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Diagnostisches Licht ins Dunkel bringen
Lege artis muss bei hereditären Netzhautdystrophien ein Gentest erfolgen
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Stellenwert der genetischen Abklärung
Mit einer Prävalenz von 1 : 2.000 bis 1 : 3.000 stellen erbliche Netzhauterkrankungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine häufige Ursache schwerer Sehbehinderungen dar, die bis hin zur Erblindung führen können.1,2,3 Es handelt sich allerdings um eine sehr heterogene Gruppe von Erkrankungen. Historisch betrachtet gibt es rund 100 klinische Entitäten, wozu etwa Retinitis pigmentosa (RP) oder Morbus Stargardt zählen. „Die moderne Augenheilkunde geht allerdings dazu über, die kausalen Gene zu benennen, statt sich mit den phänotypischen Beschreibungen zufrieden zu geben“ , erklärt Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Markus Ritter, Leiter der Ambulanz für erbliche Netzhauterkrankungen – Elektrophysiologie, MedUni Wien/AKH Wien. „Lege artis müssen alle Patientinnen und Patienten genetisch abgeklärt werden. Das Ergebnis wird dann in Synopsis mit dem klinischen Phänotypen interpretiert.“ Derzeit sind mehr als 270 verschiedene Gene bekannt, welche hereditäre Netzhautdystrophien verursachen können, wobei die dort vorhandenen Mutationen auch zu jeweils unterschiedlichen Phänotypen führen können.2 „Augenärztinnen und Augenärzte haben leider eine zu geringe Awareness in Bezug auf diese Art von Erkrankungen. Bis zur korrekten Diagnose vergehen oft viele Jahre“ , bedauert Prof. Ritter.
In einer rezenten Befragung von Betroffenen gaben nur zwei Drittel an, sich einer genetischen Testung unterzogen zu haben. Lediglich 47 % hatten eine humangenetische Beratung erhalten.4 Hier appelliert Prof. Ritter an die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner: „Jede Hausärztin und jeder Hausarzt sollte bei Personen mit bekannter Diagnose einer hereditären Netzhauterkrankung hinterfragen, ob diese schon einmal genetisch abgeklärt wurden, und daran erinnern, dass die Patientin bzw. der Patient Anspruch darauf hat. “ Erst das Auffinden des kausalen Gens erlaube es, z. B. durch bereits publizierte Fallserien abzuschätzen, wie schnell sich das Sehen verschlechtern werde, ob es assoziierte Erkrankungen gebe und ob der Vererbungsmodus rezessiv, dominant, mitochondrial, X-chromosomal etc. sei. Jedoch müssen Ärztinnen und Ärzte den Betroffenen bewusst machen, dass nicht jede genetische Ursache mit den derzeitigen Analysemethoden identifiziert werden kann. Bei der Analyse des gesamten Exoms handelt es sich um eine Breitspektrumanalyse, bei der jegliches in Proteine umgesetzte genetische Material erfasst wird. Untersucht man hingegen das gesamte Genom, lassen sich auch tiefe intronische VerändeEXPERTE: Assoz. Prof. Priv.-Doz. rungen identifizieren. Mit der Dr. Markus Ritter Whole-Exome-Analysis liegen Leiter der Ambulanz für erbliche Netzhaut- die Chancen, das ursächliche erkrankungen – Elekt- Gen aufzufinden, bei 70 %, rophysiologie, MedUni Wien/AKH Wien mit der meist nur in Studien eingesetzten Whole-GenomeAnalysis bei etwa 80 %. „Das heißt, es bleibt in Standarduntersuchungen immer noch gut ein Drittel der Betroffenen übrig, bei dem man zwar mit relativer Sicherheit sagen kann, dass es sich um eine genetisch bedingte Netzhauterkrankung handelt, aber deren Ursache lässt sich noch nicht sicher festmachen“ , gibt Prof. Ritter zu bedenken.
