zu schauen, scheint mir nur aus einer so verankerten spirituellen Haltung möglich zu sein, die an kein Muster mehr gebunden ist, sondern im Unbekannten verankert ist, das größer ist als unser Leben und Sterben und eben Teil einer Intelligenz, die wir nicht vollständig begreifen können, die uns aber einen Platz gibt im großen Gefüge der Evolution.

formen schwerer Erkrankungen suchen, aber wir brauchen es nicht als Niederlage zu erleben, wenn wir keine Wege finden. Sondern wir können realisieren, dass dies auch zur Evolution gehört, und es annehmen als Teil des menschlichen Schicksals. Literaturverzeichnis Blanck G, Blanck R (1982) Angewandte Ich-Psychologie. Klett Cotta Verlag Stuttgart Gebser J (1986) Ursprung und Gegenwart. Novalis Verlag Schaffhausen Hinterhuber H (2001) Die Seele. SpringerVerlag Wien Kernberg O F (1981) Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse. Klett Cotta Verlag Stuttgart Petzold H (1993) Integrative Therapie. Junfermann Verlag Paderborn Schweitzer A (1999) Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, Beck, München Wilber K (1996) Eros Kosmos Logos. Krüger Verlag Frankfurt Wilber K (2001) Integrale Psychologie. Arbor Verlag Freiamt

Ein nondualer Geist in der Psychotherapie ist noch nicht einmal daran gebunden, heilen zu müssen, sondern kann auch Krankes krank sein lassen. Unsere Seele möchte natürlich heilen und das Leben schöner machen, da es ihren inneren Werten entspricht. Manchmal jedoch steht das Heilenwollen dem Heilen im Weg, manchmal ist Nichtberühren besser als Berühren, Lassen besser als Tun, Schweigen besser als Sprechen. Dies zu unterscheiden ist eine Stärke des nondualen Geistes. Manche Künstler, wie Rilke, wären gar nicht so groß und so produktiv geworden, wenn man versucht hätte, sie zu heilen. Vielleicht haben ihre Gestörtheiten und Krankheiten ihr künstlerisches Schaffen angetrieben. Nicht immer ist die Therapie der richtige Weg. Der nonduale Geist kann auch akzeptieren, wenn ein Künstler sagt, dass er nicht gesund werden möchte, weil seine Krankheit ihm Kraft und Inspiration für seine Arbeit gibt. So kann das nonduale Bewusstsein auch in Frieden leben mit der Unheilbarkeit. Selbstverständlich werden wir weiter nach BehandlungsGanzheitliche Psychotherapie


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Therapiekonzept „Je länger ein Mensch in den Heiligenfeld Kliniken ist, desto mehr darf er sich entwickeln“ Patientin der Fachklinik Heiligenfeld

Als gesunde und heilende Menschen gestalten wir zunehmend bewusst unser eigenes Leben in der mitmenschlichen Gemeinschaft – auf dieser Überzeugung basiert das Behandlungskonzept der Heiligenfeld Kliniken. Die Kernprinzipien des Heiligenfelder Konzeptes sind damit: Leben, Lebensführung, Beziehungsgestaltung, Bewusstseinsentwicklung, Gesundheit und Heilung. Im Zentrum steht das menschliche Leben, das sich in den verschiedenen anderen Perspektiven ausdrückt. Heiligenfeld selbst als Ganzes ist ein Ausdruck des Lebens. Zu seinen wesentlichen Werten gehören Lebendigkeit, Liebe zum Leben, Lebensfreude, Entfaltung des Lebens, schöpferische Kreativität. Heiligenfeld ist ein Ort des Lebens, Arbeitens und Heilens. Das therapeutische Konzept betont die Lebensorientierung und Lebensbejahung. Es fördert die Fähigkeit, das Leben anzunehmen, zu spüren wie es gerade ist, inmitten des eigenen Lebens aufzuwachen, sich an die Stelle zu stellen, an der man steht, und zu lernen, sich inmitten des eigenen Lebens zu bewegen und das Leben bewusst und aktiv zu gestalten. Die eigene Lebendigkeit zu finden und das eigene Leben leben zu lernen, sind Kernprinzipien der Therapie. Sie drücken sich aus in den folgenden fünf Prinzipien und Perspektiven, die in der therapeutischen Arbeit verwirklicht werden: Lebensführung Es geht darum zu lernen, in Selbstbestimmung über das eigene Leben sich selbst zu führen, zu steuern, zu verwirklichen, zu erfüllen und zu gestalten. Dieses Prinzip basiert auf der evolutionären Dynamik der Individualisierung. Das Leben der verschiedenen Arten und des Menschen individualisiert sich als Einzelwesen, dem das Leben geschenkt ist und das in seiner innersten Tiefe eine vollkommene Freiheit für die Entfaltung des eigenen Lebens besitzt. Im therapeutischen Konzept ist dies repräsentiert durch Selbststeuerung und Selbstführung, kreative Lebensgestaltung, Coaching, Transferunterstützung und Integration ins Leben. Die Ausrichtung ist die der Patientenorientierung, die sich in Entscheidungs- und Wahlrechten und Kundenorientierung ausdrückt. Ganzheitliche Psychotherapie


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Beziehungsgestaltung Dies bedeutet fähig zu sein zu Bezogenheit, zur Offenheit für die Mitmenschen, zur Kommunikation und Regulation von Beziehungen und zur Teilhabe an Beziehungen und Gemeinschaften, denen man vertraut und von denen man sich führen lässt. Dieses Prinzip basiert auf der grundsätzlichen Verbundenheit als Merkmal der Evolution, das im Bereich des Lebens eine grundsätzliche Verbundenheit mit allem Leben und insbesondere der Gemeinschaft der eigenen Art in sich trägt. Die Teilhabe am Feld von Beziehungen wie Partnerschaft, Familie, Arbeitswelt, Freundschaft und Gesellschaft ist eine zur Individualisierung gleichwertige und gleichzeitig zu entfaltende Perspektive. Im therapeutischen Konzept äußert sich dies in der Gruppentherapie und der Gruppenorientierung der Therapien, in Veranstaltungen des Lernens und Erfahrens von Gemeinschaft, wie Patientenversammlung, Forum, Plenum, Selbsthilfegruppen und Ähnlichem. Es geht auch um das Bewusstwerden der Beziehungsdimension und das Erlernen von Kommunikation, sozialer Kompetenz und sozialem Engagement. Diese enthält auch Erfahrungen von Spiritualität und Heilung in der Gemeinschaft. Die Ausrichtung geschieht auf die Entwicklung und Entfaltung der therapeutischen Kultur. Bewusstseinsentwicklung Bewusstseinsentwicklung basiert auf dem Erwachen, dem Bewusstwerden für die Art und Weise des eigenen Erlebens und Verhaltens. Im Zentrum steht die Entwicklung der Bewusstheit, der Achtsamkeit, die Fähigkeit, sich, Beziehungen und andere zu beobachten, das eigene Bewusstsein weiterzuentwickeln und zu gestalten. Dieses Prinzip basiert auf dem Bewusstsein als evolutionäre Eigenschaft des Menschseins. Das zunehmende Erwachen der Menschheit im Sinne der Selbstreflexion, der Bewusstheit und der spirituellen Weiterentwicklung des Bewusstseins eröffnet die Möglichkeit, diesen Prozess aktiv zu gestalten und weiterzuentwickeln. Im therapeutischen Konzept äußert sich dies in der Achtsamkeitsübung, in Meditationen, im Umgang mit Spiritualität, in der tiefenpsychologischen Psychotherapie und in einer Fülle von Elementen des Innehaltens und Gewahrwerdens für die jeweilige Situation. Die Ausrichtung erfolgt auf eine Kultur der Bewusstheit und Achtsamkeit und der Aktivierung von Spiritualität und Bewusstsein in einer beseelten Therapie und Medizin. Gesundheit Gesundheit ist ein körperliches, seelisches, geistiges und soziales Wohlbefinden und Funktionieren. Es ermöglicht ein Leben in Glück und Frieden, Wellness und Fitness, Sinnempfinden und geistiger Klarheit. Gesundheit ist ein Grundmerkmal des funktionierenden und gelingenden Lebens, das seine Ressourcen nutzen und sich selbst balancieren kann. Im therapeutischen Konzept wird dies verwirklicht durch Gesundheitsbildung, Gesundheitsvorträge, Gesundheitsmanagement, kreative und nährende Therapien. Es ist die grundsätzliche Ausrichtung auf das nährende, kräftigende und heilende Therapiefeld. Heilung Komplementär zur dissoziierenden, desintegrierenden, störungsbezogenen Dynamik des Lebens besitzt dieses inhärent integrierende und heilende Strukturen und Dynamiken. Krankheitsbewältigung kann geschehen durch eine fundamentale Förderung von Heilungsprozessen und durch die unmittelbare, auf die Störung und die Krankheit gerichtete spezifische Behandlung. Heilung verändert nicht nur kranke und gestörte Funktionen, sondern kann auch erlebt werden als berührender, wiederverbindender oder gesundender Prozess. In der therapeutischen Arbeit drückt sich dies aus durch störungsspezifische Behandlungsmaßnahmen zu den unterschiedlichen Krankheitsbildern, wie Beratung, Training, Übung, Medikation und spezifische Umstrukturierung durch psychotherapeutische Einzel- und Gruppenarbeit. Dies wird unterstützt durch evidenzbasierte Leitlinien und Behandlungspfade. Die Ausrichtung ist die einer Bewältigung und Behandlung von Störungen und Krankheiten. Ganzheitliche Psychotherapie


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Integrale und transpersonale Perspektiven einer zukünftigen Psychotherapie – Dr. Joachim Galuska, 1999 Die Zukunft der Psychotherapie liegt in unseren Händen. Sicherlich können wir ihre Entwicklung in der Vergangenheit analysieren, ihre Theoriebildung, die Entwicklung der verschiedenen Methoden und Schulen, die empirische Erforschung der Verfahren, die Entwicklung des Berufsbildes des Psychotherapeuten und der gesellschaftlichen Anerkennung und Einbettung der Psychotherapie. Wir können immer wieder versuchen, ihren gegenwärtigen Stand zu beschreiben, also das, was man den State of the Art nennt. Und wir können die gegenwärtigen Trends innerhalb der Psychotherapie und in unserer Gesellschaft erspüren und vielleicht aus all dem Prognosen für die weitere Entwicklung der Psychotherapie abgeben. All dies wird uns aber nicht davon befreien, wie wir auf die Ergebnisse unserer Analysen antworten wollen, wie wir die Zukunft der Psychotherapie gestalten wollen. Zukunft ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sie kommt nicht mehr irgendwie auf uns zu und überrascht uns. In den meisten Feldern unseres gesellschaftlichen Lebens können wir Entwicklungen erkennen und die Richtungen beschreiben, in die sie führen, wenn wir sie weiterführen. Wohin wollen wir als Menschheit? Was wollen wir aus all dem machen, was in uns angelegt ist? Ich frage dies so allgemein, weil wir Psychotherapeuten uns mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigen müssen, denn unsere Klienten werfen sie auf. Wohin will ich mich als Mensch, als Klient, als Patient, als Einzelwesen, als Familienmitglied, als Gesellschaftsmitglied entwickeln? Häufig ist es nicht möglich, eine psychische Störung zu überwinden, ohne diese Frage zu beantworten. Wohin wollen wir die Psychotherapie entwickeln? Ihre Zukunft liegt in unseren Händen.

Wenn Zukunft nicht mehr einfach auf uns zukommt und determiniert ist, dann gibt es offenbar viele Möglichkeiten. Das Feld der Möglichkeiten verlangt nach Visionen und Tatkraft, damit Wirklichkeiten entstehen. Solche Visionen sind gespeist von unseren Wünschen und Sehnsüchten, aber auch von unserer Bereitschaft und Offenheit, einem Ruf zu folgen, ein potenzielles Ziel der Zukunft auf uns wirken zu lassen. Was braucht es, damit wir eine gute, vielleicht noch bessere Psychotherapie in der Zukunft schaffen können? Wenn wir auf das Feld der Psychotherapie versuchen unvoreingenommen zu schauen, werden wir wahrscheinlich feststellen, dass es sehr vielfältig, sehr komplex, kaum überschaubar ist und durch allerlei ideologische Vorlieben und Identifikationen mit einzelnen Verfahren oder Schulen bestimmt ist. Allein diese kleine Auflistung zeigt einige Probleme und Herausforderungen. Wenn wir diese Entwicklung weiter fortsetzen, wird die Psychotherapie noch vielfältiger, noch komplexer, noch unüberschaubarer, noch zerstückelter und kirchenähnlicher. Dieser Trend ist eindeutig und wahrscheinlich auch in gewisser Weise unausweichlich. Wie können wir darauf antworten? Eine erste, immer deutlichere Bewegung zeigt sich meines Erachtens in der immer ausgeprägteren Entwicklung von integrativen Ansätzen. Hierzu möchte ich Ihnen zwei Beispiele geben, erstens aus der Wirksamkeitsforschung der Psychotherapie und zweitens aus Metatheorien der Psychotherapie. Wirksamkeitsforschung Innerhalb der Wirksamkeitsforschung der Psychotherapie entwickelte sich relativ bald eine Richtung, in der unspezifische oder allgemeine Faktoren in der PsychoGanzheitliche Psychotherapie


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therapie erforscht wurden. Ihr kurzgefasstes Ergebnis ist, dass Gemeinsamkeiten therapeutischen Handelns wichtiger als Unterschiede in der Technik sind. Entscheidend für den Erfolg einer Psychotherapie sind oft gegenseitige Sympathie zwischen Therapeut und Klient und ausreichende Berufserfahrung des Therapeuten. Die Consumer Reports-Studie, ein Fragebogen, den 7000 amerikanische Haushalte im Jahre 1994 beantworteten, hatte beispielsweise folgende Ergebnisse: „Danach hatte Psychotherapie substanzielle Vorteile für die Patienten, hatte Langzeitbehandlung beträchtlich bessere Ergebnisse als Kurzzeittherapien und Psychotherapie in Kombination mit Medikamenten keine besseren Ergebnisse als reine Psychotherapie. Außerdem war bei allen Störungen keine einzelne Therapiemethode geeigneter als andere. Die Effektivität der Behandlung durch Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter war dieselbe und lag insgesamt über der von Eheberatern und Hausärzten. In den Fällen, in denen Behandlungsdauer oder Therapeutenwahl auf Grund von Regelungen der Krankenkassen bzw. Institutionen beschränkt war, war der Behandlungserfolg geringer“ (Seligman). Diese Studie ist ein seltenes Beispiel einer Effektivitätsstudie, die sich auf die gesellschaftliche Realität der Anwendung von Psychotherapie bezieht und nicht auf die Erforschung der Wirkungsweise isolierter Techniken oder Methoden auf isolierte Symptome oder Störungen, wie sie in der akademischen Effizienzforschung von Psychotherapie betrieben wird. Ihre Ergebnisse müssen in vielfältiger Weise nachdenklich machen (beispielsweise was die Ausgrenzung von Nicht-Ärzten und Nicht-Psychologen von der psychotherapeutischen Heilkunde durch das neue Psychotherapeutengesetz betrifft). Auch im Bereich der akademischen Effizienzforschung, also der Erforschung der Wirksamkeit einzelner Verfahren, und der vergleichenden Psychotherapieforschung, entstehen integrative Ansätze. In der wohl bekanntesten in der letzten Zeit diskutierten Studie entwickelte Grawe auf Grund Ganzheitliche Psychotherapie

der Analyse von etwa 3000 empirischen Psychotherapie-Studien, vier therapeutische Wirkprinzipien, die gegenwärtig empirisch abgesichert seien: Ressourcenaktivierung „Eine Fülle über die verschiedensten Therapieformen und -settings verteilter Forschungsergebnisse weist darauf hin, dass man Patienten besonders gut helfen kann, indem man an ihre positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen anknüpft, indem man die Art der Hilfe so gestaltet, dass der Patient sich in der Therapie auch in seinen Stärken und positiven Seiten erfahren kann“. Gerade dieser relativ unspezifische Wirkfaktor, der auf eine gute Therapiemotivation, eine gute therapeutische Beziehung, eine Steigerung des Selbstwertgefühls und ein Ansprechen bzw. Aktivieren von Fähigkeiten des Patienten abzielt, verlange ein Überschreiten der Begrenzungen der einzelnen Therapieschulen. Dieses Prinzip entspricht mehr einer therapeutischen Haltung als einer therapeutischen Technik. Problemaktualisierung „Es gibt eine große Zahl von Hinweisen darauf, dass Probleme am besten in einem Setting behandelt werden können, in dem eben diese Probleme real erfahren werden: generalisierte zwischenmenschliche Schwierigkeiten in einer Gruppentherapie; Paarprobleme unter Einbeziehung beider Partner; Probleme, an denen Familienangehörige maßgeblich beteiligt sind unter Einbezug der relevanten Familienmitglieder; Schwierigkeiten in ganz bestimmten Situationen, wie Waschzwänge, Platzangst usw. durch Aufsuchen dieser Situationen; sexuelle Probleme im Bett usw.“ „Auch unter dem Gesichtspunkt der Problemaktualisierung erweisen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Therapieformen als schädlich, denn sie behindern die Therapeuten darin, das ganze Spektrum der eigentlich vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten wahrzunehmen.“ Aktive Hilfe zur Problembewältigung „Damit ist gemeint, dass der Therapeut den Patienten mit geeigneten Maßnah-


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men aktiv darin unterstützt oder ihn auch direkt dazu anleitet, mit einem bestimmten Problem besser fertig zu werden“. Beispiele dafür sind Übungs- und Trainingsmaßnahmen wie Selbstsicherheitstrainings, Reizkonfrontation, Stressbewältigungstrainings, Sozialtherapie, Entspannungsverfahren. Sie sind im Sinne von Coping-Fähigkeiten, also Problembewältigungskompetenz, direkt auf die Symptomatik bezogen. Hierzu sei eine möglichst große Flexibilität und Variabilität im therapeutischen Repertoire erforderlich, die über die Begrenzungen der einzelnen Therapieschule hinausgehe. Klärung „Unter der Klärungsperspektive geht es darum, dass der Therapeut dem Patienten dabei hilft, sich über die Bedeutungen seines Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf seine bewussten und unbewussten Ziele und Werte klarer zu werden.“ Es geht also um das Gewinnen von Verständnis und Einsicht in die Hintergründe der gegenwärtigen Schwierigkeiten, wie es in Gesprächstherapie, aufdeckender tiefenpsychologischer Arbeit oder anderen humanistischen Therapien geschehe. Ausgehend von diesen vier Wirkfaktoren und unter Einbeziehung einer intra- bzw. interpersonalen Perspektive wurde von Grawe zunächst (1995) ein konzeptueller Rahmen für eine „therapieschulenübergreifende Allgemeine Psychotherapie entwickelt.“ Mit diesem Konzept einer Allgemeinen Psychotherapie strebte Grawe also gezielt die Integration verschiedener therapeutischer Ansätze an. In jüngster Zeit versucht er sein Modell mehr auf den Erkenntnissen der empirisch-wissenschaftlichen Psychologie aufzubauen und verwendet dafür den Begriff der „Psychologischen Therapie“. […] Sowohl Effektivitätsforschung im realen Anwendungsfeld von Psychotherapie, als auch Effizienzforschung bezüglich einzelner psychotherapeutischer Wirkfaktoren verlangen also integrative Bemühungen. So bestechend empirisch orientierte Modelle sind für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven für die Psychotherapie, besitzen sie jedoch einige erhebliche

Nachteile. Sie stützen sich weitgehend auf bereits vorhandene und erprobte Methodik und Therapiepraxis. Ihr Wert besteht also darin, das bereits vorhandene Wissen zu fundieren und zu verbreitern. Sie besitzen jedoch im Grunde keinen echten innovativen Charakter, eröffnen keine neuen Dimensionen oder Entwicklungsräume. Darüber hinaus sind sie letztlich technisch orientiert, integrieren Faktoren, gesetzmäßige Prinzipien und Handlungsanleitungen. Auch wenn die Forscher immer wieder betonen, dass die therapeutische Beziehung entscheidend sei (Orlinsky) und die Technik sich mit der Persönlichkeit des Therapeuten mische (Kottler), so eröffnen sie doch wenig Boden dafür, wie sich der Therapeut, außer in seinem empirisch abgesicherten Wissen, verankern kann, um seine Techniken in kreativer Weise und seiner Persönlichkeit entsprechend auf dem Boden einer einfühlsamen Beziehung anzuwenden. Schließlich wirken diese Ansätze auch kühl und leer, da ihnen ein innerer Wertebezug fehlt und sie ihr implizites Menschenbild in der Regel nicht explizit machen und sich damit aus einer philosophischen und weltanschaulichen Verortung abkoppeln und in einen scheinbar wertfreien Problemlösungsraum abdriften. Damit würde sich aber die Psychotherapie zukünftig auf eine reine Störungs- oder Krankheitsbewältigung beschränken und wie die moderne Medizin den ganzen Menschen verpassen. Damit möchte ich überleiten zu den eher metatherapeutischen Überlegungen. Integrative Ansätze Einen ganz anderen Versuch, die gegenwärtige Wirklichkeit der Psychotherapie in ihrer Vielfalt, Unüberschaubarkeit und ideologischen Zerrüttung zu beantworten, machen die ganzheitlichen Ansätze, die man im Sinne Gebsers als integral bezeichnen könnte. Das Vorgehen ist eher philosophischer Art, erkenntnisorientiert. Es könnte etwa folgendermaßen beschrieben werden: Erkenne jede wesentliche therapeutische Richtung an, sie besitzt für einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit Gültigkeit. Erkenne die Vielfalt und die Komplexität an, erkenne die gesamte Entwicklung an, in dem was sie hervorgebracht hat und in dem was ihr Ganzheitliche Psychotherapie


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fehlt. Dann sei offen für das Ganze, lass es dich durchdringen und nehme wahr, ob du immanente, zugrundeliegende oder übergreifende Strukturen findest. Überprüfe die innerlich entstandene Ordnung an der Wirklichkeit: erfasst sie die Komplexität? Gibt sie jedem Element, beispielsweise jeder Schule, den ihr gebührenden Ort? Zeigt sie Leerstellen oder vernachlässigte Bereiche auf? Lassen sich Entwicklungsdynamiken erkennen und gibt es Hinweise, wie die Gesamtentwicklung sinnvollerweise weitergestaltet werden könnte? Die so entstandenen Ordnungen spiegeln meist philosophische oder auch religiöse Modelle wider, wie sie in der abendländischen Tradition, aber auch in anderen Kulturen über das menschliche Leben und die menschliche Wirklichkeit konzipiert wurden. Einen recht prägnanten und für die Psychotherapie meines Erachtens ganz zentralen Aspekt solcher Ordnungen stellen die sog. Menschenbilder dar. Welche sind die der Psychotherapie zugrunde liegenden Menschenbilder? Solche Menschenbilder wirken sich bekanntermaßen prägend in der Psychotherapie aus: so träumt ein freudianischer Patient ödipale Träume, ein jungianischer archetypische Träume. Ein körpertherapeutisch, mit holotroper dynamischer Atemarbeit behandelter Patient wird häufiger Geburtsträume haben, während ein systemisch Behandelter vielleicht von seinen früheren Verwandten träumt. Integrale Ansätze entwickelten zunächst einmal ein mehrdimensionales Menschenbild. Der Mensch wird hier verstanden als eine Einheit aus mehreren Dimensionen, die gleichzeitig vorhanden und lebendig sind. Meist finden wir vier oder fünf solcher Dimensionen. Sie sind uns hinlänglich aus Philosophie und kultureller Auseinandersetzung bekannt. Es handelt sich um die folgenden Dimensionen: Die körperlich-somatische Dimension: Hier geht es um den Körper, den man hat, und den Leib, der man ist (Dürkheim). Damit ist also das gesamte objektivierbare physische Dasein des Menschen gemeint und darüber hinaus das subjektive Erleben des Körpers und der Umgang mit dem eigenen Körper. Ganzheitliche Psychotherapie

Die psychische Dimension: Damit ist der Bereich der bewussten und unbewussten Motivationen, der Emotionen und unser Umgang mit unserer Gefühlswelt gemeint. Die geistige Dimension: Sie wird häufig noch differenziert in den Bereich unseres Denkens, also unserer kognitiven Verarbeitungsmuster, des Verhältnisses von Rationalität und Irrationalität, unserer rationalen Steuerung usw. Davon unterschieden wird gelegentlich die geistig-spirituelle Dimension im Sinne übergeordneter geistiger Funktionen, wie höherer Bewusstheit, Bezug zu übergeordneten Werten und religiösen Qualitäten und spiritueller Erfahrungen. Die Beziehungsdimension: Sie umfasst die Einbettung des Menschen in soziale Beziehungen, soziale und ökologische Systeme, persönliche und kollektive Geschichte und bezieht sich sowohl auf das subjektive Erleben der Bezogenheit des Menschen als auch auf die Prägung des Einzelnen durch das Kollektive. Veranschaulichungen solcher mehrdimensionaler integraler Menschenbilder sind etwa das gegenwärtig in der Psychosomatik vorherrschende bio-psycho-soziale Modell (nach Engel) oder aber auch die anthropologischen Grundannahmen der integrativen Therapie von Hilarion Petzold: „Der Mensch ist ein Körper-SeeleGeist-Wesen in einem sozialen und ökologischen Umfeld“ und „Der Mensch ist Leib-Subjekt in der Lebenswelt.“ Auch die moderne Gesundheitsforschung kommt zu komplexen Modellen seelischer Gesundheit: Der aktuelle Gesundheitszustand hänge davon ab, inwieweit es einer Person mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen gelinge, bestimmte Anforderungen zu bewältigen. Für die Anforderungen und Ressourcen unterscheidet Becker interne physische, von internen psychischen und externen physischen und externen psychosozialen (Anforderungen und Ressourcen). Dem aufmerksamen Leser wird eine Verbindung zu Grawes Wirkfaktor der Ressourcenaktivierung nicht entgangen sein. […]


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Integralen Modelle sind im Grunde empirisch nicht überprüfbar. Sie stellen eher Meta-Modelle für Empirie dar. Sie eröffnen Perspektiven, Blickwinkel, Erkenntnisräume, innerhalb derer empirisch überprüfbare Inhalte erscheinen. Wie entwickelt sich beispielsweise das Körpererleben, welche Schwierigkeiten und Störungen können da auftreten, wie kann man diese Schwierigkeiten beispielsweise durch bestimmte körpertherapeutische Interventionen behandeln? Wie begleitet ein emotionaler Konflikt oder eine spirituelle Erfahrung das Körpererleben? Wie wirkt sich eine aufdeckende emotionale Arbeit auf das Körpererleben aus? Solche Fragen sind dann empirisch überprüfbar. Hier kann man Veränderungen messen. Aber zunächst einmal ist es erforderlich, die jeweilige Dimension, im Grunde die Dimensionalität anzuerkennen. Solche Perspektiven beispielsweise auf das Menschsein können weiter verfeinert werden und schließlich zu einer Multidimensionalität oder Multiperspektivität führen. Petzold entwickelt beispielsweise explizit das Konzept der Mehrperspektivität für therapeutisches Handeln. Er erläutert allerdings nicht, wie diese Mehrperspektivität zu handhaben ist, wer sie sozusagen besitzt, was diesen Standort ausmacht, außer dass er exzentrisch sei. Exzentrizität allein gibt zwar eine Richtung an, hilft aber nur sehr begrenzt im Umgang mit solchen integralen Modellen, weil sie an die Inhalte der Perspektiven gebunden bleibt. Nur eine letztlich jenseits der Perspektive liegende, transperspektivische Position eröffnet fundamentale Handlungsspielräume und Aussichten für Impulse zu einer echten Weiterentwicklung. Damit möchte ich überleiten zu Ken Wilber, der durch eine spirituelle Bezogenheit solchen integralen Modellen einen visionären Kontext gegeben hat. Quadranten-Modell Wilber verfolgte u. a. die Frage: Wie lässt sich zwischen Einheit und Vielfalt eine Ordnung finden? Dazu beschäftigte er sich mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Er untersuchte alle möglichen Modelle der Entwicklungspsychologie, psychologische, pädagogische und sozialpsychologische Theorien, Mo-

delle der Kulturentwicklung und Konzepte der großen Religionen, insbesondere auch der asiatischen spirituellen Wege. Daraus entwickelte Wilber ein hierarchisch gegliedertes Bewusstseinsmodell, das sowohl für den einzelnen als auch für die Entwicklung der Kulturen gelte. Nach seinem Modell entwickelt sich das menschliche Bewusstsein in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Stadien, in denen jeweils eine höhere Bewusstseinsebene erreicht wird. Die moderne Entwicklungspsychologie beschreibt nach seiner Auffassung angemessen die typische oder konventionelle Entwicklung. Die vorhandenen Daten seien genügend plausibel bezüglich der psycho-sexuellen, kognitiven, moralischen Selbstkonzept- und Objektbeziehungs-Entwicklungslinien. Damit sei jedoch lediglich die Entwicklung zur reifen Persönlichkeit, die durch Ich-Bewusstsein und Vorherrschen der Vernunft gekennzeichnet ist, erfasst. Er nennt dies die prä-personalen Stadien und die personalen Stadien der Entwicklung. Die Entwicklungsmöglichkeiten schreiten jedoch weiter zu den transpersonalen Stufen, die durch die westliche Psychologie und Psychotherapie bisher nicht erfasst werden, sondern von den großen spirituellen Wegen beschrieben werden. Dies sei der Bereich der kontemplativen Entwicklung. Ken Wilber legt hier eine Art integratives Bewusstseinsmodell vor, das den Anspruch trägt, das volle Spektrum der Entwicklung menschlichen Bewusstseins zu erfassen. Wilber geht davon aus, dass die wesentliche kulturelle Aufgabe im Moment darin besteht, die personale Struktur zu stabilisieren und gesellschaftlich zu verankern. Einzelne Menschen könnten zwar in ihrer Bewusstseinsentwicklung weiterschreiten, für die gesellschaftliche Situation sei es jedoch entscheidend, nicht mehr durch magische oder mythische Strukturen beherrscht zu sein, sondern vernunftgeleitet, dialogisch, humanistisch zu handeln. Die eigentliche Weiterentwicklung des gegenwärtig vorherrschenden Denkens in abendländischen Gesellschaften bestehe darin, zunächst einmal die Stufe der Vernunft zu assimilieren im Sinne einer guten Ganzheitliche Psychotherapie


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Rationalität, einer Fähigkeit zu weltzentrischem, pluralistischem und ökologischem Denken, einer Sicherheit als Individualität und einer gleichzeitigen Beziehungsfähigkeit zu anderen Individuen. Aber auch die Rationalität sei zu relativieren und erreiche ihren Höhepunkt in einer Art reifen Vernunft, die er als „schaulogisch“ bezeichnet. Weitere Begriffe hier sind „Netzwerklogik“, „dialektische oder synthetische Vernunft“, „integral-aperspektivisches Bewusstsein“ usw. Typisch für die Schaulogik seien komplexe integrale Modelle für die Persönlichkeit, vernetztes und systemisches Denken und die Fähigkeit zur Relativierung verschiedener Perspektiven. Wilber selbst entwickelt ein solches integrales Modell zur Erfassung der Wirklichkeit und beschreibt vier grundlegende Perspektiven. Er nennt sie vier Quadranten. Jedes Phänomen, sei es ein Gedanke, ein Mensch, ein Atom, eine Galaxie, eine Emotion, eine zwischenmenschliche Interaktion, jedes Phänomen könne grundsätzlich folgendermaßen betrachtet werden: es habe eine Innenseite und eine Außenseite. Die Außenseite ist das objektiv Beobachtbare, das Messbare, das empirisch Nachweisbare, das Sichtbare, also in einer gewissen Weise die Oberfläche. Es ist das, was die Physik, die Biologie, aber auch die Verhaltenswissenschaften untersuchen. Die Innenseite ist das Subjektive, das Erlebte, das Empfundene, das Bewusstsein. Es ist das, was Philosophie, Tiefenpsychologie, Religionen untersuchen. Es bezieht sich aber auch auf die Intention eines Moleküls, die Autonomie einer Zelle usw. Außerdem könne jedes Phänomen in seiner Individualität oder in seiner Kollektivität betrachtet werden. Individuell ist jedes Phänomen eben ein Einzelphänomen, selbständig, kohärent, wie es z. B. in der Beobachtung des Verhaltens einer Person oder der Einfühlung in das Erleben einer Person zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig ist jedes Phänomen Teil eines größeren Ganzen, partizipiert am größeren Ganzen, ist Ausdruck eines größeren Ganzen, wie es Kultur- oder Systemtheorien beschreiben. Ganzheitliche Psychotherapie

