DER CLEANER
MILTON REIHE
JOHN
PROLOG
Die Straße durch den Wald lag friedlich da, die sanfte Stille wurde untermalt vom Gurgeln eines Bergbachs und dem Zwitschern der Vögel im Laubdach der Bäume. Die Route Forestière Domaniale de la Combe d‘Ire war schmal und voller Schlaglöcher. An manchen Stellen war nur Platz für ein einzelnes Auto auf einmal. Immergrüne Fichtenwälder drängen sich zu beiden Seiten dicht heran und warfen ein feuchtes Zwielicht über die Straße, das die warme Sonne überall da zerstreute, wo die Bäume zurückgeschnitten worden waren. Das Massiv des Montagne de Charbon mit seinen dunstigen Hängen ragte über der Baumgrenze auf, Streifen von Fels und Geröll zogen sich durch die Vegetation. Die Straße folgte einer sorgsam angelegten Route an der Bergflanke hinauf; sie bog scharf nach links und wieder nach rechts und kehrte manchmal zu sich selbst zurück auf der Suche nach dem sichersten Weg nach oben. Sie kreuzte hin und her über den Bach, und die bucklige Brücke dort war aus uralten Backsteinen gebaut, die von den feuchten Flechten, die daran klebten, ebenso zusammengehalten wurden wie von dem langsam zerbröckelnden Mörtel. Die Brücke wölbte sich neben einer kleinen, eingefriedeten Fläche, die auf einer Tafel als Parkplatz ausgewiesen wurde, was die Wahrheit allerdings ein wenig strapazierte. Es war kaum mehr als eine in den Berg gesprengte Ausweichbucht, kaum groß genug, um Platz für vier Autos nebeneinander zu bieten.
Es war ein stilles, isoliertes Fleckchen, vor der Außenwelt fast so abgeschieden, als habe jemand eine Tür geschlossen.
Milton hatte seinen Renault dicht an der Bergwand geparkt. Es war ein unauffälliger Leihwagen, und genau deshalb hatte er ihn ausgesucht. Er war
rückwärts auf den Platz gefahren und hatte den Motor laufen lassen, als er ausgestiegen und zum Kofferraum gegangen war. Er schloss ihn auf, öffnete ihn und blickte hinunter auf das Bündel in dem kleinen Stauraum des Wagens. Er schlug die Ecken der Wolldecke zurück und legte das Sturmgewehr frei, das am Abend zuvor in dem toten Briefkasten hinterlegt worden war. Es war ein HK53-Karabiner mit integriertem Schalldämpfer, das Gewehr, das der SAS oft einsetzte, wenn Lautlosigkeit ebenso wichtig war wie Mannstoppwirkung. Milton hob das Gewehr aus dem Kofferraum und schob ein neues 25-Schuss-Magazin in den Schacht. Er klappte den Kolben aus, richtete die Waffe auf die Mitte der Straße und zielte. Als er sicher war, dass das Gewehr einwandfrei funktionierte, ging er zur Brücke und legte es ins Unterholz, wo es nicht zu sehen war.
Er hatte die Umgebung erkundet und kannte sie gut. In nördlicher Richtung führte die Straße irgendwann nach Saint-Jorioz, einem mittelgroßen Urlaubsort am Ufer des Lac d’Annecy. Südwärts ging es hinunter zu dem kleinen Dorf Chevaline. Das Dorf lebte von der Landwirtschaft, und im Nebenerwerb vermietete man malerische Bauernhäuser an Touristen, die zum Radfahren und Wandern herkamen. Milton hatte in den letzten drei Tagen in genau so einem Haus gewohnt. Er hatte die Zeit damit verbracht, die Gegend zu erforschen; früh morgens war er mit dem Fahrrad losgefahren und erst spät abends zurückgekehrt. Dabei hatte er sich unauffällig verhalten und war, von diesen Ausflügen abgesehen, die meiste Zeit im Haus geblieben. Er hörte den Motor des BMW lange, bevor er ihn sah. Er holte das Gewehr und schob sich hinter einen Eichenstamm. So war er von der Straße aus nicht zu sehen, konnte sie aber gut beobachten. Der weinrote Kombi fuhr im zweiten Gang; er hatte seine Mühe mit der Steigung der Straße. Er kam aus einer scharfen Rechtskurve, und die Scheinwerfer schnitten einen Weg durch die Dämmerung.
