FilmMAG 01/2011

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11. Februar 2011 Letzter Drehtag. Folge 4 053. Alle sind gekommen, wirklich alle: 20 Hauptdarsteller, die komplette Crew, Bavaria-Mitarbeiter, sogar der Geschäftsführer. Ein ehemaliger Darsteller kam extra aus Tunesien eingeflogen. Gegen 21 Uhr fällt die letzte Klappe: Inge Busch hat im Lotto gewonnen und feiert eine große Party in ihrer Wohnung. Eingeladen sind alle. Natürlich. In Marienhof waren immer alle eingeladen: Seit 1992 gab es 28 Hochzeiten, 14 Geburten und 48 Todesfälle. In der letzten Szene des Tages winken die 20 Darsteller in die Kamera. Ein Abschied. Auch von den Zuschauern. Und dann – ganz plötzlich – geht das Licht in der riesigen Halle aus. Eine Stimmung wie an Weihnachten bei „Stille Nacht, Heilige Nacht“ – und eine Idee, die ein feinfühliger Mensch gehabt haben muss, der weiß, dass so ein Moment dramaturgisch abgefedert werden muss, weil die Leute sonst nicht wissen, wohin sie schauen und was sie sagen sollen. „Wir Schauspieler“, sagt Seidenberg, „hätten uns das Ende trashiger gewünscht; ein Amoklauf, eine explodierende Fliegerbombe oder, dass in der letzten Folge jeder die Rolle eines anderen spielt“, aber ‚Marienhof‘ bleibt sich selbst im Untergang treu und endet sentimental und ein bisschen altbacken. So gesehen passt es, dass ausgerechnet Jörg Pilawa mehrere Gastauftritte in der Serie hatte. „Danach“, erzählt Seidenberg, „haben sich alle umarmt. Ein paar haben geweint.“ Warum aber wollten die Menschen „Marienhof“ nicht mehr sehen? War die Serie schlechter geworden, oder haben nur wir uns verändert, die Zuschauer und die Welt, in der wir leben? Der Niedergang von „Marienhof“ vollzog sich in Stufen: Die höchste durchschnittliche Einschaltquote von 17,6 Prozent erreichte die Serie 1997, das ist 14 Jahre her, danach ging es jedes Jahr ein bisschen weiter nach unten. 2009 fiel die Quote zum ersten Mal unter die magische Grenze von zehn Prozent, zuletzt sahen noch 1,63 Millionen Menschen zu, das entspricht 8,6 Prozent. Seitdem versucht die Bavaria alles, um den Zuschauerschwund zu stoppen: Sie holt einen neuen Produzenten, der die Serie jünger und trendiger machen soll: Licht, Kameras, Frisuren, Kleider – alles wird neu gemacht. Die Schnittfolge wird schneller, die Außenkulisse renoviert. Angeblich sieht sie danach aus wie ein Stadtviertel im 21. Jahrhundert. Das Problem: Das 21. Jahrhundert ist da schon neun Jahre alt. Die Verjüngung kam zu spät. Oder anders ausgedrückt: Der Gemüseladen in „Marienhof“ hieß zu lang „Möhre“, die Disco zu lange „Foxy“. „So eine Serie ist wie ein Dampfer“, erklärt Werner Lüder, in den Neunzigern Chefautor von „Marienhof“. „Ist sie erst mal vom Kurs abgekommen, dauert es eine Ewigkeit, sie wieder zurückzubringen.“ Zuschauer sind lange treu, aber wenn sie weg sind, sind sie weg. Werner Lüder ist einer, der drei Ideen in zwei Sekunden hat, eine Geschichtenmaschine. 2010 holt ihn die Bavaria als Berater zurück. Sein Auftrag: die Serie retten. Man hatte vor lauter HD-Qualität die Inhalte vernachlässigt. Lüder soll die Geschichten wieder glaubwürdiger machen, eigentlich so wie früher, im Forum auf der „Marienhof“Homepage hatten sich Beschwerden der Fans gehäuft. Sie hatten kleine Logikfehler entdeckt, unglaubwürdige Erzählstränge, zum Beispiel dass Tanja Maldini der kinderlosen Tochter ihr ungeborenes Kind verspricht, Krebs bekommt, die lebensrettende Chemotherapie ablehnt, das Kind bekommt, überlebt und von ihrer Tochter das Baby zurückfordert. Das Problem: Lüder kommt im Februar 2010, aber die Serie hat fünf Monate Vorlauf. Man würde seine Handschrift frühestens im August bemerken. Um „Marienhof“ wirklich verbessern zu können, bräuchte er länger. Am Ende geht die Zeit aus. Und die Geduld der ARD. Seit Jahren geht es „Marienhof“ wie einem Marathonläufer, der bis Kilometer zwanzig an der Spitze läuft und dann nach hinten durchgereicht wird. Zwar haben auch Verbotene Liebe (ARD) und GZSZ (RTL) Zuschauer verloren, dafür gingen neue, zeitgemäßere Daily-