Aus den beiden komplementären Paaren subjektiv/objektiv und individuell/kollektiv ergeben sich also vier Perspektiven, vier Quadranten. Für jeden Quadranten können wir typische Denker und Forscher finden. Für jeden Quadranten gibt es eigene Beschreibungen der Gesetze, eigene Wahrheitskriterien usw. Bezogen auf uns Menschen finden wir also folgende vier Quadranten: I. Die individuelle subjektive Welt, also das subjektive Erleben des Einzelnen. II. Das beobachtbare individuelle Verhalten von Menschen und ihre physische Erscheinung. III. Die subjektiv-soziale Seite, also die Beziehungen von uns Menschen, die schließlich die Kultur ausmachen. IV. Das soziale System, die soziale und gesellschaftliche Organisation unseres Lebens. Beispielhaft möchte ich Ihnen zeigen, wie Wilber die Quadranten charakterisiert (Abb. Integrale Diagnostik S 102). Wenn wir dieses Schema einmal zunächst ganz oberflächlich auf das Feld der Psychotherapie anwenden, so können wir grob wesentliche psychotherapeutische Schulen einzelnen Perspektiven zuordnen. In der Behandlung von Patienten geht es im linken oberen Quadranten um das Verstehen von Sinnzusammenhängen, das Gewinnen von Einsicht, das Entwickeln neuer innerer Bezüge, also das Selbstverständnis. Darum bemühen sich ja vorwiegend analytische, tiefenpsychologische und humanistische Therapieverfahren. Im linken unteren Quadranten geht es um das unmittelbare Beziehungserleben, das gegenseitige Verständnis, die Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls, also das WirBewusstsein. Hier arbeiten Gruppen-, Paar- und Familientherapie vorwiegend. Der rechte obere Quadrant bemüht sich um ein besseres Funktionieren der Person und ihres Organismus. Hier geht es also um Veränderungen, die von außen bewirkt werden, beispielsweise durch Psychopharmaka oder um Verhaltensände-


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rungen, die erlernt und trainiert werden. Im rechten unteren Quadranten geht es um ein besseres Funktionieren des Einzelnen im sozialen System. Strukturelle Veränderungen des Sozialsystems durch Sozial- und Gesundheitspolitik oder auch unmittelbare Veränderungen in den Regelungen und Beziehungsstrukturen, beispielsweise am Arbeitsplatz, wie es durch sozialarbeiterische oder sozialtherapeutische Interventionen zustande kommen kann, entsprechen dieser Perspektive. Auf der rechten Seite sind die Interventionen auf ein Objekt, nämlich den Einzelnen oder das soziale System, gerichtet. Ein integraler Ansatz erkennt alle diese Perspektiven an und versucht, sie zu gewichten. Sie werden gesehen als Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu verstehen und in ihr zu handeln. Grundsätzlich ist eine solche Sicht nicht an eine einzelne Perspektive gebunden. Sie ist somit, wie Gebser es nennt, aperspektivisch. Sie ist nicht nur mehrperspektivisch im Petzold‘schen Sinn, denn damit wäre der Blick auf die mehreren Perspektiven gelegt, sondern sie ist frei von jeder einzelnen Perspektive, also aperspektivisch. Es gibt sozusagen den Beobachter, der diese Perspektiven einnehmen kann. Der Beobachter entspricht im Moment unserer Position, wenn wir auf diese Perspektiven schauen. Wir sehen diese Perspektiven als Möglichkeiten vor uns und wissen, dass wir die Wirklichkeit nicht anders als durch diese Perspektiven betrachten können. Wir schaffen, konstruieren unsere Wirklichkeit mit Hilfe dieser Perspektiven. Wie können wir der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden? Woher wissen wir, welches die richtige oder angemessene Perspektive für die jeweilige Situation ist? Können wir lernen, zwischen den Perspektiven zu wechseln? Diese Flexibilität ist unbedingt erforderlich, denn die ideologische Zerrüttung des Psychotherapiefeldes kommt eben dadurch zustande, dass wir eine Perspektive oder gar eine Subperspektive verabsolutieren und sie für die einzig Legitime zur Betrachtung der Wirklichkeit erklären. Dieses Modell erkennt sowohl die einzelnen Perspektiven an, gibt ihnen aber auch einen Platz, begrenzt ihre Reichweite und zeigt auf, wie es zu dieser

ideologischen Zerrüttung und Dissoziation kommen kann. Gleichzeitig zeigt es auf, wie wir den Schulenstreit überwinden können. Es gibt einen Standort für eine wirklich integrierende, innere Haltung. Nur das nicht in eine Perspektive gebundene, das Aperspektivische ist somit integral. Es ist der Platz der Intuition für therapeutisches Handeln. Intuition wird also hier nicht sentimental oder diffus verstanden, sondern sie gründet in der inneren Freiheit, in der Nicht-Gebundenheit an einen bestimmten Blickwinkel. Bleibt diese aperspektivische, beobachtende, innerlich freie Haltung im therapeutischen Handeln bestehen, dann entsteht ein Bewusstsein dafür, ob und inwieweit eine oder mehrere Perspektiven und das Handeln aus diesen Perspektiven heraus für den jeweiligen Klienten und die jeweilige Therapiesituation angemessen und stimmig sind. Dies wird intuitiv erkannt. Intuitiv ist nicht irrational, sondern im höheren Sinne vernünftig, was Wilber gerne als transrational bezeichnet. Der transpersonale Bewusstseinsraum Im Wilber‘schen Modell steht der Beobachter dieser Quadranten also auf der Schwelle zwischen personalem und transpersonalem Bewusstsein. Wenn wir also den Beobachter erforschen, diese aperspektivische integrale Position weiter entfalten, finden wir eine Reihe von typischen Qualitäten, wie sie von meditativen Erfahrungen her beschrieben werden. Ich bezeichne dies gerne als den transpersonalen Bewusstseinsraum. Um uns diesen Bewusstseinsraum zu erschließen, möchte ich mit Ihnen eine kleine Übung machen. Beginnen möchte ich mit einer Wahrnehmungsübung: Beginnen Sie damit, einen Gegenstand selbst vor sich selbst zu fixieren. […] Nun lassen Sie Ihren Blick weit werden. Versuchen Sie beispielsweise gleichzeitig wahrzunehmen, was ganz weit rechts und ganz weit links von Ihnen ist, oder versuchen Sie den ganzen Raum wahrzunehmen. Diese Art der Wahrnehmung ist nicht fokussiert, sondern eher weit, räumlich.

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Fixieren Sie jetzt noch einmal einen Gegenstand vor sich selbst. […] Eine ähnliche Aufmerksamkeitsbewegung ist notwendig, um den transpersonalen Bewusstseinsraum zu erschließen. Schließen Sie nun Ihre Augen und beobachten Sie für einige Momente Ihren Atem. Sie können z. B. Ihre Hände auf den Bauch legen und einfach die Atembewegungen an der Bauchdecke beobachten. Ihre Aufmerksamkeit ist nun wieder fokussiert, Sie beobachten den Atem. Nun wechseln Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit hin zu dem Platz, von wo aus Sie den Atem beobachten. Werden Sie sich Ihres Beobachtens gewahr. Sie lassen also den Atem fallen und spüren Ihr Beobachten, Ihr Wahrnehmen, Ihre Achtsamkeit selbst. Gehen Sie jetzt einige Male hin und her, nehmen also den Atem wahr, dann verlassen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit den Atem und werden sich Ihres Wahrnehmens, Ihres Beobachtens selbst, Ihrer Achtsamkeit gewahr. Versuchen Sie nun einmal an diesem Platz Ihrer Achtsamkeit zu verweilen, nur Beobachtender zu sein und diesen beobachtenden Teil selbst ein wenig zu erforschen. Wie fühlt sich das an, was nehmen Sie wahr? Welche Qualitäten können Sie hier empfinden? Ist dieser innere Platz beispielsweise still oder bewegt, eng oder weit? Wer beobachtet, wer nimmt dies alles wahr? Wenn wir nicht über diese Fragen nachdenken, sondern sie nur als Perspektive für unsere Aufmerksamkeit verwenden, werden wir uns unserer eigenen Bewusstheit gewahr. Es ist der innere Platz, der alles beobachtet, unser Gewahrsein selbst, der Zeuge allen Geschehens, wie in den spirituellen Traditionen gelegentlich gesagt wird. Es ist die Leinwand, auf der der Film des Lebens spielt. Ich habe diese Übung wiederholt durchgeführt und in einer kleineren Gruppe an dieser Stelle einfach die Menschen aussprechen lassen, welche Qualitäten dieses Gewahrseins sie wahrnehmen und beschreiben können. Erstaunlicherweise werden jedes Mal die gleichen Qualitäten Ganzheitliche Psychotherapie

formuliert. Wenn Sie möchten, können Sie Ihre Augen geschlossen lassen und einmal überprüfen, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt beschreiben möchte, in sich selbst nachvollziehen können. Diese Leinwand, dieser Zeuge, diese Bewusstheit, ist in sich selbst rein und klar. Sie besitzt eine Qualität von Unberührtheit und Freiheit von jeder Form. Ja, diese Reinheit und Freiheit ermöglicht erst, dass jeder Inhalt des Erlebens im Lichte der Bewusstheit erstrahlen kann. Sie selbst erscheint leer von jedem Einzelnen, und weit, unendlich weit für die unendlich vielen Qualitäten des Erlebens. „Bewusstseins-Unendlichkeit“ oder „leere Weite“ nennt man diese Qualität im Buddhismus. Und diese Präsenz, dieses Gewahrsein, dieser Bewusstseinsraum ruht in sich selbst, er trägt in sich selbst Frieden und Stille. Er ist vollkommen gelöst, ja losgelöst, frei, auch frei von jeder Absicht, jeder Erklärung, ja selbst jeder Beschreibung. Hier geschieht keine Identifizierung, aber ihr Entstehen kann beobachtet werden. Somit ist unsere Präsenz jenseits von Ich und Nicht-Ich, dem Ausdruck des Sichund-andere-Identifizierens. Sie ist losgelöst und frei von den einzelnen Eigenschaften, Bildern und Konzepten, die wir mit uns selbst verbinden. Diese Freiheit und Weite bedeutet auch Offenheit und Lichtung, wie ein leerer Spiegel, wie ein offenes Gefäß, das sich von den Erscheinungen und Erlebnisqualitäten erfüllen lässt. Somit besitzt dieser Bewusstseinsraum eine vollkommene Rezeptivität, ist offen für jede Qualität und jede Perspektive. Hier ist Durchlässigkeit, Transparenz für das Transzendente, das Göttliche und Absolute. Hier geschieht auch Resonanz und Empathie, ein Nachfühlen des Erlebens anderer Menschen und Lebewesen in unserem eigenen Bewusstsein. Rezeptivität ist Hingabe und Offenheit meines Wesens für das Sein, aber auch für das Nichts, für die Welt und für das Göttliche, für die Leere und die Form, für das Diesseits und das Jenseits. Somit erschließt sie uns das Verbundensein, das Verwobensein, das Getrenntund Vereintsein.


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Und wenn wir die gefühlsmäßigen Qualitäten untersuchen, die mit der Hingabe und Öffnung unseres Herzens verknüpft sind, finden wir Mitgefühl, Freude und Mitfreude und Liebe, die neben Gleichmut als „göttliche Verweilungsstätten“ im Buddhismus beschrieben werden. Sie sind die Antworten unseres Wesens auf die verschiedenen Eindrücke, die wir empfangen. Fassen wir noch einmal kurz die beschriebenen Qualitäten unserer Präsenz, dieses Bewusstseinsraums zusammen: Bewusstheit, Reinheit, Freiheit, Leere und Weite, Stille, Rezeptivität und Hingabe, Herzensverbundenheit. Es ließen sich weitere Qualitäten beschreiben, wie die der Mitte, des Nullpunktes, der Zentriertheit, Schönheit, Heiligkeit, Glückseligkeit usw. Diese Qualitäten sind frei von unseren üblichen Identifizierungen, frei von dem, was man Persönlichkeit nennt, unser Konzept von uns selbst und der Welt. Sie werden jenseits unseres Ich-Bewusstseins, unseres personalen Erlebens erfahren, sie sind somit trans-personal, trans-ichhaft, trans-egoisch. Somit können wir diesen Bewusstseinsraum als „transpersonalen Bewusstseinsraum“ bezeichnen. Er charakterisiert die Eigenschaften unseres „Wesens“, unseres „wahren Selbst“, um einige Metaphern zu nennen. Denn wenn wir diese Qualitäten erleben, haben wir in der Regel das Gefühl, ganz nah bei uns zu sein, mit unserem tiefsten Inneren verbunden zu sein.

es entscheidend, Wege zu seiner Eröffnung zu finden. Der direkteste Weg scheint mir das Gewahrsein der eigenen Präsenz zu sein, wenn wir also einen Wechsel der Perspektive vom Inhalt des Erlebens zum Beobachter des Inhaltes vollziehen. Aber auch die Entfaltung jeder der beschriebenen Qualitäten, das Eintauchen beispielsweise in die Stille oder Leere, die Desidentifizierung oder die Ausdehnung in die Weite und Unendlichkeit können Zugänge darstellen. Jede Meditationsmethode öffnet direkt oder indirekt für eine dieser Qualitäten. Bewusstseinstechnisch gesehen wird ein transpersonaler Therapeut also eine Reihe von Methoden kennen, mit denen er in der Lage ist, das eigene personale Bewusstsein zeitweise in einen transpersonalen Bewusstseinszustand hin zu wandeln. Abschließen möchte ich diese Ausführungen über den transpersonalen Bewusstseinsraum mit ein paar Worten eines tibetischen Meisters:

„Dies Gewahrsein, ohne ein Innen oder Außen, ist offen wie der Himmel. Es ist allesdurchdringende Wachheit, frei von Beschränkung und Voreingenommenheit. Im weiten, offenen Raum dieses allumfangenden Geistes manifestieren sich alle Phänomene von Samsara und Nirvana wie Regenbogen am Himmel. In diesem Zustand unablässiger Bewußtheit ist alles Erscheinende und Existierende wie ein SpieEin Aspekt erscheint mir aus bewusstseins- gelbild - es erscheint und ist doch leer, es technischer Sicht noch sehr bedeutsam: tönt und ist doch leer. Sein Wesen ist LeerJede Qualität des transpersonalen Bewusstseinsraumes eröffnet relativ leicht die Erfah- heit von Urbeginn an. “ rung anderer Qualitäten dieses Bewusstseinsraumes, wie ich es in meiner Beschreibung versucht habe anzudeuten. Wenn es also gelingt, eine dieser Qualitäten zu entfalten, so kann sie ein Tor darstellen zu anderen dieser reinen transpersonalen Qualitäten, die gemeinsam diesen Bewusstseinsraum kreieren. Wenn man es theoretisch ausdrückt, scheint somit das transpersonale Bewusstsein wie ein Hologramm zu funktionieren. Jeder Teil stellt einen Zugang zum Ganzen dar. Da der transpersonale Bewusstseinsraum meines Erachtens den Schlüssel zu einem Verständnis transpersonaler Psychotherapie darstellt, ist

Tsogdruk Rangdrol, zit. in Wilber, 1995

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In der therapeutischen Arbeit können wir nun diesen transpersonalen Bewusstseinsraum in vielfältiger Weise anwenden. Er stellt zunächst einmal die Grundhaltung des Therapeuten dar. Diese Grundhaltung ist offen für alles, was in der therapeutischen Beziehung im Kontakt mit den Patienten auftaucht. Es ist somit eine Position jenseits von Übertragung und Gegenübertragung. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit, die Freud als grundlegende Haltung des Psychoanalytikers beschrieben hat, stellt eine Qualität dieser Verankerung im transpersonalen Bewusstseinsraum dar. Es ist eine beobachtende Haltung, die die Bilder des Klienten vom Therapeuten, also die Übertragungen, als innere Resonanzprozesse sichtbar macht. Gleichzeitig ermöglicht sie auch, heftige Reaktionen auf den Klienten, also Gegenübertragungsprozesse, bei schweren psychischen Störungen wahrzunehmen, ohne von ihnen überflutet zu werden oder ohne dass destruktive Verwicklungen entstehen müssen. Dies will ich nun im Einzelnen nicht erläutern. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es ermöglicht, auch bei schweren psychischen Störungen, wie BorderlineStörungen, Psychosen oder schweren Traumatisierungen, wie sexuellem Missbrauch, eine Art heilenden Kontext in der therapeutischen Beziehung herzustellen, einen gemeinsamen Bewusstseinsraum, der auch schwere Verwirrungen und Verletzungen tragen, bergen, durcharbeiten und heilen lässt. Dieser Bewusstseinsraum entsteht auf beiden Seiten, beim Klienten und beim Therapeuten durch eine Art Resonanzprozess. Solche Resonanzprozesse sind ubiquitär. Kindliche Emotionen beispielsweise, rationale Reflexionen oder die Ausstrahlung innerer Stille und innerer Klarheit wecken komplementäre Strukturen im anderen Menschen. Die Erfahrungen des transpersonalen Bewusstseinsraumes sind Qualitäten des eigenen Wesens, des eigenen Seelengrundes, der, wie Winnicott über das wahre Selbst gesagt hat, unzerstörbar ist, also immer heil ist, nur eben selten schwingt, klingt, sich ausdrückt und als transpersonal arbeitende Therapeuten versuchen wir, diese Dimension in Schwingung zu versetzen, zu aktivieren, also wirksam werden zu lassen. Dies geschieht im Sinne einer WeGanzheitliche Psychotherapie

sensverbindung letztlich ganz automatisch, erfordert jedoch unsere Aufmerksamkeit. Ich will dies jetzt nicht vertiefen, weil dies speziell in die transpersonale Psychotherapie hineinführt. Eine solche Grundhaltung und eine solche Verankerung ist aber die Grundlage auch für spezielle Methoden der transpersonalen Psychotherapie, die sich dann über verschiedene Medien oder Kanäle konkretisieren. Eine solche transpersonale Haltung eines Therapeuten ist aus meiner Sicht Ausdruck einer reifen und höheren Form von Spiritualität. Sie besitzt das Potenzial, Komplexität zu ertragen und sich in der Vielfältigkeit nicht zu verlieren. Da sie jenseits von Perspektiven und Konzepten steht, kann sie freier von und gegenüber Ideologien sein und braucht nichts Wesentliches abzuspalten oder zu verleugnen. Sie besitzt damit eine echte ganzheitliche oder integrale Kapazität. Gleichzeitig besitzt sie eine Werthaltung innerer mitmenschlicher Verbundenheit, aber auch eine Verbundenheit mit der unbelebten Natur und dem Größeren, Höheren und Absoluten. Sie kann damit unseren Klienten helfen, ihrem Leben einen Sinn zu geben und einen Sinn zu finden im größeren Gefüge der Existenz, da sie selbstbezogen ist auf so etwas wie den Grund der Wirklichkeit, den Seins-Grund, das Göttliche und Absolute selbst. Sie bietet auch Perspektiven für die Heilung existentieller Bedrohungen und Störungen, da sie letztendlich Existenz in ihrem jeweiligen So-Sein durchdringt. Wenn es uns gelingt, den Erfahrungsschatz und das Wissen der großen Religionen und spirituellen Wege in die Perspektive unseres abendländischen Denkens zu übersetzen und uns damit fruchtbare Zugänge zu dieser angesammelten Weisheit zu finden, so könnte dies für die gerade mal 100 Jahre alte Psychotherapie enorme Impulse zu ihrer Weiterentwicklung geben. Integrale und transpersonale Perspektiven können einer zukünftigen Psychotherapie also noch mehr Herz und Geist geben. Die Zukunft der Psychotherapie liegt, wie gesagt, in unseren Händen. Lassen wir diese Hände verbunden sein mit der Weisheit unseres Herzens und dem Herzen unserer Weisheit.


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Ganzheitliche stationäre Psychotherapie – Dr. Joachim Galuska, in: Integrative

Therapie, Junfermann-Verlag, 1994, S. 101-112 Der ganzheitliche Arbeitsansatz Den grundlegenden Arbeitsansatz der Fachklinik Heiligenfeld möchte ich als „ganzheitlich“ charakterisieren. [...] Das Charakteristische unseres Ansatzes ist der „Geist des Hauses“, der unser gemeinsames Bewusstsein, unsere Grundüberzeugungen trägt. Dieser Geist durchdringt idealerweise das gesamte Leben der Klinik. Das Leben in einer Klinik ist natürlich eine Erscheinungsweise des Lebens überhaupt, allerdings eine, die zur Heilung beitragen soll. Das dazugehörige therapeutische Konzept ist bereits eine Abstraktion dieses Geistes. Es ist nicht der „Geist des Hauses“ selbst. Wenn dieser sich durch die Darstellung des Therapiekonzeptes erahnen oder gar erspüren ließe, wäre dies natürlich die schönste Begründung für die Bezeichnung einer „ganzheitlichen Therapie“. Ich möchte nun drei Grundelemente darstellen, die einen Zugang zu unserem Therapieverständnis ermöglichen können. Ganzheit Beginnen wir mit einem Text des japanischen Zen-Meisters Huang Po (zit. von Goldner, 1989):

„Das, was Du vor Dir siehst, ist es in all seiner Ganzheit, absolut vollständig.“ Dies ist für uns die zentralste Verankerung: „Es, in all seiner Ganzheit“. Wir gehen aus von der fundamentalen Ganzheit des Seins, der Ganzheit und Vollständigkeit der Wirklichkeit in jedem Augenblick, der Ganzheit des Organismus, ja selbst des kranken Organismus. Diese Ganzheit ist grundsätzlich gegeben, vorhanden, wird aber von uns Men-

schen in der Regel nicht erlebt, wir sind ihrer nicht gewahr. Man könnte sagen: Wir leben zwar die Ganzheit, erleben sie jedoch nicht; wir fühlen uns von ihr getrennt. Erleben Ein zweites entscheidendes Element unseres Therapieverständnisses ist somit die Perspektive des Erlebens: Psychische Schwierigkeiten sehen wir primär als Probleme im Erleben. In der allgemeinen Definition psychischer Krankheit wird üblicherweise von der Pathologie des Erlebens und Verhaltens gesprochen. Für uns sind jedoch Verhaltensweisen und Verhaltensauffälligkeiten ein Ausdruck des jeweils besonderen Erlebens, die zentralere Kategorie ist daher für uns die des Erlebens. Wir erleben Angst und wollen sie nicht. Wir erleben Traurigkeit, Verzweiflung, körperlichen Schmerz und lehnen diese ab. Wir sagen dann: „Ich habe Angst“ oder „ich habe Schmerzen“. Und das Ich ist offenbar jemand anderes als die Angst und die Schmerzen, die es erlebt. Wir fühlen uns aufgespalten. Aber dies ist nur ein Ausdruck der Gespaltenheit, in der wir Menschen uns allgemein erleben. Wir sind aus dem Erleben des Ganzen herausgefallen. Unsere Kultur spricht von dem Verlust des Paradieses oder der Vertreibung aus dem Paradies durch den Akt der Bewusstwerdung, durch die Entwicklung der Fähigkeit zur Erkenntnis, durch die Bildung eines eigenständigen Ich-Gefühls. Wir erleben uns nun getrennt von „Gott“ und „der Welt“. Eine Dualität ist entstanden: Ich betrachte die Welt als da draußen, sehe den anderen Menschen als Fremden, unterschieden von mir selbst. Auch mein Körper, meine Gefühle, meine GedanGanzheitliche Psychotherapie


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ken: ich kann unter ihnen leiden, ich kann sie trainieren, behandeln oder behandeln lassen.

Bewusstwerden können wir wieder ins Paradies zurück“. (Heinrich Jacobi, zit. in Selver, Brooks, 1977).

Diese Getrenntheit und damit die Möglichkeit, bewusst unter etwas anderem zu leiden, entsteht durch unser IchBewusstsein. Es ist scheinbar paradox: Das worunter ich leide, gehört zwar, von außen betrachtet, zu mir und doch ist es mir fremd. Es ist der Kopf, der Magen, die Wirbelsäule, die mir wehtun, die aggressive Phantasie oder das unangenehme Gefühl, die mich stören. Es ist zwar, wie gesagt, von außen betrachtet, objektiv gesehen das Eigene, aber im Erleben, subjektiv, ist es das Fremde. Hierin liegt wohl auch die Grundlage für die Entfremdungsprozesse unserer Zeit, die Entfremdung von der Umwelt, den anderen Menschen, dem Körper, den Gefühlen und Gedanken, dem Göttlichen. Und durch diese Entfremdung wird dann Unterdrückung, Verdrängung, Ausbeutung möglich. Gleichzeitig ist dieses IchBewusstsein für uns Menschen jedoch nötig, weil es uns aus dem unbewussten Erleben der Tiere hinausführt, und wahrscheinlich ist dieses Erleben der Tiere ein unbewusstes Erleben der Ganzheit des Seins.

Wir können davon ausgehen, dass diese Entwicklung des Bewusstseins ein natürlicher Vorgang ist. Unser Geist trägt eine Entwicklungsdynamik zur Überwindung des Ich-Bewusstseins, zur Transzendenz, zu höheren Bewusstseinszuständen in sich. Davon handelt die spirituelle Suche, die Suche des Geistes (Spiritus).

Bewusstheit Der dritte zentrale Zugang zum Verständnis unseres Ansatzes ergibt sich damit nach den Begriffen der Ganzheit und des Erlebens durch den Begriff der Bewusstheit. Unser Verständnis bezieht sich auf die kultur-anthropologischen Studien von Erich Neumann (1968), Jean Gebser (1986) und Ken Wilber (1987), die zu dem Schluss kommen, dass das menschliche Bewusstsein in seiner Evolution eine Entwicklung aus der Unbewusstheit der Tiere über globale archaische Formen einer Art Dämmerbewusstseins bis hin zur heutigen Form des Ich-Bewusstseins durchgemacht hat und dann weiterschreitet zu höheren Formen des Bewusstseins, in denen schließlich wieder die Ganzheit des Seins erlebt und zwar bewusst erlebt werden kann: Bewusst-Sein. „Durch die Erkenntnis wurden wir erst aus dem Paradies vertrieben, und durch Ganzheitliche Psychotherapie

Das therapeutische Konzept Gesundung hat, wie jede Entwicklung, zwei Aspekte. Zum einen ist sie Integration: Integration der Gegensätze, der Spaltungen, des Verdrängten, des Unerledigten, des Unversöhnten, des Schmerzlichen, des Mangels, der Konflikte, des Verwirrten. Zum anderen ist Gesundung auch Wachstum, Neuschöpfung, Entfaltung, Unterscheidung, Abgrenzung, also Differenzierung. Nur das Differenzierte kann integrieren. Unsere therapeutische Arbeit möchte ich von diesen beiden Aspekten her darstellen, die zwar miteinander verwoben sind, aber einmal mehr den Aspekt der Integration und das andere Mal mehr den Aspekt der Differenzierung betonen. Heilung als Wiederganzwerdung des Erlebens Heilung ist für uns grundsätzlich gesehen Ganzwerdung und zwar Wiederganzwerdung des Erlebens des Menschen, und damit auch seines Lebens, seines Verhaltens. Das Fortschreiten des Wiederganzwerdungsprozesses geschieht auf den verschiedenen Entwicklungsebenen, bei den verschiedenen Themen und Inhalten des Erlebens, unterscheidet sich also nicht beim kranken und gesunden Menschen. Die intuitiv empfundene Nähe von Heilen und Ganzsein drücken z. B. Kinder aus, für die man „etwas Kaputtes“ „wieder ganz machen“ oder „heile machen“ soll. Kinder unterscheiden dabei noch nicht zwischen unbelebten und belebten Gegenständen, Krankheiten oder im Spiel beschädigten Konstruktionen. Heilung als


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Ganzwerdung ist ein natürlicher Prozess des Organismus, den wir behindern oder fördern können. Wie in der organischen Medizin gilt auch für uns: Medico curat natura sanat – der Arzt behandelt, die Natur heilt. Wie bei körperlichen Erkrankungen stellen wir zunächst einmal ein heilungsförderndes Milieu her. Wer eine Grippe hat, legt sich ins Bett, er sorgt für ausreichend Schlaf und Ruhe, seine Angehörigen pflegen ihn, versorgen ihn mit Essen und Trinken. Welche sind nun die Bedingungen, unter denen eine Integration leidvollen Erlebens und ein Herauswachsen aus festgefahrenen Mustern stattfinden können? Unser wichtigstes Anliegen ist, eine heilsame Atmosphäre zu schaffen, und um dies zu erreichen, benutzen wir vor allem Metaphern. Wichtig sind uns die Metaphern „Boden“, „Raum“, „Mitte“, „Verbindung“ und „Bewusstheit“. Wir sprechen davon, dass „wir einen Boden bauen, auf dem unsere Patienten sich niederlassen und finden können“. Wir unterstützen das Grounding, betonen die Notwendigkeit, einen „soliden Boden unter den Füßen“ zu haben, gut in der Basis verankert zu sein, um mit intensiven körperlichen oder emotionalen Qualitäten Verbindung aufzunehmen. Wir schaffen eine Atmosphäre des äußeren Zuhauses, die es ihnen ermöglicht, ihr „inneres Zuhause“ zu erleben. Wir lassen „Räume“ (Bewusstseinsqualitäten, die raumhaft erlebt werden) erspüren, z. B. den Raum der „Verbindung“ miteinander, den Raum der Gemeinschaft oder den Raum sich auszudrücken, den Raum auszuprobieren. Wichtig für die Herstellung und Erfahrung von solchen „Räumen“ ist das Moment des Erlaubnisgebens. Ich schaffe damit als Therapeut den Boden, von dem dieser Raum und alles, was in ihm erlebt wird, getragen werden kann. Wir betonen das „in-der-Mitte-sein“, „zurMitte-finden“ und sehen uns damit gut aufgehoben in unserer ärztlichen Tradition. Die Worte Medicus und Medizin tragen ja das lateinische Medi, Medium – die Mitte in sich. Arzt und Medizin als Heilkunde und Medikament sind diejenigen, die wieder zur Mitte führen. Hier sehen wir

auch vom Wort her die große Nähe von Medizin und Meditation, die in unseren Behandlungsangeboten eine große Rolle spielt und auch einen zentrierenden, zur eigenen Mitte führenden Charakter hat. Der Kern der Meditation ist Bewusstheit, Achtsamkeit. Bewusstheit als Awareness ist ja auch ein zentrales gestalttherapeutisches Konzept, und wir können den Ursprung der Psychotherapie überhaupt in dem Streben, Unbewusstes bewusst zu machen, sehen. Die überragende Bedeutung der Bewusstheit im Prozess der Wiederganzwerdung des Erlebens wurde ja auch oben bereits dargestellt. Konkrete Beispiele zur Herstellung dieser heilsamen Atmosphäre sind kurze Schweigephasen, das Benutzen von Gedichttexten oder Geschichten in den Therapien, die Schaffung einer täglichen Zeit der Stille und eines jederzeit nutzbaren Raumes der Stille, die Herstellung von Runden der Unterstützung und Kreisen der Verbindung, z. B. mit den Händen, die Einbeziehung kleiner Rituale in Therapie und Meditation. Solch eine heilungsfördernde Atmosphäre kann aber nur entstehen, wenn das Therapeutenteam sie trägt. Wir verwenden daher viel Aufmerksamkeit auf die Herstellung einer nährenden, liebevollen, sich nicht verwickelnden und bewusstseinsklaren Haltung bei den Mitarbeitern. Auch hier gibt es Schweigephasen, Texte und Gedichte, gemeinsame Meditation und ein differenziertes System von interner und externer Supervision. Diese therapeutische Grundhaltung verstehe ich als Erweiterung von Freuds Konzept der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Therapeuten. Ich möchte sie aber genauer bestimmen als Einstimmung und Verankerung des Bewusstseins des Therapeuten auf einer transpersonalen Stufe des Bewusstseins (Wilber, Engler, Brown, 1988). Strukturgruppe und Personale Gruppe Das Atmosphärische unterliegt der gesamten Behandlung und trägt unterschiedliche Schwerpunkte. Um diese Schwerpunktbildungen zu erläutern, möchte ich das Bild eines Flusses verwenden. Wie alles in der Natur, also auch unser Leben und unser Erleben, ist ein Fluss in ständiGanzheitliche Psychotherapie