Der Wagen wurde langsamer und bog auf den Parkstreifen, wo der Renault stand. Milton hielt den Atem an, und sein Puls beschleunigte sich. Sein Zeigefinger schob sich unter den Abzugbügel. Der Fahrer parkte neben dem Renault und stellte den Motor ab. Milton hörte Musik aus dem BMW. Die Beifahrertür öffnete sich, und die gedämpfte Musik wurde lauter. Französischer Pop, austauschbar und harmlos. Der Beifahrer stiegt aus, beugte sich in den Wagen zurück und sprach in scharfem Ton hinein. Die Musik brach ab. Einen Moment lang hörte Milton nur das Knirschen der Schritte des Mannes auf dem Kies, das Rauschen des Wassers und den Wind
in den Bäumen. Er fasste das Gewehr fester und konzentrierte sich darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Die Fahrertür wurde geöffnet, und eine große, dunkelhäutige Frau stieg aus.
Milton erkannte sie beide. Der Beifahrer war Jehja Alonzo Moussa, und die Fahrerin hieß Samira Nadschib.
Er trat hinter der Eiche hervor, hob das HK53, schaltete auf Automatik und gab einen Feuerstoß ab. Die Kugeln trafen Najdschib in den Oberkörper und perforierten Leber und Lunge. Sie griff sich mit der Hand an die Brust und machte ein verblüfftes Gesicht. Dann drehte sie sich um sich selbst und fiel rückwärts gegen den Wagen. Jehja schrie auf und reagierte schnell; er duckte sich unter die Silhouette des BMW. Milton machte zwei geschmeidige Schritte zur Seite, um den Schusswinkel wieder zu öffnen, und feuerte ein zweites Mal. Der Wissenschaftler versuchte, in den Wagen zurückzugelangen, aber die Kugeln stanzten eine Linie in seinen Körper, vom Hals bis zum Schritt.
Die Schüsse hallten einen Moment lang zwischen den Bäumen nach. Vögel waren explosiv über den Bäumen aufgeflattert, und ihre Flügelschläge klangen wie ein Applaus. Das Echo der Schüsse verklang, und wenige Augenblicke nach dem brutalen Ausbruch von Gewalt war wieder alles still: Der Wind raschelte in den Bäumen, das Wasser plätscherte unter der Brücke, und von hoch oben rief eine Nachtigall.
Milton hielt inne. Da war noch ein Geräusch.
Ein zweites Auto näherte sich.
Sich zu verstecken hätte keinen Sinn; das blutige Tableau würde ihn verraten. Der Wagen kam aus dem Wald hervor. Es war ein Renault Mégane, blau mit weißen und roten Siebdruckstreifen auf der Motorhaube. Der Polizist vorn im Wagen sah ihn offenbar sofort. Der Mégane hielt fünfzehn Meter entfernt unvermittelt an.
Milton warf das Magazin aus und schob ein neues ein.
Der Polizist öffnete die Tür und stieg aus. Seine Hand lag auf dem Kolben seiner Pistole im Holster. »Arrét!«, rief er.
Milton dachte nicht lange nach. Seine Reaktion war fest programmiert und im Laufe seiner jahrelangen Gefechtserfahrung so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie jetzt automatisch ablief, ein Ausdruck des Muskelgedächtnisses ohne Gewissensprüfung, plötzlich und furchtbar tödlich. Er schwenkte das Gewehr herum, drückte ab und ließ einen längeren
Feuerstoß los. Der Polizeiwagen wurde vom Kugeln durchsiebt. Ein halbes Dutzend durchschlug den Kühler, eine weitere Handvoll zerschmetterte die Frontscheibe. Der Polizist wurde in Gesicht und Brust getroffen. Er taumelte rückwärts, fiel auf den Rücken und lag einen Moment lang schrecklich zuckend da. Milton ging auf ihn zu, senkte das Gewehr und jagte ihm eine letzte Kugel in den Kopf. Endlich lag der Mann still.
Wieder herrschte friedvolle Ruhe, jetzt aber ornamentiert durch den Klang der Glasscherben, die aus dem Rahmen der Windschutzscheibe fielen und am Boden zersprangen.
Milton ging quer über die Straße zu seinem Renault. Er öffnete den Kofferraum, wickelte das Gewehr in die Decke und verstaute es sorgfältig unter dem Ersatzrad im doppelten Boden. Dann zog er ein Paar Latexhandschuhe an und sammelte die ausgeworfenen Patronenhülsen aus seinem Gewehr auf. Es waren vierzig, und sie waren noch heiß. Er warf sie in einen kleinen Asservatenbeutel. Dann hockte er sich neben Najdschibs Leiche und durchsuchte sie schnell und effizient. Ihr Smartphone und ein USB-Stick wanderten ebenfalls in einen Beutel.
