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Operation Kuhstall Ein seltsames Paar: Katja Kettu erzählt in „Wildauge“ von einer finnischen Hebamme, die für einen Nazioffizier entflammt
der Sowjetunion angegriffen, weil es sich geweigert hatte, Gebiete im Norden freiwillig abzutreten. Im Friedensvertrag von Moskau erreichten die Sowjets ihre Ziele großteils und bekamen u.a. Wyborg, Finnlands zweitgrößte Stadt. Als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion angriff, trat Finnland zusammen mit Deutschland wieder in den Krieg ein. Die finnische Armee eroberte die verlorenen Gebiete zurück und drang zeitweise sogar weiter vor. 1944 drohte jedoch eine erneute sowjetische Besatzung. Man gab die 1940 verlorenen Gebiete ein zweites Mal ab. Gleichzeitig verpflichtete man sich, die deutschen Truppen zu vertreiben, was zum finnischdeutschen Lapplandkrieg führte. Große Teile Lapplands wurden dabei zerstört. Die Literatur hat sich bis vor kurzem nicht mit
diesem Kapitel der finnischen Geschichte beschäftigt. Erst die Enkelgeneration greift das Thema auf. Die ersten Romane, die vor diesem Hintergrund angesiedelt sind, erschienen 2011/12, dann waren es jedoch gleich vier innerhalb kurzer Zeit. Einer davon ist Katja Kettus jetzt auch auf Deutsch erschienenes Buch „Wildauge“. Es spielt in Lappland in den Wirren zwischen deutsch-finnischer Kollaboration und sowjetischem Sieg im Sommer und Herbst 1944. Die Idee zu dem Roman geht zurück auf Briefe von Kettus Großmutter, die aus
der Zeit stammen. Sie gaben allerdings nur den Anstoß, manches in dem Roman geht zwar auf historische Fakten zurück, aber die Geschichte ist eine erfundene. Heldin und über weite Strecken auch Erzählerin ist die Frau, die dem Buch den Titel gegeben hat. „Wildauge“, so nennen die Dorfbewohner ihre Hebamme, weil ihr Blick so wild ist wie der eines Tieres. Man begegnet ihr im Dorf mit Respekt, denn sie ist eine großartige Hebamme, die stets instinktiv zu wissen scheint, was zu tun ist, aber auch mit Distanz, weil sie den Menschen seltsam und einzelgängerisch erscheint. Eines unterscheidet sie auf jeden Fall von ihrer Klientel: Sie ist mit Mitte 30 noch Jungfrau. Erst als sie den Nazioffizier und begeisterten Fotografen Johannes erblickt, wird Wildauge zum sexuellen Wesen. Diesen Mann will sie haben. Und sie bekommt ihn – wenn auch nicht für lang: Nach ein paar rauschhaften Wochen ruft ihn die Pflicht wieder. Zurück im Gefangenenlager, in dem er ein hohes Tier ist, entfernt er sich von ihr – bis sie die Kriegswirren ganz trennen. Was in der Nacherzählung ein wenig nach Kriegsschnulze klingt, ist in Wahrheit harter Stoff. Kettu bedient sich einer Sprache, die weder vor poetischen Höhenflügen (oft kurz vor der Bruchlandung) noch vor der Gosse und dem Dreck des Krieges zurückschreckt: Schwänze, Mösen, Blut, bestialischer Gestank – alles in Hülle und Fülle vorhanden.
„Schwänze, Mösen, Blut, bestialischer Gestank – alles in Hülle und Fülle vorhanden“
Besonders drastisch fallen die Schilderungen der „Operation Kuhstall“ aus. Weibliche Gefangene werden da von Wärtern des Lagers nach Lust und Laune vergewaltigt und missbraucht. Die Abtreibungen nimmt „Wildauge“ vor, die Föten sammelt der Leiter der Operation ein. Dieser ist ein alter Freund von Johannes, wobei zwischen den beiden seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Ukraine, an die Johannes sich partout nicht mehr erinnern können will, eine merkwürdige Spannung herrscht. Der schwer traumatisierte Johannes ist die inte-
Katja Kettu: Wildauge. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Galiani Berlin, 416 S., € 20,60
ressanteste Figur im Buch. Ein paar Kapitel lässt Kettu auch ihn erzählen, was gut ist, weil es ihn als Figur verständlicher macht und seine Schwächen zeigt, die Wildauge in ihrer Liebe nicht sieht. In ihren Schilderungen hingegen entsteht fast der Eindruck, der Zweite Weltkrieg muss eine einzige große Orgie gewesen sein – unterbrochen von ein bisschen Töten und dem anschließenden Vergraben der Leichen. Die Übersetzerin Angela Plöger beschreibt in ihrem „Lapplandkrieg und Wörterschlacht“ betitelten Nachwort, wie kompliziert sich die Arbeit an dem Buch gestaltete. Katja Kettu streut in ihren Roman Wörter ein, die vor 200 Jahren einmal gebräuchlich waren, und prägt auch Neologismen. „Wildauge“ ist der beachtliche Kraftakt einer Autorin, die gern ihre sprachlichen Muskeln zeigt. Es steht ihr allerdings auch gut, wenn sie sich manchmal zurücknimmt. SEBASTIAN FASTHUBER
Illustr ation: peter diamond
innland im Zweiten Weltkrieg – darüF ber weiß man wenig bis nichts. Also: Im Winter 1939/40 wurde das Land von