PROLOG
FEBRUAR 1943
Der Bomber Avro Lancaster glitt auf dem Weg nach Frankfurt durch die eisige, tiefschwarze Winternacht und flog nahe seiner maximalen Flughöhe von etwas mehr als 7.500 Metern, um Flakfeuer zu vermeiden. Links und rechts zogen weitere Bomber in enger Formation vorbei, während die belgische Landschaft aufgrund der dicken Wolkendecke ungesehen an ihnen vorbeizog. Auf dem Pilotensitz blickte Flight Lieutenant Ernest Latimer angespannt in den pechschwarzen Himmel hinaus. Sie hatten die relative Sicherheit des Ärmelkanals weit hinter sich gelassen und konnten nun von Abfangjägern der Luftwaffe angegriffen werden. Aber nur, wenn die Deutschen sie entdeckten, was, so hoffte Ernest, nicht passieren würde, zumindest bis sie ihre Ladung abgeworfen hatten. Dann wäre das Überraschungsmoment verloren und es würde ums Ganze gehen. Aber für den Moment war alles ruhig.
„Ich habe gestern Abend Betty gesehen“, erzählte der Flugingenieur, Sergeant Frank Ward, vom zweiten Sitzplatz rechts von Ernest. „Sie war ganz schön aufgedreht, das kann ich euch sagen. Sie konnte kaum die Finger von mir lassen, als ich sie nach Hause begleitete. Ich durfte sie
sogar küssen und so. So ist sie immer vor einem Einsatz. Heiß wie Feuer. Als ob sie nicht glaubt, dass sie mich jemals wiedersehen wird.“
„Was habe ich dir darüber gesagt, so zu reden?“ Ernest starrte den Flugingenieur an. „Das bringt Unglück.“
„Ich habe nur eine Tatsache festgestellt. Es ist wahr. Sie macht sich jedes Mal Sorgen, wenn eine Mission ansteht. Außerdem wird schon nichts passieren. Wir kommen heil und unversehrt nach Hause, so wie immer. Wir sind die beste Bombercrew des Geschwaders.“
„Glück. Das ist alles. Mit wie vielen Crews wir schon den Himmel geteilt haben, die es nicht nach Hause geschafft haben.“
„Möge das Glück uns noch lange erhalten bleiben.“ Frank schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. „Um ehrlich zu sein, hatte ich gedacht, dass alles schon längst vorbei sein würde. Wer hätte gedacht, dass die Krauts so hartnäckig sein würden? Ich hatte damit gerechnet, dass sie nach ein paar Monaten, höchstens einem Jahr, die Flinte ins Korn werfen würden. Es ist eine Schande, dass sie ihre Lektion nicht gelernt haben, nachdem wir sie das letzte Mal ordentlich in die Mangel genommen haben. Im September sind es vier Jahre. Es wird langsam lästig, das kann ich euch sagen.“
„Was hast du denn sonst noch so zu tun?“, fragte Ernest.
„Ich schätze“, Frank lachte leise, „die Royal Air Force wäre ein ziemlich guter Verein, wenn es nicht diese lästigen Messerschmitts gäbe.“ Er verstummte und betrachtete sein eigenes Spiegelbild im Cockpitfenster. Endlich ergriff er wieder das Wort. „Ich glaube, ich werde Betty fragen, ob sie mich heiraten will.“
„Warum willst du denn so einen Blödsinn anstellen?“
Jetzt musste Ernest lachen. „Weiber lieben Männer in Uniform.“
„Besonders, wenn es eine amerikanische Uniform ist“, erwiderte Frank.
„Da hast du nicht unrecht, Junge.“ Eine weitere Stimme drang von hinter dem Vorhang, der den Platz des Navigators verdeckte. Der Stoff flog zurück und gab den Blick auf Tommy Corker frei, auch bekannt als Fish, nicht weil er so gerne schwamm, sondern weil seine Fähigkeit, im King’s Arms Pints zu versenken, legendär war. Er saß am Kartentisch, eingepfercht zwischen dem Cockpit und der Funkstation. Über ihm war die Astrokuppel, die der Himmelsnavigation diente, nichts weiter als ein dunkles Loch im Rumpf des Flugzeugs. „Es ist verdammt unmöglich bei einer zu landen, wenn die Amis im Pub sind, und da sie nur tagsüber Angriffe fliegen, sind sie immer im Pub.“
„Deshalb bleibe ich bei Betty“, sagte Frank. „Es ist schlichtweg einfacher.“
„Und weil du sie auch liebst, richtig?“ Tommy schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nun, ja, das stimmt.“
„Du sprichst wie ein echter Romantiker.“ Ernest warf einen Blick auf den Navigator. „Sind wir bald da?“
„Wir sind über der deutschen Grenze und im Rattennest.“ Die Heiterkeit war aus Tommys Gesicht gewichen. Er sah jetzt ängstlich aus. „Fast ganz oben.“
Die siebenköpfige Besatzung verstummte und konzentrierte sich nun auf die bevorstehende Aufgabe. Um den Bombenangriff zu Ende zu bringen, mussten sie die Wolkendecke durchbrechen. Ernest schloss die Drosselklappen und ließ das Flugzeug in Erwartung der Befehle des Flottenführers in den Sinkflug übergehen. Unter ihnen befanden sich kleine Dörfer und Städte, während vor ihnen Frankfurt lag. Ihr Ziel. Er konnte sehen, wie die anderen Bomber nachzogen und tiefer sanken, während sie sich darauf vorbereiteten, ihre 500-PfundBomben abzuwerfen. Ein Flugzeug flog zu nah heran und drohte, direkt über ihnen abzusinken, woraufhin Ernest mit einem Fluch am linken Ruder zerrte. Die Lancaster
reagierte und wich im letzten Moment aus, um einen Zusammenstoß in der Luft zu vermeiden.