Er ging um den Wagen herum und kniete sich neben al Moussa. Die Wagentür stand offen, und als er aufblickte, um hineinzuschauen, starrte ihm ein kleines, blasses Gesicht entgegen. Milton blieb ruhig. Es gab keinen Grund zur Eile. Das Gesicht gehörte einem kleinen Jungen von vielleicht fünf oder sechs Jahren. Haut und Haare waren dunkel, und sein Gesicht erinnerte an eines seiner Elternteile. Er kauerte im Fußraum und hatte einen Streifen Blut auf der Stirn, als hätte man ihn mit Farbe bespritzt. Es war jedoch nicht sein Blut, sondern stammte von seinem Vater.
Milton griff nach der Sig Sauer in seinem Schulterholster, und seine Finger berührten den Kolben. Der Junge blickte ihm fest in die Augen. Er war grau vor Angst und zitterte, aber er wandte sich nicht ab. Er war tapfer. Milton fühlte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg, als seine Erinnerung ihn um zwanzig Jahre zurück und tausend Meilen weit weg versetzte. Er dachte an einen anderen kleinen Jungen, ungefähr so alt wie dieser, sein Gesicht friedlich trotz der Obszönität seines Todes.
Milton ließ die Sig los, richtete sich auf und wich zurück. Sanft zog er die Leiche des Mannes auf den ungepflasterten Parkstreifen und ging wieder zum Wagen.
»Bleib da«, sagte er zu dem Jungen. »Gleich kommt Hilfe.«
Er schloss die Wagentür, vergewisserte sich, dass er die Spuren seiner
Anwesenheit beseitigt hatte. Dann stieg er in den Renault, startete den Motor und fuhr ab.
Er bog nach Norden, und fuhr bergauf in Richtung See.
TEIL I
Der Mann lag im Bett, die Hände über dem Herzen in die Brust gekrallt, und knirschte immer wieder mit den Zähnen. Seine Lider flatterten, und manchmal stöhnte er und brachte ein paar erstickte Worte hervor, die unverständlich gewesen wären, selbst wenn jemand im Zimmer gewesen wäre. Sein Körper war starr und schweißnass wie die Laken. Der Traum kam jetzt öfter, fast jede Nacht, und es war immer der gleiche. Er lag flach ausgestreckt auf den weichen warmen Sanddünen. Die Sonne stand senkrecht über ihm, eine Mittagssonne, deren brutale Hitze auf die Wüste herunterbrannte und die Luft zum Flimmern brachte, sodass die Berge in der Ferne waberten, als sähe man sie durch das Wasser eines Aquariums. Die Landschaft war ausgetrocknet, eine endlose Ebene von totem Sand, so weit das Auge reichte. Das einzige Grün fand sich am Ufer des langsam fließenden Flusses, der irgendwann in den Tigris mündete. Ein einzelnes Asphaltband war im weiten Umkreis die einzige Straße, und tiefe Sandwehen zogen sich quer darüber hinweg.
Control blinzelte durch die Frontscheibe des Jaguar XJS, als er auf die leere Überholspur wechselte und Gas gab, um einen schwerfälligen
Sattelschlepper zu überholen. Der Himmel am vergangenen Abend war blutrot gewesen, und als die Sonne am Morgen zurückkehrte, war sie in einen klaren, makellos blauen Himmel hinaufgestiegen. Wärme und Licht lag in diesen ersten Strahlen, und er klappte die Sonnenblende herunter, um seine Augen abzuschirmen. Im Radio lief die Nachrichtensendung Today, und der Wetterbericht sagte für die kommende Woche sengende Hitze voraus. Auf das Wetter folgten die Sieben-Uhr-Nachrichten, und die erste Meldung betraf die Erschießung zweier Touristen und eines Polizisten in den französischen Alpen. Die Opfer hatte man identifiziert, aber ein Motiv für die Morde war noch nicht gefunden worden. Eine »sinnlose Tat«, schloss ein französischer Polizist.
Aber das, dachte Control, stimmte nicht. Die Operation war das Ergebnis einer langen und präzisen Planung. Sechs Monate lang waren die Zielpersonen gepflegt worden, um ihr Vertrauen zu gewinnen, und dann hatte man noch Wochen gebraucht, um das Treffen zu arrangieren. Das Ziel war erreicht worden, aber sauber war es nicht gelaufen. Es gab zwei Fehler, die sorgfältiger Nachbehandlung bedurften, Fehler, die Zweifel an der Performance des Mannes weckten, der die Operation durchgeführt hatte.