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ger Bewegung, er verändert sich, er fließt von der Quelle, seinem Ursprung, zum Meer, in dem er sich auflöst. Der Fluss zwischen Quelle und Meer kann eine Metapher darstellen für das Leben des Menschen zwischen Geburt und Tod. Um zu beschreiben, was der Fluss ist, können wir modellhaft zwei Aspekte herausgreifen: das Flussbett und das fließende Wasser. Beide sind nötig, damit der Fluss ein Fluss ist. Wasser ohne ein Flussbett kann vieles darstellen, wie z. B. einen See, ein Meer, einen Bach, sogar Regen, aber eben keinen Fluss. Ein Flussbett ohne Wasser, ein ausgetrockneter Fluss, ist irgendeine Landschaft, aber eben auch kein Fluss. Beide Komponenten, Flussbett und fließendes Wasser, sind aufeinander bezogen, sie bedingen sich gegenseitig. Ebenso ist es mit uns Menschen: wir wachsen, entwickeln und verändern uns. Dies geschieht jedoch nicht ohne Richtung und ohne Form. Unser körperliches Wachstum, unser psychisches Wachstum, unsere geistige Entwicklung folgen einer Struktur und bauen eine innere Struktur auf. Gleichzeitig lebt etwas innerhalb dieser Struktur, scheint es Kräfte zu geben, die diese Struktur ändern. Ja, unsere Struktur selbst wird aufgebaut von diesen Energien. Unser Organismus, unsere einzelnen Organe, unser ganzer Körper besteht, physikalisch gesehen, aus dem Zusammenspiel der Atome und ihrer energetischen Wechselwirkungen. Wie das fließende Wasser und das Flussbett komplementär aufeinander bezogen einen Fluss darstellen, so können wir auch eine Komplementarität von Energieprozessen und Strukturbildung für unser menschliches Leben und auch für unser Erleben annehmen. Wir verwenden die Begriffe „Flussbett“, „Struktur des Erlebens“, „Struktur der Persönlichkeit“ und die komplementären Begriffe „fließendes Wasser“, „Inhalt des Bewusstseins“, „Energieprozesse des Erlebens“ als Metaphern. Sie sind nicht mechanistisch als feste Größen gemeint, sondern metaphorisch zu verstehen: Wie geht beispielsweise eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur mit ihren inneren Energien um? Dem Flussbild entnehmen Ganzheitliche Psychotherapie

wir zwei Aspekte für die Entstehung von Störungen und Krankheiten. Zum einen kann die Strukturbildung geschwächt oder geschädigt sein. Das Flussufer wäre also nicht gut befestigt und bei Hochwasser kann es leicht zu einer Überschwemmung kommen. Wenn also die inneren Kräfte, die Gefühle und Bilder nicht ausgehalten, gebunden und integriert werden, kommt es zu einer inneren Überschwemmung, der Mensch wird beispielsweise psychotisch. Zum anderen können die Energieprozesse blockiert sein. Der Fluss ist gut befestigt, zu viele Staustufen behindern den Strom, der nur träge dahinfließt. Wenn also die Persönlichkeitsstruktur sehr rigide ist, viele Blockierungen und Panzerungen vorliegen, dann kann es beispielsweise zu psychosomatischen oder neurotischen Symptomen kommen. Aus diesem Verständnis ergeben sich konsequenterweise zwei Schwerpunkte in der Behandlung: die Förderung der Strukturbildung und die Mobilisierung blockierter innerer Kräfte. Je nachdem, welche Förderung ein Patient eher benötigt, wird er für die Gruppentherapie einer sog. Strukturgruppe oder einer sog. Personalen Gruppe zugeordnet. In der Strukturgruppe liegt der Schwerpunkt der Behandlung in strukturbildenden Therapiemaßnahmen (Blanck und Blanck, 1982). Die Therapeuten übernehmen die Rolle von Elternfiguren und arbeiten vorwiegend nährend, unterstützend, nachsozialisierend (Petzold, 1988), führend, auch übend und trainierend. Sie übernehmen sozusagen stellvertretend die mangelhaften oder brüchigen Strukturanteile. In der Personalen Gruppe, in der das Ziel die personale Integration (Perls, 1980), die Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung ist, wird eher aufdeckend gearbeitet, unbewusstes bewusstmachend, den kreativen Ausdruck fördernd, die Biographie verstehend. Selbstverständlich spielt auch der strukturbildende Ansatz in der personalen Therapiegruppe eine Rolle und umgekehrt. Diese Schwerpunktbildung kann durch die übrigen Therapien entweder weiter unterstützt oder auch ausgeglichen werden. Auch im körpertherapeutischen Bereich gibt es beispielsweise die struktur-


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bildende Bewegungsarbeit auf der einen Seite oder die katharsisfördernde Atemgruppe auf der anderen Seite. Wie bei der Herstellung der Atmosphäre, sollen die Begriffe Flussbett und fließendes Wasser, Struktur und innere Energieprozesse, für Therapeuten und Patienten eine innere Haltung ermöglichen, die Heilung fördert. So könnten wir sagen: Wenn meine Struktur gefestigt ist, genügend Boden besitzt, Raum dafür da ist, dass meine Energien fließen können, und ich mit mir in der Tiefe in Berührung bin, dann kann Heilung geschehen, gesundes Wachstum ist dann möglich, eine innere Verwandlung kann stattfinden. Therapiemethoden Lassen sie mich nun zu den einzelnen Therapiemethoden kommen, die sich aus dem Moment der Differenzierung im Rahmen des Heilungsprozesses ergeben. Schlussfolgernd aus dem zunehmend differenzierteren Selbsterleben und unter Würdigung der Komplexität des ganzen Menschseins, können wir vier Perspektiven in unserem Menschenbild unterscheiden: Der Mensch ist eine Leib-Seele-Geist-Einheit in Beziehung zur Umwelt und anderen Menschen (Petzold, 1974). Diese vier Perspektiven des Leibes, der Seele, des Geistes in Bezogenheit auf die Welt und die Mitmenschen sind ständig gemeinsam präsent, sie können aber auch Schwerpunkte, spezifische Blickwinkel in unterschiedlichen therapeutischen Methoden, die wir verwenden, sein. Leibtherapien Die Leibtherapien, nicht primär als Behandlung des Körpers, sondern als Behandlung des Körpererlebens verstanden, sind uns sehr wichtig, da ein zentriertes und harmonisches Körpererleben in unserer Kultur im allgemeinen eher vernachlässigt ist und darüber hinaus die therapeutischen Effekte körpertherapeutischer Arbeit besonders hoch sind. Wir verwenden dabei ein breites Spektrum von Verfahren: funktionelle und übende Methoden, strukturbildende, also auf die Entwicklung einer angemessenen Struktur des Körpererlebens, das Körperschema, ausgerichtete Methoden, erlebnisorientierte und konfliktzentrierte,

also eher körpertherapeutisch aufdeckende Verfahren (s. auch Petzold, 1985). Da gibt es die tägliche Morgengymnastik oder die Laufgruppe, die tägliche strukturbildende Bewegungsarbeit für frühgestörte Patienten. Die Nachmittagsangebote umfassen TaKeTiNa, die rhythmustherapeutische Gruppe (Flatischler, 1984), Aikido, ein harmonisches, aus den japanischen Kampfsportarten abgeleitetes Bewegungssystem, die Wassergruppe, wo einer den anderen im Wasser trägt und hin- und herschwingt, die Massagegruppe, in der die Patienten sich gegenseitig massieren, die Gruppe der Sinne (Selver, Brocks, 1977), die Arbeit mit der Stimme, die Bewegungstherapie, in der die Einheit des leiblichen Fühlens und Seins im Vordergrund steht (Petzold, 1977), die Atemgruppe, in der mit Hilfe einer leichten Hyperventilation kathartische Effekte möglich werden. Ich will die Verfahren im Einzelnen nicht erläutern. Wie Sie aber schon erahnen können, sind einige unserer Therapien nicht primär darauf ausgerichtet, unbewusstes, konflikthaftes Material zu mobilisieren, um so eine Befreiung von körperlichem und psychischem Leid zu ermöglichen, sondern positive Erfahrungen, z. B. über die Aktivierung der Sinne, zu ermöglichen. Die Psychotherapie ist bisher zu einseitig auf das Durcharbeiten des Leidvollen orientiert und wir möchten dies durch die „Arbeit“ mit der Freude, dem Schönen und Angenehmen ergänzen. Nur auf diese Weise erscheint es uns möglich, den Körper als ein „Zuhause“ erleben zu lernen, in das man sich verankern kann und aus dem Lebensfreude und Lebenskraft erwachsen. Psychotherapie In der Arbeit mit dem Seelischen, also der Psychotherapie, orientieren wir uns an einem tiefenpsychologischen Konzept humanistischer Psychologie, einem integrativen Ansatz der Gestalttherapie (Polster und Polster, 1975, Petzold,1974). Im Rahmen der fünfmal wöchentlich stattfindenden Gruppentherapie, an der praktisch jeder Patient teilnimmt, wird nicht nur Unbewusstes aufdeckend bearbeitet, sondern auch im Rahmen des Experimentierfeldes Gruppe in spielerischer WeiGanzheitliche Psychotherapie


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se, z. B. durch Gruppenübungen, Neues entdeckt und ausprobiert. Dabei spielen Medien, wie z. B. die Arbeit mit Farben, mit kreativem Material, mit Phantasie, dramatischem Spiel oder der Bewegung eine große Rolle. Eine Rollenspielgruppe und aufdeckende, konfliktzentrierte Arbeit mit kreativen Medien, z. B. als Maltherapie, sind darüber hinaus spezielle Behandlungsangebote für die Patienten. Meditation Die dritte Perspektive, die Therapie des Geistes, wenn man dies einmal so nennen will, halten wir für eine wichtige Funktion des Therapeuten, der immer auch Lebenslehrer ist, also nicht nur therapeutische, sondern auch pädagogische Funktionen besitzt. Wir führen daher wöchentlich einen Vortrag über Fragen des Behandlungskonzeptes oder gesunder Lebensführung durch und erklären auch im Rahmen der Therapien unser Verständnis der entsprechenden Prozesse. Dabei zeigt sich, dass häufig grundsätzliche existentielle Fragen, wie die nach dem Sinn des Lebens, dem Tod oder der Existenz des Göttlichen, gestellt werden. Hier ist es notwendig, ein authentischer Gesprächspartner zu sein und gleichzeitig mit Respekt die unterschiedlichen weltanschaulichen und religiösen Wege zu würdigen. Wir bieten Methoden der Meditation an, um die Möglichkeiten der Besinnung zu vertiefen, zu erweiterten Formen des Bewusstseins oder zu einer höheren Warte zu gelangen, von der aus sich die aktuelle Problematik oder die verfestigten Lebensmuster gleichfalls relativieren können. Dabei haben wir versucht, verschiedene Zugänge zur Meditation aus unterschiedlichen Kulturkreisen in aufgeklärter Weise herauszuarbeiten (s. auch Petzold, 1983, Zundel, Fittkau, 1989). Da gibt es die stille Meditation, die Gehmeditation, die aktive dynamische Bewegungsmeditation, auch als Tanzmeditation, Klangmeditation, Licht- und Heilmeditation, christliche Meditation und meditative Rituale, die archetypische Symbole integrieren helfen sollen. Die ausführliche Darstellung des Meditationskonzeptes würde aber diesen Rahmen sprengen. Welche Ganzheitliche Psychotherapie

Bedeutung diese Perspektive für uns hat, zeigt sich auch an der Tatsache, dass praktisch alle Mitarbeiter Erfahrungen mit Meditation haben und die eine oder andere Methode für sich persönlich praktizieren. Therapie im Beziehungsfeld Die vierte Perspektive, der Beziehungsaspekt des menschlichen Daseins, stellt auch die Grundlage dafür dar, dass wir im Rahmen der therapeutischen Beziehung überhaupt eine Heilung ermöglichen können. Das psychische Leid unserer Patienten ist in „kränkenden“ Beziehungserfahrungen entstanden und kann daher in der Regel nur im Rahmen „heilsamer“ Beziehungen heilen. Gleichzeitig gilt es, Verhaltensweisen zu entdecken, kennenzulernen und zu lernen, mit denen ungünstige Beziehungsmuster nicht wiederholt werden, sondern glücklichere Beziehungen gestaltet werden können. Das Beziehungsfeld der Patienten und Mitarbeiter ist daher nicht nur ein Projektionsfeld, in dem der Patient sich im Spiegel seiner Beziehungen erkennen kann, sondern auch ein Feld gegenseitiger Unterstützung, ein Experimentierfeld und ein Feld der Übung und des Lernens. Dieses Konzept milieu- und soziotherapeutischer Arbeit verstehen wir als Erweiterung des Gedankens der therapeutischen Gemeinschaft und der Behandlung nach einem integrativen Modell stationärer Psychotherapie (Janssen, 1987). Elemente dieses „Beziehungsfeldes“ stellen z. B. folgende dar: die Priorität der Arbeit mit Gruppen gegenüber der Einzeltherapie, auch in der Arbeit mit schweren und „frühen“ Schädigungen, sinnstiftende Beziehungserfahrungen in der Klinikgemeinschaft z. B. durch Großgruppen, Gesamt-Versammlungen oder PatientenVersammlungen; ein System gegenseitiger Unterstützung und Verantwortungsstrukturen, z. B. durch Paten (jeder neue Patient bekommt für die ersten Tage zur Orientierung im Klinikablauf einen Mitpatienten, der schon länger da ist, als Paten), durch Ämter wie Versammlungsleiter der Patientenversammlung, Weckdienst, Bücherausleihe, Pflanzenbetreuung usw. Daneben werden die Patienten einbezogen in Alltagsabläufe, z. B. gibt es Tischdienste, die Zimmer sind selbständig aufzuräumen.


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Hier müssen auch die Trainingsgruppen basaler Fertigkeiten genannt werden, wie z. B. die Gartengruppe oder die Projektgruppe, in der die Patienten an überschaubaren Projekten, z. B. Herstellung von Regalen oder Meditationsbänkchen, handwerklich konkrete Erfahrungen machen können. Während der wöchentlichen Gesamtversammlung aller Mitarbeiter und Patienten, in der sich die demnächst nach Hause gehenden Patienten verabschieden und die gerade angereisten begrüßt werden, ist am stärksten das Zusammenwirken der verschiedenen Perspektiven und ihr Eingebettetsein in die atmosphärische Kraft des Ganzen erlebbar und spürbar, so dass wir diese Veranstaltung für Besucher und Gäste geöffnet haben. So kann über das intellektuelle Verstehen des Therapiekonzeptes hinaus durch die teilnehmende Erfahrung vielleicht ein Geschmack von der Ganzheit des Seins gewonnen werden. Die Spannungsfelder des ganzheitlichen Klinikkonzepts Ich habe die Klinikkonzeption aus der Haltung der inneren Vision, vom Platz des Herzens, aus der Verankerung im Existentiellen dargestellt. Gleichzeitig befindet sich die Arbeit in einer Reihe von Spannungsfeldern, die sich alltäglich zeigen und beständig ihren kreativen Ausdruck suchen. Das Spannungsfeld zwischen einem ganzheitlichen Konzept und notwendigem medizinisch-psychiatrischem Denken zeigt sich beispielsweise an der Grenze von Psychotherapie und Psychopharmakologie oder aber auch an der beständigen Übersetzungsnotwendigkeit zwischen metaphorischen und psychopathologischen Begriffen, z. B. in Arztbriefen oder Verlängerungsanträgen. Insbesondere das Spannungsfeld zwischen dem therapeutischen Raum und der gesellschaftlichen Welt, die die Klinik als Rehabilitationsklinik verfasst, wird immer wieder deutlich spürbar: Die Behandlungsdauer wird häufig von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen bestimmt; der Übergang in eine ambulante Behandlung und das häusliche Umfeld gestaltet

sich für einige Patienten sehr schwierig und schmerzlich, obwohl wir dies von Anfang an mit den Patienten thematisieren und vorbereiten und eine Nachsorge durchführen. Das Spannungsfeld der persönlichen Entwicklungs- und Heilungsbedürfnisse der Mitarbeiter, die bei einem solchen Konzept als ganze Personen einbezogen sind, gegenüber dem beständig wirksamen Behandlungsauftrag, zeigt sich an der regelmäßigen Identitätskrise eines neuen Mitarbeiters im Team oder auch an der Tatsache, dass bei Stellenbewerbungen Kriterien der Persönlichkeitsentwicklung eines Bewerbers gegenüber seiner fachlichen Qualifikation eine immer größer werdende Bedeutung erhalten. Das Spannungsfeld zwischen den konzeptionellen Grundüberzeugungen und den ökonomischen Erfordernissen zeigt sich natürlich an vielen äußeren Grenzen, die durch den Pflegesatz bestimmt sind. Selbstverständlich könnte das Haus noch geräumiger sein, der Stellenplan umfangreicher, das Essen edler und der Luxus größer. Um das Vorhandene zu stärken und zu verschönern, haben wir daher eine sog. Caring-Stelle eingerichtet für eine Mitarbeiterin, die für die Verschönerung der Räume und die Unterstützung aller Mitarbeiter, z. B. durch Massagen zuständig ist. Auch diese Spannungsfelder benötigen unsere Anerkennung, denn sie vervollständigen unseren Blick. Auch sie sind als komplementär anzusehen: Wie Flussbett und strömendes Wasser erst den Fluss ergeben, führt erst ihre Einbeziehung, Anerkennung und Würdigung zu einem angemesseneren Verständnis ganzheitlicher stationärer Therapie. (Galuska, 1993). Dennoch sind all dies nur Konzepte und Metaphern, durch die wir hindurchschreiten und die wir zurücklassen. Nur das Ziel, die Ganzheit und Einheit des Menschseins erlebbar zu machen, die Verankerung im Wissen um die Ganzheit des Seins, und der Respekt vor der Schönheit und Größe der Existenz, die sich letztendlich der Beschreibung entzieht und geheimnisvoll bleibt, begründen in der Tiefe das Anliegen ganzheitlicher Therapie. Ganzheitliche Psychotherapie


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Und so möchte ich am Ende mit einem Text indianischer Weisheit zum Anfang zurückkehren (Wolfgang Poeplau, 1984):

Im Anfang war das Schweigen. Das Schweigen der Felsen, des Himmels, der Gräser. Das Schweigen der Nacht und des Schöpfungsmorgens. Lange bevor alles beim Namen genannt wurde, bevor Berg zu Berg, Stein zu Stein, Erde zu Erde wurde, war schöpferisches Schweigen. Ewigkeit aller Ideen und Worte, Respekt des Lebens vor dem Geheimnis. Bevor ich, bevor wir alle beim Namen gerufen wurden, war die Welt wortlos.

Literatur Blanck G. und Blanck R., Angewandte Ich-Psychologie, Stuttgart 1982 Flatischler, R., Die vergessene Macht des Rhythmus, Essen 1984 Galuska, J., Klinik und Gestalt. In: Buchholtz, F. (Hrsg.), Klinik und Gestalt, Nürnberg 1993 Gebser, J. (1966), Ursprung und Gegenwart, Gesamtausgabe Band II, Schaffhausen 1986 Goldner, C.G., Mit Drachengewalt und Donnerstimme, München 1989 Janssen, P.L., Psychoanalytische Therapie in der Klinik, Stuttgart 1987 Neumann, E., Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, München1968 Perls, F., Gestalt, Wachstum, Integration, Paderborn 1980 Petzold, H. (1974), Integrative Bewegungstherapie. Petzold, H., Integrative Bewegungs- und Leibtherapie, Paderborn 1988, S. 59-172 Petzold, H. (Hrsg.), Psychotherapie, Meditation, Gestalt, Paderborn 1983 Petzold, H. (1985), Die modernen Verfahren der Bewegungs- und Leibtherapie und die „Integrative Bewegungstherapie“. In: Petzold, H., Integrative Bewegungs- und Leibtherapie, Paderborn 1988, S. 21-58 Petzold, H. (1988), Die vier Wege der Heilung in der Integrativen Therapie. In: Petzold, H., Integrative Bewegungs- und Leibtherapie, Paderborn 1988, S. 173-283 Poeplau, W., In die Mitte der Welt führt Deine Spur, Freiburg 1984 Polster, E. und Polster, M., Gestalttherapie, München 1975 Selver, C., Brooks, C. (1977), Sensory Awareness. In: Petzold, H., Psychotherapie & Körperdynamik, Paderborn 1977, S. 59-77 Wilber, K., Halbzeit der Evolution, München 1987 Wilber K., Engler J., Brown D.P., Psychologie der Befreiung, München 1988 Zundel, E., Fittkau, B. (Hrsg.), Spirituelle Wege und transpersonale Psychotherapie, Paderborn 1989 Ganzheitliche Psychotherapie


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Körperpsychotherapie im Spektrum der Strukturniveaus Dr. Joachim Galuska, Dorothea Galuska, in: Handbuch der Körperpsychotherapie, G. Marlock, H. Weiss, Schattauer Verlag, 2006, S. 585-597 Aus klinischer Sicht berücksichtigt eine körperpsychotherapeutische Arbeit immer auch die Störung der Klienten bzw. Patienten. Dabei hat es sich erwiesen, dass die Struktur der Persönlichkeit bzw. die Organisation des seelischen und körperlichen Erlebens wesentliche Unterschiede in der grundsätzlichen Art körpertherapeutischer Arbeit und der körperbezogenen Interventionen erfordert. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, ein integratives und möglichst umfassendes klinisches Modell zu entwerfen, das sowohl den unterschiedlichen Störungsstrukturen, als auch der gesunden, sich weiterentwickelnden Organisationsstruktur der Persönlichkeit angemessen ist.

derline-Störungen. Sie zeichnen sich durch ein instabiles, fluktuierendes, schwankendes Erleben und Verhalten und eine Neigung zu Extremen aus, haben aber meist keine ausgeprägt psychotischen Symptome, wie Stimmen hören oder Wahnbildungen. Wohl der bedeutendste Autor auf dem Gebiet der Borderline-Störungen ist Otto Kernberg, der diese Störungsgruppe als Charakterpathologien versteht und ein erstes umfassendes Modell der den klinischen Diagnosen zu Grunde liegenden Charakterpathologien entwickelte. Er unterscheidet neben der normalen Persönlichkeit, die neurotische, die Borderline- und die psychotische Persönlichkeitsorganisation (Kernberg, 1996).

Schon lange vor dem wissenschaftlichen Zeitalter hat es Versuche gegeben, Ordnungssysteme für die vielfältigen Störungsbilder zu entwickeln, aber erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten beginnt sich ein klinisch brauchbares Modell abzuzeichnen. Den Beginn dieser Entwicklung sehen wir in der Unterscheidung zwischen psychotischen und nicht psychotischen Störungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Psychosen wurden verstanden als „Spaltungen der Seele“, als extreme Veränderungen des Erlebens, die die Sinnkontinuität des Lebens zerreißen und die Grenze der Verstehbarkeit überschreiten. Sie wurden zunächst scharf abgegrenzt von den übrigen „abnormen Erlebnisweisen“, die hauptsächlich zu den neurotischen Verarbeitungsformen gezählt wurden. Diese scharfe Grenze zwischen Psychosen und Neurosen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt, und eine eigene Störungsgruppe wurde für diesen Übergangsbereich beschrieben: die Bor-

In der Auseinandersetzung mit seinem klinischen Modell entwickelte sich eine Konzeption, die sich nicht nur auf eine Typologie der Charakterpathologie bezog, sondern den Grad der Strukturiertheit unseres Erlebens und Verhaltens in den Vordergrund stellt. Dabei ist das entscheidende Kriterium das Ausmaß der Integration der seelischen Organisation. Im deutschen Sprachraum wurde mit der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik ein System vorgelegt, das neben den Achsen Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Beziehung, Konflikt und psychische und psychosomatische Störungen eine eigene Achse „Struktur“ beschreibt (Arbeitskreis OPD, 1996). Die Achse „Struktur“ unterscheidet neben der guten Integration eines gesunden Menschen eine mäßige Integration, eine geringe Integration und eine Desintegration. Die neurotische Struktur entspricht einer guten bis mäßigen Integration, die Borderline-Struktur entspricht einer mäßigen bis Ganzheitliche Psychotherapie


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geringen Integration und die psychotische Struktur entspricht einer Desintegration. Dieses klinische Modell wollen wir im Folgenden verwenden, es jedoch noch um eine zusätzliche Dimension erweitern, die auf Ken Wilber zurückgeht. Wilber entwickelte aus der abendländischen Entwicklungspsychologie, der Entwicklungsgeschichte der Menschheitskulturen und der östlichen spirituellen Wege ein umfassendes Modell des Spektrums menschlichen Bewusstseins vom Kleinkind bis weit über das durchschnittlich Erwachsenen-Bewusstsein hinaus und beschreibt dabei eine Reihe von sich auseinanderentwickelten Organisationsstrukturen unseres Erlebens und Verhaltens (Wilber, 2001). Dabei unterscheidet er präpersonale Stadien in der Kindheitsentwicklung, in denen das Kind sich zunehmend differenziert und als eigenständiges und abgegrenztes Ich zu erleben beginnt, von den personalen Stadien eines Erwachsenen, in denen das Ich-Bewusstsein ausgereift ist und die Vernunft unser Handeln bestimmt, und den darüber hinausgehenden transpersonalen Stadien, in denen das Ich-Bewusstsein relativiert wird und zunehmend als Ausdruck eines zunächst transzendenten universellen oder absoluten Seins erfahren wird. Ähnlich wie die tiefenpsychologische Entwicklungspsychologie ordnet er die beschriebenen Störungsstrukturen einem Versagen der Differenzierung und Integration eines Entwicklungsstadiums zu. Die oben beschriebenen Störungsstrukturen von Psychosen, Borderline-Störungen und Neurosen sollen demnach auf einer Fixierung in den ersten drei präpersonalen Stadien beruhen. Die Ergebnisse der modernen Säuglings- und Kleinkind-Forschung weisen jedoch darauf hin, dass die übliche Verknüpfung von Entwicklungspsychologie und Psychopathologie nicht haltbar ist. Beispielsweise erklärt zwar die Situation eines Kleinkinds in der Loslösung aus der Symbiose viele Phänomene bei Borderline-Patienten, doch das wesentliche klinische Phänomen, die Spaltung der Ich-Zustände und der Beziehungen ist bei Kindern in dieser Form nicht nachzuweisen. Lediglich in hyperaktiven Zuständen im späteren Säuglingsstadium könnten solche Spaltungsprozesse Erklärungswert besitzen (Lichtenberg, 1990). Darüber Ganzheitliche Psychotherapie

hinaus finden wir bei Borderline-Patienten neben Persönlichkeitsanteilen, die als Fixierung auf kindliche Erlebnisformen erklärt werden könnten, auch eine Fülle reifer und erwachsener Verhaltensweisen. Dies wurde von Stauss (1994) als horizontale Spaltung zwischen erwachsenen und kindlichen Anteilen im Unterschied zur vertikalen Spaltung zwischen guten und bösen Introjekten bezeichnet. Solche Überlegungen treffen natürlich auch für die anderen Störungsstrukturen zu. Wir halten daher die klinische Einteilung Kernbergs bzw. der operationalen psychodynamischen Diagnostik für ein brauchbares Modell der Strukturiertheit des Erlebens und Verhaltens eines Erwachsenen und bezeichnen die gesunde erwachsene Struktur als personale Struktur. Darüber hinaus beziehen wir die Möglichkeit der personalen Struktur zu ihrer Transformation und Weiterentwicklung hin zu einer transpersonalen Struktur ausdrücklich mit ein, so dass wir für unser klinisches Modell folgende fünf Strukturen unterscheiden: die psychotische Struktur, die Borderline-Struktur, die neurotische Struktur, die personale Struktur und transpersonale Struktur. Selbstverständlich ist diese Einteilung eine Vereinfachung, zumal die dargestellten Strukturen nicht scharf voneinander abgegrenzt sind, sondern ineinander übergehen, eben je nach Ausmaß von Integration bzw. Desintegration und nach der Entwicklungsdynamik der Persönlichkeit. Sie ist jedoch für die klinische Praxis außerordentlich brauchbar, da sie völlig unterschiedliche Interventionsformen und Themen zur Folge hat. Wir werden im Folgenden jede Struktur kurz beschreiben, die für diese Struktur geeignete, wesentliche Interventionsqualität erläutern, typische körpertherapeutische Methoden dafür beschreiben und Beispiele aus unserer klinischen Praxis geben. Da erfahrungsgemäß für Erfolg oder Misserfolg einer Therapie der Umgang mit der Gegenübertragung des Therapeuten entscheidend ist und dies auch in der körpertherapeutischen Arbeit die heikelste Thematik darstellt, werden wir auch für jede Struktur einige grundsätzliche Anmerkungen zum Umgang mit den jeweils typischen Gegenübertragungsreaktionen


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machen. Am einfachsten und vertrautesten in der Tradition der Körperpsychotherapie ist unsere Vorgehensweise bei neurotischen Strukturen, so dass wir damit beginnen wollen. Die neurotische Struktur (gute bis mäßige Integration) Die neurotische Struktur ist charakterisiert durch einen meist unbewussten Konflikt. Der Konflikt wird unterschiedlich begründet. Psychoanalytisch gesehen ist es der Konflikt zwischen Triebimpulsen und Abwehr oder zwischen Ich, Es, Über-Ich und Außenwelt. Die Symptombildung gilt als neurotischer Kompromiss. Im System der operationalisierten pychodynamischen Diagnostik werden folgende Konfliktarten unterschieden: Abhängigkeit vs. Autonomie, Unterwerfung vs. Kontrolle, Versorgung vs. Autarkie, Selbstwertkonflikte, Schuldkonflikte, ödipal-sexuelle Konflikte, Identitätskonflikte und fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung (Arbeitskreis OPD 1996). Ein solcher innerer Konflikt kann sich in allen Dimensionen der leiblich-seelisch-geistigen Einheit des Menschen und in seinen Beziehungen ausdrücken. Im Körperlichen führt der unbewusste Konflikt zu einer Blockierung. Dies kann ebenso wie eine traumatische Situation, deren Zyklus nicht abgeschlossen werden kann, zu einer Verpanzerung und Kontraktion im muskulären Bereich, zu einer Verklebung und Beweglichkeitseinschränkung der Weichteile, zu einer Unterbrechung der Flüssigkeitsbewegungen und Veränderung der Stoffwechselprozesse führen, so dass es auf vielfältige Weise zu Schmerzempfindungen und Funktionseinschränkungen kommt. Die wesentliche Interventionsqualität auf Körperebene möchten wir als mobilisierend bezeichnen. Ihre Absicht ist, die Blockierung aufzulösen, Unterbrochenes in Fluss zu bringen. Die entsprechenden therapeutischen Methoden können insofern als aufdeckend oder erlebnisaktivierend bezeichnet werden, zumal die entsprechende Katharsis häufig mit Erinnerungen an traumatische Situationen und konflikthafte Themenbereiche verbunden ist. Der Interventionsstil kann dabei eher dynamisch oder sanft sein. Typische körpertherapeutische Methoden, die einen

mobilisierenden Charakter haben und in unserer Klinik angewandt werden: Die Atemgruppe, in der vergleichbar zur holotropen Atemarbeit, zum Rebirthing und zur orgodynamischen Atemarbeit mit Hilfe einer bewussten, leicht vertieften Atmung und musikalischer Unterstützung jeweils begleitet von einem Partner kathartische Körperprozesse ermöglicht werden, Die körperdynamische Gruppe, in der mit dynamischen Methoden aus der Orgodynamik, der Bioenergetik und anderen dynamischen Körpertherapien, z. B. mit Beckenübungen, Fallübungen und Regressionsangeboten, gearbeitet wird,. Die Aggressionsgruppe, in der in vielfältigen Übungen unter Einsatz von Stimme, Bewegung und Kontakt das eigene Aggressionspotenzial erforscht werden und die Differenzierung aggressiver Gefühle und die Kontrolle und der Ausdruck aggressiver Impulse gelernt werden kann. Zu den mobilisierenden körpertherapeutischen Methoden gehören vor allem die reichianischen und neo-reichianischen Verfahren. In unserer Klinik finden sie Anwendung in der Atemgruppe, der körperdynamischen Gruppe, der Aggressionsgruppe. Aber auch einige dynamische Meditationsformen besitzen ein erhebliches körperdynamisch-mobilisierendes Potential als Vorbereitung zur Stille. Wir wollen hier kurz ein Beispiel aus der klinischen Arbeit für diese Interventionsqualität geben: Innerhalb von DreierGruppen sollen sich nonverbal Paare finden. Ziel für jedes Mitglied der Gruppe ist es, Teil des entstehenden Paares zu sein. Diese Vorgabe kann auf verschiedenen Ebenen die Themen Konkurrenz und Ausgeschlossensein aktualisieren, z. B. Geschwisterrivalität in der Familie, die verschiedenen Paarbildungen zwischen Mutter, Vater und Kind oder auch Rangeleien im Kindergarten- oder Schulalter. Die Möglichkeiten, mit dieser Vorgabe umzugehen, reichen von einer heiterspielerischen Atmosphäre bis zum erbitterten Kampf um den ersehnten Platz in Ganzheitliche Psychotherapie


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der Zweisamkeit oder einer Verweigerung jeder Aktivität. Aus klinischer Sicht sind die Gegenübertragungsreaktionen der Therapeutin oder des Therapeuten, gerade auch bei körpertherapeutischen Interventionen, besonders zu beachten. Unter Gegenübertragung verstehen wir sowohl die eigene Übertragung des Therapeuten auf den Patienten, die aus der ungelösten Geschichte des Therapeuten stammt, als auch die typische und passende gefühlsmäßige und körperliche Antwort des Therapeuten auf die Übertragung des Patienten. Die wesentliche Aufgabe des Therapeuten in der Körpertherapie bei neurotischen Strukturen besteht darin, zu einer prozessbezogenen angemessenen Antwort auf die körperlichen Prozesse des Klienten zu gelangen. Seine Abstinenz und Neutralität kann zum einen gefährdet sein durch eigene unerledigte neurotische oder narzisstische Bedürfnisse, sowohl körperlicher als auch gefühlsmäßiger Art, die einen gewissen Missbrauch der Therapiesituation bewirken können. Zum anderen kann es zu einem vielfältigen Mit- oder Gegenagieren kommen, beispielsweise indem der Therapeut versucht, eine bessere Mutter zu sein und jedes unangenehme Gefühl des Patienten sofort zu lindern usw. Die günstigste Haltung gegenüber diesen Gegenübertragungsphänomenen besteht einerseits in einer klaren Aufgabenorientierung, dem Klienten und seinen Prozessen zu dienen, andrerseits in einer kontinuierlich begleitenden alle Phänomene beobachtenden Position. Die Borderline-Struktur (mäßige bis geringe Integration) Die Borderline-Struktur weist eine weniger integrierte Organisationsstruktur des Erlebens auf, die vor allem durch die Neigung zu Spaltungen, Dissoziationen, gekennzeichnet ist. In der Tiefenpsychologie wird gesprochen von einer ichstrukturellen Störung oder einer Störung der Ich-Organisation (Blanck und Blanck, 1982). Die Identitätsentwicklung und damit insbesondere die Entwicklung von Selbstgefühl und Selbstkonzept und von differenzierten Beziehungen ist in vielfältiger Weise defizitär und geschwächt. Ganzheitliche Psychotherapie