Morphologie und Funktion weiterhin wichtig
„Bei einer schweren Sehbeeinträchtigung im Kindes- und Jugendalter, die bisher nicht eindeutig zugeordnet werden konnte, empfehle ich also dringend, dass man auch an hereditäre Netzhautdystrophien denkt“ , fasst der Experte zusammen. Natürlich könnten z. B. neurologische oder entzündliche Veränderungen ebenfalls zu den Sehproblemen führen. Trotzdem sei es ratsam, an ein Zentrum oder eine Spezialklinik zu überweisen, die auch das Spektrum der Netzhauterkrankungen abklären könnten, weil sie über die passenden Spezialgeräte verfügten. „Vor allem eine unklare reduzierte Sehschärfe, Nachtsichtstörungen und Sehstörungen im Rahmen von Syndromen sind Warnsignale“ , macht Prof. Ritter aufmerksam. Die Identifikation des ursächlichen Gens allein reicht für die Diagnostik nicht aus. Die Untersuchung von Morphologie und Funktion der Retina behalte ihren Stellenwert, so der Experte und er fügt hinzu: „Als Augenärztin oder Augenarzt muss man immer fragen, ob die Mutationen wirklich zu jener Morphologie und Funktion passen, die wir messen bzw. darstellen können – man muss den klinischen und den genetischen Befund in Einklang bringen können. “ Denn es gebe auch genetische Varianten unklarer Signifikanz, bei denen noch nicht erwiesen sei, dass sie die Krankheit tatsächlich verursachten. >
Notwendige Untersuchungen umfassen etwa: • bezüglich der Morphologie: u. a. optische Kohärenz-Tomographie (OCT),
Fundus-Autofluoreszenz (FAF), • bezüglich der Funktion: u. a. Elektroretinogramm (ERG).
Abklärung vor wichtigen Lebensentscheidungen
Zwei Lebensphasen stellen besondere Knackpunkte dar: Schuleintritt und Berufswahl. „Ich lege Familien nahe, womöglich betroffene Kinder vor Eintritt in die Schule umfassend untersuchen zu lassen, da die Kindheit schwierig werden kann, wenn das Kind z. B. im Sport tollpatschig ist oder mit dem Lesen Probleme hat und man nicht weiß, was dahintersteckt. Das Schulamt vermittelt eigene Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, damit das Kind die beste Ausbildung erhält“ , weiß Prof. Ritter. Der zweite Punkt betreffe die Berufswahl: Hier eigneten sich etwa Berufe mit Bildschirmarbeit gut, da es Softwareprogramme gebe, die das Lesen erleichterten, wohingegen feinmechanische Berufe oder solche, bei denen das Lenken von Fahrzeugen im Vordergrund stehe, ungeeignet seien. „Natürlich kann man die Eltern nicht dazu zwingen, ihr Kind untersuchen zu lassen, aber man muss es mit ihnen besprechen“ , so der Experte. Zusätzlich empfiehlt er, die genetische Beratung in Kooperation mit einem Institut für medizinische Genetik durchführen zu lassen. In Bezug auf Datenschutz, Befundübermittlung und -aufbewahrung gibt es hierzu sehr strenge Regularien.
Gentherapie als Hoffnung
Patientinnen und Patienten mit biallelischen Mutationen im RPE65-Gen können seit Ende 2018 von der Gentherapie mit Voretigen Neparvovec profitieren. Adeno-assoziierte Virusvektoren beinhalten eine intakte Kopie des Gens. „Während der Operation spritzt die Ärztin oder der Arzt die Suspension mit den Virusvektoren unter die Netzhaut, sodass sich die Viren in die Pigmentepithelzellen einbauen können. Dadurch kann die Produktion eines gesunden RPE65codierten Eiweißmoleküls, welches eine wichtige Rolle im Sehzyklus spielt, angekurbelt werden“ , beschreibt Prof. Ritter die Vorgehensweise. Voraussetzung für die Gentherapie ist, dass die oder der Betroffene noch über genügend funktionsfähige Netzhautzellen verfügt, die das Virus aufnehmen und eine verbesserte Sehkraft erzielen können.