Die Tatsache, dass es sich dabei um Nummer eins handelte, war beunruhigend.
Es war Controls Operation gewesen. Er war mit den Zielpersonen persönlich sehr gut bekannt. Jehja al Moussa war Atomphysiker gewesen,
Samira Nadschib Expertin für Mikrowellentechnologie. Sie waren ein Ehepaar, und bis vor kurzem waren sie beide bei der irakischen Atomenergiebehörde beschäftigt gewesen. Nach dem Sturz Saddams war das Ahmadinedschad-Regime auf seinem Weg zur Atommacht vorangekommen.
Irgendwo beim MI 6 war entschieden worden, dass das Paar zu gefährlich sei, um am Leben zu bleiben. Diese Entscheidung war in einem anonymen grauen Büro in Whitehall besiegelt worden, die Akten der beiden wurden rot gekennzeichnet und an Gruppe fünfzehn weitergeleitet, damit diese tätig wurde. Es war wichtig, und deshalb hatte Control Nummer eins für diesen Auftrag ausgewählt.
Als er den Jaguar an der Ausfahrt Central London von der Autobahn hinuntersteuerte, ließ Control sich seine Vorbereitungen noch einmal durch den Kopf gehen. Die beiden Wissenschaftler waren unter dem Vorwand eines seit langem verdienten Urlaubs in Frankreich gewesen. Der wahre Grund jedoch und der Grund für ihren Abstecher in die Alpenlandschaft war ein Treffen mit einem Mitarbeiter von Cezus gewesen, einem Tochterunternehmen von Areva, dem Marktführer im Handel mit Zirkonium. Dieses Metall wurde unter anderem zur Ummantelung von nuklearem Brennstoff verwendet. Der Iran benötige Zirkonium für seine Reaktoren, und al Moussa und Nadschib hatte man glauben lassen, ihr Kontaktmann könne davon so viel liefern, wie sie benötigten. Aber es hatte keinen Kontaktmann gegeben. Es gab kein Zirkonium, und es sollte auch kein Treffen stattfinden, jedenfalls keins von der Art, die sie erwarteten.
Control trommelte rhythmisch auf dem Lenkrad, als er nach London hineinfuhr. Nein, dachte er, die Vorbereitungen waren fehlerlos gewesen. Alle Probleme hatte Milton zu verantworten. Der tote gendarme würde der französischen Polizei ein starkes emotionales Motiv geben, den Mörder ausfindig zu machen: Einer der Ihren war ermordet worden. Das würde sie hartnäckiger machen, und sie würden nicht so schnell bereit sein, die Ermittlungen zurückzustellen, wenn die Spur kalt geworden wäre und Control wusste, dass das passieren würde. Das war schlecht. Aber noch schlechter war die Sache mit dem Jungen. Ein Kind, von dem Killer zum Waisen gemacht, kauerte im Auto und sah zu, wie seine Eltern ermordet wurden. Das war Dynamit der Haken, an dem die Presse ihre komplette Berichterstattung aufhängen konnte. Es würde dafür sorgen, dass die Story endlos lief.
Control fuhr langsamer und steuerte den Jaguar in die Tiefgarage unter
einem kleinen Gebäude am Nordufer der Themse. Es stammte aus den sechziger Jahren, ohne Stil oder Anmut aus Backstein und Beton errichtet. Fünf Geschosse, anonym. Der Motor tuckerte im Leerlauf, während das Garagentor mit müdem metallischem Quietschen hochrollte. Auf dem Tor stand GLOBAL LOGISTICS.
Er fuhr hinein, hielt neben dem gesicherten Aufzug und stieg aus. Der Lift kam, er betrat die Kabine und drückte den Knopf für den zweiten Stock. Der Fahrstuhl kam sanft zum Stehen, die Tür glitt seufzend beiseite, und er trat hinaus in ein betriebsames Großraumbüro. Analysten starrten auf Monitore und tippten klackernd auf Keyboards, Drucker ratterten, und ununterbrochen klingelten Telefone. Control ging durch den chaotischen Raum zu einem mit dickem Teppichboden ausgelegten Korridor, der nach rechts abbog, sodass der Lärm hinter ihm zu einem leisen Rumoren verblasste. Ein paar mit grünem Filz bezogene Türen reihten sich aneinander, und er ging bis zur letzten, stieß sie auf und trat hindurch.
