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Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft Seite
Über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft
Beide verstecken sich gelegentlich gern hintereinander, besonders dann, wenn es wie in der Pandemie um schwierige Entscheidungen geht
Wie verhält es sich mit der Verantwortung der Wissenscha gegenüber der Politik und jener der Politik gegenüber der Wissenscha ? Wissenscha muss Expertise einbringen, informieren, Lösungen vorschlagen, Kritikfähigkeit bewahren – aber die Politik entscheidet. Es gilt, praxisnahe Politikberatung und den Kern von Werturteilsfreiheit zu vereinen. Wenn Politik nicht dumm ist, wird sie die ausreichende Finanzierung des Wissenscha ssystems sichern, beratungswillig sein, Expert*innen respektieren, evidenzbasierte Politik betreiben. Wissenscha svermittlung ist für eine diskursive Demokratie vonnöten. Doch so sauber lässt sich die Welt nicht sortieren. Also beschä igen wir uns mit den Grauzonen dieser Verhältnisse.
Wirklichkeitswissen. Über die Komplexität der modernen Welt müssen wir nicht räsonieren: ein selbstverständlicher Befund. Somit braucht jede Politik Wissenscha , Erkenntnis, Expertise. Entwicklung von Impfstoffen? Energiespeichervorrat für den nächsten Herbst? Wirtscha liche Folgen russischer Sanktionierung? Ist die westliche Demokratie am Ende? Die Wissenscha kann Fakten sammeln, analysieren, interpretieren. Aber es sind nicht nur Fakten: Denn entscheidend ist es, aus den einzelnen Fakten ein Bild zu entwickeln, ein Muster, einen Zusammenhang. Damit man sieht, was man sieht. Mit dem Material allein könnte man nichts anfangen. Aber das Bild hat Elemente der Konstruktion, die von den Wissenscha ler*innen eingebracht werden. Die einfache Zweiteilung „Wissenscha liefert objektive Fakten, die Politik entscheidet auf dieser Grundlage wertbezogen“ ist bloß eine Simpelversion.
Wahrscheinlichkeiten. Politik und Öffentlichkeit haben o ein irreales Bild der Wissenscha : Diese möge „Wahrheit“ liefern, Gewissheit – oder das Ganze ist unglaubwürdig. Aber erstens ist Wissenscha immer falsifizierbar, also vorläufig gültig. Sie operiert zweitens o mit Wahrscheinlichkeiten statt mit Sicherheiten. Es gibt Grade der Verlässlichkeit: Manches wissen wir so gut wie sicher, anderes ist trotz mancher Unsicherheit praktisch verwendbar, in einigen Fällen kommen wir kaum über abgewogene Spekulation hinaus. Es gibt drittens gerade bei bislang unbekannten Sachverhalten wie einem neuen Virus eine ständige, von laufenden Befunden modifizierte Wissensentwicklung. Dann schaut die Sache drei Monate später anders aus – und man muss revidieren. Doch
TEXT: MANFRED PRISCHING
MANFRED PRISCHING
Manfred Prisching ist Professor für Soziologie an der Universität Graz www.manfredprisching.com
Wahrscheinlichkeitskompetenz ist weder in der Politik noch beim Publikum ausgeprägt.
Öffentlichkeit. Es wird Aufgabe der Wissenscha sein, insbesondere die Risiken von Natur, Mensch und Gesellscha , die man erforscht hat, dem Publikum zu kommunizieren. Public Science hat an Reputation gewonnen. Aber wie muss man wissenscha liche Erkenntnisse vereinfachen, kontextualisieren, übersetzen, sodass das wichtige Substrat tatsächlich bei Bevölkerung und Politik ankommt? Wo ist das Optimum zwischen Komplexitätsbewahrung und Verständlichmachung? Universitäten bewegen sich (in ihrer Verlegenheit) o in Richtung auf Show-Veranstaltungen, ganz angemessen einer medial geprägten und entertainigen Kommunikationsgesellscha .
