Fazit 118

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Ist der Islam ein Integrationshindernis?

hungsweise »religiös« (Islam) determiniert verstanden werden. Religiosität und Areligiosität gelten als konstitutiv für Gesellschaft und Kultur. Außer Acht gerät dabei, dass Kultur ein komplexer Vorgang ist, in dem sich Normen und Werte in einem ständigen Aushandlungsprozess befinden, der zum Wandel derselben führt. Dies gilt insbesondere für Migrantenkulturen. Kultur ist ein dynamischer Prozess, der geprägt ist von Bedeutungswandel, Hybriditäten sowie Überschneidungen mit und Übernahmen von Elementen weiterer Kulturen. Scharia als Gottesgesetz?

Hier herrscht offensichtlich ein Verständnis von »Scharia« als gottgegebenes Gesetz und von Menschen unveränderbarem Recht vor. Das ist irreführend, denn die Gleichsetzung von »Scharia« mit »Islamischem Recht« stellt eine Bedeutungsverengung dar.

»Sind Islam und die Scharia, das islamische ‚Rechtssystem‘, in Übereinstimmung zu bringen mit Demokratie, Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Pluralismus und, dies der Kernpunkt überhaupt, mit der Gleichstellung der Geschlechter?«, fragt beispielsweise ein renommierter Publizist. [4] Bei diesem Ansatz wird die »Scharia« als eine Ordnung verstanden, auf die jegliche Form von abweichendem Verhalten von Muslimen zurückzuführen ist. Sie gilt als normatives System, das zur Erklärung von Kriminalität und Gewaltverbrechen, Unterdrückung von Frauen und jeglichem politischen und sozialen Verhalten herangezogen wird und das dieser Auffassung nach in seiner Entwicklungsstufe im »Mittelalter« beziehungsweise in der »Vormoderne« stehengeblieben ist. So beschreibt auch eine weitere Publizistin muslimische Gemeinschaften als »Kollektive«, die »Geboten und Verboten« unterliegen, die »letztlich Gottes Wille sind«. [5] Türkei- und arabischstämmige Einwanderer missachteten deswegen die Gesetze der Demokratie, denn sie gingen davon aus, dass »Gott selbst der Gesetzgeber ist, dass seine im Koran niedergelegten Offenbarungen Gesetzeskraft habe und es keinen ‚säkularen‘ Lebensbereich gibt«. [6]

Hier herrscht offensichtlich ein Verständnis von »Scharia« als gottgegebenes Gesetz und von Menschen unveränderbarem Recht vor. Das ist irreführend, denn die Gleichsetzung von »Scharia« mit »Islamischem Recht« stellt eine Bedeutungsverengung dar. Scharia bezeichnet zunächst nur die Gesamtheit der Ge- und Verbote, die durch den Koran und die Prophetentraditionen (Hadithe) offenbart wurden. [7] Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe betont: »Die Scharia ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern ein höchst komplexes System von Normen und Regeln dafür, wie Normen aufgefunden und interpretiert werden können. (...) Islamisches Recht (...), aber auch der Umgang mit religiösen Normen beruhen auf sekundärer Findung durch Auslegung und Schlussfolgerung, also auf menschlicher Denkkunst.« [8] Die Scharia ist demnach kein kodifiziertes Recht, das sich etwa an einen weltlichen Vollstrecker dieser Gebote richtet. Das Islamische Recht wiederum ist nicht »Gottesgesetz«, sondern ein von religiösen Quellen abgeleitetes, menschengemachtes Recht - und damit veränderbar. Gewalt »im Namen des Islams«

52 /// FAZIT DEZEMBER 2015

Ausgelöst von medialen Bildern gewalttätiger Ereignisse im Namen des Islams, hat sich in den ineinander fließenden öffentlichen Debatten um Integration und Islamkritik die Vorstellung vom Islam als einer zur Gewalt aufrufenden Religion verfestigt. Eng damit verwoben ist die Assoziation von Islam und Zwang: »Zwangsheirat«, Zwang im Glauben und Zwang in der Glaubenspraxis gehören hier zu den Assoziationsfeldern. Im deutschen Kontext häuft sich der Verweis auf Gewaltdelikte gegenüber Frauen, man spricht von »Ehrenmorden«. Unabhängig von einem hypothetischen Gewaltpotenzial des Islams - Stichwort Dschihad oder koranisches Strafrecht - und der tatsächlichen Gewalttätigkeit von Muslimen, werden in der Debatte diesbezüglich theologische, islamrechtliche und soziologische Fragen vermischt. Denn bei genauerem Hinsehen lassen sich weder Ehrenmorde noch Genitalverstümmelung noch häusliche Gewalt islamisch legitimieren. [9] Eine Repräsentativuntersuchung zur Gewalterfahrung von Frauen innerhalb und außerhalb


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