David Tanner, sein Privatsekretär, blickte von seinem Computer auf.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er. Tanner war ein ehemaliger Infanteriesoldat wie Control selbst und all die Agenten, die für ihn arbeiteten. Tanners Karriere war durch eine Sprengfalle an einer Straße außerhalb von Kabul beendet worden. Sie hatte ihn das rechte Bein unterhalb des Knies und die Versetzung zum SAS gekostet, die er sich so sehr gewünscht hatte. Er war ein guter Mann, entspannt und angenehm als Partner bei einem Drink, und er bewachte den Zugang zu seinem vorgesetzten Offizier mit wütender Entschlossenheit.
»Morgen, Captain«, sagte Control. »Was liegt für den Vormittag an?«
»Sie sprechen heute Mittag mit dem Direktor. Er will ein Update in der französischen Sache.«
»Das glaube ich. Und Nummer eins?«
»Wartet drinnen auf Sie, Sir.«
»Sehr gut.«
Er ging durch das Vorzimmer in sein Büro. Es war ein großer Raum mit einem Panoramablick auf die Themse. Auf einem Tisch in der Mitte stand eine Blumenvase, und zu beiden Seiten des Kamins warteten zwei bequeme Clubsessel. Aktenschränke gab es hier nicht und auch sonst nichts amtlich Aussehendes.
Milton stand vor dem Panoramafenster am anderen Ende des Zimmers, rauchte eine Zigarette und schaute hinunter auf die weite Fläche der Themse.
Control blieb in der Tür stehen und musterte ihn. Er trug einen einfachen dunklen Anzug, der ziemlich billig aussah, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte.
»Guten Morgen, Nummer eins«, sagte Control.
»Guten Morgen, Sir.«
»Nehmen Sie Platz.«
Er sah zu, wie Milton sich setzte. Dessen Blick war unversöhnlich. Er sah ein wenig schäbig aus, verschlissen an den Rändern. Control erinnerte sich noch, wie er in den Dienst eingetreten war. Er hatte Anzüge aus der Savile Row getragen, Hemden von Turnbull & Asser, und er war jederzeit makellos gepflegt gewesen. Aber das schien ihn nicht mehr zu interessieren. Control war es egal, wie seine Agenten aussahen, solange sie gut in ihrem Job waren, und Milton war sein bester Mann. Deswegen war sein letztes Missgeschick so beunruhigend.
Es klopfte. Tanner kam herein. Er trug ein Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Porzellantassen, das er auf das Sideboard stellte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Control nichts weiter brauchte, ließ er die beiden allein.
Control schenkte den Tee ein und beobachtete Milton dabei. Für einen solchen Job bewarb man sich nicht, man wurde auserwählt, und wie er es bei allen Agenten gehandhabt hatte, die für ihn arbeiteten, hatte Control auch ihn persönlich ausgesucht und das ein Jahr dauernde rigorose Training beaufsichtigt, das die rauen Kanten abschliff und ihn auf seine neue Rolle vorbereitete. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen Milton seine Eignung für diese Position bezweifelte, und Control hatte nicht so sehr versucht, ihm diese Zweifel zu nehmen, sondern ihn vielmehr dafür gerügt, dass er auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, er könne mit seinem Urteil danebengelegen haben. Er hielt sich für einen ausgezeichneten Menschenkenner, und er hatte gewusst, dass Milton ein perfekter Außendienstagent sein würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. Milton hatte seine Laufbahn als Nummer zwölf begonnen, wie es üblich war, und jetzt, acht Jahre später, waren seine Vorgänger nicht mehr da, und er war Nummer eins.
Milton war angespannt. Er umfasste die Armlehne des Sessels so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er war unrasiert, und die kraftvollen Konturen seines Unterkiefers waren mit dunklen Stoppeln bedeckt. »Der Junge?«, fragte er.
»Traumatisiert, aber sonst okay, nach allem, was wir in Erfahrung
bringen können. Wie man es erwarten würde. Die Franzosen kümmern sich um ihn. Aber wir glauben nicht, dass sie schon mit ihm gesprochen haben. Hat er Sie gesehen?«
»Ja.«
»Das könnte heikel werden.«
Milton ging nicht darauf ein. »Haben Sie es gewusst?«
»Was gewusst?«
»Dass er da sein würde.«
»Wir wussten, dass er in Frankreich ist. Wir dachten aber nicht, dass sie ihn zu dem Meeting mitbringen würden.«
»Und Sie haben nicht daran gedacht, mir zu sagen, dass sie es vielleicht tun würden?«
»Vergessen Sie nicht, mit wem Sie reden«, antwortete Control verärgert. »Hätte das etwas geändert?«
Miltons eiskalter Blick brannte sich in ihn hinein.