„Puh. Das war knapp“, meinte Ernest und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn.
„Ich schwöre, die neuen Piloten werden immer schlechter ausgebildet.“ Tommy schaute vom Kartentisch auf. „Ich weiß, dass wir zu wenig Männer haben, aber sie sollten wenigstens einen Sehtest machen, bevor sie ins Cockpit gesetzt werden.“
„Ich gebe den Deutschen die ganze Schuld“, antwortete Ernest. „Wenn sie nur so nett wären und aufhören würden, uns abzuschießen, bräuchten wir keine neuen Piloten.“
„Jungs, wir sind noch nicht aus dem Schneider.“ Frank blickte von seiner unteren Position im Klappsitz neben dem Piloten durch die Cockpithaube nach oben. Seine Augen waren vor Überraschung geweitet. „Da kommt etwas auf uns zu. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Heiliger Strohsack.“ Ernest folgte dem Blick des Flugingenieurs und einen Moment lang konnte er nicht begreifen, was er da sah. Über ihnen, am mondlosen Himmel, schwebte ein kugelförmiges rotes Objekt. „Was zum Teufel ist das?“
„Ich wünschte, ich wüsste es.“ Frank rutschte nervös in seinem Sitz hin und her, als die Kugel näher kam.
„Meint ihr, es ist eine neue deutsche Waffe? Eine Art Verteidigungssystem?“ Tommy verrenkte sich den Hals, um etwas zu erkennen. Er stand auf und steckte seinen Kopf in die Astrokuppel, um besser sehen zu können. Dabei kam die rot glühende Kugel auf gleiche Höhe mit ihrem Flugzeug.
Dann schoss sie ohne Vorwarnung in einem Winkel von neunzig Grad davon und raste mit unvorstellbarer Geschwindigkeit zwischen den eng nebeneinander fliegenden Flugzeugen hindurch.
Ernest hielt den Atem an und wartete darauf, dass die Kugel in einen der vorderen Bomber einschlagen und ihn in
Flammen zu Boden stürzen lassen würde. Aber das tat sie nicht. Stattdessen zog das ungewöhnliche Objekt vor dem Geschwader her, drehte ab und schoss direkt in den Himmel, wo es aus dem Blickfeld verschwand.
„Es ist weg.“ Tommy ließ sich zurück auf seinen Platz fallen. „Eine ziemlich nutzlose Geheimwaffe, wenn ihr mich fragt.“
„Vielleicht nicht. Es kommt noch mehr Gesellschaft auf uns zu“, stellte Ernest fest und beobachtete, wie sich die Lancaster vor ihnen plötzlich in einen Flammenball verwandelte und in einer Spirale nach unten raste, wobei sie einen hellen orangefarbenen Streifen hinterließ, als sie ins Nichts verschwand. „Und dieses Mal gibt es keinen Zweifel, wer sie sind und was sie wollen.“
„Nachtjäger.“ In Franks Stimme schwang Angst mit. Die gefürchteten BF 109 Messerschmitt der Luftwaffe waren mit einem Radar ausgestattet, das es ihnen ermöglichte, die ankommenden Bomber zu sehen, bevor sie überhaupt wussten, dass sie in Schwierigkeiten waren. In Verbindung mit ihrer überlegenen Bewaffnung waren sie ein furchterregender Feind. „Wenn wir nicht abdrehen, haben wir keine Chance. Die Kerle werden uns in Stücke schießen, bevor wir überhaupt einen Blick auf sie werfen können.“
„Ich kümmere mich schon darum.“ Ernest zog den Steuerknüppel zurück. Die Nase des Flugzeugs erhob sich und brachte sie wieder nach oben und aus der Schusslinie. Sein Herz schlug langsamer und für ein paar Sekunden glaubte er, dass sie Schwierigkeiten entkommen waren, obwohl die Bomber, die in geringerer Höhe blieben, schnell abgeschossen wurden und ihre Kanoniere die kämpfenden Verteidiger aufgrund der Dunkelheit und der größeren Reichweite der deutschen Geschütze nicht finden konnten.
Doch dann sprang Tommy wieder auf und spähte durch das kugelförmige Glas der Astrokuppel. „Ich will euch ja
nicht beunruhigen, aber die rote Kugel ist wieder da, und sie hat ein paar Freunde mitgebracht.“
Ernest blickte nach oben und sah, wie die glühende rote Kugel auf sie zukam, umgeben von vier weiteren pulsierenden Kugeln. Sie rasten im Zickzack zwischen den Flugzeugen hindurch und vollführten scharfe Kurven, die ein normales Flugzeug in Stücke gerissen hätten. „Das bringt es auf den Punkt. Das muss eine Art von Waffe sein.“
„Ich weiß nicht“, sagte Frank. „Ich habe die amerikanischen Fliegerjungs im Pub darüber reden hören. Sie haben sie auch gesehen. Sie nennen sie Foo Fighters. Diese Dinger tauchen auch auf, wenn die Deutschen nicht in der Nähe sind, und sie gehören bestimmt nicht zu uns.“
„Was auch immer sie sind, sie kommen uns in die Quere.“ Ernest betätigte den Steuerknüppel, um einer Kugel auszuweichen, die sich ihnen direkt in den Weg gestellt hatte. Die Nase des Flugzeugs neigte sich und die Kugel glitt für einen Moment nach oben, aus dem Blickfeld. Unter ihnen schossen weitere glühende Kugeln in die Bomber, die sich noch in geringerer Höhe befanden, und erschwerten ihre Bemühungen, die angreifenden Kampfflugzeuge abzuwehren.