Insbesondere ist die Struktur des Erlebens nicht stabil, integriert und geordnet. So findet man häufig wechselnde intensive Gefühlszustände, Neigung zu Extremen, eine extreme Selbstwertproblematik, eine Abgrenzungsschwierigkeit gegenüber anderen Menschen und eine mangelhafte Selbstkontrolle, so dass es häufig zu Aggressionsausbrüchen, Selbstverletzungen oder suchthaften Verhaltensweisen kommt. Die Beziehungen zu anderen Menschen sind sehr intensiv, aber extrem schwankend, oder aber sie sind kaum möglich, so dass es zu sozialer Isolation kommen kann. Der eigene Körper wird mechanisch als Maschine erlebt, als ein Objekt benutzt oder gehasst. Oder er wird als Gegenüber gesucht bzw. manipuliert, um spezielle Effekte zu erreichen, wie beispielsweise eine körperliche Entlastung durch Erbrechen oder motorische Überaktivität zu erwirken. Häufig wird der eigene Körper abgelehnt und bestraft für sein Sosein, und in diesem Sinne missbraucht. Wenn dies auch nicht immer derart ausgeprägt ist, so weisen doch Borderline-Strukturen immer auch eine Strukturstörung des Körpererlebens auf, wobei insbesondere das Gefühl der Grenze, der Mitte, der Körperform als männlicher oder weiblicher Körper, das Körpergefühl der verschiedenen unterschiedlichen Körperbereiche und der körperliche Kontakt zu anderen Menschen gestört sind. Der angemessene körpertherapeutische Interventionsstil für eine Borderline-Struktur ist eine Mischung aus mobilisierendaufdeckenden Interventionen, wie sie für die neurotische Struktur beschrieben wurden, und aus strukturbildenden Interventionen, abhängig vom Grad der Integration der Struktur. Strukturbildende Therapie dient nach Blanck und Blanck (1982) der Verinnerlichung von Erfahrungen, die die Persönlichkeitsentwicklung fördern und Strukturelemente der Ich-Organisation, wie z. B. Selbststeuerungsfähigkeit, bilden. Dabei hat insbesondere die grenzensichernde, schützende, aufbauende und strukturierende Komponente dieser Interventionsqualität eine besondere Bedeutung, da Borderline-Strukturen häufig Grenzverletzungen aufweisen, wie sie in-


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folge von Gewalterfahrungen oder sexuellem Missbrauch entstehen. Die folgenden Erläuterungen beziehen sich nun schwerpunktmäßig auf die strukturbildende Interventionsqualität. In unserer Klinik haben sich einige körpertherapeutische Methoden bei Borderline-Strukturen als günstig erwiesen: Die täglich stattfindende strukturbildende Bewegungstherapie betont das Erspüren des Körpers, der Körperform, der Körpergrenzen und das zuhause-Sein im eigenen Körper. Im TaKeTiNa (Flatischler, 1984), einer rhythmustherapeutischen Gruppe, in der insbesondere im Rhythmuskreis mit Hilfe von basalen Grundrhythmen in einfachen Schrittfolgen, Klatschen und Singen eine gemeinsame polyrhythmische Erfahrung entsteht, können fundamentale Elemente organismischen Erlebens, wie z. B. Pulsieren, Strömen, Periodizität, Gleichzeitigkeit und Unabhängigkeit unterschiedlicher Rhythmen, Verankerung in einer (existentiellen) Basis und kreative Gestaltung der (Lebens-)Melodie verinnerlicht werden. In unserer Traumagruppe können gezielt verletzte Körperbereiche in ein gesamtes Körpergewahrsein re-integriert werden, indem ein sehr langsamer und behutsamer eigener Kontakt zu diesem Bereich hergestellt wird und in eigener Dosierung zunehmend vertieft und präzisiert wird. Darüber hinaus besitzen die asiatischen Bewegungssysteme, wie Tai Chi, Qi Gong und das Aikido, auch das Hatha-Yoga eine starke strukturbildende Komponente. Sie wurden und werden teilweise auch in unserer klinischen Arbeit eingesetzt und haben sich gerade durch die Sicherheit der Form und die Ausgereiftheit der Methode bei Borderline-Strukturen als sehr beliebt und nützlich erwiesen. Wir wollen ein Beispiel für die strukturbildende Interventionsqualität aus der klinischen Arbeit geben: Eine Möglichkeit, diesen Patienten ein Gefühl von Sicherheit, Schutz und einen konstruktiven Umgang mit Grenzen zu ermöglichen, besteht in der Aufforderung, sich zusätzlich mit einer Decke (an heißen Tagen mit einem Baum-

wolltuch) zu umhüllen, soweit es sich gut und sicher, nicht einengend, anfühlt. Jeder kann entsprechend seiner Leibgeschichte und seiner aktuellen Verletzlichkeit das Medium nutzen, um Geborgenheit und Wärme zu finden. Manche Patienten verschwinden hierbei fast vollständig unter der Decke, sie hüllen sogar Kopf und Gesicht ein. Im weiteren Verlauf der Übung werden die Patienten aufgefordert, miteinander in Kontakt zu treten und dabei jeweils soviel ihres Körpers zu zeigen oder zu verhüllen, wie ihrem Gefühl der Vertrautheit in diesem Kontakt entspricht. So können sie das Öffnen und Schließen ihrer Schutzhülle üben und dabei gleichzeitig, je nach ihrem Gegenüber, verschiedene Varianten von Misstrauen oder Vertrauen im Kontakt ausdrücken. Manchmal werden unter dem Schutz der Decke ungeahnte Potenziale lebendig: ein Rücken richtet sich auf, das erste Mal wird ein attraktiver Mitpatient genauer betrachtet, der Gang wird federnder und leichter oder eine Hüfte beginnt sich weiblich zu wiegen. Eine Patientin mit einer schweren Missbrauchsgeschichte stieg bei dieser Übung in den Rollkasten, in dem die Decken sonst aufbewahrt werden. Dort fühlte sie sich endlich angstfrei und geborgen, was ihre Stimmung derart veränderte, dass sie sich von ihren Mitpatienten unter Applaus in die Mitte des Raumes rollen ließ und zum ersten Mal sichtbarer Teil unserer Gruppe wurde. In der Beziehung zum Therapeuten haben wir als typische Gegenübertragungsprobleme den Umgang mit der Spaltung, der projektiven Identifizierung und der Wechselhaftigkeit der Gefühle des Patienten zum Therapeuten (s. Kernberg, 1993). Die Spaltung zeigt sich darin, dass die Therapeutin bzw. der Therapeut idealisiert oder entwertet wird. Ein idealisierter Therapeut neigt in seiner eigenen Gegenübertragung dazu, mit dem Patienten zu verschmelzen und eine übergroße Nähe zu empfinden. Es besteht dann die Gefahr, dass er nicht mehr strukturierend, z. B. schädliches Verhalten konfrontierend, eingreifen kann oder dass er die körperliche Nähe des Patienten sucht. Da Borderline-Strukturen jedoch häufig extreme Angst vor körperlicher Nähe haGanzheitliche Psychotherapie


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ben, neigen sie dann dazu, diese Nähe im Sinne eines symbolisierten Missbrauchs über sich ergehen zu lassen oder sich zurückzuziehen und den Therapeuten zu entwerten. Die Entwertung oder Ablehnung eines Therapeuten kann in dessen Gegenübertragung wiederum zu vielfältigen Problemen führen. Insbesondere bei einer eigenen Identitätsunsicherheit oder Kränkbarkeit wird er sich hilflos fühlen, mit Selbstzweifeln reagieren oder gegenagierend den Patienten als unheilbar oder unmotiviert zurückweisen. Besonders anstrengend sind die emotionalen Wechselbäder, in die der Therapeut bei schwankenden Übertragungen kommt. Ein weiteres Thema bildet die projektive Identifizierung d. h. die Aktivierung von abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen des Patienten im Erleben des Therapeuten z. B. als körperliche Empfindungen, Gefühle oder Phantasien. Sie entstehen dadurch, dass der Therapeut durch seine Verbundenheit mit dem Patienten eine für diesen unerträgliche Empfindung in sich selbst aktiviert, wie um diese zu erhalten, kennen zu lernen und der Bearbeitung zugänglich zu machen. Alle diese extremen und ungewöhnlichen Gegenübertragungsreaktionen kann der Therapeut nur erkennen und für die Therapie nutzbar machen, wenn er sich nach Kernberg (1993) in seiner Rolle als Therapeut verankert, sich seiner therapeutischen Aufgabe sicher ist und den therapeutischen Rahmen klar formuliert und aufrechterhält. Wir möchten dies ausdehnen durch die Verankerung des Therapeuten in seinem Menschsein. Nur wenn die Therapeutin oder der Therapeut sich als Person, als Mann oder als Frau, als dieser Leib, der wir sind, als erwachsener Mensch mit einer bestimmten Lebenserfahrung, als verletzter und in einem gewissen Sinne geheilter Mensch akzeptieren können, sich ihrer Form und ihrer Grenzen, auch ihrer Verletzbarkeiten bewusst sind, können sie sicher sein, sich in den Stürmen der Übertragungen und Gegenübertragungen bei BorderlineStrukturen nicht zu verirren oder unterzugehen, sondern sie für die Therapie fruchtbar zu machen.

Ganzheitliche Psychotherapie

Die psychotische Struktur (Desintegration) Angesichts einer massiven inneren oder äußeren Herausforderung kann es zu einer fundamentalen Störung im Ordnungsgefüge des Bewusstseins kommen, die zu einer Desintegration des Erlebens führt und eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit zur Folge hat. Die psychotische Struktur hat ihre Sicherheit über die alltägliche Konstruktion der Wirklichkeit, die durch unser Ich-Bewusstsein entsteht, partiell verloren. Es kann zu einer Identifikation mit archetypischen Kräften und Inhalten kommen, die jedoch nicht ausgehalten und ertragen werden. So ist der Patient einerseits den archetypischen Energien in gewisser Weise ausgeliefert, andererseits versucht er, diese zu organisieren und zu interpretieren. Es wirkt häufig wie ein enormer Versuch, kollektive Probleme der eigenen Familie, der Gesellschaft oder gar der Menschheit zu lösen. Die Überforderung zeigt sich jedoch darin, dass es zu erheblichen Fehlinterpretationen, Projektionen und Externalisierungen kommt, die zwar eine gewisse kreative Leistung darstellen, jedoch die Innen-Außen-Unterscheidung beeinträchtigen. Angesichts der Intensität des Erlebens und der mangelhaften Organisierungsfähigkeit des Erlebens kommt es zu dem Eindruck des Zerrissenseins, des Gespaltenseins und der Fragmentierung. Man könnte sagen, der Patient hat den Boden und den Halt verloren und treibt nun wie ein steuerloses Schiff in einem gewaltigen Unwetter im Meer. Gelegentlich meint er, er sei der Sturm, das Regnen, das tosende Meer, das beschädigte Schiff, das lose Steuer oder die Blitze. Er versucht, aus all diesen Identifikationen eine neue Struktur aufzubauen mit den Werkzeugen seiner alltäglichen Wirklichkeitskonstruktion. Dabei entsteht dann ein mehr oder weniger verfremdetes Bild. Das Körpererleben ist somit verzerrt, möglicherweise fragmentiert oder es besteht für bestimmte Bereiche des Körpers überhaupt keine Empfindung. Eine Verankerung im Körperlichen ist nicht möglich, die körperlichen Energiequalitäten werden eher als bedrohlich wahrgenommen oder als fremd, unberechenbar oder auch nutzlos.


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Die wesentliche therapeutische Interventionsqualität bei psychotischen Strukturen möchten wir als austragend bezeichnen. Austragen betont eine besondere Qualität strukturbildender Therapie. Es ist erforderlich, ein Grounding zu geben, zu halten, und angesichts der mangelnden Selbstregulation in die emotionalen und körperlichen Prozesse steuernd und regulierend einzugreifen. Dies ist vergleichbar mit dem Umgang der Eltern mit ihrem Säugling, der ja auch zunächst einmal der Fülle seiner Eindrücke und Impulse ausgeliefert ist und nur in der haltenden, tragenden und steuernden Beziehung mit Hilfe seiner Eltern überleben kann. Noch prägnanter ist vielleicht der Vergleich des Austragens der existenziellen Thematik eines psychotischen Menschen mit dem Austragen einer Schwangerschaft, so dass ein neues Selbst entstehen kann. Dies geschieht vor allem in der therapeutischen Beziehung zum Bezugstherapeuten oder besser noch zum Behandlungsteam, die zunächst einmal den Patienten in seiner ganzen Intensität aushalten, ertragen, auf sich wirken lassen und dann mit ihm seine Thematik verarbeiten und zu einer gesünderen Lösung hin austragen. Typische körpertherapeutische Methoden, die in unserer Klinik durchgeführt werden und die tragende Interventionsqualität erfahrbar machen, sind folgende: In der Wassergruppe trägt jeweils ein stehender Partner einen im körperwarmen Wasser liegenden Partner auf seinen Armen und schwingt ihn langsam hin und her, so dass er sich völlig entspannen und anvertrauen kann. Nach einem Zyklus von einer halben Stunde nimmt der Tragende seinen Partner an seine Brust und lässt ihn für einige Minuten ruhen. Dann werden die Rollen gewechselt. Die schon erwähnte strukturbildende Bewegungstherapie und das TaKeTiNa bieten auch für diese Strukturebene einen äußerst geeigneten Rahmen. Das Klang-Massage-Sandawa-Monochord (Klein, 1991) ist ein zwei Meter langes, auf Füßen stehendes Monochord, auf das sich eine Patientin bzw. ein Patient hinlegen kann. Die Saiten sind auf der Unterseite der Liegefläche angebracht

und auf den gleichen Ton gestimmt. Das Monochord wird nun für einen längeren Zeitraum ununterbrochen gespielt und ermöglicht das Eintauchen, Genährt- und Getragenwerden in einem Klangraum, der sich durch den direkten Kontakt mit dem Monochord besonders leicht und intensiv vermittelt. Denn die obertonreichen tiefen Klänge werden nicht nur aus der ungewöhnlich großen Nähe gehört, sondern gleichzeitig wird ihre Vibration im ganzen Körper gespürt. Auch ritualisierte Meditationen zu den vier Elementen, den vier Himmelsrichtungen oder den vier Tages- und Jahreszeiten ermöglichen strukturierte und getragene archetypische Erfahrungsqualitäten. Wir wollen ein konkretes Beispiel geben, um die tragende Interventionsqualität in der klinischen Arbeit zu veranschaulichen. Eine einfache und doch sehr wirkungsvolle Übung ist das Ausprobieren und Experimentieren mit verschiedenen Gangarten. Beginnen kann diese Sequenz im Liegen, mit dem Hinweis auf die tragende Qualität des Bodens. Von dort aus können Rollen, Robben, Krabbeln und nach und nach unterschiedliche Formen der Fortbewegung erforscht werden. Beobachtungshinweise für die Patienten können dabei sein: Wie betrete ich den Boden, wie verlasse ich ihn? Wie kann ich Sicherheit finden und Lebendigkeit fühlen? Oft laden wir die Patienten dazu ein, jeden Schritt mit einem inneren „ich bin“ oder „ich lebe“ zu begleiten. Nach dieser Übung äußern die Patienten zum Teil ebenso einfache, wie für sie „revolutionäre“ Entdeckungen: „Ich habe ja Füße“ oder „meine Zehen können sich bewegen“. Eine Patientin entdeckte, dass sie sich eigentlich lieber in der Luft als am Boden befände. Eine andere äußerte: „Anfangs war ich misstrauisch, ob der Boden mich wirklich trägt.“ Bei einem unserer Patienten wurde eine sehr tief liegende Verletzung spürbar, als er nach dieser Übung heftige Schmerzen in seinen Füßen fühlte. Wir erfuhren, dass er mit 6 Zehen an jedem Fuß geboren war und seine Eltern ihn deswegen für eine Missgeburt hielten. In seiner ersten Lebenswoche noch wurden diese „überflüssigen“ Zehen amputiert, aber die Narben an seinen Ganzheitliche Psychotherapie


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Füßen erinnerten weiter an dieses frühe Trauma. Durch langsame und behutsame Begleitung in unseren tragenden Therapien, vor allem im TaKeTiNa, konnte dieser Patient ein Stück Heilung finden. Er fühlte immer wieder die alten Schmerzen, trauerte, und gleichzeitig spürte er den gegenwärtigen Boden unter seinen Füßen in der Verbundenheit mit allen anderen Teilnehmern des Rhythmuskreises. Was die Gegenübertragung betrifft, so erlebt der Therapeut angesichts der abgrundtiefen Bodenlosigkeit des Patienten, der Intensität seiner Gefühle und Impulse und der Fremdheit seines Wirklichkeitserlebens ebenfalls eine Verunsicherung seiner selbstverständlichen inneren Ordnung. Typisch ist das Gefühl, einem Sog ausgeliefert zu sein und in der eigenen Identität bedroht zu werden, vielleicht sogar verrückt zu werden. Diese Gefühle werden nun entweder objektivierend abgewehrt, so dass der Patient nur als hirnkrank oder verrückt betrachtet wird. Oder der Therapeut neigt dazu, das abgrundtiefe Leid des Patienten allein auszuhalten, es ihm abzunehmen oder zusammen mit ihm den Kampf gegen die Bodenlosigkeit oder die übermächtigen Kräfte zu führen. Dies können wir jedoch nicht von der Warte unserer persönlichen Identität tun. Mit unseren begrenzten persönlichen Möglichkeiten fühlen wir uns bei diesem Bemühen überfordert und verzweifelt, werden dabei von tief greifender existentieller Angst und Aussichtslosigkeit überwältigt. Die Therapie eines Psychotikers ist daher nicht von der Verankerung in unserer persönlichen Identität möglich, sondern nur von einer Verankerung im Existentiellen oder im transpersonalen Bewusstsein (s. u.), das jenseits unserer Konzepte und Identifizierungsnotwendigkeiten für die überpersönliche Dimension unseres Wesens und unserer Seele offen ist. Nur wenn ich von einer spirituellen Haltung getragen bin, die darum weiß, dass letztendlich alle Themen und Energien, alles Leben und Sterben Ausdruck eines unbegrenzten und unbedingten Seins sind, kann das nicht integrierte Erleben des Patienten in dem Gefäß meines Seins erscheinen und mit ihm gemeinsam zu einem gesunden Leben ausgetragen werden. Ganzheitliche Psychotherapie

Die personale Struktur (Integration) Die personale integrierte Struktur ist gekennzeichnet durch ihre Suche nach innerer Ganzheit. Es geht um die Integration der verschiedenen Erlebnisdimensionen von uns Menschen, so dass wir uns als Einheit von Leiblichem, Seelischem und Geistigem erleben in einer Bezogenheit auf die Mitmenschen und die Mitwelt (Petzold, 1988). Im Grunde besitzt die ausgereifte personale Struktur zwei Aspekte: die Entfaltung der Individualität und der Bezogenheit. Individualität bedeutet Selbstverwirklichung, Fähigkeit zur Authenzitität und Verantwortlichkeit, zu schöpferischem und kreativem Handeln. Bezogenheit meint die Fähigkeit zur Begegnung, zum Dialog, damit also zur Wahrnehmung des anderen Menschen als ebenso ein Ich, wie ich es bin, damit also als ein Subjekt. Diese Inter-Subjektivität erst ist die Voraussetzung zur Partizipation am Wir, an der Gemeinschaft, zur Übernahme von Mitverantwortung und damit zur Bildung von reifen Paarbeziehungen und reifen Familienstrukturen. Selbstgestaltung und Weltgestaltung geschehen mit Würde, Integrität und liebender Grundeinstellung. Das angestrebte Körpererleben ist das der ganzleiblichen Erfahrung und einer Verankerung im jeweiligen Moment. Der Körper und insbesondere seine sinnlichen Qualitäten werden als Quell der Lebensfreude, des Lebensgenusses erlebt. Die körperlichen Ausdrucksformen, insbesondere in der Freiheit der Bewegungen, im Tanz und in der Fähigkeit zu körperlichem Ausdruck der eigenen Emotionen und Impulse, zeigen den inneren Reichtum der Person. Die wesentliche körpertherapeutische Interventionsqualität für die personale Struktur möchten wir als dialogisch und kontaktierend bezeichnen. Berühren kann berührend sein und Berührtsein zur Folge haben. Es ist ein Sich-Verbinden mit der Ebene des Fühlens, der Fühlungnahme. Es kommt darauf an, inneren Kontakt zu den verschiedenen Erlebnismöglichkeiten herzustellen und dabei insbesondere Sinne und freie Bewegung einzubeziehen, so dass ein Erleben innerer Ganzheit geschehen kann. Es geht um die Qualität von Bewegung, die Bewegtheit zur Folge


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hat und die Qualität von Ergreifen, die Ergriffensein ermöglicht. Die Interventionen sind auf das gegenwärtige Erleben bezogen und damit prozessual, mitgehend. Der Kontakt zum Klienten ist dialogisch, einladend, mit Respekt vor seiner Selbstverantwortung und seiner Bereitschaft sich einzulassen.

Zur kontaktierenden Interventionsqualität gehören darüber hinaus vor allem auch die Tanztherapie, daneben Sensory Awareness, das Focusing, besonders in der klientenzentrierten Körpertherapie, der erlebnisorientierte Ansatz der integrativen Bewegungstherapie und viele andere. Wir wollen nun wieder ein konkretes Beispiel für den Einsatz der kontaktierenden Interventionsqualität in der klinischen Arbeit geben.

beginnt ein Teilnehmer jeder Gruppe über seinen Körper zu sprechen: Wie erlebe ich mich als Frau bzw. Mann? Was mag ich an mir, was macht mir Schwierigkeiten? Wie erlebe ich meine Sinnlichkeit und meine Sexualität, was vermisse ich usw.? Der Sprechende ist dabei eingeladen, soviel von seinem Körper zu enthüllen, wie er den anderen zeigen möchte. Oftmals erleben wir eine so vertrauensvolle Stimmung, dass die Teilnehmer sich völlig entkleiden und sich nackt sehen lassen. Die Patienten erwähnen alte Verletzungen genauso wie Unzufriedenheit mit ihrem Körper in der Partnerschaft, Unsicherheit in ihrer Geschlechtsidentität oder worüber sie sich freuen. Nach dieser Phase, die etwa 20 Minuten dauert, bekommt der Teilnehmer, der sich gezeigt hat, ein positives Feedback aus seiner Kleingruppe. Die anderen sind eingeladen, ihre Berührtheit auszudrücken und Sätze der Unterstützung zu äußeren. Danach beginnt ein offener Teil des Rituals, wobei sich der Partner, der sich gezeigt hat, eine Berührung oder einen Kontakt von den anderen wünschen darf, der die Heilung seines Körpererlebens unterstützt. Jeder Teilnehmer der kleinen Gruppe hat für seinen Teil insgesamt etwa 45 bis 60 Minuten Zeit und dann wird gewechselt, so dass sich innerhalb der jeweiligen Gruppe eine innig vertraute Atmosphäre entwickeln kann, die selbst einem ängstlichen Teilnehmer viel akzeptierende Unterstützung schenkt.

Im Rahmen der erwähnten Intensivtage teilen wir gelegentlich die beschriebene Großgruppe in eine Frauen- und eine Männergruppe auf. Dort kreieren wir an einem Abend mit unseren Patienten einen Raum der Heilung für das eigene Körperbild und Körpererleben. In Gruppen, zu jeweils vier Patienten, bereiten sich die Teilnehmer bequeme und einladende Plätze vor, mit Hilfe von Matratzen, Decken, Kerzen und persönlichen Gegenständen. Diese gemütliche Atmosphäre ist wichtiger Bestandteil des Heilrituals, da sie sowohl Schutz bietet, als auch die Sinnlichkeit zu wecken vermag. Nach einer Phase des Einstimmens aufeinander, z. B. durch einen Resonanzkreis in der kleinen Gruppe oder durch gemeinsames Tönen,

Grundsätzlich gesehen ergeben sich die wesentlichen Gegenübertragungsprobleme meistens aus einem Mit- oder Gegenagieren auf der Ebene der jeweiligen Struktur. Man könnte also sagen, die Therapeutin oder der Therapeut lässt sich in die Problematik der jeweiligen Struktur einbeziehen und in ihr verwickeln. Notwendig ist daher grundsätzlich eine von der jeweiligen Struktur freie innere Haltung. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Therapeut bei der Behandlung einer neurotischen Struktur durchaus in seiner eigenen personalen Struktur verankert sein kann. Bei einer personalen Struktur der Klientin oder des Klienten muss er jedoch jenseits der personalen Ebene verankert sein, also im transpersonalen Bewusst-

Methoden, die in der Klinik die kontaktierende Interventionsqualität zum Ausdruck bringen, finden sich insbesondere in den etwa vierteljährlich stattfindenden Intensivtagen. Hier werden mit einem Teil der Patienten der Klinik in einer Großgruppe von 25 bis 35 Teilnehmern auf orgodynamischer Grundlage (Plesse, St. Clair, 1995) in einer hohen Dichte und Intensität ganzleibliche körperbezogene Erfahrungen ermöglicht. Dies wird durch unterschiedliche Zugänge, wie Tanz, Stimmübungen, Sinnesrituale, Trancetechniken, aber auch Traumreisen und Kontaktübungen gefördert.

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sein, wenn eine weitere transformative Entwicklung ermöglicht werden soll. Die wesentlichen Gegenübertragungsprobleme im Umgang mit der personalen Struktur ergeben sich somit neben den häufigen neurotischen Phänomenen, also der üblichen Übertragungs-GegenübertragungsKonstellation, durch die Fixierung auf die Personalität. Die Fixierung auf das Hier und Jetzt, das konkret Sinnliche, den Körper und die weltliche Begrenztheit führt zu einer Verabsolutierung der Konzepte des Therapeuten über das menschliche Leben, so dass er keine Freiheit besitzt, im Klienten eine Entwicklung zuzulassen, die außerhalb seines Menschen- und Weltbildes und außerhalb der Identifizierung mit seiner therapeutischen Methode liegt. So kommt es häufig zu einer Überbetonung der Selbstverwirklichung und des Individualismus, zu einer Überbetonung der Hier- und Jetzt-Perspektive, zu einer Ablehnung des Religiösen und zu einer gewissen dogmatischen Fixiertheit auf die eigene Schule. Vor allem die antireligiöse und antimystische Haltung verhindert das Finden eines positiven eigenen Lebenssinnes und die Aussöhnung mit dem Sterben als existentielles Geschehen. Diese Fragen, für die die personale Struktur irgendwann eine Antwort sucht, müssen in diesem Fall abgewehrt werden und führen dann zu resignierten Einstellungen. Sie sind nur von der transpersonalen Ebene her zu beantworten. Die transpersonale Struktur (Transformation) Die wesentliche Entwicklung von der personalen zur transpersonalen Struktur besteht darin, dass eine Transformation von der Verankerung im Ich-Bewusstsein zu einer Verankerung im Wesen, im transpersonalen Grund der Seele stattfindet. Zunächst einmal erscheint es wie eine Öffnung für das eigene innere Wesen oder wie ein Durchbruch zum Sein. Das transpersonale Bewusstsein lässt sich charakterisieren durch eine hohe Präsenz und Bewusstheit. Es wird in Zuständen von innerer Stille und Freiheit, Leere und Weite, Rezeptivität und Hingabe, Herzensverbundenheit und Medialität erlebt, um einige typische Qualitäten dieses Bewusstseinsraumes zu nennen (Galuska, Ganzheitliche Psychotherapie

1998). Die Persönlichkeit entwickelt dann eine gewisse Transparenz, eine Durchlässigkeit für den transpersonalen Seinsgrund, für die „immanente Transzendenz“ (Dürckheim, 1973). Aus dieser Perspektive kann die eigene Lebensaufgabe, die Bestimmung, der eigene Sinn erkannt werden, und die Person stellt sich in den Dienst dieses Auftrags und der damit verbundenen Visionen (Galuska, 1995), denn das eigene Wesen besteht geradezu darin, auf die eigene individuelle Weise das Überpersönliche, Göttliche, Absolute auszudrücken und in die Welt zu bringen. Die transpersonale Struktur ist geöffnet für die Verbundenheit der Menschen und letztlich aller energetischen Formen. Durch ihre Teilhabe am Fluss des Seins und der Vergänglichkeit aller Formen erlebt sie sich als hingegeben an die Fülle des Lebens und weiß um das Nichtwissen des Todes. Im transpersonalen Bewusstsein besteht, auch als körperliches Erleben, eine Durchlässigkeit für subtile Energiequalitäten, die im Gefäß der Bewusstheit bewahrt und gesteuert werden können. Die Hingabe an diese Qualitäten führt zur Erfahrung energetischen Fließens: es atmet, es geht, es fließt, alles Leben ist Tanz. Die wesentliche Interventionsqualität für die transpersonale Struktur ist die Präsenz. Der Therapeut ist eher meditativer Begleiter, der aus dem transpersonalen Bewusstsein als Ort bewusster Intuition heraus die verschiedenen Ausdrucksformen des Existentiellen begleitet. Seine Ausstrahlung kreiert einen gemeinsamen Bewusstseinsraum, in der seine Erfahrung und die Erfahrung des Klienten sich verweben zu einer Art gemeinsamen inneren oder äußeren Tanzes, dessen Form gelegentlich durch Konzepte verstanden werden kann. Insofern ist der Therapeut für die transpersonale Struktur in gewisser Weise auch Lebenslehrer oder transkonfessioneller spiritueller Lehrer, der durch seine Ideen, Bilder, intuitiven Vorschläge oder Berührungen den gemeinsamen Prozess anreichert und weiterfließen lässt. Wir wollen auch diesmal ein konkretes Beispiel für die Energiebegleitung aus der Präsenz heraus geben, wie wir sie im kli-


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nischen Kontext durchführen und die wir der Orgodynamik (Plesse, St. Clair,1995) verdanken: Eine Möglichkeit der Hinführung zu einem inneren Raum der Weite und des Fließens ist der Bodyflow (Barnett, 1993). Mit geschlossenen Augen beginnt jeder Teilnehmer die Aufmerksamkeit auf die eigenen Hände zu richten, wie sie sich anfühlen und wie sie erlebt werden. Vielleicht gibt es feine Impulse, denen man folgen möchte, kleine Bewegungen ohne Anstrengung, die wie von selbst geschehen möchten. So folgt jeder Teilnehmer dem Bewegungsfluss seiner eigenen Finger und Hände, der sich langsam auf den gesamten Körper ausdehnen kann. Es kann sich anfühlen wie das Folgen einer inneren Melodie oder eine stille Meditation in Bewegung. Jeder Teilnehmer wird andere Beschreibungen für diesen Erlebnisraum finden, z. B.: „Mein ganzer Körper fühlt sich an wie ein einziges Fließen“. Oder: „Die Bewegungen schaffen sich immer wieder neu“. Begleitet werden kann der Bodyflow mit einer unterstützenden meditativen Musik. In einer großen Gruppe kann auch die eine Hälfte der Teilnehmer im Bodyflow sein, während jeweils ein zugeordneter Partner der anderen Hälfte den Raum schützt und seinem Partner seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. So erleben beide eine Qualität von Verbundenheit und Verwobensein in ein größeres Ganzes. Für die Beobachtenden können sich während des Flows gewohnte Bewertungsmuster aufweichen und vom „Sehen mit dem Herzen“ abgelöst werden. Das transpersonale Bewusstsein ist grundsätzlich eine Haltung jenseits von Übertragung und Gegenübertragung, da es Konzeptbildungen und Identifizierungsprozesse, auch von sich selbst und anderen, überschreitet. Die typischen Gegenübertragungsprobleme der Therapeutin bzw. des Therapeuten für die Arbeit mit Klienten auf der Ebene der transpersonalen Struktur hängen daher primär mit einer mangelhaften Verankerung im transpersonalen Bewusstsein zusammen. Es vermischen sich dann ungelöste Problemkreise anderer Strukturen mit der Arbeit im Transpersonalen. Dabei besitzen erfahrungsgemäß die größte Do-

minanz weniger neurotische als vor allem narzisstische ungelöste Themenkreise des Therapeuten. So kommt es zu allen möglichen Formen von guruhaften Verhaltensweisen des Therapeuten, der sich von seinen Klienten bewundern und hofieren lässt. Häufig sind auch missionarische Ansätze und mangelnde Fähigkeiten, die eigene Methode und den eigenen spirituellen Weg zu relativieren. Eine Verhaftung in der personalen Identität zeigt sich auch in einem übermäßigen persönlichen Engagement für die Heilung der Klienten und in einem zu aktiven, machenden, etwas technischen Interventionsstil. Stattdessen wäre ein Vertrauen in die Kraft der eigenen Intuition und den Fluss der Heilungsprozesse nötig, für die wir nur durchlässig sein können und an denen wir lediglich Anteil haben können. Wir unterscheiden die transpersonale Struktur von der nondualen Bewusstseinsstruktur der Seinsverwirklichung, der Erleuchtung, der Auflösung jeglicher Dualität, in die sich die transpersonale Struktur wiederum bei weiterer Entwicklung transformiert. Abschluss Körperpsychotherapie wird immer von mehr oder weniger gut strukturierten Körpertherapeuten bei mehr oder weniger gut integrierten Klienten durchgeführt. Wie sich aus unseren Ausführungen unschwer ableiten lässt, sind die jeweiligen körpertherapeutischen Methoden nicht für jede Störungsstruktur geeignet. Dabei besitzen einige Methoden ein vielschichtiges Spektrum an Möglichkeiten, so dass sie mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch bei unterschiedlichen Strukturen eingesetzt werden können, wie z. B. die integrative Bewegungs- und Leibtherapie, die Orgodynamik oder das TaKeTiNa. Andere Methoden, wie die strukturbildende Bewegungstherapie oder die Bioenergetik fokussieren auf ein oder zwei Störungsstrukturen und besitzen für diese eine große Prägnanz. Ein Körperpsychotherapeut sollte sich daher der Schwächen und Stärken seiner Methoden bewusst sein und diese entweder gezielt anwenden oder durch andere MeGanzheitliche Psychotherapie


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thoden ergänzen. Wir verkennen nicht, dass unsere, aus klinischer Perspektive begründete Einteilung ein Konzept ist, eine Form, die die Wirklichkeit formt. Wir halten diese klinische Konzeption für nützlich. Wir wissen jedoch, dass diese Einteilung zu relativieren ist. So gibt es allerlei Übergänge zwischen den Störungsstrukturen, also ein kontinuierliches Spektrum von Integration zur Desintegration. Je weniger Integriertheit vorliegt und damit eine labilisiertere und zerrüttetere Struktur, umso mehr sind strukturbildende Maßnahmen erforderlich. Da Strukturbildung auf Verinnerlichungsprozessen geordneter und gesunder Erfahrungen basiert, ist hier ein aktiverer und führenderer Interventionsstil bis hin zum symbolischen Austragen in der therapeutischen Beziehung erforderlich. Gleichzeitig fluktuieren die Strukturen, d. h., es gibt Momente, in denen wir integrierter und andere, in denen wir weniger integriert unser Überleben und Verhalten organisieren. Das heißt z. B. auch ein neurotisch strukturierter Mensch kann Momente extremerer Dissoziation oder Verluste der Selbststeuerungsfähigkeit erfahren und erfordert dann keinen mobilisierend aufdeckenden, sondern einen strukturbildenderen Interventionsstil. Aus klinischer Sicht hat also auch ein Körperpsychotherapeut die Aufgabe, situativ – angesichts der jeweils vorliegenden Struktur seiner Klienten –, seinen Interventionsstil anzupassen.