Finanzierung. Wissenscha braucht Geld, ebenso einen passenden rechtlichen Rahmen, in dem Kreativität und Innovation gedeihen können. Die Steuerung der Wissenscha erfolgt immer stärker durch „Projektismus“: Man schafft inhaltlich definierte Finanzierungstöpfe, für die man sich bewerben kann. Deshalb gibt es zunehmend kein Betreiben von Wissenscha ohne Projekt. In die Projektprogramme fließen politische (o alltäglich-modische) Zielsetzungen ein, sie stehen manchmal in Spannung zu wissenscha simmanenten Fragestellungen. O geht es bloß um politisch attraktive und massenwirksame Etiketten. Immer mehr Geld kommt von der Wirtscha : Jene Teile der Universitäten wachsen, die als (kostengünstig) ausgelagerte Forschungslabors von Industriebetrieben eingestu werden können.
Wissenschaftsdifferenzierung. Seinerzeit sorgte man für die erforderlichen Professionist*innen, wie sie in den klassischen Fakultäten abgebildet worden sind (Juristen als Sachwalter von Recht und Staat, Mediziner für Menschen und ihre Körper, Theologen für den diesseitigen Kirchenbetrieb und das jenseitige Wohlergehen). Die Philosophische Fakultät war das restliche Alles. Mittlerweile haben sich die Disziplinen differenziert und spezialisiert. Wir haben es mit dem Aufstieg der unterschiedlichsten NAWI-Fächer zu tun, von der Physik bis zur Materialwissenscha , von der Chemie über die Informatik bis zu den biologischen Disziplinen. Neuerdings hat die Öffentlichkeit gelernt, dass es so etwas wie Virolog*innen, ja sogar Komplexitätsforscher*innen gibt. Ein paar Monate später sucht man Expert*innen für Militärforschung. Man könnte lernen, dass es fallweise gut ist, Expert*innen „vorrätig“ zu haben, auch wenn man sie im Normalbetrieb nicht zu brauchen glaubt.
Hyperspezialisierung. Es gibt immer mehr Differenzierung, Arbeitsteilung, Spezialwissen; aber wie bekommt man die Wissenspartikel wieder zusammen? Teambildung gelingt offenbar nur in der naturwissenscha lich-technisch-medizinischen Welt. Ansonsten redet man (etwa auf interdisziplinären Konferenzen) aneinander vorbei. Die Humanities (die Geistes- und Sozialwissenschaften) sind ohnehin in der Krise. Einer der Auswege ist „Nanoexpertentum“: Man wird zur Spezialist*in für die Interpretation des unbekannten Literaten X durch den unbekannten Philosophen Y. Das ist Revierabgrenzung, folgt aber auch der Prämisse, dass alles, was wissenscha lich erforscht werden kann, die wissenscha liche Erforschung verdient. Unverständnis dafür wird der Politik als Versagen zugeschrieben. Vielleicht versteht es die Politik aber sehr wohl.
Ideologisierung. Da desorientierte Geistes- und Sozialwissenscha en den Eindruck vermeiden wollen, dass sie den Menschen nichts Lebensdienliches anzubieten hätten, haben sich manche auf Moralisierung und Indoktrinierung spezialisiert, was besonders bei heranwachsenden Personen, die eine gewisse Formbarkeit aufweisen, nachweisliche Effekte zeitigt. Viele Wissenscha ler*innen wollen an jeder gesellscha lichen Entrüstung ihren Anteil haben. Was bei den Normalmenschen Emotion heißt, nennen sie für sich selbst „Kritik“. Diese Neigung lässt sich politisch instrumentalisieren. Und manche freuen sich über ihre Instrumentalisierung.
Versteckspiel. Die Politik versteckt sich gern hinter der Wissenscha : Die Expert*innen haben gesagt … Die Maßnahme ist alternativlos … Es besteht deshalb der Anreiz, auf Ergebnisse der Wissenscha Einfluss zu nehmen. Schließlich will man bei einer Pressekonferenz von der Wissenscha bestärkt, nicht demontiert werden. Aber auch die Wissenscha versteckt sich gern hinter der Politik: Wir könnten ja, wenn man uns nur ließe ... Es wird jede Krise genutzt, um mehr Geld aus dem Staatsbudget zu fordern. Und ein Teil des Publikums hält Personen aus Wissenscha , Politik, Medien und Management ohnehin für eine korrupte Einheitselite. Leute mit solcher Konspirationsmentalität haben kein Problem mit dem Verhältnis von Politik und Wissenscha .