„Pass auf!“ Franks Augen weiteten sich vor Schreck. Er zeigte dreißig Grad nach unten und nach links.
Ernest folgte dem Blick des Ingenieurs und sah zu seinem Entsetzen eine bedrohliche Erscheinung durch die Dunkelheit unter ihnen flitzen. Die unverkennbaren Umrisse einer ME-110. Wenn sie unter sie käme, würde sie mit ihren nach oben gerichteten 20-mm-Kanonen den Bauch der nun schutzlosen Lancaster aufreißen.
Er tat das Einzige, was er konnte. Er zog kräftig am Steuerknüppel und drückte das Flugzeug in einem schnellen Steigflug nach oben, gerade als die Messerschmitt aufdrehte. Kugeln schossen durch den Himmel. Ein Vorhang des Todes, der immer näher rückte, je näher das feindliche Flugzeug kam. Aber das war noch
nicht das Schlimmste an der Sache. Die Kugel, der Ernest so sehr auszuweichen versucht hatte, war zu nah. Trotz ihrer besseren Manövrierfähigkeit wurde sie von der plötzlichen Kursänderung der Lancaster und den deutschen Kugeln, die von unten in sie einschlugen, überrascht.
Das pulsierende rote Licht der Kugel erfüllte das Cockpit des Bombers.
Ernest stieß einen erstickten Schrei aus.
Er versuchte verzweifelt, das Flugzeug nach rechts zu lenken und einen Zusammenstoß zu vermeiden. Aber es war zu wenig, zu spät. Die Tragfläche des Bombers kippte nach oben, als sich das Flugzeug neigte. Es prallte gegen die Kugel, die nicht so formlos war, wie sie zunächst erschienen war. Ein Motor flammte auf. Ein Teil des Flügels riss ab und verschwand aus dem Blickfeld.
Für einen schrecklichen Moment blieb die Zeit stehen.
Ernest warf einen Blick auf seinen Maschinisten und erkannte den Schrecken in seinem Gesicht.
Der Heckschütze schrie auf, als die Kugeln der Messerschmitt ihren Rumpf durchschlugen und ihn trafen.
Tommy schrie auf, und ein verzweifeltes Gebet entrang sich seinen Lippen, als ihm ihre missliche Lage bewusst wurde.
Dann sackte die Nase der Lancaster ein letztes Mal ab und das Flugzeug, das mit einem halben Flügel nicht mehr waagerecht fliegen konnte, drehte sich zur Seite und stürzte in einer üblen, taumelnden Spirale ab.
Ernest griff nach dem Steuerknüppel und kämpfte darum, den angeschlagenen Bomber auf Kurs zu bringen, aber es war zwecklos. Neben ihnen, wie ein Tanzpartner, schwebte die rot leuchtende Kugel, die Ernest noch nie gesehen hatte, und begleitete sie ins Nichts.
Morgengrauen. Rauch hing über dem Feld, beißend und schwarz. Ein tiefer Graben durchzog die Landschaft. Er begann in der Nähe eines Tannenwäldchens und endete bei den zerschellten Überresten eines alliierten Bombers, der in der Nähe eines schmalen, gewundenen Baches halb in der Erde vergraben war.
Gunter Lang und sein Sohn Elias stapften über die schlammige Wiese, die noch nass von einem früheren Regenschauer war. In seiner Hand trug Gunter eine Mistgabel. Er glaubte nicht, dass in dem verbrannten und kaputten Flugzeug noch jemand am Leben war, aber er wollte kein Risiko eingehen. Als sie näher kamen, beschleunigte er seinen Schritt und stellte sich vor seinen Sohn, um ihn für den Fall der Fälle abzuschirmen. Aber das war gar nicht nötig. Der Bomber hatte sich beim Aufprall nahezu vollständig in seine Einzelteile aufgelöst. Das Heck, einschließlich des zerschmetterten Schützenstandes, lag sieben Meter vom eigentlichen Wrack entfernt. Eine Tragfläche hatte die Erde berührt und sich gelöst. Sie war kopfüber in den Fluss gestürzt und die Propeller waren umgeknickt. Das Cockpit war nicht wiederzuerkennen. Nichts als eine Masse aus verschmolzenem Metall. Der Rumpf war verbogen, das Rückenteil gebrochen. Ein toter Flieger hing aus der offenen Seitentür, als hätte sein lebloser Körper versucht, seinem eigenen grausamen Ende zu entkommen.
Gunter entspannte sich ein wenig. Abgesehen von den offensichtlichen Gefahren durch zerfetztes Metall und verschüttetes Benzin bestand hier keine Gefahr. Das dachte
er zumindest, bis er das zweite Objekt sah, das etwas weiter entfernt in einem flachen Krater aufrecht dastand.
Ein Schauer lief Gunter den Rücken hinunter.
So etwas hatte er noch nie gesehen. Es war eine perfekte Kugel mit geometrischen Mustern, die auf ihrer Oberfläche eingraviert zu sein schienen. Und groß war sie auch noch. Mindestens sieben Meter groß.
Er näherte sich der seltsamen Kugel und blieb kurz stehen, um zu ihr hinaufzuschauen. Neben ihm stieß sein Sohn einen Schrei aus.
„Was ist das?“
„Ich weiß nicht.“ Gunter rieb sich das Kinn. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Wir sollten jetzt gehen.“ Elias machte einen Schritt zurück.