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Achtsamkeit in der Psychotherapie „Heiligenfeld ist ein Ort, wo Achtsamkeit geübt und großgeschrieben wird.“ Patientin der Fachklinik Heiligenfeld

Bereits seit der Gründung der Fachklinik Heiligenfeld im Sommer 1990 spielt Achtsamkeit eine besondere Rolle. Achtsamkeit wird nicht nur in der Therapie mit verschiedenen Angeboten geschult, sie gilt als ein Kernprinzip des gesamten Unternehmens. Eine Besonderheit der Kliniken ist die Möglichkeit, verschiedene Meditationsformen kennenzulernen und zu schulen – für Patienten und Mitarbeiter. Mehrmals im Jahr finden spezielle Achtsamkeitstage statt, in denen eine Vertiefung des Prinzips der Achtsamkeit erreicht werden kann. Kleine Rituale, Stilleübungen, Atem- und Körperübungen unterstützen die Achtsamkeit im Berufsalltag. In der Therapie sind unterschiedlichste Übungen zur Entwicklung der Achtsamkeit integriert. Da die Übung und Entfaltung der Achtsamkeit in den buddhistischen Meditationsformen am weitesten ausgearbeitet ist, wurde interessierten Patienten seit Beginn der Klinik morgens die Möglichkeit gegeben, eine halbe Stunde lang die Achtsamkeitsmeditation zu lernen und zu üben. Dies war deswegen möglich, da es in der Klinik von Anfang an mehrere autorisierte Lehrer dieser Meditationsmethode gab. Im Klinikkonzept wurden kontinuierlich weitere Elemente zur Förderung der Achtsamkeit eingefügt. In den ersten Jahren wurde in dieser Hinsicht das Hauptaugenmerk auf die Förderung von Achtsamkeit und spirituellem Bezug bei den Patienten gelegt. Zunehmend gewannen wir die Einsicht, dass Achtsamkeit nicht nur eine hilfreiche und bedeutsame Kompetenz eines Patienten oder einer Patientin darstellt, sondern fundamentale Auswirkungen auf das therapeutische Geschehen und die therapeutische Beziehung besitzt, wenn sie eine aktiv hergestellte Qualität eines Therapeuten darstellt. Gelingt es, Achtsamkeit im Sinne von Präsenz als innere Verankerung eines Therapeuten zu vertiefen, so entfaltet sich eine neue, vertiefte Dimension der Psychotherapie.

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Achtsamkeit und Präsenz in der stationären Psychotherapie Dr. Joachim Galuska, Dorothea Galuska, in: Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik, U. Anderssen-Reuster, Schattauer Verlag, Auflage 2, 2011, S. 132-144

Nun mag man fragen: „Wie kann jemand den Zustand eines anderen erkennen?“ Man kann es nicht deswegen, weil man mehr über den anderen weiß, denn der Mensch ist so geschaffen, dass er über sich selbst am meisten weiß; nur sind sich viele des dritten Gefäßes nicht bewusst, des des Lebens. Wer sich dieses Gefäßes des Lebens bewusst ist, der kann den Raum in sich selbst leer machen und schafft dadurch die Möglichkeit, dass sich das Leben eines anderen in ihm widerspiegelt. Das geschieht dadurch, dass er seinen Geist ganz auf das Leben des anderen konzentriert, und so sieht er die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Achtsamkeit wird im buddhistischen Kontext häufig im Sinne der Ausrichtung und Lenkung der Aufmerksamkeit verstanden. Die Meditationsanleitung der Achtsamkeitsmeditation lautet meist: „Richten Sie Ihre Achtsamkeit auf den Atem, beobachten Sie die Empfindungen beim Ein- und Ausatmen.“ Die damit verbundene Qualität ist die der Bewusstheit. Im Deutschen enthält das Wort 'Achtsamkeit' neben der Bewusstheit auch die Qualität von Fürsorglichkeit. Achtsam mit Menschen und Dingen umzugehen, bedeutet aufmerksam und fürsorglich zu sein. Wenn Achtsamkeit geübt wird, kann erkannt werden, wie sie entsteht und vergeht, wie eine gewisse Mühe aufgewandt werden muss, um Achtsamkeit immer wieder herzustellen. Gelingt es im Laufe der Übung und der persönlichen Entwicklung, die Achtsamkeit eine Zeitlang stabil zu erhalten, so sprechen wir vom „inneren Beobachter“. Dies meint die Fähigkeit, eine innere Verankerung in einer kontinuierlichen Achtsamkeit für eine Zeitlang aufrecht zu erhalten. Dieser „innere Platz der Achtsamkeit“, dieser Ganzheitliche Psychotherapie

Hazrat Inayat Khan

„innere Beobachter“ kann dadurch stabilisiert werden, dass man sich seiner selbst gewahr wird. Es besteht dann also eine gewisse Achtsamkeit für die Achtsamkeit, ein Gewahrsein für die eigene Bewusstheit im jeweiligen Augenblick. Während die Achtsamkeit, der sogenannte „innere Beobachter“, auf den Inhalt des Erlebens ausgerichtet ist, also den Atem, die Gedanken, die Körper-empfindungen usw. beobachtet, vertieft das Gewahrsein die Bewusstheit, in dem sie sie selbst betrachtet. Es entsteht dann eine Bewusstheit für das Beobachten, für die Bewusstheit, für das bewusste Sein. Die Aufmerksamkeit wechselt also von bewusstem Beobachten eines Objektes hin zur Bewusstheit für das Beobachten selbst. Diese Qualität des Spürens der eigenen bewussten Anwesenheit nennen wir Präsenz. Präsenz ist die unmittelbare Vergegenwärtigung des gegenwärtigen Anwesend-Seins, des Existierens, und in dieser Präsenz können eine Reihe weiterer Bewusstseinsqualitäten entfaltet werden. Neben einer hohen Ausprägung von Bewusstheit als reine und klare Bewusstseinsqualität kann das


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Präsentsein erfahren werden als in-sichruhend, als offen, weit und empfänglich für alle möglichen Inhalte und eher raumhaft, als Bewusstseinsraum. Wir haben diese Erfahrung als „transpersonales Bewusstsein“ bezeichnet (Galuska, 2003 a), da sie frei ist von den üblichen „personalen“ Identifizierungen unserer Ich-Identität, die in ihrem Erscheinen und ihrer besonderen Qualität beobachtet werden können. Wird dieser Bewusstseinsraum weiter erforscht, so können eine Reihe von typischen Eigenschaften gefunden werden: Er besitzt eine gewisse Reinheit und Klarheit – eine Art von Unberührtheit und Ursprünglichkeit. Diese Freiheit von jeder diskreten Form ermöglicht wohl, dass jeder Inhalt unseres Erlebens im Lichte der Bewusstheit auftauchen kann. Das Bewusstsein selbst erscheint leer von jedem Einzelnen und offen, wie ein leerer Spiegel, wie ein offenes Gefäß, das sich von den Erscheinungen und Erlebnisqualitäten füllen lässt. Diese Erfahrung wird auch in den buddhistischen Traditionen gelegentlich als „Zeugen-Bewusstsein“ bezeichnet. Dieser Bewusstseinsraum ruht in sich selbst, er trägt in sich selbst einen gewissen Frieden und eine Stille. So wirkt er zentriert, wie eine Art Mittelpunkt oder Nullpunkt für die Inhalte unseres Erlebens. In seiner Offenheit werden die Erscheinungen der Welt, die inneren Empfindungen und Bilder anderer Menschen unmittelbar erlebt, sodass eine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt erfahren werden kann. Diese Offenheit kann auch erfahren werden als Grund unserer Wahrnehmung, unseres Erlebens und unseres Handelns. Während unsere Konzepte von uns selbst, unsere Rollen und Aspekte unserer Ich-Identität als Oberfläche des Bewusstseinsraum erscheinen, ermöglicht die Qualität von Tiefe das innere Verbundensein mit unserem Wesen, der Ursprünglichkeit unseres Lebens und dem Grund unseres Seins, der aufgehoben ist in etwas Größerem und Umfassenderem, einer Transzendenz. Wir haben dies die Erfahrung unserer Seele genannt, in einem erneuerten Seelenverständnis, das die „transpersonale“ und spirituelle Dimension der Seele, ihre

Offenheit für die Transzendenz beinhaltet (Galuska, 2003 b). In diesem Sinne gibt es verschiedene Zugänge zum Bewusstsein unserer Seele: Der einfachste scheint der der Präsenz zu sein, der Vergegenwärtigung unseres Daseins, der Bewusstheit für das Anwesend-Sein. Als weiteren Zugang haben wir beschrieben, wie die Aufmerksamkeit von den Inhalten des Erlebens zurückgezogen werden kann und zum inneren Gewahrsein hin gelenkt werden kann, also vom Beobachtungsinhalt zum Beobachter. Eine kontinuierliche fließende Achtsamkeit, das Kontinuum unserer Awareness, wie es in der Gestalttherapie heißt, kann ebenfalls dieses Bewusstsein herstellen. Da das „Herz“ nicht ohne Grund eine wesentliche Metapher für unsere Seele darstellt, führt die Öffnung unseres Herzens für uns selbst, für andere Menschen und die Welt auch zu einer Öffnung und Verankerung in unserer Seele. Letztlich ist jede Meditationsmethode im Grunde darauf ausgerichtet, zunächst einmal eine Bewusstseinsqualität zu bewirken, wie z. B. Stille, Leere, Weite, Unendlichkeit, Zentriertheit, Verbundensein usw., die wir für Kerneigenschaften unserer Seele halten. Man kann sich also unmittelbar auf eine solche Bewusstseinsqualität konzentrieren, in diese eintauchen oder sich von ihr ergreifen lassen und sie dann vertiefen. Für eine therapeutische Arbeit ist es hilfreich und nützlich, sich in der Achtsamkeit und der Präsenz zu verankern und dann von dieser aus Patienten zu begegnen. Wir nennen dieses Vorgehen eine „beseelte Psychotherapie“ (Galuska, 2006). Ein so verankerter Therapeut kann die Identifizierung mit seinen Theorien und Modellen immer wieder lösen, sich in seiner Präsenz verankern und dann wieder andere Theorien und Modelle zu Hilfe nehmen. Auf diese Weise kann er eine vielschichtige mehrperspektivische Diagnostik betreiben und ist seinen Vorlieben, seinen methodischen oder schulenspezifischen Prägungen nicht so sehr ausgeliefert. So kann er dem Patienten selbst gerechter werden, in seiner Komplexität, vielleicht aber auch in seiner Spiritualität. Er besitzt also eine innere Freiheit zu diagnostizieGanzheitliche Psychotherapie


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ren, die Störungen und die Ressourcen zu sehen, die verschiedenen Dimensionen und Lebensbereiche zu betrachten: Vergangenheit, gegenwärtige Situation und Zukunftspotential einzubeziehen. Da er in der Lage ist, in Achtsamkeit und Bewusstheit seine eigenen Gefühle zu betrachten und die, die in ihm durch den Patienten ausgelöst werden, befindet er sich in einer Position jenseits von Übertragung und Gegenübertragung, sodass ihm eine solche Verankerung auch ermöglicht, mit schwierigen Patienten umzugehen, ohne sich mit ihnen zu verwickeln oder sie sich vom Leibe halten zu müssen. Das Wesen einer solchen beseelten Psychotherapie aber besteht darin, einen gemeinsamen Kontext für die Störung des Patienten zu bilden, der eine heilsame Wirkung entfalten kann. Zunächst einmal bedeutet das, in der Bewusstseinshaltung von Präsenz und Achtsamkeit offen zu sein für das ganze Sein der Patienten, für ihren Schmerz, ihr Leid, ihr Schicksal, aber auch für ihre Hoffnungen, ihre Stärke, ihre Größe und ihr Potential. Dieses Offensein bedeutet, sich in unserem Inneren von unseren Patienten berühren zu lassen, sie auszuhalten, sie zu ertragen, sie in uns zu tragen, sie in uns wirken zu lassen und dann aus der Tiefe unserer Seele, unserer Stille, unserer Weite, unserer Herzensverbindung, unserer Unberührtheit, unserer Erschütterung oder einfach unserer Achtsamkeit heraus Antworten entstehen zu lassen. Dies sind dann Antworten unserer Seele, die die Seele unserer Patienten ansprechen, ihren eigenen Seelengrund wecken. Die Achtsamkeit und Präsenz eines Therapeuten kann die Achtsamkeit und Präsenz eines Patienten wecken und damit ein Gefäß schaffen, einen Kontext für seine Störung, seine Erkrankung, sein Schicksal. Hier entsteht eine zusätzliche Dimension in der Therapie, die ebenfalls eine Beziehungsqualität besitzt. Die gemeinsame Achtsamkeit, die gemeinsame Präsenz, in diesem Sinne die Seelenverbindung zwischen Therapeut und Patient kann Heilung und Selbstheilungsprozesse in Gang setzen, die aus einer größeren Tiefe und Weite stammen als die unserer üblichen Einsichten und therapeutischen Techniken. Wahrscheinlich ist es die Berührung der Bewusstheit, die Tiefe und Weite unserer Seele mit unseren Verletzungen und Ganzheitliche Psychotherapie

Störungen, was das Heilsame ausmacht. Eine beseelte Psychotherapie hält diesen Kontext für essenziell und nutzt Methoden und Fachwissen nur in diesem Sinne. Die Fähigkeit zur Seelenverankerung und zur Präsenz ist damit eine Kernkompetenz der Psychotherapie. Um diese lebendig und wirksam werden zu lassen, braucht es eine entsprechende Förderung und alltägliche Pflege in der therapeutischen Kultur und der Unternehmenskultur einer Klinik. Achtsamkeit und Präsenz in der Unternehmenskultur

„Was das Schweigen des Weisen betrifft, so schweigt er nicht, weil von der Stille gesagt wird, sie sei gut. Seine Stille rührt daher, dass die Vielheit der Dinge seine Ruhe nicht stören kann. Der Geist des Weisen ist der Spiegel von Himmel und Erde, in dem alle Dinge sich spiegeln.“ Dschuang-Tsu

Die klare Verankerung von Achtsamkeit, Präsenz und Spiritualität zieht Mitarbeiter an, denen diese Dimension grundsätzlich am Herzen liegt. So kann ein Feld von Bewusstsein und Achtsamkeit aufgebaut und erhalten werden, das wie ein Gefäß einen guten Rahmen für Heilung von Patienten bildet. Bei therapeutischen Mitarbeitern sind Selbsterfahrung und eine undogmatische Ausrichtung von Spiritualität eine Einstellungsbedingung in unseren Kliniken, im nicht-therapeutischen Feld sind ein Interesse und eine Offenheit gegenüber diesen Themen erwünscht. Die Durchdringung dieser Qualitäten in allen Arbeitsalltagsstrukturen ist in unserer Unternehmenskultur so weit verwirklicht, dass kein Mitarbeiter davon „uninfiziert“ bleiben kann. In dem jährlich überarbeiteten Konzept der Heiligenfelder Unternehmenskultur sind sieben Prinzipien mit ihren jeweilig erfahrbaren Qualitäten beschrieben: • Kooperation und Teamgeist wird als Verbundenheit erlebt • Gesundheit wird in gesunder Arbeit erfahren


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• Inspiration erleben wir in beseelter Arbeit • Innovation erleben wir in Kreativität • Spiritualität entfaltet sich in der Quali- tät von Achtsamkeit • Entwicklung und Lernen erleben wir als persönliches und berufliches Wachs tum • Führungskunst erfüllt sich durch per- sönliche und gemeinsame Verantwort- lichkeit All diese Prinzipien unterstützen und durchdringen sich gegenseitig, sodass eine scharfe Abgrenzung nicht möglich ist, jedoch sind sie verschiedene sinnvolle Blickwinkel auf eine lebendige und sich permanent weiter entwickelnde Unternehmenskultur. Jedes dieser Prinzipien können wir nach dem Wilber‘schen Quadrantenmodell aus einer individuellen Sichtweise des Erlebens eines einzelnen Mitarbeiters betrachten, sowie aus den Verhaltenskompetenzen einzelner Mitarbeiter. Außerdem gibt es zwei kollektive Betrachtungsweisen: Das gemeinsame Klima oder die Atmosphäre innerhalb einer Mitarbeiterschaft sowie die Betrachtung der gemeinsamen Organisation und der Arbeitsbedingungen. In der systematischen Entwicklung dieser Prinzipien unterscheiden wir größere Maßnahmen und kleine Gesten. Größere Maßnahmen erfordern entweder finanzielle oder personelle Ressourcen, wobei kleine Gesten eher einen Wechsel in der inneren Haltung oder Bewusstseinsausrichtung nötig machen. Betrachten wir nun das Prinzip Spiritualität als eigene Perspektive im Kontext der Unternehmenskultur, so besteht das Anliegen darin, ein Feld für persönliche und kollektive Bewusstseinsentwicklung zu gestalten. Mitarbeiter sollten günstige Bedingungen vorfinden, um ihre geistig-spirituellen Kompetenzen zu entwickeln oder zu vertiefen. Grundlegend möglich wird dies durch eine regelmäßige Kommunikation humanistischer und spiritueller Anliegen und die Vermittlung der Vision eines Ortes von Heilung und Liebe. Mitarbeiter erleben immer wieder innere und äußere Anregungen zur Auseinandersetzung mit diesem Thema. Ganzheitliche Psychotherapie

Als äußeren Rahmen gibt es in jedem Haus einen Meditationsraum, der ausschließlich zur Nutzung meditativer Praxis vorgesehen ist. Unsere Räume sind bewusst neutral gestaltet, ohne Symbolik einer bestimmten Religion. Zweimal am Tag werden hier Meditationen für Patienten angeleitet, ansonsten sind die Räume offen zur Nutzung für Mitarbeiter und Patienten. Einmal in der Woche finden freiwillige Meditationen für Mitarbeiter statt. Erfahrene Mitarbeiter laden ihre Kollegen zu Meditationen aus unterschiedlichen spirituellen Wegen oder Weltreligionen ein. Mitarbeiter, die noch keine Erfahrung mit meditativer Praxis haben, können an einer ca. alle sechs Wochen stattfindenden Einführung in stilles Sitzen und die Grundlagen der Achtsamkeitsmeditation und Konzentration auf den Atem teilnehmen. Mitarbeiter, die im Rahmen ihrer spirituellen Praxis einen Andachtsplatz ihrer eigenen Religion aufsuchen wollen, finden einen solchen auf dem „Weg der Weltreligionen“, der im Außengelände einer unserer Kliniken, auf Anregung und Wunsch unserer Patienten, angelegt wurde. Hier sind die großen fünf Weltreligionen (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus) mit Figuren und Symbolen ihrer Tradition vertreten sowie ein transkonfessioneller Platz für offene Spiritualität, der mit dem Symbol einer Glaskugel gestaltet wurde. Einmal im Monat können Mitarbeiter und Patienten gemeinsam unter Anleitung alle sechs Plätze hintereinander aufsuchen und jede dieser Religionen bzw. spirituellen Haltungen mit einem Moment des Schweigens und dem Anzünden einer Kerze in sich aufnehmen und wertschätzen als Beitrag eines globalen, friedlichen Zusammenwirkens unterschiedlicher geistiger Haltungen. Eine mittlerweile sehr beliebte Praxis der Achtsamkeit besteht in den jährlich vier Mal stattfindenden Achtsamkeitstagen in Verbindung mit dem Tag der Stille für unsere Patienten. An diesem Tag ist – soweit möglich – Stille in unseren Häusern, angeleitet mit Achtsamkeitsübungen durch unsere therapeutischen Mitarbeiter. Alle


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Mitarbeiter des Hausteams unterstützen ebenfalls diese stille gesammelte Atmosphäre durch Schweigen auf den Gängen und besondere Aufmerksamkeit für ihre täglichen Aufgaben. An diesen Tagen treffen sich alle verfügbaren Mitarbeiter zu einer 75-minüten Veranstaltung, die jeweils ein Thema zur Unterstützung und Vertiefung des Prinzips der Achtsamkeit trägt. Diese Themen können sowohl theoretisch informativer Natur sein als auch praktischen Charakter haben. Alle Abteilungen und Berufsgruppen sind darüber hinaus eingeladen, an diesem Tag ein eigenes kleines Ritual oder Übungselement in ihre Abläufe zu integrieren. Beispiele hierfür sind wiederkehrende kurze Pausen mit der Frage: „Wie geht es mir eigentlich jetzt unmittelbar?“, eine gemeinsame Atem- und Körperübung, eine gemeinsame schweigende Mittagspause oder eine Tee-Zeremonie am Nachmittag. Für therapeutische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt es eine eigene Leitlinie für die Behandlung von Menschen mit religiösen oder spirituellen Krisen. In dieser Leitlinie sind auch konkrete Vorschläge für die Behandlung im Rahmen unseres Therapiekonzeptes verfasst. Spirituell erfahrene Mitarbeiter können Angebote im Rahmen des Therapiekonzeptes für Patienten geben, Meditationen anleiten oder in einer sogenannten Indikationsgruppe für Patienten mit spirituell religiösen Krisen mitarbeiten. Diese Therapieangebote werden supervidiert und reflektiert, sodass Unsicherheiten und Fragen in diesem Bereich gemeinsam versucht werden tiefer zu verstehen. Jährlich veranstalten wir einen großen Kongress in Bad Kissingen abwechselnd zum Thema „Spiritualität und Therapie“ und dem Thema „Spiritualität und Wirtschaft“. Alle Mitarbeiter können kostenfrei an diesen Veranstaltungen teilnehmen und spirituell kompetente und inspirierende Menschen durch Vorträge und Seminare kennenlernen. Natürlich können auch unsere eigenen Mitarbeiter bei den Kongressen Vorträge halten sowie Workshops oder Meditationen anleiten.

Unser Anliegen der Vernetzung und transkonfessionellen Zusammenarbeit wird auch durch die Einrichtung einer eigenen Stelle der katholischen Seelsorge in unserem Haus verwirklicht, die sowohl von der Kirche als auch von unserer Klinik bezahlt wird. Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche bieten Gottesdienste in unseren Kliniken an. Die Wirkweise dieses Prinzips zur Unternehmenskultur prüfen wir sowohl auf Ebene der Mitarbeiter als auch der Patienten regelmäßig im Rahmen des Qualitätsmanagements. Alle zwei bis drei Jahre füllen Mitarbeiter einen sogenannten Wertefragebogen aus, in dem wir Fragen zu den erlebten Qualitäten von Heilung, Liebe und Achtsamkeit stellen. Unsere Patienten bewerten außerdem jedes Therapieangebot am Ende ihres Aufenthaltes einzeln, so dass wir genaue Rückmeldungen über die einzelnen Gruppen und Meditationen erhalten. Ebenso werden unsere Räumlichkeiten beurteilt. Fast noch wirksamer und den Arbeitsalltag durchdringende Maßnahmen sind unsere sogenannten kleinen Gesten: Jede Teamsitzung, in kleinen oder großen Teams, beginnt mit einem kurzen Weisheitstext oder einer Phase gemeinsamen Schweigens. Dieses kleine Ritual hat zwei Vorteile: Zum einen lässt sich die Tugend der Pünktlichkeit sehr einfach durchsetzen, weil jeder zu spät Kommende sehr fühlbar stört, und zum zweiten dient die so „verlorene Zeit“ der gemeinsamen Sammlung und Zentrierung oder Einstimmung auf das folgende Sitzungsthema und bündelt so die gemeinsamen Energien. Ein derart konzentrierter Auftakt ermöglicht eine effizientere Arbeitsatmosphäre. Sollte sie dennoch im Laufe der Sitzung entgleiten, so kann der Moderator oder Versammlungsleiter jederzeit die Sitzung unterbrechen und um einen Moment der gemeinsamen Sammlung und Stille bitten, um wieder erneut an die Qualität von Achtsamkeit und dem Dienen der gemeinsamen Aufgabe anzuknüpfen. Im Rahmen der Patientenarbeit beginnen wir Therapiesitzungen oft mit einem sogenannten Resonanzkreis, in dem sich Ganzheitliche Psychotherapie


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Patienten und Mitarbeiter jenseits ihrer Rollen durch ein schweigendes Verbinden der Hände im Prinzip der Achtsamkeit verankern. Im jährlich stattfindenden Mitarbeitergespräch wird jeder Mitarbeiter von einer Führungskraft zur eigenen Sinnerfüllung in der Arbeit gefragt und ob er/sie sich am richtigen Platz im Unternehmen fühlt, um die eigene Vision und die eigenen Werte gut verwirklichen zu können. All diese Maßnahmen und Gesten sollen einen guten Nährboden für gemeinsames Bewusstseinswachstum erstellen. An einem unserer Achtsamkeitstage, an dem wir Mitarbeiter Anliegen und Wünsche bezüglich unserer Achtsamkeitskultur formulieren ließen, sagte eine Mitarbeiterin spontan „Ich wünschte mir eine Heiligenfelder Achtsamkeitskultur zuhause in meiner Familie“. Achtsamkeit als Qualität in der Behandlung von Patienten

„Sieh deine Getriebenheit mit Gelassenheit an, und du erkennst die Nutzlosigkeit der ganzen Rennerei. Lass alle Sorgen in innerer Stille los, und du merkst, wie im Genuss dieser Stille alles andere unwichtig wird.“

im Aufnahmeprozess drückt sich vor allem in einer stimmigen Gruppenzuordnung und der Weiterleitung notwendiger Vorinformationen an die entsprechend den Verantwortlichen in den Häusern aus (Zimmerwünsche, Vorbefunde, notwendige Klärung von Rahmenbedingungen bezüglich Süchten etc.). So können potentielle Spannungsfelder zu Beginn einer Behandlung vermieden und ein persönliches Willkommen gefördert werden. Patienten werden schrittweise und sehr systematisch an die verschiedenen Elemente unserer Achtsamkeitskultur herangeführt. In den ersten Tagen erfahren sie portionsweise die für sie notwendigen Regeln der therapeutischen Gemeinschaft (Gruppenregeln, Regeln der Kommunikation, Umgang mit Sucht-Druck etc.). Mindestens in der ersten Woche, oft noch länger, nehmen alle Patienten an einer täglich stattfindenden Gruppe zur Selbststeuerung teil. Hier werden von Mitarbeiterinnen der Pflege Grundlagen zum Verhalten innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft vermittelt, z. B.: Wie kann ich lernen, mich selbst neutral zu beobachten? Wie kann ich ein „Ja“ oder ein „Nein“ eindeutig ausdrücken? Wie verhalte ich mich in einer inneren akuten Krisensituation? Wie kann ich lernen, um Hilfe zu bitten? Diese Gruppe wird überwiegend praxisorientiert und mit vielen Körperübungen zur Zentrierung, Abgrenzung und Wahrnehmungsschulung gestaltet.

Hung Ying-Ming

In einem Feld der Achtsamkeit, das wie beschrieben durch die Mitarbeiter einer Organisation getragen und vertieft wird, können Patienten diese Qualität auf vielfältige Weise (wieder-) entdecken. In unseren Kliniken beginnt dieser Weg bereits mit der ersten Kontaktaufnahme durch geschulte Gesprächsführung mit unseren Mitarbeitern des Aufnahmemanagements am Telefon. Hier gibt es Gesprächsleitfäden, damit passgenaue Informationen gegeben werden können, aber auch Supervisionen für Mitarbeiter, die nach einem Gespräch das Gefühl haben, nicht wirklich einen zuriedenstellenden Kontakt erreicht zu haben. Achtsamkeit Ganzheitliche Psychotherapie

Von Beginn an lernen Patienten in unseren Häusern sich im Feld von Großgruppen zu bewegen und auszudrücken: Auch wenn die biographische und symptombezogene Kerntherapie in Kleingruppen bis zu zehn Patienten stattfindet, sind viele therapeutische Veranstaltungen im Großgruppenformat von fünfzehn bis dreißig Patienten. Je größer die Gruppenstärke, desto formalisierter und strukturierter gestalten wir die Abläufe, auch um in diesem Rahmen ausreichend Halt und Sicherheit zu vermitteln. So findet die ritualisierte Begrüßung der Neuen im Feld der ganzen Patientengemeinschaft der Abteilung (ca. fünfzig Patienten) erst nach einer Woche und im kleineren Innenkreis statt. Patienten lernen langsam, sich im Feld der Präsenz vie-


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ler anderer zu zeigen und über sich selbst zu sprechen. Der Therapie-Alltag besteht, neben den expliziten Therapie-Angeboten, aus einigen Achtsamkeits-Elementen, die u. a. die Qualitäten von Innehalten und Stille unterstützen. Zweimal wöchentlich wird eine Mahlzeit schweigend eingenommen. Ein Gong läutet die stille Zeit ein. Patienten, die gern situativ oder grundsätzlich schweigend essen wollen, können an einem geeigneten Schweigetisch Platz nehmen. Jeden Spätnachmittag wird eine Stunde der Stille und Achtsamkeit eingeläutet, in der Meditationen angeboten werden und zu „stillen Tätigkeiten“ wie Tagebuch schreiben, Malen, Spazieren gehen oder anderen Formen der Besinnung geraten wird. Viermal im Jahr gestalten wir einen ganzen Tag der Stille, an dem Patienten von morgens vor dem Frühstück bis nach dem Abendessen angeleitet werden, ohne das vertraute Medium Sprache durch den Tag zu gehen. In einer 30-minütigen Einführung gibt es grundlegende Informationen zum Umgang mit der Stille und im Verlauf des Tages werden viele stille Körper- und Kreativübungen angeboten. Für Krisen stehen Mitarbeiter des Pflegeteams zur Verfügung. In der Praxis erleben aber die meisten Patienten diesen Tag als positive, entlastende Erfahrung, die zur Wiederholung animiert.

aufrechtem Sitzen die Grundlagen der Achtsamkeitsmeditation freiwillig erlernen und an den Morgenmeditationen teilnehmen. Erfahrene Therapeuten vermitteln systematisch die Verankerung im „inneren Beobachter“, die Vertiefung von Konzentration und Stille, die Gewinnung von persönlichen und überpersönlichen Einsichten durch forschende Kontemplation, die Verfeinerung der Selbststeuerung und Entdeckung des „Flow“-Erlebens sowie das schrittweise Loslassen und Aufgehen in vertiefte oder erweiterte Bewusstseinsräume. Patienten können zu dieser Praxis direkt am Ende der Meditation Fragen stellen, eine Sprechstundenzeit nutzen und verschiedene Vorträge, Bücher, Artikel und CDs lesen bzw. hören. Sehr erfahrene Meditierende können an einem Abend der Woche Vertiefungspraxis im Rahmen einer gemischten Gruppe aus Therapeuten, Menschen aus der Region und Patienten praktizieren. Neben Erläuterungen und 45-minütiger Stille wird hier auch eine Bewegungsmeditation mit sanfter Musik zur Qualität der Hingabe angeboten. In der Gruppe Achtsamkeitstraining lernen Patienten nicht nur in stillen, verinnerlichten Räumen präsent zu sein, sondern diese Qualität auf Bewegung, Alltagstätigkeiten, Kontakt und Begegnung auszudehnen.