Max (20 Monate) kam wegen Geburtskomplikationen per Kaiserschnitt auf die Welt. Er ist gegen Pneumokokken, Masern, Mumps, Röteln, Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b und Hepatitis B geimp . Er liebt Bücher, Flugzeuge und Spielplätze
Public Science für Vertrauensurteile
Herr Bromme, was versteht man unter dem Begriff Public Science? Rainer Bromme: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Im Kern geht es darum, den Wissenscha sprozess für Außenstehende transparenter zu machen. Das kann einerseits bedeuten, dass Daten möglichst früh – eigentlich noch während der laufenden Forschung – für andere Wissenscha lerinnen und Wissenscha ler frei zugänglich gemacht werden. Das wiederum gehört zu dem, was man als Open Science bezeichnet.
Andererseits versteht man darunter das Bestreben, den gesamten wissenscha lichen Erkenntnisprozess auch für Bürgerinnen und Bürger transparenter und auch für ihr Engagement zugänglich zu machen: die publizierten Ergebnisse, den Weg dorthin, aber auch Rückschläge und Irrwege im Forschungsprozess.
Eine Variante von Public Science wird als Citizen Science bezeichnet. Bürgerinnen und Bürger nehmen selbst am Wissenscha sprozess teil, sammeln zum Beispiel Daten für ein Forschungsprojekt oder führen Messungen durch. Die Partizipation beschränkt sich dabei nicht nur auf das Zusammentragen von Informationen, auch persönliche Erfahrungen und Interessen sind gefragt, etwa bei der Formulierung von Forschungsfragen. Auf diese Weise soll mehr Verständnis für den Wissenscha sprozess geschaffen werden.
Diese Art der Heranführung eignet sich nur für bestimmte Disziplinen und Themen. Vogelbeobachtungen sind da ein gutes Beispiel, ein anderes Beispiel ist die Gesundheitsforschung, die sich mit persönlichen Krankheitserfahrungen befasst. Allerdings hat nicht jeder Mensch die Zeit und die Bildungsvoraussetzungen, um an wissenscha lichen Projekten auf eine Weise partizipieren zu können, die dem ähnelt, was Wissenscha lerinnen und Wissenscha ler in ihren Projekten tun. Wenn jedoch die Bürgerinnen und Bürger nicht aktiv am Forschungsprozess mitwirken, dann handelt es sich eher um „Wissenscha zum Anfassen“, ähnlich wie bei Vorführungen in Wissenscha smuseen oder sogenannten „Gläsernen Laboren“.
Wissenscha arbeitet o mit sehr komplexen und auch abstrakten, formalen Modellen – das gilt beispielsweise für die Epidemiologie genauso wie für die Wirtscha swissenscha en. Angesichts der Spezialisierung, die dafür nötig ist, geht es hier letztlich um die Frage, ob man Public
TEXT: CLAUDIA STIEGLECKER
„Public Science sollte dazu beitragen, dass möglichst viele Verständnis über die Arbeitsweisen von Wissenschaft erlangen und auf diese Weise ein informiertes Vertrauensurteil fällen können“
RAINER BROMME
Rainer Bromme ist Seniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster
Science so versteht, dass man die Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Wissenscha lerinnen und Wissenscha lern und Bürgerinnen und Bürgern, die ja keine Experten sind, au ebt. Oder aber, ob man Formen des Engagements entwickeln kann, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Arbeitsteilung zwischen spezialisierter Wissenscha und den Bürgern eigentlich der Regelfall ist.
Welche Art der aktiven Einbeziehung wäre denn ein gutes Mittel, um Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken? Bromme: Um diese Frage zu beantworten, muss man untersuchen, warum sich Bürgerinnen und Bürger überhaupt für Wissenscha interessieren und wann sich Vertrauensfragen überhaupt stellen. Aus empirischen Studien wissen wir, dass das Interesse an Wissenscha eng mit Erwartungen an Beiträgen zur Lösung individueller und gesellscha licher Probleme verbunden ist. Die Corona-Pandemie ist da ein gutes Beispiel. In solchen Zusammenhängen ist es besonders wichtig, dass Wissenscha lerinnen und Wissenscha ler möglichst transparent machen, was sie mit welchem Ziel erforschen, welche Fragen sie derzeit oder aber demnächst beantworten können, und auch, was sie nicht wissen. In die Forschung gehen auch Wertentscheidungen ein, etwa bei der Themenwahl. Gleichfalls dann, wenn man im Forschungsprozess darüber entscheiden muss, wie viel Evidenz man benötigt, um eine Hypothese zu akzeptieren. Auch darüber sollte Wissenscha Transparenz herstellen. Denken Sie zum Beispiel an die methodischen Fragen rund um die Messung der Krankheitslast durch Corona, die dann für politische Entscheidungen über Lockdownmaßnahmen relevant waren.