Formate auf Sendung, zum Beispiel Anna und die Liebe auf Sat.1, die „Marienhof“ die jungen Zuschauer weggenommen hat. Es ist wie bei den Handyanbietern: Die Konkurrenz ist größer geworden. 1992 gab es drei Daily Soaps im deutschen Fernsehen, heute sind es elf. „Trotzdem“, sagt Lüder, „bin ich sicher, wir hätten den ‚Marienhof‘ retten können, wenn man uns ein paar Monate mehr gegeben hätte.“ 12. Februar 2011 Am Morgen nach der letzten Klappe fangen Arbeiter an, die Halle 4 / 5 auf dem Bavaria-Gelände leer zu räumen. Die legendäre Halle 4 / 5, in der Teile von „Das Boot“, „Die Unendliche Geschichte“ und zuletzt „Marienhof“ gedreht wurden. In zwei Wochen muss alles weg sein, dann zieht mit „Sturm der Liebe“ die nächste Serie ein. Von heute an fahren stündlich 7,5-Tonner von der Halle zum Fundus. Dort wird jedes Requisit eingelagert und katalogisiert, Schreibtischlampen, Sofasessel, ein Räucherstäbchenständer, mehrere Modellautos und eine versteinerte Schnecke. „So eine Abwicklung ist kompliziert“, sagt Charly Hofmann, der vom ersten Tag an für die Drehplanung zuständig war: „Erst müssen die 600 Deckenlampen raus, dann die

TROSTPFLASTER FÜR „MARIENHOF“-FANS Die beliebtesten Songs aus 18 Jahren „Marienhof“ Mehr als 100 000 „Marienhof“-Fans haben die 20 beliebtesten Songs aus zwei Jahrzehnten „Marienhof“ gewählt. Jetzt hat Bavaria Sonor diese Titel in einer außergewöhnlichen Zusammenstellung auf einer CD vereint. Selbstverständlich ist auf dem Sampler auch der Song von „S.O.S.“ dabei, der den Beginn jeder „Marienhof“-Episode einstimmte. „Marienhof – Deine Songs“ ist im einschlägigen Musik-Handel und im ARD-Video Shop (www.ardvideo.de) erhältlich. Die ersten 50 Folgen der Daily Soap auf DVD „Es wird viel passieren …“. Mit diesen Worten des Titelsongs startete der „Marienhof“ am 2. Januar 1995 als Daily Soap im Vorabendprogramm der ARD. Als Trostpflaster für alle Fans, die ihre Lieblingsserie rund um die Geschehnisse im fiktiven Kölner Stadtteil und dessen Bewohner vermissen werden, veröffentlichte Diamant Video die ersten 50 Folgen des täglichen „Marienhof“-Formats auf fünf DVDs. Dies ist die erste „Marienhof“-DVDCollection überhaupt. Lizenzgeber ist die Bavaria Media. (mac)


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