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Bei Verdacht die Patient:innen an ein HAE-Zentrum überweisen“

Die Behandlung des hereditären Angioödems hat in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gemacht

© Tamar Kinaciyan, privat

Univ.-Prof.in Dr.in Tamar Kinaciyan, Leiterin der Allergieambulanz und der Pädiatrischen Dermatologie an der MedUni Wien, im Gespräch mit der Hausärzt:in.

Die Prävalenz des hereditären Angioödems (HAE) wird auf 1 : 50.000 bis 1 : 60.000 geschätzt. Die Krankheit manifestiert sich in der Regel bis zum 30. Lebensjahr, am häufigsten beginnt sie in der Kindheit (ab dem 5. Lebensjahr) oder Adoleszenz. Betroffene beschreiben hautfarbene, umschriebene, großflächige nicht juckende aber oft schmerzhafte Ödeme an unterschiedlichen Körperbereichen, die 48 bis 72 Stunden bestehen bleiben. Diese rezidivieren unvorhersehbar und in unterschiedlichen Abständen. Die größte Gefahr dabei sind Larynxödeme, da diese in 25 % der Fälle unbehandelt akut zum Erstickungstod führen können. Daher ist in diesen Fällen die HAE spezifische Therapie essentiell. Des Weiteren sind Bauchattacken mit ausgeprägten Ödemen und Schmerzen gelegentlich begleitet von Aszites im Verdauungstrakt für Patienten besonders belastend. Sie können mit einem akuten Abdomen verwechselt werden und entsprechend unnötige operative Eingriffe nach sich ziehen. Die massive Schwellung und Aszites im Abdomen können weiters gelegentlich zu Hypovolämie und Kreislaufproblemen führen.

HAUSÄRZT:IN: Das hereditäre Angioödem ist gefährlich. Trotzdem dauert es oft Jahre bis zur richtigen Diagnose. Warum?

Prof.in KINACIYAN: Das hereditäre Angioödem ist bekanntlich eine seltene Erkrankung. Etwa 150 Menschen wurden in Österreich bisher mit einer klassischen HAE, d. h. mit bekanntem C1-Inhibitor-Mangel, diagnostiziert. Aufgrund der geringen Zahl, und bei anderen Formen auch der limitierten Diagnostik, ist das Krankheitsbild unter der Ärzteschaft wenig bekannt, obwohl wir es im Medizinstudium integriert haben. Aber: Was man lange nicht braucht, entfällt einem, das ist nicht verwunderlich. Hinzu kommt, dass histaminerge Angioödeme – oft mit Urtikaria assoziiert – wesentlich häufiger sind. Deshalb wird jeder Patient mit akutem Angioödem zunächst mit hochdosiertem Kortison und Antihistaminika intravenös behandelt. In der Regel sprechen die Patienten auch gut darauf an. Hellhörig sollte man werden, wenn Betroffene sagen, dass das Abklingen der Schwellung mit der Therapie genauso lang gedauert habe wie ohne.

Wie ist es um die diagnostischen Möglichkeiten bestellt?

Die klassische Form des HAE, bei dem das Komplement blockierende Eiweiß C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH) entweder quantitativ wenig oder qualitativ mangelhaft produziert wird, ist seit dem 18./19. Jahrhundert bekannt. Allerdings verfügte man damals weder über diagnostische Möglichkeiten noch über eine Therapie. Die labortechnische Erfassung des C1-INH-Wertes oder der Funktion ist erst seit den 1960er Jahren möglich. Diese Formen lassen sich heute relativ leicht diagnostizieren. Doch das wäre zu einfach (lacht): Seit 2000 wissen wir, dass es Patienten mit demselben klinischen Krankheitsbild gibt, deren C1-INH-Werte und Funktion stets im Normbereich liegen. Man hat damals eine Mutationen im F12-Gen festgestellt. Mittlerweile kennen wir insgesamt sechs unterschiedliche Mutationen, die dieselbe Klinik aufweisen ohne einen pathologischen C1-INH-Wert. Daneben kennen wir Patienten, die keine dieser bekannten Mutationen aufweisen, deren Mutation also noch unbekannt ist. Zwar sprechen Patienten mit unterschiedlichen HAE-Typen in den allermeisten Fällen auf dieselbe Therapie an, das Problem ist jedoch, dass ohne diagnostische Parameter die Diagnose wesentlich schwieriger wird.

Deshalb sind Awareness- und Zuweiser-Veranstaltungen, zu denen Sie regelmäßig laden, für niedergelassene Mediziner:innen so wichtig, nehme ich an?

Ja, um diesen Patienten zu einer raschen Diagnose und Therapie verhelfen zu können, sind solche Awareness Veranstaltungen quer durch alle Fächer – inklusive Notfallmedizin – besonders wichtig. Nach so einer Veranstaltung nehmen die Zuweisungen mit Verdacht auf HAE zu. Mit der Zeit werden sie wieder weniger. Denn jeder Kollege ist in seinem Bereich natürlich tagtäglich mit vielen, auch häufigen, anderen schwerwiegenden Krankheiten beschäftigt … Dem kann man bei so seltenen Erkrankungen nur mit regelmäßigen Awareness-Kampagnen entgegenwirken. Die Überweisung an ein HAE-Zentrum ist deshalb so bedeutsam, weil wir dort die Krankheit mit allen Aspekten kennen, Entwicklungen verfolgen, die Betroffenen in alle Richtungen checken, um zu einer Diagnose zu gelangen. Es braucht dabei das Wissen und die Erfahrung der Experten in den Zentren. >

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen HAE-Zentrum und niedergelassenen Kolleg:innen nach der Diagnose?