Vertrauen wird erst dann ausschlaggebend, wenn eine Kontroverse existiert, aus der unterschiedliche Handlungsmuster folgen und man daher entscheiden muss, welche Seite recht hat. Das können Widersprüche in der Wissenscha sein, die sich daraus ergeben, dass wissenscha liche Ergebnisse durch neue Erkenntnisse revidiert werden. Es können aber auch Widersprüche und Konflikte sein, wenn wissenscha liche Ergebnisse eigenen Überzeugungen widersprechen. Oder aber Widersprüche zwischen pseudowissenscha lichen und wissenscha lichen Aussagen. Die Debatten mit Impfgegnerinnen und Impfgegnern während der Corona -Pandemie haben dafür viele Beispiele geliefert.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel? Bromme: Nehmen wir die Frage, ob mRNA-Impfstoffe langfristig Schäden verursachen können. Es gibt gute wissenscha liche Argumente, dass dies nicht der Fall ist, und durch gute Wissenscha skommunikation kann man das auch erklären. Wenn aber jemand mit pseudowissenscha lichen Argumenten dagegen au ritt, wird es für Bürgerinnen und Bürger schwierig, auf Basis des eigenen Verständnisses über Impfstoffwirkungen und speziell über mRNA zu entscheiden, wer in der Sache recht hat. Dann muss man eher beurteilen, wem man eigentlich vertraut.
Wie kommen Vertrauensurteile zustande? Bromme: Um zu beurteilen, ob wir jemand vertrauen, orientieren wir uns im Alltag an drei Dimensionen: An Hinweisen in Bezug auf die Fähigkeit, dann auf die Integrität und schließlich die Absichten – all das immer mit Bezug auf die jeweilige Frage, um die es beim Vertrauen geht. Also konkret: Hat die Wissenscha lerin, die angibt, mRNA-Impfstoffe seien nicht gefährlich, die nötige Expertise, um das überhaupt beurteilen zu können, hält sie sich bei ihrem Urteil an die Regeln ihres Fachs und hat sie das Wohlergehen der Öffentlichkeit dabei im Blick? Empirisch lässt sich zeigen, dass diese drei Dimensionen unterschiedlich stark gewichtet werden: Beim Vertrauen geht es vor allem um die Expertise, gibt es Indizien für Misstrauen, werden Integrität und Benevolenz stark gewertet.
Auf welche Weise kann nun Wissenschaftsvertrauen geschaffen werden? Bromme: Diese drei Dimensionen bieten eine gute Heuristik, um Ihre Frage zu beantworten. Informationen zum Wissenscha sprozess können sich zum Beispiel positiv auf die Integritätsebene auswirken: das Kommunizieren über Studien, das Begründen der Vorgangsweise und Erklären wissenscha licher Ergebnisse.
Im Alltag wird Vertrauen häufig mit einem intuitiven und nicht mit einem rationalen, wissensbasierten Urteil gleichgesetzt. Im Kontrast dazu ist aber zu betonen, dass es auch „informiertes Vertrauen“ gibt, das auf Wissen und rationalen Schlussfolgerungen basiert. Public Science sollte dazu beitragen, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger Wissen und Verständnis über die Arbeitsweisen von Wissenscha erlangen und auf diese Weise ein „informiertes Vertrauensurteil“ fällen können.