„Noch nicht.“ Gunter schritt vorwärts. Sein Fuß rutschte am Rand des Kraters ab. Er fing sich auf und drehte sich zu seinem Sohn um. „Bleib hier.“
„Dad, geh nicht da runter.“ Elias sah verängstigt aus. „Bitte?“
„Es gibt keinen Grund zur Sorge, versprochen. Ich bin gleich wieder da.“ Gunter fasste sich ein Herz, trat in den Krater und rutschte inmitten einer Flut von losen Steinen und Erde den Abhang hinunter. Überall sonst war der Boden aufgeweicht. Hier war er trocken, der Regen war durch die große Hitze verdampft, als das Ding auf die Erde stürzte.
Gunter war jetzt bei der Kugel. Er streckte seine Hand aus und berührte sie mit einer Handfläche. Im Inneren spürte er einen pochenden Puls. Etwas lief tief im Inneren der Kugel umher. Überrascht zog er seine Hand weg. Dann hörte er das Rumpeln von Motoren. Schreie. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, als er seinen Sohn am Rande des Kraters sah, flankiert von Männern in dunklen Uniformen, auf deren Ärmeln zwei Aufnäher mit Blitzableitern aufgenäht waren.
Die Waffen-SS. Heinrich Himmlers gefürchtete Elitesoldaten. Sie richteten ihre Gewehre nach unten in die Grube. Er schluckte schwer und hob die Arme, während seine Blicke zwischen den Soldaten und seinem verängstigten Sohn hin und her flogen. Wenn sie Glück hatten, würden er und Elias den nächsten Sonnenaufgang erleben.
JULI 1944
Kommandant Hermann Richter stand auf einem Gerüst im U-Boot-Bunker Dora 1 in Trondheim, Norwegen, und beobachtete, wie Vorräte in sein Boot geladen wurden, das etwa fünf Meter unter ihm lag. Zu seiner Rechten sah der Erste Wachoffizier Otto Sauer alles andere als zufrieden aus.
„Eine Woche?“ Otto rieb sich mit der Hand über die seit drei Tagen gewachsenen Bartstoppeln an seinem Kinn. „Das ist nicht genug Zeit. Die Männer haben kaum Landgang gehabt. Sie sind erschöpft.“
„Den Männern geht es gut, da bin ich mir sicher.“ Richter war klar, wie ungewöhnlich es war, nach nur sieben Tagen im Hafen wieder auszulaufen. U-975, das in einer Bucht neben seinem eigenen Schiff vor Anker lag, hatte fast einen Monat lang angedockt und würde wohl noch einen Monat länger dort bleiben, bis der Kapitän neue Befehle erhielt. „Dazu haben sie sich verpflichtet.“
„Sie haben sich nicht dazu verpflichtet, so lange auf See zu sein und zwischen den Patrouillen nicht einmal genug Zeit zu haben, ihre Lieben zu sehen. Von keiner anderen Besatzung der Kriegsmarine wird erwartet, dass sie unter solchen Bedingungen arbeitet.“
„Deshalb habe ich alle Männer auf diesem Boot handverlesen. Sie sind die Besten, die die Kriegsmarine zu bieten hat. Du solltest es wissen, du hast sie mit ausgewählt.“
„Ich will damit nur sagen, dass wir uns etwas mehr Zeit lassen könnten, bevor wir unsere Männer wieder in die Schlacht schicken. Wenn auch nur, um die Moral zu stärken.“
„Das ist nicht meine Entscheidung“, erklärte Richter. „Die Mächte sind begierig darauf, unsere einzigartigen Fähigkeiten zu nutzen, und ich verstehe sie. Die Gezeiten des Krieges ändern sich. Wir leben nicht mehr in den glücklichen Zeiten, in denen wir ein Schiff oder einen Frachter angreifen konnten und weg waren, bevor überhaupt irgendjemand bemerken konnte, dass wir da gewesen sind. Die Alliierten sind zu gut darin geworden, uns zu finden. Uns zu versenken. Sie verfügen über Sonar. Wasserbomben. Langstreckenbomber. Die Wolfsrudel sind zu verwundbar. Sie werden täglich dezimiert.“
„Glaubst du wirklich, dass ein U-Boot daran etwas ändern kann?“
„Dieses schon.“ Richter rückte seine Mütze zurecht und verschränkte dann die Arme. „Schnell und hart zuschlagen.
Wie in den alten Tagen, zumindest für uns. Rein und raus, bevor die Alliierten überhaupt reagieren können. Wie viel Tonnage haben wir bei den letzten drei Patrouillen versenkt?“
„Mehr als jedes andere U-Boot, bei weitem.“
„Genau. Tausende von Tonnen. Auf unserer letzten Patrouille haben wir zwei Handelsschiffe und einen Tanker auf Grund gesetzt. Ich würde gerne mal sehen, wie eine andere Mannschaft das schafft.“
„Ich bestreite nicht die Schlagkraft unseres Bootes. Wenn jedes U-Boot der Flotte über diese Technologie verfügen würde, wäre der Krieg in wenigen Monaten
vorbei.“ Otto lächelte bei diesem Gedanken. „Vielleicht sogar in Wochen.“
„Wenn das nur möglich wäre“, antwortete Richter. „Aber wir sind und werden immer etwas Besonderes bleiben. Unser Beitrag wird unermesslich sein.“
„Ich verstehe, natürlich.“ Ottos Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. „Ich denke nur, dass wir die Männer zu sehr unter Druck setzen.“
„Was du oder ich denken, spielt keine Rolle. In einer idealen Welt würde ich den Männern gerne mehr Urlaub geben. Ich würde ihnen einen Monat mit ihren Familien geben, wenn es nach mir ginge. Sie haben hart gekämpft und haben es verdient. Aber wir haben unsere Befehle.“ Richter blickte auf den Aktenkoffer, der zu seinen Füßen lag. „Ich wurde auf einen schnell vorwärtsrückenden Konvoi aufmerksam gemacht. Er ist vier Tage unterwegs und nimmt Kurs auf die englische Küste. Liverpool, um genau zu sein. Er wird von einer Begleitgruppe geschützt, die aus Zerstörern und Korvetten besteht. Sie haben bereits einen Angriff vereitelt und dreiundvierzig tapfere UBoot-Fahrer in die Tiefe geschickt. Ich besitze die aktuellen Koordinaten des Konvois und habe ihre Position in vierundzwanzig Stunden hochgerechnet, basierend auf ihrer aktuellen Geschwindigkeit von elf Knoten. Unter normalen Umständen könnten wir den Konvoi nie erreichen, bevor er im Hafen ankommt. Aber dies ist kein gewöhnliches U-Boot.“
„Da sind wir uns einig.“ Das Lächeln war wieder auf Ottos Gesicht zu sehen.