»Es hat keinen Sinn, darum herumzureden der Junge ist ein Problem. Und der verdammte Polizist auch. Ohne sie wäre es eine saubere Sache gewesen, aber jetzt tja, jetzt haben wir zwei unerledigte Angelegenheiten. Das macht die Sache kompliziert. Erzählen Sie mir lieber, was passiert ist.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich habe mich buchstabengetreu an den Plan gehalten. Die Waffe war da, wo sie sein sollte. Ich war vor den Zielpersonen an Ort und Stelle. Sie sind pünktlich gekommen. Ich habe sie beide eliminiert. Ich war noch beim Aufräumen, als der Gendarm aufkreuzte. Da habe ich ihn ebenfalls erschossen.«
»Die Einsatzregeln waren klar.«
»Allerdings, Sir. Keine Zeugen. Ich glaube, ich hatte keine Wahl.«
»Hatten Sie auch nicht. Das stelle ich nicht in Frage.«
»Aber Sie stellen etwas in Frage?«, sagte Milton.
Wieder war sein Tonfall schroff. Aber Control ging darüber hinweg. »Sie haben es selbst gesagt. Keine Zeugen.«
»Also der Junge? Warum ich ihn nicht erschossen habe?«
»Es mag abscheulich sein, aber Sie wissen, wie klar wir uns über unser Verhalten im Einsatz sind.« Control war angespannt. Das Gespräch entwickelte sich nicht so, wie er es erwartet hatte, und er war es nicht gewohnt, sich überraschen zu lassen. Miltons Lippen hatten einen weißen Rand. Die blauen Augen blickten starr und leer, fast ohne etwas zu sehen.
»Ich habe eine Menge Tote gesehen, seit ich für Sie arbeite, Sir.«
Control antwortete so geduldig, wie er konnte. »Natürlich haben Sie das, Milton. Sie sind ein Killer. Da gehört das zum Geschäft.«
Es war, als habe Milton ihn gar nicht gehört. »Ich kann mir nichts mehr vormachen. Wir treffen Entscheidungen darüber, wer leben und wer sterben soll, aber es ist nicht alles schwarz und weiß, wenn man mittendrin steckt. Wie Sie sagten, die Einsatzregeln waren klar. Ich hätte ihn erschießen sollen. Vor acht Jahren, als ich für das hier unterschrieben habe« in seinem Ton lag ein Hauch von Verachtung »hätte ich ihn wahrscheinlich auch erschossen. Wie ein guter Soldat.«
»Aber Sie haben es nicht getan.«
»Ich konnte es nicht.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Acht Jahre sind eine lange Zeit für diese Arbeit, Sir. Nicht viele in der Gruppe haben so lange durchgehalten. Und ich war in letzter Zeit nicht mehr glücklich. Ich glaube, ich war nie wirklich glücklich.«
»Ich erwarte auch nicht, dass Sie glücklich sind.«
Milton war in Erregung geraten und ließ sich nicht bremsen. »Ich habe Blut an den Händen. Ich habe mir immer das Gleiche gesagt, um es zu rechtfertigen, aber es funktioniert nicht mehr. Dieser Polizist hatte den Tod nicht verdient. Dieser Junge hat nicht verdient, seine Eltern zu verlieren. Wegen einer Lüge haben wir eine Witwe und ein Waisenkind hinterlassen. Und das mache ich nicht mehr, Sir. Ich bin fertig.«
Control antwortete mit Sorgfalt. »Versuchen Sie, zu kündigen?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Mein Entschluss steht fest.«
Control stand auf. Er brauchte einen Augenblick, um seine Wut in den Griff zu bekommen. Die Sache kam einer Insubordination gefährlich nah, und statt gleich zu explodieren, ging er zum Kaminsims und rückte das Foto seiner Familie zurecht. »Was ist die Aufgabe der Gruppe, Milton?«, fragte er bedächtig.