MD LCA
ZSD
C8orf37, CDHR1, RPGR, SEMA4A
CRX*, RPGRIP1 CRB1, CWC27, IFT140, IMPDH1, LRAT, MERTK, RDH12, RPE65, SPATA7, TULP1
ABCA4, PROM1, PRPH2
BEST1, FSCN2, GUCA1B, 1MP62, RP1L1
RP
ADGRA3*, AGBL5, AHI1, ARHGEF18, ARL2BP, ARL3*, ARL6, BBS1, BBS2, BBS9, CRorf71, CA4, CERKL, CLN3, CLRN1, CNGA1, CNGB1, DHDDS, DHX38*, EMC1*, EYS, FAM161A, HGSNAT, HK1, IDH3A, IDH3B, IFT172, KIAA1549*, KIZ, KLHL7, MAK, MVK, NEK2, NEUROD1*, OFD1, PANK2, PDE6A, PDE6G, POMGNT1, PRCD, PRPF3, PRPF4, PRPF6, PRPFR8, PRF31, RBP3, RDG11, REEP6, RGR, RGR, ROM1, RP1, RP2, RP9, SAMD11, SLC7A14, SNRNP200, TOPORS, TTC8, USH2A, ZNF408, ZNF513 NR2E3, NRL
ESCS
GNAT1, PDE6B, RHO, RLBP1, SAG
CSNB
Häufige IRD-Phänotypen
MD: Makuladystrophie
ZSD: Zapfen-StäbchenDystrophie
LCA: Leber'sche kongenitale Amaurose
CSNB: Kongenitale stationäre Nachtblindheit
RP: Retinitis pigmentosa
* Kandidatengene für nichtsyndromische RP Quelle: Nachbau: Verbakel SK et al., Progress in Retinal and Eye Research 2018; 66: 157-186.
Weitere Behandlungsoptionen
„Aber es gibt auch andere Therapien in der Pipeline, die schon in recht fortgeschrittenen Stadien sind, was die Erprobung an Patientinnen und Patienten betrifft“ , betont der Facharzt. Als Beispiele für Erkrankungen, die erforscht werden, nennt er Formen der RP, welche durch Mutationen im RPGR-Gen verursacht werden, sowie Choroideremie und Achromatopsie. Weiters gibt es Behandlungsansätze, die z. B. den Verlauf der Erkrankung verlangsamen sollen, etwa bei Morbus Stargardt. Ebenfalls zu nennen sind Antisense-Oligonukleotide. „Diese kann man als eine Art Genpflaster betrachten, mit dem sich gewisse Mutationen ausschalten lassen“ , erläutert Prof. Ritter. Teilweise gebe es auch genunspezifische Ansätze. „Es wird viel zu diesen Erkrankungen geforscht, aber es ist keine einfache Thematik“ , meint der Spezialist.
Fazit
„Abschließend sollte man wissen, dass hereditäre Netzhautdystrophien rein okuläre Erkrankungen sein, aber auch als Teil eines Syndroms auftreten können“ , unterstreicht Prof. Ritter. „Außerdem darf man als Behandelnde oder Behandelnder nicht vergessen, dass die Betroffenen Mitglied einer Familie sind – auch wenn sie vielleicht die Einzigen sind, die derzeit Symptome aufweisen. Zuletzt soll man sich nicht mit einer reinen klinischen Diagnose zufriedengeben, sprich: einer Diagnose ohne genetische Abklärung. “ Dies entspreche nicht mehr dem State of the Art, resümiert der Experte.
Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc
Quellen: 1 Birtel J et al., Klin Monatsbl Augenheilkd 2021; 238: 249-260. 2 García Bohórquez B et al., Front Cell Dev Biol 2021; 9: 645600. 3 Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) et al., S1-Leitlinie: Erbliche Netzhaut-, Aderhaut- und
Sehbahnerkrankungen, Stand: 09/2021. 4 Kellner U et al., Die Ophthalmologie 2022; 119: 820-826.
ANAMNESTISCH RELEVANTE FRAGEN3
Inwiefern ist das Sehvermögen beeinträchtigt? Z. B. Farbsehschwäche,
Nachtblindheit, Gesichtsfeldausfälle Wann haben die Beschwerden begonnen bzw. haben sie sich im Lauf der Zeit verändert? Gibt es in der Familie bekannte
Sehstörungen? Liegen weitere Beeinträchtigungen vor?
Z. B. Hör-, Riech-, neurologische Störungen,
Stoffwechselerkrankungen etc.