In der Gruppe Selbstführung werden die Systematische Achtsamkeitsschulungen Handwerkszeuge der Selbststeuerung können Patienten in themenbezogenen noch vertieft und auf die gesamte Lebensregelmäßigen Gruppen erhalten: führung, auch nach der Therapie, bezogen. In diesen Gruppen arbeiten wir mit • Täglich eine stille Meditation und am Körperwahrnehmungsübungen. Achtsam Abend eine bewegte oder mit Musik keitslenkung gegenüber Sinnesreizen (zu begleitete Meditation wenden-abwenden, hin- und herpendeln, • Achtsamkeitstraining, wöchentlich 100 eintauchen und genießen) sowie kognitive Minuten Übungen und Verhaltensschulung. • Selbstführung, wöchentlich 100 Minuten • Umgang mit spirituell-religiösen Krisen, Für Patienten, die über die Auseinander wöchentlich 100 Minuten setzung mit Religion, Spiritualität oder • Glaube als Heilungsweg, wöchentlich Esoterik in eine Krise geraten sind und 100 Minuten die dieses Thema im Rahmen ihrer Therapie gezielt bearbeiten wollen, gibt es ein Patienten, die einen Zugang zu stiller Me- christlich orientiertes Angebot durch eine ditation finden wollen, können nach einer Seelsorgerin „Glaube als Heilungsweg“ regelmäßig stattfindenden Einführung in und eine transkonfessionelle Gruppe mit Ganzheitliche Psychotherapie


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dem Titel „Religiöse und spirituelle Krisen“. Hier werden unterschiedliche äußere Auslöser für diese spezielle Form der Krise beleuchtet, wie auch die individuelle Kompetenz der Verarbeitung und Integration dieser Themen. Manche Patienten suchen eher Orientierung, Abgrenzung, Schutz und Halt angesichts verunsichernder innerer und äußerer Phänomene; andere wünschen sich Wege und Methoden der Glaubensvertiefung und Hingabe an subtilen Erfahrungen. In dieser Gruppe können daher individuelle sinnvolle Antworten auf energetische, mediale und transpersonale Erlebnisse gefunden werden. Auch in vielen anderen Therapieangeboten finden sich Elemente der Achtsamkeits-Schulung, u. a. in der Anleitung von Körperwahrnehmung und –ausdruck, z. B. in der Atem- und Bewegungsschule, dem Tai Chi, der strukturbildenden Körpertherapie, der Heilkraft der Stimme, der Rhythmustherapie, den Entspannungsverfahren und dem gegenseitigen Tragen im körperwarmen Wasser. Das Ziel all dieser Angebote ist eine möglichst umfassende Bewusstseins- und Präsenzschulung bezogen auf folgende Dimensionen: • Achtsamkeit mit sich selbst (Körper, Seele, Geist) • Achtsamkeit in Beziehungen (Familie, Freunde, Kollegen) • Achtsamkeit in der Arbeit (in Routinen und Herausforderungen von Beruf und Alltag) Besonders berührend sind selbstinitiierte Achtsamkeitsrituale der Patientengemeinschaft wie der Abschiedschor, der wöchentlich am Entlassungstag mutmachende Lieder singt, oder die Gestaltung von kreativen und zentrierenden Mitten (oft in Mandalastruktur) in Behandlungsräumen und Meditationsräumen.

u. a. ein Wissen und eine gezielte Vorbereitung auf diesen Wechsel sowie eine Betonung der Eigenverantwortlichkeit für alle Reaktionen darauf. Dem subjektiven Eindruck, „draußen“ sei alles noch härter, kälter und unachtsamer geworden, liegt meist eine persönliche Sensibilisierung und positive Erfahrung mit diesem Thema zugrunde. Damit sich die in unserem Feld angestoßenen Veränderungen fortsetzen, auffrischen oder vertiefen können, bieten wir ein umfangreiches Konzept zur Nachsorge an. Eine besondere Gefahr besteht auch darin, dass Achtsamkeit ihrerseits zur moralischen Forderung und Anspruch umgestaltet wird. Dies kann bereits während des Therapieaufenthaltes geschehen („Wie kann so etwas in einer achtsamkeitsorientierten Klinik geschehen?“). Sehr schmerzhaft sind diese Ansprüche, wenn sie zu persönlicher Zurückweisung führen („so wenig achtsam wie Du bist, kannst Du nicht an unserem Tisch sitzen“) und gern wird eine Verschiebung von Unlust über eine Grenzsetzung in das Thema Achtsamkeit genutzt („wenn der Therapeut achtsamer wäre, hätte er gemerkt, dass ich das brauche“) und schließlich kann es eine grundsätzliche Fehldeutung bezüglich Achtsamkeit geben, dass sie nicht als entspannte innere Haltungsänderung gelebt wird, sondern als innerer Stressfaktor. Abschluss

„Wer ist wach, ganz allein, auf dieser schlafenden Erde, in der Luft, die zwischen den regungslosen Blättern schlummert? Wer ist wach in den stillen Nestern der Vögel, in den verschwiegenen Kelchgemächern der Blumenknospen? Wer ist wach in den zitternden Sternen der Nacht, in dem pochenden Schmerz tief in meinem Innern?“ Rabindranath Tagore

Oft werden wir gefragt, wie nach einer solchen Erfahrung erhöhter Achtsamkeit in den meisten Bereichen der Übergang in ein weniger oder gar nicht achtsames Alltagsfeld zu verkraften sei. Es benötigt Ganzheitliche Psychotherapie

Achtsamkeit und Präsenz sind in unserem Verständnis Ausdruck der zunehmenden Bewusstwerdung des Menschen. Für die Psychotherapie stellen sie eine wesentli-


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che Dimension dar, denn sie ermöglichen eine Distanzierung von der Störung und eine Entidentifizierung von den Störungsmustern. Darüber hinaus schaffen sie einen gemeinsamen Bewusstseinsraum zwischen Therapeut und Patient, der ein enormes Potenzial zusätzlicher Qualitäten und Impulse für die Heilung besitzt. Schließlich eröffnen sie eine innere Verankerung in unserer Seele, in unserem Wesen, unserer Spiritualität und ermöglichen so, unserem Leben eine Orientierung und einen tieferen Sinn zu geben. Achtsamkeit und Präsenz besitzen somit nicht nur Relevanz für die Psychotherapie, sondern für die Lebensführung von uns Menschen. Sie stellen so etwas wie den inneren Kern für die Steuerung unseres Bewusstseins und für unseren inneren Bezug zur äußeren Welt und zur Transzendenz, dem Unbekannten, dar. Sie sind Ausdruck der Bewusstwerdung des menschlichen Bewusstseins, unseres Erwachens zu uns selbst, unseres zunehmenden Erkennens und Verstehens, wer und wie wir sind, und der Entfaltung unserer Kompetenz, unsere gemeinsame Zukunft in Verantwortung und Würde zu gestalten. Literatur Galuska, J. (2003 a): Grundprinzipien einer transpersonal orientierten Psychotherapie; in Galuska J. (Hrsg.), Den Horizont erweitern; Ulrich Leutner-Verlag, Berlin, S. 38 – 62 Galuska, J. (2003 b): Die erwachte Seele und ihre transpersonale Struktur; Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/2003, S. 6 – 17 Galuska, J. (2006): Beseelte Psychotherapie, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/2006, S. 64 – 70 Wilber, K. (1996): Eros, Kosmos, Logos; Krüger, Frankfurt

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Religiöse und spirituelle Krisen In den Heiligenfeld Kliniken wird seit der Gründung im Jahr 1990 ein besonderer Fokus auf psychische Erkrankungen in Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Störungen gelegt. Dabei werden die Patienten im Umgang mit existenziellen Fragen, Sinnfragen, religiösen oder spirituellen Themen unterstützt. Die intensive Auseinandersetzung mit Religion, Glaubensgemeinschaften, Spiritualität oder Esoterik, darüber hinaus auch spontan auftretende ungewöhnliche Erlebnisse energetischer, medialer oder paranormaler Art können den einzelnen Menschen überfordern und zu persönlichen Krisen führen. Gerade das ganzheitliche und integrative Konzept der Kliniken, das von einem humanistisch-spirituellen Geist getragen ist und die religiöse und spirituelle Dimension ausdrücklich würdigt, stellt eine Basis dar, sowohl für die Behandlung psychischer oder psychosomatischer Störungen als auch für die Würdigung und Unterstützung im Umgang mit ungewöhnlichen Erlebnissen und den damit verbundenen existenziellen Fragen, Sinnfragen, religiösen oder spirituellen Themen.

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Die stationäre Behandlung religiöser und spiritueller Störungen Dr. Joachim Galuska, Dorothea Galuska, in: Handbuch Spirituelle Krisen (in Vorbereitung, erscheint vorauss. Frühjahr 2016) In der stationären Behandlung sind religiöse und spirituelle Probleme und Störungen dann relevant, wenn sie entweder im Rahmen der Behandlungsbedürftigkeit einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung ein nicht zu vernachlässigendes Thema darstellen oder selbst zu einer stationär behandlungsbedürftigen Erkrankungen geführt haben. Eine stationäre Behandlung wird nur bei einer tiefgreifenden Störung und bei einer komplexen stationären Behandlungsbedürftigkeit stattfinden. Unsere Erfahrungen beziehen sich dabei auf die Behandlung solcher Patienten in den Heiligenfeld Kliniken seit über 20 Jahren. Im Folgenden wollen wir unsere konzeptionellen Hintergründe mit Beispielen aus der Praxis erläutern. Angesichts der Vieldeutigkeit der Begriffe möchten wir unser Verständnis zunächst formulieren: Religiosität und Spiritualität verstehen wir als den jeweiligen inneren Bezug auf etwas Jenseitiges. Religiosität bezieht sich auf Glaubensinhalte, wie sie in Texten der religiösen Systeme, an die man glaubt, formuliert sind, und religiösrituelle Praxis, wie Gottesdienst, Andacht oder Gebet.

werden alle Störungen verstanden, die im Zusammenhang mit Glaubensfragen stehen und sich in Form psychischer oder psychosomatischer Störungen auswirken. Unter spirituellen Störungen werden alle Störungen zusammengefasst, die sich auf spirituelle Erfahrungen im weiteren Sinne beziehen und die zu psychischen oder psychosomatischen Störungen führen. Entwicklungstheorie Das menschliche Bewusstsein und das seelische Leben entwickelt sich gemäß Blanck und Blanck (1982) in Form verschiedener Entwicklungslinien, die sich auf die eigene Identität, die Beziehung zu anderen Menschen, die kognitive, affektive und moralische Entwicklung beziehen. Dieses Konzept der Entwicklungslinien wurde von Ken Wilber (2001) erweitert und ergänzt. Insbesondere beschrieb er die Entwicklung über das Niveau der reifen Struktur eines erwachsenen Menschen hin zur Transzendenz und ergänzte die Entwicklungslinien um weitere Linien, insbesondere die religiös-spirituelle Entwicklung. (siehe Abbildung Entwicklunglinien)

Spiritualität bezieht sich auf Erfahrungen des Jenseitigen, Größeren, Göttlichen oder Unbekannten, also auf Erfahrungen der Transzendenz. Transzendenz könnte man verstehen als erfahrene Überschreitung des Alltäglichen, Persönlichen und Weltlichen.

In der religiös-spirituellen Entwicklung ist auffällig, dass das Jenseitige, etwa unser Verständnis von Gott oder der Aufbau einer jenseitigen Welt, mit den gleichen Denk- und Vorstellungsstrukturen konzeptualisiert wird, wie wir das Diesseits, also diese Welt, verstehen.

Während Religiosität sich also auf kulturell vermittelte Inhalte und Praxis bezieht, stellt Spiritualität individuelle subjektive Erfahrungen und Überzeugungen in den Vordergrund. Unter religiösen Störungen

Das Kind lebt in einer Welt von Bildern, Mythen und Geschichten mit Familienund Schulerfahrungen. Seine religiöse Welt besteht demzufolge aus Geschichten, Engeln, einem Christkind, einer Hei-

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ligen Familie, aus Wundern, Himmelfahrt usw. Helmut Reich (2004) beschreibt die Entwicklung der Gottesbilder im Kindesalter wie folgt: „Für Kinder bis etwa sechs Jahre (und für einige darüber hinaus) hatte der im Himmel wohnende Gott alles (wie ein Handwerker) gemacht, einschließlich Artefakte wie Hochhäuser, Autos und Uhren.“ „Für Sieben- bis Neunjährige (und einige darüber hinaus) hatte Gott zwar die Natur erschaffen, aber die Artefakte sind von Menschen gemacht.“ „Im Alter von zehn bis sechzehn Jahren kommt dem nicht mehr näher lokalisierten Gott weitgehend nur noch eine Rolle „hinter den Kulissen“ zu (wie dafür zu sorgen, dass es genügend regnet, dass die Geburt von Säuglingen gut verläuft usw.): die Natur und die Menschen gehen ihren Tätigkeiten weitgehend selbständig und unabhängig nach.“ „Ab etwa sechzehn Jahren wird die Stufe 4 erreicht: Gott ist nicht mehr der (artifizialistische) Weltbaumeister, sondern Liebe, Kraft, das Gute usw.“ Der Erwachsene besitzt bereits Abstraktions- und Symbolisierungsfähigkeit, Berufs- und Partnerschafterfahrungen. Seine religiöse Welt besteht dann aus symbolischen Inhalten, reflektierten Glaubenssät-

zen, Lebensregeln und metaphysischen Kräften oder Prinzipien. Die magischen und mythologischen Inhalte der kindlichen religiösen Welt, wie Auferstehung, Himmelfahrt, Wunder, jungfräuliche Geburt usw. werden symbolisch verstanden und interpretiert. Sein Gottesbild ist abstrakt, z. B. als schöpferisches Prinzip, als SeinsGrund oder das Gute, oder es ist ein persönliches Gegenüber im Sinne eines transzendenten Du. Transzendente Spiritualität relativiert schließlich alle Konzepte und ist zur vollkommenen Offenheit für das „Mysterium“, das Geheimnis oder das Unbekannte bereit. Die religiöse bzw. spirituelle Erfahrung ist eine unmittelbare Erfahrung von Transzendenz in Form von Stille, Unendlichkeit, Freiheit, Offenheit, Verbundenheit usw. oder des Göttlichen und Absoluten selbst. Der Gottesbezug geschieht jenseits jeder Konzeptionalisierung im Sinne des Absoluten oder Unbekannten als Vereinigung mit Gott oder dem Göttlichen bzw. als Erfahrung von Non-Dualität. Der Übergang von der kindlichen zur erwachsenen Religiosität kann mit vielfältigen Problemen verbunden sein. Ganze religiöse Weltbilder müssen sich wandeln und die traditionellen religiösen Systeme bieten oft in dieser Veränderung wenig Hilfe. Auch der Übergang von der erwachsenen zur transzendenten Religiosität und Spiritualität stellt eine Herausforderung dar. Willigis Jäger (1991) spricht

Selbst-Entwicklung

(Objekt)-Beziehungen

Abwehrfunktionen

kognitive Entwicklung Affekte (u. a. Angstniveau) moralische Entwicklung religiös-spirituelle Entwicklung Weitere Linien, z. B. Ästhetik, Bedürfnisse Entwicklungslinien

Säugling

Kind Erwachsener Transzendenz präpersonal personal transpersonal

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vom „Gottesverlust“ im Sinne des Verlustes jedes Gottesbildes, das bis dahin einen Halt geboten hat. Strukturtheorie Schon Blanck und Blanck (1982) beschrieben die Auswirkungen struktureller Defizite für die weitere psychische Entwicklung. Die strukturbezogenen Konzepte der IchPsychologie und der Objektbeziehungstheorie (Kernberg, 1996) wurden vom Arbeitskreis OPD (1996) im Rahmen der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik systematisiert und operationalisiert. Dieses System beschreibt neben Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Beziehungsdiagnostik, Konfliktdiagnostik und ICD-10 Diagnostik eine Strukturdiagnostik. Die Achse „Struktur“ unterscheidet neben der guten Integration eines gesunden Menschen, eine mäßige Integration, eine geringe Integration und ein Desintegration. Die strukturelle Integration bezieht sich vorwiegend auf den Umgang mit der eigenen seelischen Innenwelt und den mitmenschlichen Beziehungen. Grundsätzlich wird das gesamte Erleben also auch religiöse und spirituelle Inhalte - gemäß der eigenen Entwicklungsstruktur mehr oder weniger integriert. Wird beispielsweise ein Glaubensinhalt oder eine spirituelle Erfahrung nicht angemessen integriert, kann sie zunächst konflikthaft verarbeitet werden. Innere Konflikte mit Glaubensinhalten oder Erfahrungen im religiösen Kontext können verdrängt werden und zu „neurotischen“ Symptombildungen, wie etwa Angstzuständen, führen. Fallbeispiel Ein etwa 30-jähriger evangelischer Pfarrer kam mit Depressionen und BurnoutEntwicklung in unsere Klinik. Trotz Reduktion seines Stellenumfangs fühlte er sich zunehmend erschöpft, und er war seit drei Monaten krankgeschrieben. In der Exploration seiner Lebensgeschichte fand sich eine Tradition männlicher Geistlicher. Auch er hatte diesen Beruf aus Berufung gewählt. Mit seiner Ehefrau, die ebenfalls evangelische Theologin war, führte er eine nicht erfüllende Ehe. Früh in seinem Leben erlebte er mystische ErGanzheitliche Psychotherapie

fahrungen, die ihn ermutigten, sein Studium der Theologie zu widmen. Als er dort an institutionelle Grenzen stieß und u. a. kaum Raum für die ihm wichtige spirituelle Dimension fand, war er zunächst enttäuscht, später frustriert und zunehmend depressiv. Im bewussten Erspüren und Ausdrücken seiner Gefühle ungeübt, fehlte ihm das Handwerkszeug für echte und konstruktive Auseinandersetzung. Weder konnte er seine Bedürfnisse noch seine Grenzen formulieren. Besonders gegenüber Autoritäten (Vater, Professoren, anderen Theologen) fühlte er sich einerseits machtlos, andererseits aber innerlich überlegen durch seine für ihn tiefere und wesentlichere Beziehung zu Gott, die aber im Rahmen der Institution Kirche - nach seinem Empfinden - kaum lebbar war. Auch in seiner Ehe vermisste er die für ihn „heilige Dimension“. Seine Gottesbeziehung lebte er zurückgezogen im Gebet und in der Stille oder im Spielen von Musik. Sein heimlicher Wunsch war es, ganz neu zu beginnen, sich von Kirche und Frau zu trennen und ein Musiker zu werden, der seine Hingabe an Gott in seiner Musik ausdrückt. Wir gestalteten seine Therapie-Angebote mit einer Mischung aus aufdeckenden Therapien, u. a. Aggressionsarbeit, Psychoedukation über Depression und Burnout sowie kreativen Therapien mit Rhythmus und Stimme. Spirituelle Erfahrungen im weiteren Sinne, wie z. B. eine Öffnung für energetische Zustände, können abgewehrt werden und so zu psychosomatischen Beschwerdebildern in Form von Schmerzen führen. Tiefgreifender jedoch wäre eine innere Dissoziation des Erlebens bei einer geringeren Integrationsfähigkeit. Hier werden religiös oder spirituell interpretierte Persönlichkeitsanteile abgespalten, projektiv interpretiert und entfalten ein Eigenleben. Fallbeispiel Ein junger Mann kam wegen Angstzuständen und Abbruch seines Studiums zu uns. Im Kontakt mit ihm fielen auch dissoziative Momente auf. Seine intellektuelle Begabung war sehr hoch, aber er wirkte zurückgezogen in eine eigene innere Welt. Er berichtete, dass er schon früh in seinem Leben das Gefühl hatte, anders zu


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sein und nicht zu seiner wirklichen Familie zu gehören. Er habe häufig in Traum- und Phantasiewelten gelebt. Er sei sehr einsam und irgendwie „verloren“, dabei aber auch sehnsüchtig nach „wirklichem“ Kontakt, von dem er zunächst nicht sagen konnte (oder mochte?) was er darunter verstand. Im Rahmen der spirituellen Krisengruppe entdeckte er, dass die Sprache seiner Seele eine energetische Form der Wahrnehmung und auch Verbindung sei. Diese Sprache hätte aber nie jemand mit ihm geteilt. Deshalb habe er sich auch selbst abgelehnt und Ängste vor dieser Art der Wahrnehmung entwickelt. Weder wusste er, wie er sich im „normalen Leben“ verankern konnte, noch wie der für ihn realere energetische Modus erreichbar oder wieder zu verändern sei. Für ihn bedeutete es eine enorme Erleichterung, dass es außer ihm Menschen gab, die diese Erfahrung teilen konnten, und er wurde sehr neugierig auf Methoden der Selbststeuerung, in denen er Zugänge zu subtileren Wahrnehmungen finden konnte. Gleichzeitig sah er die Notwendigkeit, sich mit seiner Einsamkeit anvertrauen zu lernen und Bedürftigkeiten ausdrücken zu können. Sein Hauptthema war, zu sich und seinen Eigenheiten zu stehen, sie nicht mehr als „falsch“ oder beängstigend zu beurteilen, sondern einen für sein Leben unterstützenden Weg mit seinen Gaben zu wählen. Er studierte später Psychologie und wirkt heute sehr integriert. Die spirituelle Dimension hat auch über eine ernsthafte regelmäßige Meditationspraxis einen festen Platz in seinem Leben gefunden. Eine Desintegration kommt zustande, wenn die Persönlichkeit durch religiöse Inhalte oder spirituelle Erfahrungen im weiteren Sinne überflutet wird und psychotisch zusammenbricht. „Teuflische“ oder auch „Göttliche Energien“, Botschaften von jenseitigen Mächten oder von eigenen Wesenheiten überschwemmen das eigene Erleben und können nicht mehr geordnet, gesteuert und begrenzet werden. Stille kann dann als Unheimlichkeit erlebt werden, Leere als vernichtend und todbringend. Vielleicht tobt ein Kampf von Heerscharen guter und böser Kräfte, die als Stimmen zu hören sind und die Botschaften oder Befehle geben. Auch reli-

giöse Wahnvorstellungen, ein Prophet, der Messias oder der Teufel zu sein, sind möglich. Zusammengefasst erfordern religiöse und spirituelle Störungen: • Eine entwicklungspsychologische Betrachtung • Eine strukturbezogene Diagnostik • Eine Betrachtung der gesamten Per- sönlichkeit und eine Diagnostik gemäß der ICD-10 Allgemeine Grundsätze zur Begleitung und Behandlung religiöser und spiritueller Störungen Grundsätzlich erfordert der Umgang mit religiösen und spirituellen Themen eine Offenheit des Therapeuten und eine basale Kompetenz für die entsprechenden Themen und Fragen. David Lukoff, der im amerikanischen Sprachraum entscheidend zur Einführung der DSM-Kategorie „religiöses oder spirituelles Problem“ beigetragen hat, nennt folgende Elemente für eine spirituelle Unterstützung (2007): Information des Patienten darüber, dass Heilung eine spirituelle Reise mit potentiell positivem Ergebnis sein kann. Ermutigung des Patienten, einen spirituellen Weg oder eine religiöse Gemeinschaft einzugehen, die den eigenen Erfahrungen und Werten konsistent ist. Ermutigung des Patienten, Unterstützung in der Führung von glaubwürdigen, religiösen oder spirituellen Führern zu suchen. Ermutigung des Patienten, sich in religiösen oder spirituellen Praktiken, die mit ihren eigenen Glaubensinhalten übereinstimmen, zu engagieren (z. B. Gebet, Meditation, Bücher, Gottesdienste, Rituale). Weiterentwicklung der eigenen Spiritualität, einschließlich der eigenen Sinnsuche, einhergehend mit Glaube und Hoffnung in etwas Transzendentes. Kern des Umgangs mit religiösen und spirituellen Themen ist unseres Erachtens nach ein eigener spiritueller oder religiöser Bezug. Zugleich ist eine Offenheit für die unterschiedlichen religiösen Systeme und spirituellen Wege nötig. Aufgabe des Ganzheitliche Psychotherapie


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Therapeuten ist nicht, den Patienten zur Überzeugung des Therapeuten zu führen, sondern ihm zu helfen, seine Themen und Störungen im Rahmen seiner eigenen „Weltanschauung“ zu integrieren. Dies stößt natürlich gelegentlich an Grenzen bei sehr fundamentalistischen Überzeugungen, bei der die Bereitschaft der Patienten, diese in Frage zu stellen, zunächst einmal gesucht werden muss. Grundsätzlich ist für die therapeutische Grundhaltung im Umgang mit religiösen und spirituellen Störungen eine innere Verankerung in der eigenen Präsenz des Therapeuten hilfreich. Wir verstehen Präsenz als die unmittelbare Vergegenwärtigung des Anwesendseins, des Existierens. Der entsprechende Bewusstseinszustand wird in der Regel erfahren als in sich ruhend, offen, weit und empfänglich für alle möglichen Inhalte. Er ist nicht identifiziert mit Konzeptualisierungen und damit in der Lage, in einer mehrperspektivischen Weise mit ihnen umzugehen. Aus Präsenz und Achtsamkeit heraus Patienten zu begegnen, nennen wir eine „beseelte Psychotherapie“ (Galuska, 2006, 2011, 2013). Die in der Präsenz und der eigenen Seele verankerte Grundhaltung besitzt im Grunde einen inneren spirituellen Bezug und kann somit die entsprechende Thematik bei Patienten einladen und zu einer entsprechenden empathischen Resonanz im Therapieprozess führen. Die Diagnostik ist grundsätzlich ganzheitlich und mehrperspektivisch. Dies erfordert die Erfassung der gesamten Situation des Patienten physischer, psychischer und sozialer Art, die Diagnose der Störung gemäß der ICD-10 oder des DSM-IV, die Diagnose der Struktur der Gesamtpersönlichkeit (gut integriert bis desintegriert), die Beschreibung und Diagnostik der religiösen und spirituellen Themen, Erfahrungen und Störungen und die Diagnostik der Entwicklungsstufe bzw. der entwicklungsbezogenen Thematik auf der religiös-spirituellen Entwicklungslinie.

Das therapeutische Vorgehen ist grundsätzlich zweigleisig Die Behandlung und Begleitung der Gesamtpersönlichkeit. Diese hat sich vorwiegend an dem Strukturniveau des Patienten auszurichten und ist bei einem höheren Grad an Integration und Integrationsfähigkeit eher konfliktorientiert, mobilisierend, erlebnisaktivierend und durcharbeitend ausgerichtet. Bei einem geringeren Strukturniveau sind eher erklärende, strukturierende, stabilisierende und unterstützende Maßnahmen erforderlich. Je nach Schwere der behandlungsbedürftigen Störung kann die Intensität von ambulanter Beratung über ambulante psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung bis hin zur stationären Behandlung gehen. Die Würdigung, Begleitung und psychotherapeutische Betreuung der religiösen und spirituellen Inhalte und Probleme des Patienten, zunächst einmal im Rahmen seiner eigenen Systeme. Hier muss geprüft werden, ob eine Begleitung durch einen Seelsorger oder einen spirituellen Lehrer ausreicht oder eine zusätzliche fachpsychotherapeutische Kompetenz dafür erforderlich ist. Ggf. ist es auch erforderlich, die Themen und Problemkreise des Patienten begrifflich zu relativieren und in einen aufgeklärten, religionsunanbhängigen Sprachraum zu übersetzen, um eine Distanzierung von fixierenden Identifikationen zu erreichen. Die allgemeinen Ziele in der Begleitung und Behandlung religiöser und spiritueller Störungen sind: • die Integration der religiösen Orientierung, der spirituellen Dimension bzw. der spirituellen Erfahrungen in die Gesamtpersönlichkeit • die Erarbeitung von Kompetenzen und Techniken im Umgang mit religiösen bzw. spirituellen Themen und Phänomenen. • die Weiterentwicklung der Persönlichkeit in ihrer Sinnfindung, Seelenverankerung und Transzendenz-Integration

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Pavillon der Religionen


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Besonderheiten der stationären Behandlung religiöser und spiritueller Störungen Stationäre Psychotherapie wirkt nicht primär durch die Addition der einzelnen therapeutischen Maßnahmen, sondern als Ganzes, als komplexes Behandlungsfeld. Besondere Bedeutung hat dabei eine für Spiritualität und Religiosität offene Atmosphäre, ein ganzheitliches Menschenbild im Sinne des biopsychosozialen Modells, ein mehrschichtiges multimodales und multimethodisches Therapieangebot und eine hohe Behandlungsintensität und Behandlungskomplexität.

den jedoch nur im Zusammenhang mit einer behandlungsbedürftigen psychischen oder psychosomatischen Erkrankung (FDiagnose gemäß ICD-10) zusätzlich diagnostiziert und behandelt. Die allgemeinen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für diese Erkrankungen folgen eigenen Pfaden, die zusammen mit dem Pfad für religiöse und spirituelle Störungen zu einer Gesamt-Behandlungsstruktur integriert werden. Bei den dargestellten Abläufen handelt es sich um „Behandlungsmuster“, die auf den Einzelfall bezogen im Sinne variabler Module ein individuelles Behandlungsprogramm ergeben.

Allgemein gesagt hat in den Heiligenfeld Kliniken jeder Patient und jede Patientin einen vielschichtigen komplexen Therapieplan aus individuell zugeschnittenen Therapien und allgemein für alle verbindlichen Maßnahmen. Ein Bezugsarzt oder Bezugspsychologe behandelt, plant und führt durch die Therapie. Im Vordergrund steht die Psychotherapie, einzeln und vor allem im Rahmen von Gruppenpsychotherapie. Die medizinische Diagnostik und Behandlung, auch mit Medikamenten, folgt wissenschaftlich anerkannten Leitlinien. Körpertherapien, Musik-, Kunst- und Kreativtherapien werden als wichtige Zugänge zum persönlichen Erleben eingesetzt. Diverse Meditationen und Achtsamkeitsübungen sind Angebote zur Besinnung und Vertiefung spiritueller Kompetenzen. Durch Informationen und Übungen im Rahmen von Psychoedukation werden Formen der Selbstführung und der Krankheitsbewältigung gelernt. In kleinen und großen Gruppen der therapeutischen Gemeinschaft kann soziales Lernen stattfinden und mitmenschliche Unterstützung erfahren werden. Alltagstraining, Arbeitstraining und Sozialberatung bereiten auf das gesellschaftliche Leben vor, die Nachsorge unterstützt es.

Neben den Behandlungsindikationen für die behandlungsbedürftigen psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen gibt es pfadspezifische Indikationen zur Behandlung religiöser und spiritueller Störungen:

Neben diesen allgemeinen Behandlungsstrukturen folgt die Behandlung religiöser und spiritueller Störungen einer klinikinternen Leitlinie. Der klinische Pfad bezieht sich auf die besonderen Abläufe für Patienten, bei denen religiöse oder spirituelle Probleme im Vordergrund stehen. Religiöse oder spirituelle Probleme werGanzheitliche Psychotherapie

• mangelnde „Erdung“ • mangelnde Selbststeuerung aufgrund der religiösen bzw. spirituellen Problematik mit unzureichender Alltagsbewältigung und defizitären praktischen Lebensbezügen • mangelnde Verarbeitung von mystischen Erfahrungen bzw. TranszendenzErlebnissen • mangelnde Identität in der Glaubens orientierung • Abhängigkeit von Sekten bzw. Thematik des Sektenausstiegs • mangelnde Verarbeitung von religiöser Abhängigkeit oder religiösem Missbrauch • mangelnde Abgrenzung gegenüber energetischen, medialen oder paranormalen Erfahrungen (erhöhter S e n s i t i vität), auch bei krisenhafter sensitiver Öffnung • ausgeprägte Schuldgefühle, Angst vor Verurteilung oder Bestrafung aufgrund religiöser Erziehung („ekklesiogene Neurose“) oder sonstiger religiöser Indoktrination • autodestruktive Praktiken religiösen Hintergrundes • mangelnde Verarbeitung von Nahtod- Erfahrungen • mangelnde Verarbeitung von Meditationserfahrungen


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• mangelnde Verarbeitung von Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen • religiös oder spirituell gefärbte Psychosen • Gefühl des Ich-Verlustes bzw. Seelen- Verlustes Typische Behandlungsziele bei religiösen und spirituellen Störungen sind: • Einsicht in biographische Zusammenhänge, insbesondere Verständnis der religiösen Entwicklungslinie • Bearbeitung der Auslöser der spirituellen oder religiösen Krise • Aufbau eines stabilen Selbstkonzeptes mit positivem Selbstgefühl und Selbstakzeptanz • Aufbau einer stabilen Identität unter Berücksichtigung der religiösen und spirituellen Erfahrungen mit einem passenden Glaubenssystem • Integration der Sensitivität, der energetischen, paranormalen oder spirituellen Erfahrungen in die Persönlichkeit und ihr Leben • Aufarbeitung einer Abhängigkeitsproblematik und Entwicklung zur Fähigkeit von realistischen Beziehungen, insbesondere im Lehrer-Schüler-Verhältnis • (Wieder)-Errichten und Sichern stabiler Körpergrenzen • Integration von Schattenaspekten und Fähigkeit zum Umgang mit dem „Bösen“ und dem Tod • positive und angemessene Einstellungen zu Beziehungen, Familie, Geld und Arbeit im Zusammenhang mit einem ganzheitlichen Verständnis von Spiritualität und Welt • Verstehen des tieferliegenden Anliegens des Patienten, welches sich häufig hinter dem „Label“ Kundalini-Syndrom, „Outof-Body“, Besetzung, Channeling, Energieübertragung, Medialität, Rückführung, Hypsersensibilität, Geister/Engel u. v. m. versteckt Die Grundprinzipien der Behandlung religiöser und spiritueller Störungen sind:

der religiösen und spirituellen Problematik, als auch der zusätzlich vorliegenden psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankung • insbesondere Beachtung der narzisstischen Problematik, einer Spiritualisierung psychischer Konflikte, der Idealisierung von Bezugstherapeuten oder spirituellen Lehrern, der Spaltungsneigung zwischen Glaubenssystemen bzw. Spiritualität und Alltag und einer mangelnden Offenheit oder Scheu, die religiöse bzw. spirituelle Problematik zu beschreiben Notwendige und typische Behandlungsmaßnahmen bei religiösen und spirituellen Störungen sind: • Gruppenpsychotherapie in der „spirituellen Gruppe“ oder in einer Strukturgruppe (Kerngruppe), deren Therapeuten eine spirituelle Kompetenz aufweisen • störungsspezifische Gruppe für religiöse und spirituelle Störungen • intensive Transfergruppenarbeit gegen Ende des Klinikaufenthalts • die medikamentöse Therapie folgt der Leitlinie der F-Diagnose • gezielte Einzelberatung durch spirituell erfahrene Therapeuten • ggf. telefonische Beratung bei der parapsychologischen Beratungsstelle Freiburg oder in der katholischen oder evangelischen Seelsorge • stille Meditation • Achtsamkeitstraining • Selbststeuerungsgruppe zu Beginn der Behandlung • Lebensführungsgruppe • Desensibilisierungstherapie und strukturbildende Bewegungstherapie zum „Grounding“ • ggf. Heilkraft der Stimme • ggf. Atemgruppe Die Behandlungsdauer hängt in der Regel von der Hauptdiagnose (F-Diagnose) und dem Strukturniveau ab und beträgt meist fünf bis zehn Wochen.