»Elimination.«
»Aufgaben, die für die Sicherheitsdienste Ihrer Majestät zu schmutzig sind.«
»Ganz recht, Sir.«
»Und was ist Ihr Job?«
»Ich bin Cleaner.«
»Und das bedeutet?«
»›Von Zeit zu Zeit muss die Regierung Ihrer Majestät Personen
beseitigen, deren fortgesetzte Existenz eine Gefahr für die effiziente
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die Regierung benötigt Profis mit besonderen Fähigkeiten, die bereit sind, auf der Grundlage der Nicht-Zuschreibbarkeit solche Probleme aus der Welt zu schaffen.‹ Cleaner.«
Control lächelte ohne Heiterkeit. Das war die Stellenbeschreibung, die er benutzt hatte, als er Milton vor all den Jahren rekrutiert hatte. Lauter neutrale Euphemismen, allesamt dazu gedacht, den Job genießbar zu machen. »Für diese Arbeit braucht man eine besondere Art Mann. Es gibt so wenige von ihnen, und darum sind Sie leider schwer zu ersetzen.« Er schwieg kurz. »Wissen Sie, wie viele Personen Sie für mich eliminiert haben?«
Milton brauchte nicht nachzudenken. »Einhundertsechsunddreißig.«
»Sie sind mein bester Cleaner.«
»Vielleicht früher einmal. Aber jetzt nicht mehr. Das kann ich nicht länger ignorieren. Ich schaffe es nicht, den Mund zu halten, nur um nicht unprofessionell zu sein. Ich belüge mich selbst. Wir müssen den Fakten ins Auge sehen, Sir. Nennen Sie es, wie Sie wollen neutralisieren, eliminieren , aber das sind doch nur Euphemismen für das, was ich in Wirklichkeit tue. Ich werde dafür bezahlt, Menschen zu ermorden.«
Control drang nicht zu ihm durch. »Ermorden?«, rief er. »Was reden Sie denn da, Mann? Seien Sie nicht so zimperlich. Sie wollen moralisieren? Sie wissen, was passieren würde, wenn die Iraner die Bombe bekämen. Es würde Krieg geben. Einen richtigen Krieg, neben dem der im Irak aussehen würde wie ein Spaziergang durch den verdammten Park. Tausende von Menschen würden sterben. Hunderttausende. Die Beseitigung dieser beiden macht die Aussicht darauf ein bisschen weniger wahrscheinlich. Und sie wussten, welches Risiko sie eingingen. Wenn Sie wollen, nennen Sie es Mord, aber diese Leute waren nicht unschuldig. Sie waren Kombattanten.«
»Und der Polizist? Der Junge?«
»Unglückselig, aber notwendig.«
»Kollateralschäden?«
Control hatte das Gefühl, der Mann wolle ihn reizen. Er atmete tief durch und sagte knapp: »So ist es.«
Milton verschränkte die Arme. »Bedaure, Sir. Ich bin fertig mit Ihnen. Ich mache Schluss.«
Control ging auf Milton zu, umkreiste ihn in nächster Nähe und sah die Anspannung in den Schultern und den geballten Fäusten. »Niemand ist jemals wirklich fertig mit mir. Sie können nicht kündigen. Sie können sich
nicht zur Ruhe setzen. Sie sind ein Mörder, wie Sie sagen. Etwas anderes können Sie nicht. Was wollen Sie tun, wenn Sie gehen? Ihre Talente sind sehr speziell. Was könnten Sie tun? Mit Kindern arbeiten? Oder in einem Büro? Nein, Sie sind eine ungelernte Arbeitskraft, Mann. Das sind Sie.«
»Dann suchen Sie sich eine andere ungelernte Kraft.«
Control schlug frustriert mit der Faust auf den Kaminsims. »Sie arbeiten für mich, solange ich das verdammt noch mal will, oder ich lasse Sie vernichten!«
Milton stand auf und sah ihn an. Seine Gestalt war imposant, und sein eisiger Blick hatte seine konzentrierte Klarheit wiedergefunden. Es war der Blick eines Killers, und er fixierte Control erbarmungslos. »Ich glaube, wir sind fertig, Sir oder nicht? Wir werden uns nicht einigen.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Ja.«
Control ging hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. »Sie machen einen schrecklichen Fehler. Sie sind hiermit beurlaubt. Ohne Bezüge. Ich werde Ihre Akte durchsehen, aber Sie halten Disziplin. Nehmen Sie sich Zeit, um Ihre Position zu überdenken. Es ist noch nicht zu spät, den Schaden zu reparieren, den Ihre törichte Haltung Ihnen zugefügt hat.«
»Jawohl, Sir.« Milton zog sich die Krawatte zurecht.
»Sie können gehen.«
»Guten Tag, Sir.«
Milton suchte sich eine Bar. Sein anonymes, leeres Hotelzimmer gefiel ihm nicht, und es war erst kurz vor Mittag. Die Konfrontation mit Control hatte ihn aus der Fassung gebracht, und seine Hände zitterten vor Wut und Angst.