Wenn Betroffene auf eine individuell gut wirksame Therapie eingestellt wurden, sehen wir sie oft nur mehr in längeren Abständen, ein- bis zweimal pro Jahr. Das bedeutet, für Rezeptnachbestellungen oder die Durchführung ihrer intravenösen Therapien gehen die Patienten zu ihrem Hausarzt, wenn sie sich die Therapie z. B. nicht selbst verabreichen können. Wichtig dabei: Im Leben des Patienten kann es zu Veränderungen kommen. Dann ändert sich oft auch der Charakter der Attacken, nämlich ihre Häufigkeit und/oder ihr Schweregrad. In einem solchen Fall sollten niedergelassene Kolleginnen und Kollegen diese Patienten wieder frühzeitig an das Zentrum verweisen, damit die Therapie adäquat umgestellt werden kann.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Wenn ein Patient, der bisher nur seltene und periphere Attacken hatte, im letzten Monat zweimal wegen Larynxödemen eine Notfallambulanz aufsucht, bedeutet das, dass er mit seiner bisherigen Therapie nicht mehr auskommt. Dann muss er kurzfristig ans HAE-Zentrum überwiesen werden, um eine Therapieumstellung zu erhalten. Das kann eine Umstellung auf eine Langzeitprophylaxe oder auch eine Umstellung der bestehenden Langzeitprophylaxe auf ein anderes Präparat oder eine Dosisadaptierung sein.

Durch die hohe Wahrscheinlichkeit einer Vererbung sind ganze Familien betroffen. Was bedeutet das für die Praxis?

Wenn wir einen neuen Patienten diagnostizieren, einen sogenannten Indexfall, bestellen wir alle Blutsverwandten, die noch leben, bis hin zur Urgroßmutter und zu den Cousins und Cousinen, ein und untersuchen sie – auch wenn sie bis dato beschwerdefrei waren. Denn mit derselben Mutation in derselben Familie bekommt der eine seine Attacken früh und oft und der andere erst viel später. Ziel ist, dass Nichtdiagnostizierte nicht irgendwann im Leben von einer Attacke überrascht werden, ohne eine Notfallmedikation zur Verfügung zu haben. Wer negativ getestet wird, weiß dann, dass er und seine Nachfahren die Krankheit nicht bekommen werden. Wer als HAE-Betroffener diagnostiziert wird, den versorgen wir mit der angesprochenen Notfallmedikation, die man sich im Akutfall selbst verabreichen kann.

Wie verhält es sich mit einer Schwangerschaft?

Unter den Betroffenen besteht bei jeder Schwangerschaft eine 50-prozentige Chance, dass das Kind betroffen ist. Die Neugeborenen untersuchen wir im ersten Lebensjahr, damit die Eltern auf später vorbereitet sind. So früh kommt es aber nur in äußerst seltenen Fällen zu ersten HAE-Attacken.

Welche Fortschritte gibt es in der Therapie?

In den vergangenen Jahren hat sich enorm viel getan, und das ist sehr erfreulich. Als ich mit der Betreuung von HAEPatienten begann, gab es einen einzigen aus gepooltem, humanem Plasma gewonnenen C1-Esterase-Inhibitor, der damals nur für akute Attacken zugelassen war, sowie Androgene, die als Dauerprophylaxe eingesetzt wurden. Dann kam die subkutane, akute Attacken-Behandlung 2007, gefolgt von Bestrebungen für Therapien zur HAE-Attacken-Prophylaxe. Dabei wurde zunächst ein wiederum aus gepooltem, humanem Plasma gewonnenes C1-INH-Präparat für akute Attacken-Behandlung, zweimal pro Woche intravenös zur Prophylaxe eingesetzt. Zudem haben wir mittlerweile ein rekombinantes C1INH-Präparat. Vor drei Jahren folgte eine subkutane Prophylaxe-Therapie, die alle zwei Wochen verabreicht wird. In der Folge kam ein C1-Esterase-Inhibitor für die subkutane Prophylaxe zweimal die Woche auf den Markt. Und zuletzt, vor einem Jahr, sind noch orale Tabletten für die Prophylaxe zugelassen worden. Weitere Entwicklungen werden erwartet. So kann man heute im Gespräch mit dem Patienten die individuell beste Therapie auswählen. Es geht jetzt nicht mehr vorrangig um eine akute Attacken-Behandlung, sondern darum, dass der Patient attackenfrei bleibt. Bei schweren Infektionen oder viel Stress kann es natürlich auch unter diesen Prophylaxe-Therapien gelegentlich zu einer Durchbruchsattacke kommen. Deshalb braucht es für jeden Patienten weiterhin mindestens eine akute Attacken-Behandlung als Notfallmedikation griffbereit.

Was würden Sie sich abschließend von der Politik oder der Gesundheitskasse wünschen?

Von der Gesundheitskasse wünsche ich mir, dass sie offener für neue Therapiemöglichkeiten ist. Natürlich sind diese teuer, aber sie werden nur dann eingesetzt, wenn der Patient auf die bisherige Therapie nicht gut angesprochen hat, und ich kann versichern, dass kein HAE-Spezialist unnötige Medikamente verschreibt. Zudem muss man sich vor Augen halten, dass die neuen Prophylaxe-Therapien dem Patienten nahezu Beschwerdefreiheit ermöglichen – d. h. ein normales Leben, weniger Berufs- oder Schulausfallstage, eine normale Lebens- und Karriereplanung … Das bringt nicht nur den Betroffenen mehr Lebensqualität, sondern kommt auch dem Sozialsystem und der Gesellschaft zugute. Darauf sollte die Politik schauen und die Gesundheitskasse dahingehend unterstützen.

Das Interview führte Mag.a Karin Martin.

Info & Quellen: orpha.net hae-erkennen.at hae-austria.at hae-info.at/hae-anlaufstellen

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