• die Würdigung der religiösen und spirituellen Dimension und ihrer Bedeutung für die Patienten • die zweigleisige Behandlung, sowohl Ganzheitliche Psychotherapie


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Klinische Einteilung religiöser und spiritueller Störungen In der klinischen Praxis differenzieren wir religiöse und spirituelle Störungen gemäß der zunehmenden Desintegration religiöser, subtiler oder spiritueller Erfahrungen wie folgt: Religiöse Störungen: • „religiöses Problem“ (im Sinne des DSM-IV) • ekklesiogene Neurose • dissoziative Störungen religiöser Art • Psychosen mit religiöser Thematik Störungen in der Verarbeitung energetischer Empfindungen: • „Kundalini-Syndrom“ • Blockierung subtiler Energien • dissoziative energetische Empfindungen • psychotische Überflutung mit „subtile Energien“ Störungen im Zusammenhang mit außersinnlichen Wahrnehmungen: • Krise der „sensitiven Öffnung“ • konflikthafte Verarbeitung medialer Erfahrungen • Vermischung außersinnlicher Wahrnehmungen mit unbewussten persönlichen Themen • Besetzungsempfinden fremder Wesenheiten • psychotische Wahnbildungen Spirituelle Krisen und Störungen im engeren Sinne: • Krise der spirituellen Öffnung • Sinnkrise • „dunkle Nacht der Seele“ • Spaltung in Spiritualität und Alltag • dissoziative Fixierungen auf spirituelle Erfahrungen • psychotische Dekompensation mit spirituellen Inhalten Grundsätzlich gilt: Je geringer der Grad an Integration, umso stärker sind grundsätzliche und allgemeine strukturbildende Maßnahmen zur Stabilisierung und Strukturierung der Persönlichkeit erforderlich.

Ganzheitliche Psychotherapie

Die stationäre Behandlung religiöser Störungen Religiöse Störungen entstehen im Rahmen der religiös-spirituellen Entwicklung insbesondere im Übergang von kindlicher zur erwachsener Religiosität, wie oben beschrieben. Darüber hinaus entstehen sie durch negative Auswirkungen von Glaubensinhalten, wie etwa einer sexualfeindlichen oder strengen strafenden Moral, durch negative oder traumatisierende Erfahrungen im Rahmen der religiösen oder der kirchlichen Erziehung oder durch Traumatisierungen durch Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften. Hier werden Begriffe wie „ekklesiogene Neurose“, „ekklesiomorphe Neurose“ oder „Gottesvergiftung“ gebraucht. Darüber hinaus meint dies alle Störungen im Zusammenhang mit der konflikthaften Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben im Sinne der DSM-IV Kategorie „religiöses-spirituelles Problem“. Solche Störungen fielen in früherer Zeit in den Bereich kirchlicher Seelsorge. Heutzutage zeigt sich jedoch, dass zunehmend mehr psychotherapeutische Hilfe, Hilfe im Freundes-, Familien- oder Bekanntenkreis oder eigenständige Aktivitäten im Falle solcher Krisen in Anspruch genommen werden (Belschner und Galuska, 1999). 
Im Folgenden wollen wir beispielhaft den Umgang mit einer solchen Störung im Rahmen der stationären Behandlung beschreiben: Fallbeispiel Eine 49jährige Patientin kam mit ausgeprägter Angstsymptomatik und Schlafstörungen in die Klinik. Im Kontakt fiel eine deutliche Abgrenzungsproblematik auf. Seit ihrer Geburt war sie Mitglied in einer christlichen Sekte. Von ihrem Vater, der eine hochangesehene Autorität in dieser Sekte war, wurde sie mehrfach als Kind missbraucht. Ihre Mutter wurde vom Vater geschlagen. In der Patientin mischten sich tiefgreifende Ängste (die u. a. nachts deutlich wurden), Schuldgefühle sowie nicht bewusster Zorn und Hass. Nach einem dramatischen Sektenausstieg mit dem totalen Kontaktabbruch zu allen dort verbleibenden Familienmitgliedern, einschließlich ihres Ehemannes und eigener fast erwachsener Kinder, versuchte sie


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sich ein komplett neues Leben aufzubauen und scheiterte an der emotionalen Wucht ihrer Vergangenheit. Im Kontakt spürten die Therapeuten ein grundsätzliches Misstrauen von ihr, ob das Gesprochene und Vereinbarte auch wirklich verlässlich sei und nicht „hinter ihrem Rücken“ anders gelebt würde. Je intensiver und unmittelbarer ihre Begegnungen im Feld der Therapie wurden, desto stärker traten ihre Ängste auf, besonders vor fantasierter Gewalt und Schuldzuschreibung. In der psychotherapeutischen Kerngruppe erlaubte sich die Patientin erstmals von den sexuellen Übergriffen ihres Vaters zu berichten. Vorsichtig äußerte sie ein Unrechtsempfinden und erste Anflüge von Zorn. Gleichzeitig wurden Mitgefühle in ihr wach, für sich selbst als „doppelt bestraftes Kind“ – vom Vater missbraucht und von ihm als vor Gott schuldig dafür geschrieben. Im Rahmen der Selbststeuerungsgruppen war die Patientin mit ihrer deutlichen Abgrenzungsproblematik und ihrer Unfähigkeit zum Ausdruck eines klaren „Neins“ konfrontiert. Sie nahm über mehrere Wochen an den gleichen Übungsabläufen teil, bevor sie einen für sich selbst spürbaren stimmigen Abstand fühlen konnte und diesen ihrem Übungs-Partner gegenüber gestalten und sichern konnte. In der Indikationsgruppe „spirituelle und religiöse Krisen“ berichtete sie über manipulative Verdrehungen durch die Mitglieder ihrer Sekte, die ihre Individuationsbestrebungen als teuflische Kräfte und Impulse umdeuteten und diese mittels Straf- und Bußübungen, Androhung von sozialem Ausschluss und ewiger himmlischer Verdammnis ahndeten. Eine tiefe innere Verunsicherung ließ in der Patientin lange keine andere Sichtweise zu, als dieser Beurteilung angstvoll-depressiv zuzustimmen. Unter der Ermutigung ihrer Mitpatienten begann sie Aufzeichnungen über ihre Lebensgeschichte und Details der von ihr erlebten Indoktrination zu verfassen. Mehr und mehr konnte sie über das Schreiben Abstand zu ihrer Geschichte finden und

eine eigene Sprache wählen, die ihre religiösen Gefühle ausdrückten. In diesem Prozess gelang es ihr zu unterscheiden, dass sie sich zwar von der Glaubensgemeinschaft, aber nicht von Gott abgewendet hatte. So fand sie auch im Rahmen unserer Meditationsangebote neue Formen von Hingabe und Gebet. Im späteren Verlauf ihrer 12-wöchigen Behandlung wählte sie die Aggressionsgruppe mit Schwertarbeit, um sich noch klarer abgrenzen zu können, und gleichzeitig die Wassergruppe, in der sich Patienten gegenseitig im körperwarmen Wasser tragen, um ihre Fähigkeit zu stärken, loszulassen und sich anzuvertrauen. Zu Beginn der Behandlung mussten wir zunächst ein tragfähiges und vertrauensvolles Therapiebündnis herstellen. Die Patientin benötigte viele genaue Erläuterungen und Bestätigungen, dass wir als Klinik keine neue äußere Doktrin vertreten, sondern sie in ihrem eigenen Weg unterstützen würden. Später ging sie v. a. mit ihren Mitpatienten in sehr fruchtbare Auseinandersetzungen, in denen ihre feine Beobachtungsgabe deutlich wurde. Am Ende ihrer Behandlung überraschte sie uns mit einem druckreifen Buchmanuskript, in dem sie sich zunehmend kritisch gegenüber ihrer Glaubensgemeinschaft äußert. Das Manuskript wurde veröffentlicht. Spirituelle Störungen im engeren Sinne Spirituelle Störungen im engeren Sinne treten vorzugsweise im Übergang zur transzendenten Spiritualität auf. Intensive spirituelle Erfahrungen können eine Erschütterung der Persönlichkeitsstruktur bewirken, die man als Krise der spirituellen Öffnung bezeichnen könnte. Wenn es nicht gelingt, diesen Erfahrungsqualitäten einen Platz in der bisherigen Identität zu geben, wird sich ein innerer Spannungszustand herstellen zwischen Identitätsanteilen, die sich um diese Erfahrungen herum gruppieren, und anderen, die dazu im Widerspruch stehen. Dann kann es einerseits zu einer Abwertung der Transzendenzthematik kommen, die sich in Form einer Verleugnung dieses Bereiches äußern kann, oder es kann zu einer Sinnoder Wandlungskrise kommen, die mit Ganzheitliche Psychotherapie


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der Weltbilderschütterung zusammenhängt. Eine tiefergehende Störung liegt in der Spaltung zwischen Spiritualität und Alltag vor, häufig in dem Sinne, dass das alltägliche Leben vernachlässigt wird oder sich gar eine Verachtung gegenüber allem Weltlichen ausbreitet angesichts der Tiefe und Intensität spiritueller Erfahrungen. Die zunehmend vereinseitigende Lebensausrichtung und suchtartige Fixierung auf höhere Bewusstseinszustände kann eine solche Dissoziation noch verstärken. Im Extremfall kann es auch zu einer psychotischen Dekompensation kommen, wenn das eigene Erleben von spirituellen Inhalten überflutet wird und die Erfahrung nicht mehr angemessen integriert und interpretiert werden kann. Auch hier wollen wir das Vorgehen im Rahmen stationärer Behandlung anhand eines Beispiels erläutern: Fallbeispiel In der Zeit von intensiver spiritueller Selbstsuche und Selbsterfahrungsgruppen führte es eine äußerst begabte und sich recht exzentrisch ausdrückende Frau Mitte 40 in unsere Klinik. Sie hatte im Rahmen der Osho-(ehem. Bhagwan)-Szene intensivste innere Öffnungs- und Heilungserlebnisse erfahren, u. a. aber auch grenzüberschreitende Körpererfahrungen und ausagierende Gruppensitzungen erlebt. Immer weniger kam sie mit ihrem realen Leben zurecht. Impulsdurchbrüche und Verweigerung ihrer Verantwortungen als Mutter und in ihrer Arbeit waren die Folge. Die Beziehung zu ihrer fast erwachsenen Tochter verschlechterte sich, und die Patientin empfand keinen Antrieb mehr, in einer „ego-getriebenen“ Welt zu arbeiten. Sie flüchtete sich in dynamische Meditationen und Selbsterfahrungsgruppen, die sie stark idealisierte. Diese Spaltung verdeutlichte sich zu Beginn ihrer Behandlung in einer ausgeprägten Idealisierungs- und Entwertungshaltung gegenüber Individuen, Gruppen oder in Bezug auf die ganze Klinik. Gleichzeitig war ihr Interesse und ihre Wertschätzung an allem Spirituellen glaubhaft und nachvollziehbar. Sehr langsam und immer wieder erklärend haben wir ihre Aufmerksamkeit und Sehnsucht von extremen Erfahrungen zu Ganzheitliche Psychotherapie

einer grundsätzlichen inneren Selbstbeobachtung umgelenkt, z. B. nahm sie täglich an strukturbildender Körperarbeit teil, statt die von ihr favorisierte kathartische Atemarbeit zu besuchen. Es schien, als könne und wolle sie sich nur an Grenzen und im Überschreiten von Grenzen fühlen und ausdrücken. In der Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte fanden sich viele Situationen, die als körperliche und verbale Übergriffe und Dramen erlebt wurden und zu teilweise dissoziativer Verarbeitung im Sinne einer frühen Traumatisierung führten. Die Patientin wies alles Menschliche, Unperfekte oder Ambivalente zurück und suchte Halt in spirituellen, heilen Dimensionen, die sie aber mehr phantasiehaft ersehnte, als direkt wahrnahm. Mehrfach war sie Thema in Teamsupervisionen, da sie mit ihren unterschiedlichen Wertungen und Handlungen starke Gegenübertragungen auslöste. Erst die ernsthafte Anerkennung ihrer spirituellen Suche im Rahmen von Einzel- und Gruppentherapie und eine konsequente Unterstützung dieses Weges durch angemessene Meditationsformen (integrierende Strukturen wie den Tanz der vier Himmelsrichtungen oder Gehmeditationen) sowie eine mitfühlende Spiegelung ihrer Strukturschwäche ließen allmählich ihre verbalen und aggressiven Impulsdurchbrüche weniger werden. Jede äußere Führung und Begrenzung wurde ihr auch als Handwerkszeug zur eigenen Selbststeuerung im Sinne von Erdung, Zentrierung und Balancierung erklärt. Besonders in der TaKeTiNa-Rhythmus-Gruppe konnte sie eine Integration von Erdung über den Grundrhythmus ihrer Füße, Gestaltung von Kontakt über das Klatschen ihrer Hände und Öffnung zum Größeren „sie Überschreitenden“ über das Singen finden. Diese Nachmittage waren ihr sehr wertvoll, „heilig und schmerzvoll zugleich“ – eine Formulierung, die einen Integrationsschritt anzeigte. Zunehmend konnte sich die Patientin wieder „weltlichen“ Dingen zuwenden, auch normale, „unspirituelle Gespräche“ führen und die Beziehung mit ihrer Tochter wieder aufnehmen. Hier wurde deutlich, wie viel Extreme ihr Le-


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ben ausgemacht hatten und wie wenig sie geübt war, Zwischentöne zu finden und Übergänge zu gestalten. In kreativen Übungen sahen wir eine ausgesprochene künstlerische Begabung in der Gestaltung von Bildern und dem Schreiben von Märchen und Geschichten. In diesem Ausdruck konnten wir einige wesentliche Therapieschritte ablesen: Bilder wurden sanfter, pastelliger und weniger kontrastreich und ihre Geschichten bekamen mehr Komplexität, langsame Anfänge und nach den Heldentaten und Gefahren auch ein Leben danach. Die Patientin gewann deutlich an Selbstwert und fragte sich jetzt nicht mehr, wer ihr welche Heilung angedeihen lassen könnte, sondern wie sie sich selbst mit ihren Werten und Kompetenzen in die Gemeinschaft einbringen könnte. Da ihre stationäre Behandlung mehrere Monate dauerte, wurde sie zur klinikerfahrenen Patin für Neue und gestaltete Abende für ihre Mitpatienten, in denen sie zum Erzählen einer eigenen Form von spirituellen Geschichten inspirierte. Nach ihrer Behandlung zog sie in eine nicht sektenhafte spirituelle Lebensgemeinschaft.

de fachliche psychotherapeutische Qualifikation, als auch ausreichende Erfahrungen in der Begleitung religiöser und spiritueller Themen. Literatur Arbeitskreis OPD (1996), Operationalisierte psychodynamische Diagnostik, Huber, Bern. Belschner, W., Galuska, J. (1999), Empirie spiritueller Krisen – erste Ergebnisse aus dem Projekt RESCUE, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99, S. 78-94. Blanck, G., Blanck, R. (1982), Angewandte Ich-Psychologie, Klett-Cotta, Stuttgart. Galuska, J. (2006), Beseelte Psychotherapie, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 2/2006, S. 64-70. Galuska, J. (2011), Die Entwicklung des Bewusstseins einer beseelten Psychotherapie, in Dorst B. et al (Hrsg.) Übergänge – Krisen – Visionen, Patmos-Verlag, S. 124-138. Galuska, J. (2013), Psychotherapie und Bewusstsein, in Galuska J. (2013) Bewusstsein, MMU Berlin. Jäger, W. (1991), Suche nach dem Sinn des Lebens, Via Nova, Petersberg. Lukoff, D. (2007), Spirituality in the recovery from persistant mental disorders, Southern Medical Journal, Vol. 100, Number 6, 2007. Reich, KH. (2004), Spiritualität von Kindern, Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/2004, S. 19-30. Wilber, K. (2001), Integrale Psychologie, Arbor, Freiamt

Fazit für die Praxis In der stationären Behandlung religiöser und spiritueller Störungen ist die religiöse und spirituelle Problematik im Rahmen der gesamten Entwicklung der Persönlichkeit und ihrer Struktur zu betrachten und zu behandeln. Die Diagnostik muss sowohl störungsspezifisch die psychische Störung gemäß eines anerkannten Klassifikationssystems (wie dem der ICD-10) sein, als auch strukturbezogen den Grad der Integration bzw. Desintegration erfassen und schließlich die religiöse bzw. spirituelle Problematik beschreiben. Auch das therapeutische Vorgehen ist entsprechend zweigleisig: Sowohl die Gesamtpersönlichkeit als auch die religiösen bzw. spirituellen Themen erfordern eine fachgerechte Behandlung und Begleitung. Die Ziele sind immer die Integration der religiösen und spirituellen Dimension in die Gesamtpersönlichkeit. Im stationären Rahmen wird dies gewährleistet durch eine entsprechende Komplexität des Behandlungssettings. Behandelnde Therapeuten benötigen damit sowohl eine entsprechenGanzheitliche Psychotherapie


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Unternehmensbereiche Das Unternehmen im Überblick – mehr als nur eine Klinikgruppe

„Jeder ist an seinem Platz wichtig.“ Aus den Heiligenfelder Essenzen

Aus dem Familienbetrieb Heiligenfeld ist in den letzten 25 Jahren ein innovatives Gesundheitsunternehmen geworden, das Werte und Wirtschaftlichkeit konsequent verbindet. So gehören heute neben fünf Kliniken für Psychosomatische Medizin eine orthopädische, onkologische und internistische Rehabilitationsklinik, eine eigene Akademie sowie eine Unternehmensberatung zum Unternehmen.

Unternehmensbereiche


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1990-2015


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Fachklinik Heiligenfeld Die Fachklinik an der Euerdorfer Straße in Bad Kissingen ist eine Klinik für psychosomatische Krankenhausbehandlung und psychosomatische Rehabilitation. Sie wurde 1990 als erste Heiligenfeld Klinik mit 43 Betten gegründet. Ihre Lage im Flurbereich „Heiligenfeld“ gab der heutigen Klinikgruppe ihren Namen. Die Fachklinik Heiligenfeld wurde stetig erweitert und von 2001 bis 2005 in den Krankenhausplan aufgenommen. Seit 2008 gibt es eine Kriseninterventionsstation mit zehn Plätzen. Heute verfügt die Fachklinik über 89 Krankenhausbetten für Psychosomatik und 46 Rehabilitations-Plätze für Psychosomatik und Psychiatrie. Indikationen

Spezielle Behandlungskonzepte

• Ängste und Angststörungen • Depressionen • schwere Krisen im Zusammenhang mit Konflikten, Verlusten oder unverarbeiteten Operationen, Unfällen oder Krankheiten • Traumareaktionen nach traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit • Sexual- und Beziehungsstörungen • Belastungs- und Erschöpfungszustän- de, auch mit körperlichen Beschwer den wie Konzentrations- und Schlaf- störungen usw. • psychosomatische Störungen, z. B. Kopfschmerzen, Herz-, Kreislauf-, Magen-Darm- oder Wirbelsäulenbe- schwerden • Essstörungen, auch Übergewicht • schwere Selbstwertprobleme, Iden- titätsstörungen, Neigung zu Selbst- verletzung oder Verlust des Kontakts zur Realität • Lebenskrisen, Sinnkrisen, Glaubenskrisen • Zustände nach akuten Psychosen • psychische Problematik bei Krebs erkrankungen (Psychoonkologie) • Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Für folgende Berufsgruppen und Personen gibt es spezielle Behandlungsgruppen:

Unternehmensbereiche

• Frauen mit weiblichen Identitäts störungen • Menschen mit religiösen, existen ziellen und spirituellen Krisen • nicht-akute Psychosen und Border line-Störungen • therapeutische und soziale Berufe • Menschen mit Traumatisierungen • Kriseninterventionsgruppe für Patienten aus der Region mit akuten psychischen Erkrankungen zur Stabilisierung (maximale Behandlungsdauer 14 Tage)


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Unternehmensbereiche


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Parkklinik Heiligenfeld Die Parkklinik Heiligenfeld an der Bismarckstraße in Bad Kissingen bietet Krankenhausbehandlung für psychische und psychosomatische Erkrankungen für Privatversicherte, Beihilfeberechtigte und Selbstzahler. Sie wurde 2002 in den ehemaligen Gebäuden des „Landhaus Baunach“ und des „Sanatoriums Diana“ mit 60 Betten gegründet. Die Parkklinik wurde mehrmals erweitert und intern in die Parkklinik Süd und Nord aufgeteilt. Heute stehen 220 Krankenhausbetten zur Verfügung. Indikationen

Spezielle Behandlungskonzepte

• Depressionen, Angst- und Panikstörungen • schwere Krisen im Zusammenhang mit Konflikten, Verlusten oder unverarbeiteten Operationen, Unfällen oder Krankheiten • akute und chronische Belastungsreaktionen • Erschöpfungs- und Burnout-Zustände, auch mit körperlichen Beschwerden wie Konzentrations- und Schlafstörungen • psychosomatische Störungen, z. B. Kopfschmerzen, Herz-, Kreislauf-, Magen-, Darm- oder Wirbelsäulenbeschwerden • Sexual- und Beziehungsstörungen • Essstörungen, Übergewicht • Lebens-, Sinn- und Glaubenskrisen • berufliche und persönliche Identitätskrisen • beginnende stoffgebundene und nichtstoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen, qualifizierter Entzug

• Lehrer • Ärzte und Therapeuten • Beamte und Angestellte im Vollzugsdienst (Polizei, Justiz) sowie der öffentlichen Verwaltung • Führungskräfte und Selbstständige • Menschen im kirchlichen Dienst

Unternehmensbereiche

Als Besonderheit gilt die tierbegleitete Therapie, bei der sich die Patienten mit ihrem Haustier aufnehmen lassen können.


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Unternehmensbereiche


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Heiligenfeld Klinik Waldmünchen Die Heiligenfeld Klinik Waldmünchen ist eine Fachklinik für Erwachsene, Eltern, Kinder und Jugendliche zur psychosomatischen Krankenhausbehandlung. Sie wurde 2006 von der Heiligenfeld GmbH übernommen. Heute verfügt sie über 116 Krankenhausbetten und einige Plätze für Begleitpersonen. Eine Besonderheit ist die ganzheitliche Behandlung von Eltern und Kindern in unterschiedlichen Konstellationen.

Indikationen für Erwachsene • depressive Störungen • Erschöpfungssyndrome • Angst- und Panikstörungen • somatoforme Störungen • Posttraumatische Belastungsstörungen • Essstörungen • sekundärer Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, z. B. bei im Vordergrund stehender Angstneurose • Persönlichkeitsstörungen Spezielle Behandlungskonzepte für Familien • schwierige intrafamiliäre Beziehungen und Kommunikation • akute, belastende Lebensereignisse • chronische zwischenmenschliche Belastung im Zusammenhang mit der Schule oder Arbeit • belastende Lebensereignisse/Situation infolge von Verhaltensstörungen/Behinderungen des Kindes

Unternehmensbereiche

Indikationen für Kinder und Jugendliche • Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend • hyperkinetische Störungen • Störung des Sozialverhaltens und sozialer Funktionen (Bindungsstörungen) • emotionale Störungen • neurotische Belastungs- und Somatoforme Störungen • Angststörungen • Zwangsstörungen • Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen • dissoziative und somatoforme Störungen • Schizophrenien, schizotype und wahnhafte Störungen in der Remission • affektive Störungen in der Remission • Essstörungen • Schlafstörungen • Persönlichkeitsstörungen • Entwicklungsstörungen • umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (Lese- und Rechtschreibstörungen, Rechenstörungen)


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Unternehmensbereiche


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Unternehmensbereiche


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Luitpoldklinik Heiligenfeld Die Luitpoldklinik Heiligenfeld an der Bismarckstraße in Bad Kissingen ist das somatische Zentrum der Heiligenfeld Kliniken. Sie ist spezialisiert auf die Rehabilitationsbehandlung von Patienten mit orthopädisch-unfallchirurgischen, internistischen, onkologischen und urologischen Erkrankungen. Die Rehabilitationsmaßnahmen umfassen stationäre und ambulante Vorsorgemaßnahmen, Heilverfahren und Anschlussheilbehandlungen. Sie wurde 2007 durch die Heiligenfeld GmbH übernommen. Von ehemals 117 Betten wurde sie seitdem auf 145 Betten ausgebaut. Behandlungsschwerpunkte Orthopädische und unfallchirurgische Rehabilitation nach/bei • endoprothetischen Gelenkeingriffen bzw. „künstlichem Gelenkersatz“ • Verletzungen des Bewegungssystems • Wirbelsäulenerkrankungen und nach operativen Wirbelsäuleneingriffen • Amputationen • tumorösen Erkrankungen des Bewegungssystems • rheumatologischen Erkrankungen • chronischen Schmerzzuständen am Bewegungsapparat

• Corpus-/Cervixkarzinom (Gebärmutterkrebs) • Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) • Knochenmarkerkrankungen • Lymphomerkrankungen

Urologische Rehabilitation bei • Prostata-Karzinom • Hodenkarzinom • Karzinomen der ableitenden Harnwege (Nieren-, Nierenbecken-, Harnleiter-, Blasenkrebs) • Harninkontinenz • sexuellen Funktionsstörungen • Urostoma

Internistische Rehabilitation bei • Erkrankungen des Magen-Darm- Traktes (z. B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Magen-/Darmresektionen, Stomaanlage) • Herz- und Kreislauferkrankungen • Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus, Metabolisches Syndrom) Onkologische Rehabilitation bei • kolorektalem Karzinom (Dickdarmkrebs) • Magenkarzinom • Pankreaskarzinom (Bauchspeicheldrüsenkrebs) • Ösophaguskarzinom (Speiseröhrenkrebs) • Mammakarzinom

Unternehmensbereiche


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Rosengarten Klinik Heiligenfeld Die Rosengarten Klinik Heiligenfeld an der Bismarckstraße in Bad Kissingen ist eine Klinik für psychosomatische Rehabilitation. Sie wurde 2011 in Bad Kissingen eröffnet und verfügt heute über 99 Betten. Sie wird weitestgehend belegt durch die Deutsche Rentenversicherung.

Indikationen

Spezielle Behandlungskonzepte

• Angst- und Panikstörungen, Phobien • Depressionen jeder Art • Krisen im Zusammenhang mit Konflik ten, Verlusten oder unverarbeiteten Operationen, Unfällen oder Krankhei- ten • Traumareaktionen nach traumatischen Erlebnissen • Sexual- und Beziehungsstörungen • Belastungs- und Erschöpfungszustände im Rahmen eines Burnout-Syndroms • psychosomatische Störungen, z. B. Kopfschmerzen, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- oder Wirbelsäulenbe- schwerden • Essstörungen mit Schwerpunkt starkes Übergewicht (Adipositas Grad II und III) • schwere Selbstwertprobleme, Identitätsstörungen, Neigung zu Selbstverletzung oder Verlust des Kontakts zur Realität • Lebens-, Sinn- und Glaubenskrisen • psychische Problematik bei Krebser krankungen

Für folgende Berufsgruppen und Personen gibt es spezielle Behandlungskonzepte:

Unternehmensbereiche

• therapeutische und soziale Berufe • Studenten mit Selbstwertkrisen, Lern- problemen, Lebenskrisen, Identitäts störungen • adipöse Patienten


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Unternehmensbereiche


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Unternehmensbereiche


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Heiligenfeld Klinik Uffenheim Die Heiligenfeld Klinik Uffenheim ist eine Klinik für psychosomatische Krankenhausbehandlung. Sie wurde 2014 in Kooperation mit den Kliniken des Landkreises Neustadt a. d. Aisch/Bad Windsheim eröffnet. Heute stehen 80 Krankenhausbetten zur Verfügung, von denen zehn für die Krisenintervention genutzt werden.

Indikationen

Spezielle Behandlungskonzepte

• Ängste und Angststörungen • Depressionen • schwere Krisen im Zusammenhang mit Konflikten, Verlusten oder unverarbeiteten Operationen, Unfällen oder Krankheiten • Traumareaktionen nach traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit • Sexual- und Beziehungsstörungen • Belastungs- und Erschöpfungszustän- de, auch mit körperlichen Beschwer den wie Konzentrations- und Schlaf störungen usw. • psychosomatische Störungen, z. B. Kopfschmerzen, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- oder Wirbelsäulenbe schwerden • Essstörungen, auch Übergewicht • schwere Selbstwertprobleme, Identitätsstörungen, Neigung zu Selbstverletzung oder Verlust des Kontakts zur Realität • Lebens-, Sinn- und Glaubenskrisen • Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Für folgende Berufsgruppen und Personen gibt es spezielle Behandlungskonzepte: • Kriseninterventionsgruppe für Patienten aus der Region mit akuten psychischen Erkrankungen zur Stabilisierung (maximale Behandlungsdauer 14 Tage) • Menschen mit Traumatisierungen nach sexuellem Missbrauch, Gewalt im Kindes- und Erwachsenenalter oder anderen belastenden Ereignissen • Menschen mit Borderline-Störungen • Menschen in helfenden Berufen

Unternehmensbereiche


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Akademie Heiligenfeld Die Akademie Heiligenfeld GmbH wurde im Jahr 2002 gegründet und ist ein Tochterunternehmen der Heiligenfeld GmbH. Die ersten Programme der Bildungseinrichtung sind aus dem Gedanken heraus entstanden, insbesondere für Patienten über den Aufenthalt in Heiligenfeld hinaus Anknüpfungs- und Kontaktmöglichkeiten sowie Erfahrungs- und Übungsfelder zu ermöglichen. Heute bietet die Akademie Heiligenfeld Veranstaltungen zu wesentlichen Themen für die Bewusstseinsbildung, persönliches und spirituelles Wachstum, professionelle Fachkompetenz und ethische Verantwortung in der Gesellschaft. Seit 2002 wird einmal im Jahr ein Kongress mit teilweise über 1000 Teilnehmern zu den Themen Medizin, Psychotherapie und Wirtschaft veranstaltet. Seit 2012 bietet die Akademie Heiligenfeld ein umfangreiches Seminar- und Fortbildungsprogramm zu den sechs Themenfeldern „Selbsterfahrung“, „Psychotherapie und Psychosomatik“, „Gesundheitswirtschaft und -management“, „Medizin“, „Pflege“ und „Wirtschaft“. Im November 2015 finden erstmals die Heiligenfelder Psychotherapietage statt. Dort treffen sich Ärzte, Psychologen, Therapeuten und Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen und in sozialen/helfenden Berufen, um Erfahrungen und Wissen zum Thema Psychotherapie auszutauschen.

Unternehmensberatung Die Unternehmensberatung Heiligenfeld & Pietzko GmbH steht für eine mehrperspektivische Betrachtung aller erfolgskritischen Aspekte eines Unternehmens. Die Heiligenfeld GmbH als Gesellschafterin der Unternehmensberatung Heiligenfeld & Pietzko verfügt selbst über 20 Jahre Erfahrung im erfolgreichen Aufbau des eigenen Unternehmens und dessen dynamischer Entwicklung und stellt die eigenen praxiserprobten Strategien und Konzepte interessierten Unternehmen zur Verfügung. Albert Pietzko ist seit über 15 Jahren erfolgreicher Business-Coach und begleitet Unternehmen verschiedener Branchen in Change-Prozessen. Die Entwicklung der Heiligenfeld GmbH begleitet er seit 1998.