Mario (38) geriet 2012 bei der Arbeit in eine Maschine, die ihm seine linke Hand zerstörte. Ein Jahr lang versuchte man seine Hand zu retten, bis er sich unter der Betreuung von Oskar Aßmann im Wiener AKH für eine bionische Prothese entschied. Die funktionsunfähige und schmerzende Hand wurde amputiert. Seitdem kann er wieder alles machen, „nur halt ein bissl anders“. Er arbeitet weiterhin als Installateur und ist begeisterter Mountainbiker
Gesellschaftlich verantwortliche Hochschulen
Die Bedeutung von „Third Mission“ im akademischen Bereich und warum ihr Stellenwert in Zukun immer höher werden wird
Vor zehn Jahren bewarb sich das deutsche gemeinnützige CHE Centrum für Hochschulentwicklung beim deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) um Fördermittel für das Projekt FIFTH. Darin ging es um Facetten und Indikatoren für Forschung und „Third Mission“ an Hochschulen für angewandte Wissenscha en. Damals war Third Mission noch ein recht unbekanntes und unbedeutendes Thema im DACH-Raum. Heute ist das anders: So stand der April-Workshop der Österreichischen Forschungsgemeinscha ÖFG unter dem Titel: „Die dritte Mission von Universitäten: Transfer und Wissensaustausch mit der Gesellscha “ – und ich dur e als Referentin in das Thema einführen.
Den Begriff Third Mission gibt es seit rund vierzig Jahren. Damals entwickelte sich ein Bewusstsein, dass die Leistungen von Hochschulen weit über ihre Kernmissionen „Lehre und Forschung“ hinausgehen: Sie inkludieren etwa Weiterbildung, Technologietransfer, Wissenstransfer, soziales oder gesellscha liches Engagement. Sie setzen sich für Demokratisierung und gesellscha lichen Wandel ein, bieten Kinderuniversitäten und Kulturangebote in Form von Konzerten des Uni-Orchesters und Ausstellungen. Eine Hochschule im Osten Deutschlands unterhält sogar eine Feuerwehr, weil es in der Region keine gibt.
Diese ganzen Aktivitäten und Engagements sind im Begriff Third Mission gebündelt. Third Mission sind somit die Aktivitäten, Resultate und daraus entstehende Folgen, die von Hochschulen unmittelbar in die Gesellscha und Wirtscha hineinwirken – im Idealfall sogar zu gesellscha lichen Weiterentwicklungen führen, sowie Strömungen aus der Wirtscha und Gesellscha , die ihrerseits in die Hochschulen hineinwirken.
Was, fragten Wissenscha ler*innen, ist Third Mission?
Bis vor relativ kurzer Zeit waren nicht sehr viele Menschen im universitären Bereich mit dem Begriff „Third Mission“ vertraut. Als wir 2014 in unserem Projekt Professor*innen die Frage stellten: „Was machen Sie im Bereich Third Mission?“, bekamen wir meistens riesengroße Fragezeichen als Antwort. Sie kannten den Begriff nicht. Als ich den Zugang änderte und fragte: „Was machen Sie den ganzen Tag?“, sah ich keine Fragezeichen, sondern fast beleidigte Gesichter.
TEXT: ISABEL ROESSLER, BRUNO JASCHKE
ISABEL ROESSLER
Isabel Roessler ist Senior Projektmanagerin am CHE Centrum für Hochschulentwicklung in Gütersloh mit den Arbeitsschwerpunkten Third Mission, Transfer und Hochschulentwicklung
Dann sprudelten die Interviewten los: „Ich bin in der Kinderuniversität.“ „Ich habe ein umfassendes Netzwerk aus Kitas aufgebaut und erkläre die wichtigsten Faktoren frühkindlicher Bildung.“ „Ich habe den deutschen Weiterbildungspreis gewonnen.“ Hinterher habe ich ihnen gesagt: „Sie machen viel Third Mission.“ Jahre später kam eine Professorin auf mich zu und bedankte sich, weil wir ihr für das, was sie tut, einen Begriff gegeben haben. Mit diesem Begriff konnte sie zu ihrem Hochschulrektor gehen und sagen „Ich lehre nicht viel, ich forsche nicht viel, aber ich mache Third Mission, und das ist ebenso viel wert!“
Third-Mission-Aktivitäten sind weltweit unterschiedlich. In Lateinamerika sind Third-Mission-Aktivitäten vor allem auch Demokratisierungs- und TeilhabeAktivitäten, während sie im DACH-Raum viel stärker im Zeichen des Wissenstransfers stehen. Neben großräumigen regionalen Unterschieden gibt es aber auch Unterschiede auf regionaler Ebene: Eine kleine Hochschule im ländlichen Raum hat o gar nicht die Möglichkeit, mit Industriepartnern zu kooperieren, weil es diese schlicht nicht gibt. Da richtet sich der Fokus dann auf zivilgesellscha liche Partner.