„Konteradmiral Dönitz ist sehr daran interessiert, dass wir unsere Vorherrschaft über die Nachschubrouten zurückerobern. Wir werden mit diesem Konvoi beginnen, sie wie Fliegen zerquetschen und uns dann auf die Suche nach anderer Beute machen.“
„Unsere Befehle kommen also von ganz oben.“
„Ja, das stimmt.“ Richter nickte. „Aber keine Angst, alter Freund, es ist nur eine kurze Patrouille. Nur ein paar Wochen. Danach kehren wir siegreich zurück und ich werde darauf bestehen, dass die Männer eine längere Pause bekommen.“
„Das ist gut zu hören.“ Otto blickte zu seinem Kommandeur. „Wann brechen wir auf?“
„Eine Stunde vor Sonnenaufgang. Wir werden uns von der Küste entfernen und einen Kurs nach Südwesten in Richtung der Färöer-Inseln nehmen, bevor wir das Gerät einsetzen.“
„Verstehe“, erwiderte Otto. „Wir haben also ein paar Stunden Zeit. Du solltest deine Frau aufsuchen. Ich bleibe hier und beaufsichtige das Verladen der Vorräte.“
Richter starrte auf das U-Boot hinunter. „Du bist ein guter Mann, Otto. Der mit Abstand fähigste Erste Offizier der Flotte.“
Wenn das Kompliment Otto freute, ließ er es sich nicht anmerken. „Ich tue nur meinen Teil.“
„Und ich meinen. Ich gebe zu, es wäre schön, Liana noch einmal zu sehen, bevor wir losfahren, aber ich habe mich bereits verabschiedet. Die Männer können nicht nach Hause gehen, und ich auch nicht.“
„Dann bleiben wir zusammen. Für den Ruhm des Reiches.“
Richter hob eine Hand und seine Finger fanden den Weg zu dem Reichsadler, der unter seinem rechten Revers angenäht war, dem heraldischen Adler mit ausgestreckten Flügeln. Er blickte zum U-Boot und lächelte. „Für den Ruhm des Reiches.“
Es war fast Mitternacht. Seit neun Stunden waren sie dem alliierten Konvoi nun schon auf den Fersen, brachten sich in Position und warteten auf den geeigneten Moment, um zuzuschlagen. Kommandant Richter im Kontrollraum war nervös. Nicht, weil er glaubte, dass sie versagen würden –er wusste, dass das nicht der Fall sein würde –, sondern weil nur ein Dummkopf in einer Situation wie dieser keine Angst haben würde. Immerhin verzeichnete die U-BootFlotte die höchste Sterblichkeitsrate in der gesamten Marine. Trotz des taktischen Vorteils, den das im Maschinenraum installierte Gerät bot, kannte Richter die Risiken. Er stand schweigend da und ballte immer wieder die Fäuste, eine Angewohnheit, die er sich vor vielen Jahren angewöhnt hatte und nie ablegen konnte. Das war das einzige äußere Zeichen für seine innere Aufruhr. Sie fuhren auf Periskoptiefe und waren unentdeckt geblieben, als sie sich durch eine Lücke in der Eskorte des Konvois schlängelten und sich den schutzlosen Handelsschiffen dahinter näherten. Das würde sich ändern, sobald sie einen Angriff wagten. Sein Angriffsplan war gefährlich. Für ein kleineres U-Boot wäre es Selbstmord, zumal es kein Wolfsrudel gab, das ihn hätte unterstützen können. Richter und seine Männer waren auf sich allein gestellt. Doch er vertraute auf seine Instinkte und seine
Fähigkeit, ihnen aus der Patsche zu helfen. Er vertraute auch auf die einzigartige Technologie, mit der sein U-Boot ausgestattet war. Sie würde genauso funktionieren wie bei den drei vorherigen Einsätzen. Selbst als feindliche Zerstörer und U-Jagdflugzeuge auf sie zuhielten, waren Richter und seine Mannschaft unversehrt davongekommen. Als wären sie nie da gewesen. Geister.
Der Erste Wachoffizier Otto Sauer senkte das Angriffsperiskop und trat zur Seite. „Der Frachter ist direkt vor uns. Er fährt immer noch mit zehn Knoten und im Zickzack mit gedämpften Lichtern, aber wenn wir uns beeilen, haben wir freie Sicht auf den Bug. Darauf haben wir gewartet.“
Richter schwieg einen Moment und wog die Möglichkeiten ab. Aber sein Stellvertreter hatte Recht. Dies war ihre Chance. Er ballte erneut die Fäuste und wies dann die Abschussmannschaft an, die Torpedos vorzubereiten. Nachdem er das getan hatte, drehte er sich zum Steuermann um, der damit beschäftigt war, den Trim zu korrigieren, um die nun überfluteten vorderen Rohre auszugleichen.