Unternehmensbereiche


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Workshop mit Albert Pietzko


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Auf dem Weg zu einem guten Leben Heiligenfeld in der Zukunft – Interview mit Michael Lang

Wie wird sich die Heiligenfeld GmbH in Zukunft weiterentwickeln? Auch in Zukunft werden wir uns weiter an unseren Werten und an unserer Unternehmensphilosophie orientieren. Dazu prüfen wir, zusammen mit den Mitarbeitern, im Jubiläumsjahr 2015 unsere „Heiligenfelder Essenzen“ auf Aktualität und passen sie ggf. an. Die Heiligenfelder Essenzen sind Aussagen zur Arbeit in Heiligenfeld und zu den Werten, die im Unternehmen gelebt werden. Sie wurden 2010 in mehreren Veranstaltungen von den Mitarbeitern erstellt und stellen sozusagen unser Leitbild dar. Kurz- bis mittelfristig wollen wir weiter wachsen. Voraussetzung dabei ist jedoch, wie auch bisher, dass das Wachstum sicher und stabil vonstattengeht, nach dem Motto: „Wir müssen nicht expandieren – aber wir können“. Wir wollen also alle bisherigen Arbeitsplätze erhalten und in der Zukunft noch weitere schaffen. Trotzdem legen wir weiterhin den Fokus auf die Mitarbeiterorientierung und werden auch das betriebliche Gesundheitsmanagement weiter ausbauen. Alles in allem planen wir eine stabilitäts- und bestandswahrende Weiterentwicklung des Unternehmens. Wie ist Ihre Vision für die Zukunft des Unternehmens? Was wünschen Sie sich? Ich wünsche mir, dass sich Heiligenfeld so erfolgreich weiter entwickelt, wie bisher. Das Unternehmen soll nicht nur seine „Früchte ernten“, sondern sie auch wieder „aussäen“. Die Gesellschaft befindet sich in einem ständigen Veränderungsprozess, so wollen auch wir nicht in einem „Status quo“ bleiben, sondern uns immer weiter entwickeln und Veränderungen zulassen. Dabei soll sich Heiligenfeld seine Unabhängigkeit im Denken und in seiner Entwicklung bewahren. Um das umzusetAuf dem Weg zu einem guten Leben

zen, muss die Werteorientierung weiter und kontinuierlich auf allen Ebenen ausgebaut werden. Nicht nur unsere Mitarbeiter und Patienten, sondern auch unsere Kooperationspartner, Lieferanten, die Öffentlichkeit und alle weiteren Interessensgruppen sollen Heiligenfeld als einen Ort verstehen, an dem Werteorientierung großgeschrieben wird. Welche konkreten Projekte sind geplant? Ein sehr umfassendes Projekt ist die Förderung von Kreativität und alternativen Wegen innerhalb des Unternehmens. Wir wollen, dass unsere Mitarbeiter nicht in ihrem Denken festgefahren sind und dass sie sich nicht auf Fakten oder Schulen versteifen, die sie in ihrer Ausbildung oder während ihres Studiums gelernt haben. Sie sollen sich öffnen für neue, alternative Wege. Ein weiteres, langwieriges Projekt ist die Umweltzertifizierung unserer Kliniken. Dazu sind einige Umbaumaßnahmen nötig, die sich momentan in der Planung befinden. Im Jahr 2016 wird außerdem das Erlebnismuseum „Wald für die Seele“ in einem Waldstück bei Bad Kissingen eröffnen. Die Grundidee besteht darin, Pflanzen und Bäume so zu nutzen und zu gestalten, dass sie unterschiedliche Seelenerfahrungen anstoßen. Es entstehen also Pflanzen- und Landschaftskunstwerke zu unterschiedlichen Themen.


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Auf dem Weg zu einem guten Leben


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„Die Suche nach nährenden, strukturbildenden Aspekten des Lebens ist ausgerichtet auf Wachstum, Entwicklung und Bewusstsein“ Aus den Heiligenfelder Essenzen

Die Vergegenwärtigung des Lebens und die Evolution des Bewusstseins – Dr. Joachim Galuska, in: Bewusstsein – Grundlagen, Anwendungen und Entwicklung, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2014, S. 175-185

Moderne Spiritualität ist letztendlich die Entfaltung des eigenen Bewusstseins. So bezog sich der Fokus meiner persönlichen Suche auf die Arbeit an der Ausdehnung meines Bewusstseins. Die Anwendung dieser Bewusstseinsformen und Bewusstseinszustände, z. B. in der Psychotherapie, in der Unternehmensführung oder in meiner Lebensführung, erschienen mir wie Früchte auf diesem Weg. So begann ich immer mehr in meinem Leben aufzuwachen und das Leben zu vergegenwärtigen, das ich gerade lebte. Ich begann, mich an den Platz in meinem Leben zu stellen, an dem ich eben gerade stand, mich in die Mitte des Lebens hineinzustellen als der, der ich eben war oder bin, mit allen meinen Eigenschaften, meiner Geschichte, meinem Sein, meinem Bewusstsein, meinen Bezügen und meiner Welt. Ich spürte die Bedeutung der Worte von Albert Schweitzer (1974): „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Ich begann das Leben zu vergegenwärtigen, so wie es gerade geschieht, die Momente meines Lebens zu vergegenwärtigen in ihrer Ganzheit und ihrer lebendigen Präsenz. Ich spürte den Albert Schweitzerschen Satz noch weiter vereinfacht: „Ich bin Leben, das lebt, inmitten von Leben, das lebt.“ Mein persönliches und individuelles Leben als Teil eines umfassenderen Lebensprozesses zu erkennen, ließ mich mein Leben und mehr noch das Leben selbst erforschen. Ich begann, inmitten des Lebens das Leben selbst zu spüren in seiner Lebendigkeit, in seiner enormen Präsenz, in seinem Strömen, dem StröAuf dem Weg zu einem guten Leben

men unseres Lebensstromes, in seinem Fließen, dem Fließen des Flusses unseres Lebens, in seiner Ursprünglichkeit, pur, pures Leben. Ich begann zu spüren, was für eine Freude es ist, das Leben in seiner Essenz zu spüren, die Lebensfreude in ihrer Ursprünglichkeit zu empfinden, was für ein Glück es ist zu leben, gerade zu leben, diesen Quell dieses Stromes des Lebens zu spüren und ein Teil davon zu sein. Und ich begann, den Wert dieses Lebens zu spüren, wie großartig es ist, wie intelligent, und wie es sich entfaltet. Dass ich und wir nicht nur daran teilhaben können, sondern dies auch noch vergegenwärtigen können, erkennen können, dies erleben dürfen am Leben zu sein, zu leben, empfinde ich als eine große Gnade, das größte Geschenk, das jeder von uns erhalten hat und in sich trägt, solange er lebt. Auf meinem Weg habe ich mich immer wieder gefragt, was eigentlich fundamentaler ist: Das Bewusstsein oder das Leben? Ist die zentrale evolutionäre Bewegung die des Bewusstseins, das sich selbst vergegenwärtigt als Ausdruck einer umfassenderen Intelligenz, die sich als dieses Universum manifestiert, als diese Evolution, die irgendwann einmal Leben hervorbringt und Nervensysteme, die erwachen und sich selbst erkennen als Teil dieser umfassenderen Intelligenz? Oder ist der evolutionäre Prozess in sich selbst ein lebendiger Ausdruck dieser umfassenderen Intelligenz, eine lebendige Evolution, die sich im Zuge ihrer eigenen


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Bewusstwerdung und Vergegenwärtigung spürt und in voller Bewusstheit weiterentwickelt? Mit zunehmendem Alter neige ich zu der zweiten Variante, das Leben zu begreifen als ein sich selbst aufklärender Prozess, als ein Geschehen, das sich seiner selbst bewusst wird und sich selbst zunehmend erkennt und vergegenwärtigt in seiner Art und Weise, in seinen Grundstrukturen, seinen innersten und äußersten Bewegungen, seinem evolutionären Potential, seiner eigenen Intelligenz. Der Fokus der Erforschung des Lebens liegt dann nicht mehr primär in der Vertiefung und Erweiterung des Bewusstseins, der inneren Loslösung aus den fixierenden Strukturen und Mustern und der Konzentration auf eine transzendente Wirklichkeit, sondern er bezieht sich auf das Innerste des Lebens selbst, auf eine Vertiefung und Erweiterung unseres Lebens. Der Weg des Lebens Was geschieht, wenn wir inmitten unseres Lebens aufwachen, inmitten dieses Momentes, und ihm nichts entgegensetzen? Dann spüren wir unsere lebendige Präsenz, unsere lebendige Anwesenheit. Was spüren wir, wenn wir inmitten dieses Momentes, in dieser Präsenz ganz offen sind und in völliger Offenheit verweilen? Dann spüren wir die Fülle dieses Momentes, die Fülle dieser gesamten Erfahrung. Die innere Leere unserer schwebenden Offenheit lässt uns die Fülle spüren unserer Sinneserfahrungen, unserer Empfindungen und Gefühle, unseres Bewusstseins. Und wie ist es, uns an diese Fülle hinzugeben, uns ganz ausfüllen und erfüllen zu lassen von der Fülle des Lebens, uns ergreifen zu lassen von seiner Intensität, seinen Lebensenergien, dem Strömen, das von innen heraus diese Lebenserfahrung hervorbringt und weiter entfaltet? Es ist zumindest belebend, wahrscheinlich auf eine innerste Weise ästhetisch, einfach schön und lustvoll, letztendlich sogar ekstatisch. Das Leben von innen her in seiner überfließenden Fülle und Schönheit zu spüren ist letztendlich Ekstase, Teilhabe an der Freude des Lebens an sich selbst,

am Geschmack des sich entfaltenden Lebensstromes. Vieles könnte und sollte man vielleicht auch an dieser Stelle sagen über Lebensfreude und Lebenslust, über Schönheit und Ästhetik. Sie wecken jedenfalls unser Herz und lassen uns dem Leben zuwenden, das Leben annehmen und lieben. Unser Herz zu öffnen und uns verbunden sein zu lassen mit den Menschen, der Natur, der Welt und dem Göttlichen und Unbekannten, erleichtert es enorm, auch das Leben anzunehmen, sich mit ihm verbunden sein zu lassen und es dann zunehmend in seinem Innersten zu spüren und sich von ihm ergreifen und führen zu lassen. Mit dem Leben verbunden zu sein bedeutet, es ganz anzunehmen, nicht nur in seiner Schönheit, sondern auch in seinem Schrecken, wie Rilke sagt, nicht nur in seiner Leichtigkeit, sondern auch in seinem Ernste, wie Rilke ebenfalls sagt, nicht nur in seiner Lebensfreude, sondern auch in seinem Schmerz und seinem Leid, nicht nur in seiner Tiefe, sondern auch in seiner Oberfläche, nicht nur in seiner individuellen Entfaltung, sondern auch in seiner kollektiven Verbundenheit. Den Weg des Lebens zu gehen bedeutet auch, das eigene persönliche Leben anzunehmen, mich anzunehmen als Ausdruck meines Lebens. Und das ist vielleicht das schwierigste: mich und mein Leben vollkommen zu akzeptieren und anzunehmen, so wie es ist und so wie ich bin, ohne Ablehnung, ohne Widerstand. Es bedeutet nicht, alles zunächst gut zu heißen oder schön zu finden, sondern eher es hinzunehmen, zunächst einmal sein zu lassen, zu spüren wie es ist, in allen seinen Licht- und Schattenseiten. Und es ist eben ein Sich-mitten-hineinstellen in dieses Leben, ein Aufwachen in diesem Fluss meines Lebens und ein Vergegenwärtigen, wie es sich anfühlt und wie es ist, in dieser Zeit, auf diesem Planeten, in dieser Familie, in dieser Kultur geboren zu sein und als Mensch in dieser Form zu leben. All dies ist Ausdruck des Lebens und gehört zu meinem persönlichen und individuellen Leben. Und wenn ich es spüre und erkenne und zu mir nehme, dann finde ich mich selbst darin und entdecke, Auf dem Weg zu einem guten Leben


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dass ich mich darin bewegen kann. Und ich spüre, welches ungeheure Potential in diesem Leben als Mensch liegt, welche Möglichkeiten ich besitze, welche Kompetenzen, mein Leben zu gestalten und die Welt zu verändern. Wenn ich mein Leben ganz annehme, steht mir auch meine gesamte Lebensenergie zur Verfügung, meine gesamte Schaffenskraft, mein gesamtes schöpferisches Potential. Ich kann spüren, wie ich in meinem Leben wirken kann, verändern kann, gestalten kann, wie ich dabei an Grenzen stoße, aber auch Grenzen überwinde. Ich kann diesen kreativen Prozess des Lebens von innen her wahrnehmen und in meinem Leben zum Ausdruck kommen lassen. Und wenn ich mein Leben lieben lerne und mich mit ihm verbunden fühle, dann spüre ich diese immense und unmittelbare Verantwortlichkeit, die ich mir und meinem Leben gegenüber besitze, mein Leben auf eine lebenswerte Weise zu gestalten. Den Weg des Lebens zu gehen heißt, das Leben in allen seinen Facetten zu durchdringen und zu verinnerlichen, das Leben von innen her zu spüren und zu leben. Unsere Bewusstseinsentwicklung kann dazu dienen, das Leben immer tiefer und weiter zu verstehen und zu durchdringen. Je höher entwickelt die Bewusstseinsstruktur, um so tiefer und umfassender ist das Verständnis des Lebens, um so mehr geschieht eine Verbundenheit und schließlich ein Einswerden mit dem Lebensstrom und dann auch mit der Intelligenz, die das Leben so sein und leben lässt, wie es eben lebt, die es konfiguriert und strukturiert. Und je mehr dieses Verinnerlichen geschieht, dieses vergegenwärtigte Leben zu leben, umso größer und tiefer ist die Freiheit und umso umfassender ist das Potential es zu entfalten. Es braucht den Weg des Bewusstseins, um Seele, Geist und kosmische Intelligenz zu erspüren, und es braucht eine Öffnung für das Leben, das eh da ist, pulsiert, strömt und geschieht, um ein beseeltes und intelligentes Leben zu führen. Leben will leben, wie Schweitzer sagt. Leben will erlebt werden. Leben will sich entfalten und erfüllen. Leben will so voll wie möglich leben. Aber wenn wir das Auf dem Weg zu einem guten Leben

Wollen aus all dem heraus lassen, dann tut es das einfach, und wir gestalten unser Leben mit zunehmender Vergegenwärtigung unseres Lebens, mit zunehmendem Spüren unseres Lebens, im Einklang mit dem Leben. Der kollektive Lebensprozess Den Weg des Lebens zu gehen bedeutet, nicht nur das eigene persönliche Leben anzunehmen, sondern auch zu spüren wie es ist, Teil einer lebendigen Gemeinschaft von Lebewesen zu sein, die eben gerade leben. In dieser offenen Präsenz zu schweben, bedeutet zu spüren, wie es ist, inmitten von Leben zu sein, wie es Albert Schweitzer tat. Das Leben der Lebewesen um mich herum zu spüren und zu realisieren, wie das Leben sich in allen Lebewesen ereignet, lässt mich teilhaben an der Fülle der lebendigen Entfaltungen dieser Evolution. Sie eröffnet mir einen ungeheuren Reichtum an Erfahrungen und eine unermessliche Vielfalt und Tiefe von Begegnungsmöglichkeiten. Sie weckt aber auch mein Mitgefühl für all das Schmerzliche, Leidvolle, Verirrte und Verwirrte. Und sie lässt mich meine Mitverantwortlichkeit spüren für diese Gemeinschaft, zu der ich gehöre, allein deshalb, weil ich gerade in und mit ihr lebe. Sie lässt mich meine Teilhabe an allem Leben und letztlich an der gesamten Evolution spüren, denn sie ist ja auch Ausdruck des Lebens. Sie lässt mich diese kollektive Qualität, diese Gemeinschaftlichkeit, diese Zusammengehörigkeit unmittelbar spüren. Nicht nur ich lebe, sondern wir leben und ich gehöre dazu! Wir leben, wir leben als Familie, wir leben als Arbeitsgemeinschaft, wir leben als Gesellschaft, wir leben als Menschheit, wir leben als Gemeinschaft aller Lebewesen, wir leben als Natur, wir leben als Kosmos. Wir sind diese kosmische und universelle Intelligenz, die eben so lebt und sich entfaltet. Es ist letztendlich kein Verlust, sein Leben hinzugeben an diesen kollektiven Lebensprozess, sein Leben in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, zu der man gehört. Das Leben gibt uns frei, unser Leben individuell zu entfalten, aber es bereichert es enorm, unser Leben gemeinsam zu entfalten. Wenn wir danach fragen, was


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uns Menschen am meisten erfüllt, sind es Partnerschaft und Familie und eine sinnvolle Arbeit, die ja immer etwas für andere Menschen tut. Sowohl aus der Sicht der Bewusstseinsentwicklung als auch aus der Sicht der gemeinsamen Lebensgestaltung ist die Mitverantwortung und die Mitwirkung an unserer Kultur - also unserem gemeinsamen Bewusstseins- und Lebensfeld - eigentlich eine selbstverständliche und natürliche Haltung. Bewusstseinserforschung als Entwicklungsweg führt aber etwas eher zur individuellen Entfaltung, zur individuellen inneren Befreiung und zur individuellen Verwirklichung und Anwendung der gewonnenen Einsichten. Lebenserforschung führt eher zur Lebensbejahung und zur „Ehrfurcht vor dem Leben“, wie Albert Schweitzer sagt, und das meint sowohl mein persönliches Leben als auch alles Leben. Die eigentliche Lebenskunst besteht nicht nur darin, mein eigenes Leben kreativ und erfüllt zu leben, sondern es im Einklang mit allem Leben zu gestalten. Um es einmal poetisch auszudrücken: „Meine Melodie in der Symphonie des Lebens zu spielen.“ Mein Leben und unser Leben gehören untrennbar zusammen. Jeder von uns erleidet sein eigenes Leben und unser gemeinsames Leben. Jeder von uns genießt sein eigenes Leben und unser gemeinsames Leben. Und wir können gemeinsam großartige Lebenskunstwerke schaffen, großartige Symphonien mitei-

nander improvisieren, wenn wir nicht so viel Lärm machen und mehr auf die Töne und Klänge der anderen lauschen. Aber was geschieht, wenn wir dies vergegenwärtigen, dass wir eben gerade gemeinsam unser Leben gestalten, nicht nur unser Bewusstsein bilden, sondern hier und jetzt leben? Ich halte dies für pure kollektive Spiritualität. Mein spirituelles Verständnis hat mich letztendlich zum Leben geführt. Auch ich bin den Weg des Bewusstseins gegangen, zunächst zu versuchen, meinen Geist zu befreien von allen Verhaftungen in der Welt und offen zu werden für die Größe und Unmittelbarkeit des Absoluten und Unbekannten. Aber ich habe mehr und mehr gesehen, dass dies nur Bedeutung hat, wenn es mein Leben verändert und erfüllt, nicht wenn es mich von meinem Leben befreit. Meine Bewusstwerdung hat mich mein Leben spüren lassen und das größere Leben, das uns alle hervorbringt. Sie hat den Blickwinkel meiner Spiritualität weggeführt von dem Höheren, Visionären und Zukünftigen hin zum Unmittelbaren, Gegenwärtigen und Lebendigen. Eine Spiritualität des Lebens befreit nicht vom Leben, sondern sie befreit zum Leben, das aufwacht und sich seiner selbst vergegenwärtigt und sich seines Daseins erfreut, das spielt und tanzt. Und es forscht und sucht:

Das Leben sucht Glück und es findet Glück. Es sucht Frieden und es findet den Frieden. Es sucht Begegnung und es findet andere. Es sucht Stille und findet Stille. Es sucht Bewegung und es findet Bewegung. Es sucht Liebe und es findet die Liebe. Es sucht Großes und es findet Großes. Es sucht das, was es überschreitet und es findet das, was es überschreitet. Das Leben verliert sich und vergisst sich und schläft ein und wacht wieder auf. Es wird krank und leidet und manchmal heilt es und manchmal nicht. Es wird geboren und wächst und stirbt – irgendwann. Es lebt als Ich, als Wir und als alles, was lebt.

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Evolution des Bewusstseins In der Entfaltung unseres Bewusstseins wacht Gott auf, könnte man sagen, und er erkennt und erfährt sich selbst - in uns – als wir – als Du und Ich. Unser scheinbar kleines Leben ist das große Leben, wenn wir es von innen her in der Tiefe durchdrungen haben. Und dieses Leben entfaltet sich in jedem von uns, und wir spüren diese Dynamik, dieses Wachsen und Vergehen, diese innere Bewegung, diese Entwicklung. Und wir spüren, wie es ist, aufzuwachen, zu leben, sich zu entfalten, sich zu entwickeln. Wir sind diese Entwicklung. Als Mensch vergegenwärtigt sich diese ungeheure Intelligenz ihrer eigenen Entwicklung, ihrer eigenen Evolution als diese Evolution. Wir haben Teil an diesem gewaltigen intelligenten evolutionären Prozess, zu dem wir gehören, und wir spüren, wie dieser Prozess sich aus sich selbst heraus entfaltet. Wir spüren, wie dieser Prozess sich selbst aufklärt, sich seiner selbst bewusst wird als Mensch und sich in dieser Bewusstwerdung weiter entfaltet und weiter gestaltet. Wir spüren diese sich selbst entfaltende Lebendigkeit und Kreativität dieses evolutionären Prozesses. Wir spüren in uns eine schöpferische Kraft als Qualität unseres eigenen Lebens. Das Schöne am Menschsein ist, nicht nur das Leben zu erleben, sondern sich in diesem lebendigen Prozess bewegen zu können, das eigene Leben zu gestalten, zu verändern und damit diesen gesamten evolutionären Strom mit zu gestalten, mit zu verändern. Es ist wunderschön zu spüren, zu fühlen, zu realisieren, zu vergegenwärtigen, das Leben in voller Bewusstheit zu erleben. Aber es ist ebenso wunderschön, sich bewegen zu können, wirken zu können, kreativ sein zu können, Neues zu finden oder zu erfinden und zu verwirklichen und beteiligt zu sein an dieser gemeinsamen Konstruktion unserer Wirklichkeit, an dieser gemeinsamen Gestaltung unseres Lebens, an dieser gemeinsamen Weiterentwicklung dieser Evolution. Es ist wunderschön, an diesem großen Entfaltungsprozess des Lebens beteiligt zu sein – ja, ein Teil von diesem Prozess zu sein und ihn zusammen mit allem anderen Lebendigen mitzugestalten. Und es ist beeindruckend, die Intelligenz dieses Prozesses zu spüren, die dies entAuf dem Weg zu einem guten Leben

wirft, strukturiert, konfiguriert. Diese Intelligenz überschreitet die gegenwärtige Reichweite unseres Bewusstseins. Wir können sie nicht erfassen, weil die Strukturen unseres Geistes lediglich oberflächliche Spiegelungen von ihr darstellen. Aber sie lässt sich spüren. Für mich fühlt sie sich an wie ein funkelnder in sich selbst freier, intelligenter Raum, der sich jedem geistigen Erkennen gegenwärtig noch entzieht. Aber letztendlich bin ich und ist jeder von uns nichts anderes als diese lebendige Intelligenz, aufgewacht und vergegenwärtigt in ihrem eigenen evolutionären Prozess. Und dieser evolutionäre Prozess selbst ist intelligent, voller Potential, bewegt sich in einer Art freier Entfaltung, eröffnet Perspektiven und Dimensionen, erfüllt und transzendiert unser Leben. Wenn wir die Entwicklung unseres Bewusstseins auf diese Weise erkennen können, sind wir nicht länger Produkte der Evolution, ist unser Bewusstsein nicht länger Ergebnis einer evolutionären Entwicklung von Nervensystemen, sind wir nicht länger Erleidende unseres Lebens und durch die schicksalhaften Wechselfälle Aufgeweckte, sondern wir sind angekommen, da wo wir sind. Wir sind aufgestanden an der Stelle, an der wir stehen. Wir nehmen unser Leben und das aller Lebewesen, mit denen wir verbunden sind, in Würde an. Wir nehmen die Verantwortung an, die es bedeutet, Mitgestalter dieses Lebens und dieses evolutionären Prozesses zu sein. Wir erkennen, dass wir uns dem nicht entziehen können, dass jeder von uns darin notwendig ist, eine Stimme besitzt, Einfluss nimmt. Wir erkennen, dass jeder von uns darin gebraucht wird, wie Martin Buber (1922) sagt: „Dass du Gott brauchst, mehr als alles, weißt du allzeit in deinem Herzen; aber nicht auch, dass Gott dich braucht, in der Fülle seiner Ewigkeit dich? Wie gäbe es den Menschen, wenn Gott ihn nicht brauchte, und wie gäbe es Dich? Du brauchst Gott, um zu sein, und Gott braucht dich – zu eben dem, was der Sinn deines Lebens ist ... Die Welt ist nicht göttliches Spiel, sie ist göttliches Schicksal. Dass es die Welt, dass es den Menschen, dass es die menschliche Person, dich und mich gibt, hat göttlichen


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Sinn. Schöpfung – sie geschieht an uns, sie glüht sich uns ein, glüht uns um, wir zittern und vergehn, wir unterwerfen uns. Schöpfung – wir nehmen an ihr teil, wir begegnen dem Schaffenden, reichen uns ihm hin, Helfer und Gefährten.“ Aber was ist, wenn Gott und ich eins sind, wenn das göttliche Schicksal unser Leben ist, wenn wir die Schöpfung, die sich uns einglüht nicht nur erleiden, sondern sie gestalten, entwickeln, entfalten. Dann gibt es niemanden anderes, den wir verantwortlich machen können, keinen Gott, kein Absolutes, keine Intelligenz außerhalb oder irgendwo jenseits von uns, sondern wir sind es selbst. Es ist unser eigener Lebensprozess, unsere eigene Evolution. Und ich meine dies nicht als überschätzte persönliche Macht, sondern es geht darum, das eigene persönliche Leben in den Dienst zu stellen unserer Mitverantwortung für die Evolution, und diese auf eine menschenwürdige Weise, intelligent und weise, sowohl in Demut als auch in Freiheit weiterzuentwickeln. John Stuart (2012), ein australischer Evolutionsforscher, nennt uns „evolutionäre Aktivisten“, „absichtsvolle Evolutionäre“: „Evolutionäre Aktivisten nutzen die Gerichtetheit der Evolution, um herauszufinden, was sie tun müssen, um diese weiter voranzubringen. Im sozialen Bereich ist der nächste große Schritt der menschlichen Evolution das Hervorbringen einer geeinten und nachhaltigen globalen Gesellschaft. Psychologisch betrachtet ist es die Befreiung unseres Verhaltens vom Diktat der biologischen und kulturellen Vergangenheit, damit wir das, was für die zukünftige evolutionäre Möglichkeit nötig ist, tun können.“ „Wenn der Übergang zur bewussten Evolution vollzogen ist, wird die Evolution auf der Erde bewusst und intelligent von statten gehen.“ Evolutionäres Bewusstsein bedeutet für mich, das jeweils geistig Erkannte auch erfahren zu wollen und dann anderen weiterzugeben und ihnen erfahrbar zu machen, so dass die ganze Entwicklung damit stabiler und durchdrungener wird.

„Durch die Menschen wird sich der evolutionäre Prozess seiner selbst bewusst geworden sein und die Kapazität haben, sich selbst absichtsvoll und bewusst weiterzuentwickeln.“ (Stuart 2011). Darauf scheint mir der Sinn des bewusst gewordenen, des vergegenwärtigten Lebens hinauszulaufen: Mit Hilfe meiner gesamten Intelligenz, meiner intuitiven Kompetenz, verankert in meiner Seele und meiner lebendigen Offenheit, verbunden mit der Welt und diesem evolutionären Prozess, mein Leben und unser Leben zu gestalten und bewusst weiterzuentwickeln. Und dies ist keine moralische Forderung, sondern ein tiefes inneres Gespür, eigentlich sogar eine Gnade, ein großes Geschenk, ein solches Leben gegenwärtig leben zu dürfen. Und wenn ich mich frage, was diese Vergegenwärtigung für mein gegenwärtiges Leben bedeutet, für das, was ich konkret und praktisch tue, dann stellt sich diese Frage auch Gott oder diese universelle Intelligenz, denn letztlich ist da ja kein Unterschied. Also was wollen wir tun und zwar weil wir es wirklich wollen, weil wir diese Verantwortlichkeit spüren, weil wir diese Liebe zum Leben spüren, weil wir es gerne tun wollen oder weil wir Mitgefühl besitzen, weil etwas uns berührt oder empört oder weil es Freude macht und uns begeistert? An dieser Stelle inmitten des Lebens, inmitten dieses evolutionären Prozesses sind wir letztlich frei. Wir sind zwar verbunden mit all dem, wir werden von all dem hervorgebracht und genau an die Stelle gestellt, an der wir eben stehen und leben. Aber wenn wir sie vergegenwärtigen, dann spüren wir eben auch die vollkommene und tiefe innere Freiheit, die in unserem Innersten liegt und die bei allen vorgegebenen Strukturen eben auch unser eigenes Leben und das dieser gesamten Evolution in sich trägt. Dann spüren wir wie es ist, unbestimmt und offen zu sein, frei für unsere Kreativität, frei für etwas völlig Neues, nicht letztlich vorhersagbar. Und das ist das Schöne, dass unser Wollen letztlich freiwillig ist. Was bin ich bereit, freiwillig zu tun, freiwillig einzubringen, weil es mir am Herzen liegt, nicht Auf dem Weg zu einem guten Leben


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weil ich mir persönlichen Profit davon verspreche? Oder wieviel persönlicher Profit ist wirklich erforderlich in all dem, was ich tue in meinem Leben, in all dem, was ich hineingebe ins Leben, weil ich es bereichern will, aufklären will, weiterentwickeln will, erlösen will und nicht weil ich unbedingt muss, sondern weil es mir am Herzen liegt, weil mir etwas weh tut oder mich etwas wirklich inspiriert? Ich bin überzeugt davon, dass unser Leben reicher und erfüllter ist, wenn wir uns ihm nicht entziehen, wenn wir uns nicht nur zurückziehen in die Abgeschiedenheit und Stille im Inneren vom Äußeren, wenn wir uns nicht nur um uns selbst drehen und nicht nur nehmen, was wir kriegen können, sondern wenn wir bereit sind, uns ganz hineinzugeben, uns „nicht vorzuenthalten“, wie Martin Buber (1919) sagt: „Durchbrich deine Schalen, werde unmittelbar, rühre, Mensch, die Menschen an.“ Ich persönlich halte dies nicht für eine Pflicht oder einen Imperativ, sondern für eine natürliche Bewegung des erwachten und vergegenwärtigten Lebens, dies freiwillig zu wollen. Es geschieht aus der Verbundenheit mit dem evolutionären Prozess. So wie viele Menschen früherer Zeiten und auch gegenwärtig mein Bewusstsein und mein Leben bereichern, möchte ich auch meinen Teil zu ihrem Leben und dem der folgenden Generationen beitragen. Vielleicht erleiden die Menschen der Zukunft dann nicht nur unser Erbe, sondern freuen sich auch daran. Doch natürlich will das Leben auch spielen und lachen und tanzen. Und auch das bereichert unser gemeinsames Leben und erfüllt und steckt an und lässt uns unser Leben feiern. Aber auch dafür braucht es weiterentwickelte Arten und Weisen, die der Größe unseres Lebens und unserer inneren Freiheit entsprechen. Eine neue abendländische Spiritualität So wird eine neue abendländische Spiritualität die bewusste Evolution in ihren Mittelpunkt stellen. Sie wird zwar ansetzen an der Arbeit am eigenen Bewusstsein, an der Öffnung und Vertiefung unseres „Weltinnenraumes“. Und dies erfordert Auf dem Weg zu einem guten Leben

unser Erwachen, unser Bewusstwerden, die Relativierung unserer Identifikationen und unserer Konstruktionen, die Suche nach dem, was uns überschreitet. Es ist wie ein Aufschwingen zu einem größeren Überblick, zu einer größeren geistig-spirituellen Weite und erfordert eine gewisse Mühe und Disziplin, auch wenn es auf ein „müheloses Bemühen“ hinausläuft. Eine neue abendländische Spiritualität wird aber basieren auf der Vergegenwärtigung des Lebens. Sich mit dem eigenen Leben verbunden zu fühlen, so wie es ist, sich an die Stelle im Leben zu stellen, an der man eben steht, das Leben anzunehmen, das man eben lebt, ist leichter und versöhnlicher. Wenn wir uns dem Leben anvertrauen, erfahren wir, wie das Leben von alleine geschieht, als eine aus sich selbst herausströmende Quelle, die auch unser Leben hervorbringt. Es ist, als ob uns das Leben in den Arm nimmt und wieder ausatmet, durch unsere Sinne und unseren Geist in die Welt hinaus sendet, wie Rilke in seinem Gedicht sagt: „Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand...“ Eine neue abendländische Spiritualität wird nicht die Sinne ablehnen, sondern Fülle, Freude und Ekstase genauso würdigen, wie Berührung und Verwandlung von Leid und Schmerz. Eine neue abendländische Spiritualität wird also neben der Arbeit an der Erforschung des eigenen Bewusstseins genauso sehr die Durchdringung und Entfaltung des eigenen Lebens betonen und schließlich eine Spiritualität sein, in der wir unseren Beitrag zur gemeinsamen Gestaltung der Welt leisten. Sie wird eine Spiritualität sein, in der unser Leben immer mehr durchdrungen wird vom Größeren, Unbekannten und Unbegreiflichen und schließlich ein vergegenwärtigtes Geschehen einer intelligenten Evolution wird.

Literaturverzeichnis Buber M (1919) Was ist zu tun? In: Hinweise, Gesammelte Essays. Manesse Verlag 1953 Buber M (1922) Ich und Du. Reclam Verlag Stuttgart Schweitzer A (1974) Gesammelte Werke. In: Grabs R (Hrsg.) Bd. 1: Aus meinem Leben und Denken; Aus meiner Kindheit und Jugendzeit; Zwischen Wasser und Urwald; Briefe aus Lambarene 1924–1927. 169. Beck, München Stuart J (2012) Die Absicht des Kosmos. In: EnlightenNext Impulse 3/2012, 24-27


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