Es gab ein Lokal mit einem breiten Panoramafenster an der Wasserseite. Er fand einen Tisch mit Blick auf den offenen Fluss, die Gebäude am anderen Ufer und die Vergnügungsboote und Frachtkähne, die sich durch die Wellen pflügten. Die grelle Sonne schien von einem makellos blauen Himmel. Er hatte Verlangen nach einem großen Whiskey. Er wollte den Alkohol spüren und fühlen, wie sein Kopf anfing, sich ganz sanft zu drehen. Er wusste, eine Möglichkeit mit dem Denken an was auch immer aufzuhören, fand sich auf dem Grund eines Glases. Aber es gelang ihm, dem Drang zu widerstehen. Es wäre eine kurzfristige Erleichterung mit langfristigen Konsequenzen. Er konzentrierte sich auf die Zahl, die er im Kopf hatte 691 und bestellte stattdessen einen Orangensaft. Brütend saß er da, drehte das Glas zwischen den Fingern und schaute den Booten zu.
Über der Bar hing ein Fernseher. Er war stummgeschaltet, aber am unteren Bildschirmrand liefen die Untertitel eines 24-StundenNachrichtensenders. Das Interview mit einem Minister auf dem Parlamentsrasen wurde abrupt abgelöst von der Hubschrauberaufnahme einer bewaldeten Gebirgslandschaft. Laut der Bildunterschrift handelte es sich um die Gegend am Lac d’Annecy in Frankreich. Die Kamera schwenkte ruckartig und zoomte nach unten, bis ein BMW den Bildschirm ausfüllte. Er parkte auf einer kleinen Lichtung. Die Kamera zoomte zurück und erfasste
ein zweites Fahrzeug, blau mit weiß-roten Streifen. Auf dem Lehmboden bei den Autos waren Blutflecken zu sehen. In der Laufschrift am unteren Rand erschienen die Worte »Massaker« und »Gräueltat«.
Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Haben Sie das gesehen?«
Milton grunzte.
»Wissen Sie, dass die im Auto einen Jungen gefunden haben?«
Milton antwortete nicht.
»Ich verstehe nicht, wie einer so was tun kann eine Familie im Urlaub ermorden. Wie kaltblütig muss man da sein? Wenn Sie mich fragen, hat der Kleine Glück gehabt. Ich schätze, wenn der Täter ihn gefunden hätte, wäre er wohl auch erschossen worden.«
Die Sendung wechselte zur nächste Story, aber es half nichts. Milton trank seinen Saft aus und stand auf. Er musste gehen.
ilton war ein wenig benommen und vergaß, dass er mit dem Auto ins Büro gekommen war. Ziellos ging er hinunter in den nächsten UBahnhof. Auf dem Bahnsteig herrschte Hochbetrieb. Eine Reisegruppe von jungen Ausländern, die es nicht besser wussten, hatte sich vor der Rampe versammelt. Sie versperrten den Weg mit ihrem Gepäck und plapperten aufgeregt auf Portugiesisch. Ihre Koffer waren mit Stickern beklebt, auf denen ihre früheren Reiseziele abzulesen waren. Brasilianer, vermutete er. Studenten. Milton schlängelte sich zwischen ihnen hindurch, um am ruhigeren, weniger bevölkerten Ende des Bahnsteigs zu warten. Dort stand eine einzelne Reisende an der Bahnsteigkante. Sie war schwarz, Anfang dreißig, und sie trug die Uniform einer der Fastfood-Ketten, die es in der Umgebung der U-Bahnstation gab. Sie wirkte erschöpft, und Milton sah, dass sie weinte. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Milton hatte kein Talent für Empathie, und er hätte nicht gewusst, wo er anfangen sollte, um sie zu trösten, aber er hatte auch kein Interesse daran. Nicht heute. Er hatte zu viel anderes im Kopf. Also ging er weiter.
Seine Stimmung hatte sich wieder verschlechtert, und er fühlte sich abscheulich. Ihm war schwindlig, und er ließ sich auf eine freie Bank fallen. Er fing an zu schwitzen, erst an den Handflächen, dann auf dem Rücken. Salzige Tropfen liefen ihm von seiner Kopfhaut in die Augen und den Mund. Er dachte an die Luftaufnahmen des Waldes, die der Hubschrauber des Fernsehsenders gemacht hatte. Im Boden hatten drei Fähnchen gesteckt und die Stellen markiert, wo die Leichen gefunden worden waren. Er wusste, er sollte damit aufhören und an etwas anderes denken, aber er konnte nicht, und