Auf diesen Moment wartete jeder Kommandant einer UBoot-Flotte. Die Beute. Er holte tief Luft und schloss die Augen. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich den Frachter vor, der ihren Weg kreuzte und dessen Kapitän stolz auf der Brücke stand und nichts von der Gefahr ahnte, die an Steuerbord auf ihn lauerte. Er spürte ein Aufflackern von Mitgefühl. Sie befanden sich zwar im Krieg, aber er war auch ein Seemann. Kaum war der Gedanke in seinem Kopf, war er auch schon wieder verschwunden und wurde durch die grimmige Entschlossenheit ersetzt, seinen Auftrag zu erfüllen. Richter öffnete die Augen und hob einen Arm, dann ließ er ihn nach unten sinken, während er die Abschussbefehle bellte. „Torpedo eins, los. Torpedo zwei, los.“
Das U-Boot erbebte, als zwei tödliche Geschosse aus den Rohren glitten und durch das Wasser rasten.
Richter ging zum Angriffsperiskop und hob es an. Vor ihnen konnte er den Frachter als schemenhaften Umriss am Nachthimmel erkennen.
Neben ihm zählte Otto die Sekunden, in denen die Torpedos auf ihr Ziel zurasten. Er erreichte die Zahl acht, bevor seine Stimme von einem ohrenbetäubenden Knall übertönt wurde.
Ein orangefarbener Feuerball brach aus dem Mittelteil des Frachters hervor. Richter umklammerte das Periskop und presste seine Augen angespannt auf das Okular, selbst als die Schockwelle auf sie einschlug. Das U-Boot schaukelte und taumelte. Ein kleiner Tsunami überspülte das Periskop und versperrte Richters Sicht auf den Frachter. Dann kam eine weitere Welle und danach noch eine. Als sich die Sicht besserte, war der Frachter immer noch da, aber er lag tief im Wasser, hatte starke Seitenneigung und auf seinen Decks tobten Brände. Eine dicke Rauchwolke stieg in den Himmel und verdeckte den Mond. Was auch immer sie geladen hatten, war verschwunden. Richter vermutete, dass es Munition war, die auf dem Weg nach England war, um die dortigen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Stattdessen hatten sie das Boot zerrissen und seinen Holm gebrochen. Die Männer würden im öligen Wasser um ihr Überleben kämpfen. Jedenfalls diejenigen, die bei der ersten Explosion nicht ums Leben gekommen waren. Wenn sie Glück hatten, würde eines der anderen Schiffe des Konvois vorbeikommen und sie auflesen. Wenn nicht, würden sie im eiskalten Atlantik erfrieren. So oder so, Richter hatte seine Arbeit getan. Es gab noch andere Ziele im Konvoi, und er hatte immer noch zwölf Torpedos zwischen den vorderen und hinteren Rohren, aber für den Moment war Richter zufrieden, in die Nacht zu entschwinden. Nur würde das nicht so einfach sein.
Irgendwo auf der Backbordseite gab es eine zweite Explosion, diesmal nicht in der Nähe des Frachters.
Eine Wasserbombe.
Er stöhnte und schwenkte das Sehrohr, als er mit Schrecken feststellte, dass ein Zerstörer der US-Marine sie flankierte. Weiter entfernt, aber schnell näher kommend, sah er zwei weitere Geleitschiffe.
Obwohl er sicher war, dass sie entkommen würden, verspürte er einen unwillkürlichen Angstschauer. Er klappte das Sehrohr ein und rief dem Chefingenieur zu. „Flute die Tanks.“
Ein zweiter Knall rüttelte das U-Boot auf. Der Zerstörer gab seine Schüsse von weit weg ab, aber er kam mit jeder Ladung, die er aus den K-Kanonen auf seinem Deck abfeuerte, näher.
Das Boot kippte und stürzte in die Schwärze, als sich die Ballasttanks mit Meerwasser füllten. Die Besatzungsmitglieder eilten in den Torpedoraum, um den vorderen Teil des Bootes zu beschweren. Die Dieselmotoren schalteten sich ab und tauchten das U-Boot in eine unheimliche Stille. Alles lief nun über Batterie.
„Wir sollten das Gerät einschalten.“ Otto stützte sich mit gespreizten Beinen an der Druckschottluke ab.
„Wo zum Teufel kommt dieser Zerstörer her?“ Richter blickte seinen Ersten Offizier vorwurfsvoll an. „Ich dachte, wir wären unbemerkt durchgeschlüpft.“
„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt“, knurrte Otto. Er drehte sich zum Navigator, der über eine Schalttafel mit zwei Reihen von Reglern kauerte. „Können wir das Transitgerät schon aktivieren? Stehen die Koordinaten fest?“
„Ich arbeite daran.“ Er drehte an den Reglern und sah in einem Notizbuch mit Berechnungen nach. „Fast fertig.“
„Mach schnell, Junge.“ Richter spürte, wie sich das Heck des Bootes senkte, als das U-Boot sich einpendelte. Sie waren jetzt tief, fast in einer Tiefe, in der sie Gefahr
liefen, dass das Boot dem Druck nicht mehr standhalten würde können. Nahezu 250 Meter. Ein gequältes Stöhnen hallte durch den engen Raum, als sich der Rumpf gegen das immense Gewicht des Ozeans stemmte. Wasser drang ein und sickerte durch alle Nähte und Schotten auf die Brücke.
