Fazit 166

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Fazitportrait

Ein Neubezug ist auch von der Nachhaltigkeit her sinnvoll. Gerhard Kaufmann

kal mit Schauraum und modernem Büro war damals noch nicht notwendig. Das kam erst 1989 direkt im Nebenhaus auf Hausnummer 23 dazu, als mit Erich jun. und Gerhard die zweite Generation übernahm. Gerhard Kaufmann (60) ist seit mittlerweile elf Jahren Landesinnungsmeister der Tapezierer und gehört zu den Allroundern in seiner Branche. Das heißt, er hat sich nicht auf ein Teilgebiet seines Metiers spezialisiert, sondern deckt die gesamte Bandbreite des Berufsbildes auch in der Praxis ab. Wer glaubt, dass ein Tapezierer nur Wände tapeziert, glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet, nur weil er so heißt. Als Raumausstatter im weiten Sinn des Wortes ist der Tapezierer auch für Böden und Teppiche zuständig sowie für Vorhänge und Karniesen. Aber auch für Beschattung, wenn auch nicht im observierenden Sinn, sondern vielmehr für Sonnenschutzvorrichtungen wie Markisen, Jalousien oder Innen- und Außenrollos. Das Hauptgeschäft im Hause Kaufmann ist aber die Tapezierung von Polstermöbeln, der schwierigsten Disziplin. Das alles bewältigt der Meister aber nicht allein. Nach dem Tod seines Bruders Erich wurde das Unternehmen in eine GmbH umgewandelt und mit Gerhards Sohn Michael (30) steht ihm schon seit fast zwölf Jahren ein weiterer Tapezierermeister zur Seite, während Tochter Martina (34) ihre betriebswirtschaftliche Ausbildung als geschäftsführende Gesellschafterin einbringt. Und Ehefrau Eva (56) trägt den Familienbetrieb schon seit mehr als 30 Jahren in der Administration und Buchhaltung mit. Neu beziehen statt neu kaufen Rund sechstausend Stoffe umfasst das Kaufmann‘sche Repertoire für den Bezug von Polstermöbeln. Es werden aber keineswegs nur alte Klassiker aus Barock-, Biedermeier- oder Jugendstilzeit zum Neubeziehen gebracht, etwa die Hälfte der Polstermöbel sind modern und zeitgenössisch. Gerhard Kaufmann: »Eine Möbelgarnitur von Rolf Benz etwa kostet gleich einmal 5.000 bis 6.000 Euro, ein Neubezug mit 2.500 bis 3.000 Euro hingegen aber nur die Hälfte. Das ist auch von der Nachhaltigkeit her sinnvoll.« Die Klientel des Tapezierers ist eher älter, manche Kunden werden schon seit 45 Jahren betreut. Grundsätzlich, so bestätigt Michael

76 /// FAZIT OKTOBER 2020

Kaufmann, wird heute mit Schaumstoffen gepolstert, aber speziell bei historischen Stücken kommt nach wie vor Rosshaar zum Einsatz, das den Vorteil hat, bei Kälte zu wärmen und bei Hitze zu kühlen. Tatsächlich gibt es heute aber nur mehr einen Bezugstoff, das sogenannte Gradl, das rosshaardicht ist. Früher verwendete man eine 18 Zentimeter starke Rosshaarschicht, heute nur mehr eine zwei bis drei Zentimeter dicke als Pikierung auf dem Latex. Darüber kommt aber noch eine Watteschicht, damit das Rosshaar nicht durchsticht. So ist auch ein nicht-rosshaardichtes Gradl verwendbar.

Die Vorhangfrage Den Anteil von Polstermöbelaufträgen für sein Unternehmen schätzt Kaufmann auf 60 Prozent, dann folgen die Wände mit etwa 20 Prozent, Beschattung und Vorhänge sowie Böden mit jeweils 10 Prozent. Vorhänge sind insbesondere bei der Jugend gar nicht mehr gefragt. Und wenn, dann nur Stores, keine Seitenteile. Ob das irgendeine gesellschaftliche Bedeutung haben kann, ist eine interessante Frage. Bedeutet es mehr Offenheit im Sinne von Transparenz oder schlichte Freizügigkeit? Oder – so scherzt man etwa in Amsterdam, wo Vorhänge seit jeher unüblich sind – will man bloß den Nachbarn zeigen, dass man nichts zu verbergen hat? »Oder den Jungen geht das Geld aus, weil die Möbel so viel gekostet haben«, meint Gerhard Kaufmann. Auch bei den Böden hat sich einiges verändert. Zunächst wurde der Parkettboden vom Laminatboden abgelöst. »Der ist überhaupt nicht mehr gefragt«, weiß Kaufmann. Er hat sich als qualitativ nicht befriedigend herausgestellt und ist an den Stößen schnell unansehnlich. So wurde er durch den Designerboden aus Vinyl ersetzt, aber auch Klebeparkett wird gern verwendet. Auch Spannteppiche sind am ehesten noch in Hotels gefragt, im Wohnzimmer überwiegt der hohe, weiche, moderne Teppich. Perser sind im Übrigen total out und haben auch drastisch an Wert verloren. Dafür sind Tapeten komplett in, sprich gefragt. Aber nicht die Raufasertapeten unserer Jugend, werte ältere Leser, die man noch mit h geschrieben hat, sondern Eyecatcher mit auffälligen Motiven oder grellen Farben. Michael Kaufmann: »Heute werden zumeist nicht mehr ganze Räume austapeziert, sondern


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