Third-Mission-Aktivitäten brauchen Personal
Vielfach wird Third Mission mit Transfer gleichgesetzt. Third Mission ist aber viel breiter. In unseren Projekten greifen wir die Breite auf und zeigen: Für Third Mission bedarf es Vorbedingungen. Man braucht Personal, das das überhaupt kann, man braucht Geld. Eine Hochschulleitung, die es den Wissenscha ler*innen ermöglicht, mehr zu machen als Forschung und Lehre. Dann haben wir die Aktivitäten, die realisiert werden. Der Transfer kommt hinzu und in der Folge habe ich Resultate. Das ist auch die Wissenscha skommunikation: Wissenscha liche Erkenntnisse so au ereiten, dass sie zum Beispiel auch medial an andere Zielgruppen als die wissenscha liche Community adressiert werden kann. Aus diesen Resultaten entstehen Folgen. Nämlich dann, wenn sich etwas verändert.
Beispielsweise wurde von einer Hochschule eine App entwickelt, mit der demenzkranke Personen mit ihren Angehörigen kommunizieren können. Dadurch verändert sich der Umgang miteinander erheblich. Die App führt zu einer sogenannten Sozialen Innovation, einer Innovation, die das Handeln und die Praxis in einer bestimmten Gruppe von Menschen verändert. Soziale Innovationen gehören für uns ebenfalls zu Third Mission. Doch sie werden immer noch nicht ausreichend wertgeschätzt. Als Folge gilt die wissenscha liche Publikation vielen Forschenden noch immer als höchstes Gut.
Um das zu ändern, muss sich in der Einstellung etwas ändern – seitens der Einzelnen, aber auch seitens der Hochschulleitungen. Es ist eine Frage der Wertschätzung, Anerkennung und Wahrnehmung, Third Mission wirklich zu einer dritten Mission neben Lehre und Forschung zu machen.
In Deutschland haben wir die leistungsorientierte Mittelvergabe, in die verschiedene Indikatoren eingerechnet werden, also zum Beispiel wissenscha liche Publikationen, Zitationen, Promotionen, Drittmittel, die eingeworben wurden. Das sind Standard-Parameter. Nicht aber zum Beispiel: Wie viele Messen wurden besucht? Auf wie vielen Veranstaltungen von Praktikern wurde referiert? Oder wie viele Zeitungsartikel wurden publiziert? Das spielte im Regelfall keine Rolle. In Österreich ist es etwas anders, weil Aktivitäten im Third-Mission-Bereich auch in den offiziellen Dokumenten nachgefragt werden: in den Wissensbilanzen, den Leistungsvereinbarungen und Entwicklungsplänen.
Stark in Richtung Third Mission profilieren sich die Hochschulen für angewandte Wissenscha en respektive die Fachhochschulen. Sie haben verstanden: Man kann sich auch ein Profil au auen, indem man viel Transfer oder viel Weiterbildung macht. In Deutschland wird seit einigen Jahren über das Förderprogramm „Innovative Hochschule“, grundsätzlich ein reines Third-Mission-Projekt, eine große Menge Geld, nämlich 550 Millionen Euro, in die Hochschulen für angewandte Wissenscha en gesteckt. Insbesondere Transferaktivitäten stehen hier im Fokus. Darüber hinaus fordert das BMBF seit Neuestem bei sämtlichen Projekten aktive Wissenscha skommunikation als Bestandteil eines Projekts ein. Das ist eine indirekte Förderung, sprich: Dir wird das Projekt nur bewilligt, wenn du auch Wissenscha skommunikation betreibst und damit eine Facette der Third Mission bedienst. Mit diesen Maßnahmen hat Third Mission in Deutschland einen starken Schub erhalten: Wenn viel Geld im Raum steht, interessieren sich auf einmal sehr viele Leute dafür, was Third Mission bedeutet – und möchten es selber „machen“.