Wir sind nichts weiter als ein untergetauchter Pfefferstreuer, dachte Richter, und wenn wir noch tiefer gehen, sind wir bloß noch ein zusammengequetschter Topf. Er wusste jedoch, dass das so nicht stimmte. Wenn sie unter ihre Maximaltiefe sinken würden, würden sie implodieren. Der Rumpf würde aufreißen wie ein überreifer Pfirsich, der gegen eine Wand knallte. Nicht, dass einer von ihnen das mitbekommen würde. Sie würden auf der Stelle getötet werden. Aber das war nicht die eigentliche Gefahr. Die Zerstörer über ihnen überzogen den Ozean mit Wasserbomben. Sie konnten das Dröhnen hören, das entstand, wenn die druckempfindlichen Bomben detonierten. Noch war keine tief genug gesunken, um sie zu erwischen, aber das war nur eine Frage der Zeit.
Deshalb konnten sie auch nicht bleiben, wo sie waren. Sie konnten auch nicht riskieren, ihre Elektromotoren zu starten und sich in Bewegung zu setzen. Das würde ihre Position verraten.
Das Transitgerät war ihre einzige Hoffnung auf eine lautlose Flucht.
Deshalb ballte Richter immer wieder die Fäuste, bis der Navigator zu ihm aufblickte und ihm zunickte. Richter nickte zurück, ein stummes Kommando, um das Gerät zu aktivieren und sie von dort wegzubringen.
Der Navigator überprüfte noch einmal seine Anzeigen, sah in seinem Notizbuch nach und betätigte dann einen roten Knopf auf der Konsole.
Im ganzen Schiff ertönte ein Brummen. Es begann im Maschinenraum und breitete sich nach vorne aus, wobei es die Luft mit einer seltsamen, knisternden Wärme erfüllte.
Richter entspannte endlich seine Hände.
In wenigen Augenblicken würde das Brummen seinen Höhepunkt erreichen, und dann würden sie sich in Sicherheit bringen und die Zerstörer über ihnen erfolglos auf die Jagd gehen lassen. Es hatte schon dreimal geklappt, und er wusste, dass es wieder klappen würde. Seine Brust schwoll an vor Stolz. Sie hatten sich zwischen den Begleitschiffen hindurchgeschlichen und erneut Beute gemacht. Er stellte sich die Lorbeeren vor, die auf sie warten würden, sobald sie zur Basis zurückgekehrt waren.
Vier Patrouillen, in denen jeweils mehr Schiffe versenkt wurden als von jedem anderen U-Boot der Flotte. Er würde ein Held sein. Darüber musste er lächeln.
Doch das Lächeln währte nicht lange.
Ein weiterer donnernder Knall, diesmal nah genug, um das U-Boot zu erschüttern.
Das Brummen erreichte seinen Höhepunkt. Höher und irgendwie drängender als zuvor. Er spürte, wie die Decks vibrierten und der Rumpf ächzte, als das Gerät ansprang. Und er nahm noch etwas anderes wahr. Das Grollen einer weiteren Explosion. Diese war viel zu nah. Sie ließ das Boot seitlich durch das Wasser schlingern.
In der Kombüse fiel etwas herunter und krachte auf den Boden.
Die Lichter flackerten und gingen aus, dann gingen sie wieder an, während das Brummen immer leiser wurde.
Richter warf seinem Ersten Offizier einen Blick zu und konnte die Angst in seinem Gesicht erkennen.
Ein Matrose ließ einen Schrei los.
Richter ballte ein weiteres Mal die Fäuste. Eine Erinnerung an Liana und den Kuss, den sie an ihrem letzten gemeinsamen Nachmittag miteinander geteilt hatten, trieb ihm eine Träne in die Augen. Dann zerbrach die Welt um ihn herum in einem grellen weißen Licht.
GEGENWART
Das U-Boot ruhte am Rande des Kontinentalbodens auf dem Meeresgrund, ein Relikt aus einem vergangenen Zeitalter, das mehr als ein dreiviertel Jahrhundert in der Dunkelheit gewartet hatte, bis sich ein Trawler mit seinen Netzen in seinem Kommandoturm verheddert hatte. Mackenzie Peters, die von so ziemlich jedem, der sie kannte, Mac genannt wurde, befand sich im Kontrollraum und fotografierte jeden Zentimeter der Ausrüstung in Nahaufnahme. Sie hatte den Tag zuvor damit verbracht, den Innenraum mit einer auf einem Stativ montierten 3-DKamera zu vermessen, um ein interaktives, computergeneriertes Modell zu erstellen. Es war eine nervenaufreibende Arbeit, die Kamera sorgfältig zu positionieren und dann den Raum zu verlassen, um nicht im Bild zu sein, während der Kamerakopf sich um dreihundertsechzig Grad drehte, um die Umgebung in atemberaubender Detailtreue aufzunehmen. Sobald der Schwenk abgeschlossen war und die Daten erfasst waren, kehrte sie zurück und wiederholte den Vorgang, während sie die Kamera nur ein kleines Stückchen bewegte. Das wiederholte sie auf der gesamten Länge des Bootes. Am Ende wurden die Bilder zusammengefügt, um eine virtuelle
Nachbildung des gesamten U-Boots vom Bug bis zum Heck zu erstellen. So konnten die Forscher das U-Boot erkunden, wann immer sie wollten, auch noch lange nachdem sie das Schiff verlassen hatten und an die Oberfläche zurückgekehrt waren. Es war ein unschätzbares Hilfsmittel.
Mackenzie bückte sich und fotografierte eine Reihe von Zeigern, die einst den Druck in den Ballasttanks des UBoots angezeigt haben könnten. Nicht, dass sie eine Expertin für solche Dinge wäre. Sie war lediglich Forschungsassistentin. Eine hilfsbereite Person, die die Routinearbeiten erledigte, mit denen sich die eigentlichen Wissenschaftler nicht herumschlagen wollten. So kam es, dass sie mit ihrer Kamera allein war und Bilder von Schalttafeln, Reglern und Ventilen schoss. Aber das war nicht weiter schlimm. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt und hatte noch viele Jahre Zeit, um ihre Karriere voranzutreiben und zur Expeditionsleiterin zu werden, anstatt die ganze Drecksarbeit zu machen.
Sie richtete sich auf und streckte sich. Die Stunden in dem engen Raum verursachten ihr Rückenschmerzen. Noch ein paar Stunden und sie könnte abhauen und der klaustrophobischen Enge dieses uralten Relikts auf dem Meeresgrund entkommen.
Sie sah die letzten Fotos auf dem Bildschirm der Kamera durch, um sicherzustellen, dass sie alle scharf waren und sie nichts verpasst hatte, bevor sie sich dem nächsten Instrumentenbrett zuwandte. Mit einem Auge am Sucher wollte sie gerade ein Foto von einem weiteren altmodisch aussehenden Zifferblatt machen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte.
Es war nichts Besonderes, nur ein leises schlurfendes Geräusch, als ob jemand hinter ihr herlaufen würde. Sie ließ die Kamera sinken und drehte sich um, in der Erwartung, einen der anderen Forscher zu sehen, aber es war niemand da.
„Hallo?“ Ihre Stimme hallte durch die glänzende Metallröhre, die den Rumpf des U-Boots bildete, aber sie erhielt keine Antwort.
„Ist noch jemand hier?“ Sie lauschte einen Moment und spähte an dem gedrungenen, zylindrischen Periskop vorbei in Richtung des hinteren Teils des U-Boots. Die Druckschottluke, die zum hinteren Batterieraum führte, war offen und gab den Blick frei auf die Kombüse. Im ganzen Schiff waren Arbeitsleuchten angebracht. Blanke Glühbirnen hingen in gelben Käfigen von der Decke jeder Kammer. Sie erleuchteten das Innere des Schiffes in einem hellen, weißen Licht, das die engen Räumlichkeiten und Geräte des U-Bootes deutlich erkennen ließ. Sie schien allein zu sein.
Achselzuckend wandte Mackenzie ihre Aufmerksamkeit wieder der Konsole zu. Sie hob die Kamera wieder an.
Das Schlurfen wiederholte sich, dieses Mal lauter.
Es war also doch jemand hier.
Wieder senkte Mackenzie die Kamera und wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Schatten an der Wand der Kombüse hochsprang. Sie holte kräftig Luft.
„Wenn hier jemand ist, dann zeig dich“, erklärte Mackenzie und fragte sich, ob Pavel, einer der beiden Meeresarchäologen des Forschungsteams und ein bekannter Scherzkeks, sich einen Scherz mit ihr erlaubte. „Hör auf, herumzualbern. Du jagst mir keine Angst ein.“
Wie zuvor gab es keine Antwort.
„Kommt schon, Jungs, das ist nicht lustig.“ Sie war das jüngste Mitglied des Teams. Das bedeutete, dass sie Freiwild für Hänseleien war.
Aus den Tiefen des U-Boots ertönte das Klirren von Metall auf Metall, als hätte jemand einen Schraubenschlüssel oder einen Hammer fallen lassen.
„Genug ist genug. Schluss damit“, rief Mackenzie. Die Worte hallten zu ihr zurück. Sie stellte die Kamera ab und
machte sich auf den Weg zur Druckluke. Sie konnte spüren, wie ihr Herz schnell gegen ihren Brustkorb schlug.
Nachdem sie den Batterieraum betreten hatte, begab sie sich in die Kombüse, einen Raum, der so klein war, dass sie kaum glauben konnte, dass dort Mahlzeiten für fünfundvierzig Besatzungsmitglieder zubereitet worden waren.
Sie hielt an und betrachtete ihre Umgebung, aber sie konnte nichts erkennen. Das U-Boot war ruhig und still. Vielleicht war es nur ihre Einbildung, die ihr einen Streich gespielt hatte. Nachdem sie tagelang hier eingesperrt war, war es kein Wunder, dass sie nervös war. Wer wäre das nicht gewesen? Das U-Boot war unheimlich, besonders da sie als Einzige darin arbeitete. Und es war nicht das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, jemand würde sie beobachten.
„Reiß dich zusammen, Mac“, murmelte sie in die Leere. Die Ermahnung an sich selbst trug wenig dazu bei, ihre Besorgnis zu lindern. Aber das war auch egal. Sie würde sich zusammenreißen und weitermachen müssen. Sie musste noch drei Instrumententafeln im Kontrollraum fotografieren, bevor sie schlafen gehen konnte. Deshalb versuchte sie, das unbehagliche Gefühl zu verdrängen. Es hatte keinen Sinn, sich zu ängstigen. Sie wandte sich wieder dem Batterieraum zu.
In diesem Moment flackerten die Arbeitslichter auf und gingen aus.
Mackenzie widerstand dem Drang zu schreien. Die plötzliche Dunkelheit war vollkommen. Sie war so dicht, dass sie nicht einmal ihre eigenen Hände sehen konnte, während sie nach irgendetwas tastete, woran sie sich festhalten konnte. Schließlich spürte sie kaltes, glattes Metall unter ihren Fingerspitzen. Das Schott, das die Kombüse vom Batterieraum trennte. Sie fuhr mit ihren Fingern daran entlang, bis sie die Öffnung fand. Sie unterdrückte ein Schluchzen, versuchte, der Panik, die in