4 minute read

Die Grenze der Zwietracht

Es ist nur schwer zu glauben, dass es mitten in Europa zwei, den G8 zugehörige Staaten gibt, zwischen denen immer noch Unstimmigkeiten bezüglich des Grenzverlaufes herrschen; vor allem wenn wir daran denken, welche Relevanz etwas mehr als 0,8 Quadratkilometer für den Wohlstand dieser zwei Staaten haben. Eis scheint, wie so oft, ein einfaches Spiel im unfähigen Politikbetrieb. Wir werden hier versuchen, dieser Zwietracht in seiner 300jährigen Geschichte zurückzuverfolgen bis in die heutigen Zeiten der Kartographie von Google Earth.

1720

Herrschaft Savoyen, die Hauptstadt wird nach Turin verlegt; das komplette Massiv liegt im Herrschaftsgebiet Königreichs Sardinien, keine Grenzlinie teilt den Mont Blanc.

1796, VERTRAG VON PARIS

Unter Napoleon Bonaparte muss Viktor Emanuel II. von Savoyen verschiedene Territorien abgeben; zum ersten Mal verläuft die Staatsgrenze mitten durch das Mont Blanc-Massiv. Die Teilung sieht vor, dass die höchsten Gipfel Teil Frankreichs werden und nur einige untergeordnete Gipfel bleiben italienisches Herrschaftsgebiet.

1815, WIENER KONGRESS

Nach der Ära Napoleons versucht man das „Ancien régime“ wiederherzustellen. Die französischen Territorien des Mont Blancs kehren zurück in das Herrschaftsgebiet des Königs von Sardinien und Die Grenzlinie durch das massiv ist keine Landesgrenze mehr, sondern die Grenze zwischen den Herzogtümern Aosta und Savoyen.

1860, VERTRAG VON TURIN

Übergabe der Grafschaft Nizza und Savoyens an Frankreich. Der Ministerpräsident des Königreichs Sardinien Cavour versprach dem französischen Kaiser Napoleon III. die Abtretung dieser Gebiete im Austausch für seine Unterstützung der italienischen Einigungspolitik. Dadurch wurde die Grenze zwischen den beiden Herzogtümern des Königreichs Sardinen zur Staatsgrenze. Dabei ist bemerkenswert, wie die Protokolle des Vertrags die Grenzlinie zwischen den beiden Herzogtümern in identischer Weise als Staatsgrenze aufnahmen, ohne jedoch im Detail auf die höchstgelegenen Zonen der Bergkette einzugehen (aus praktischen Gründen war es zu jener Zeit nicht möglich, Kartografen in diese Zonen des Massivs zu entsenden). Der Gipfel des Mont Blancs wurde folglich grob geschätzt zwischen den beiden Staaten aufgeteilt.

1865

Jean-Joseph Mieulet, erstellt im Auftrag des französischen Militärs eine topographische Karte des Massivs. Auf dieser Karte erscheint zum ersten Mal der Grenzverlauf durch das Massiv. Der ganze Gipfel des Mont Blancs liegt auf französischem Gebiet, wobei die Wasserscheidelinie und die morphologische Grenze zwischen den beiden Bergseiten komplett ignoriert werden. Die vorhergehenden bilateralen Verträge wurden dabei also in keiner Weise eingehalten. Hier beginnt die unterschiedliche Zeichnung des Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten: die italienischen Karten zeigen

die Grenze, wie sie zur Zeit des Königreichs Sardinien gültig war, die französischen Karten dagegen werden willkürlich erneuert. Laura und Giorgio Aliprandi, Experten für historische Kartographie, bestätigen, dass der Monte Bianco schriftlich als zweigeteilt festgelegt wurde und dass die Karte von J. Mieulet ein grandioser historischer Fake ohne rechtliche Grundlage ist. Als Belege dafür dient den Wissenschaftlern auch die Tatsache, dass Cavour in einem verborgenem Briefwechsel die Modalitäten für die Annexion Savoyens mit dem Kaiser verhandelte und dass in einem solchen Brief, genau am Vortag der Vertragsunterzeichnung, geklärt wurde, dass die Grenze am Gipfel des Mont Blanc wie die Verwaltungsgrenze zwischen Savoyen und Aosta verlaufen sollte.

ERSTE HÄLFTE 1900

Das politische Chaos der Kriegsjahre war mit Sicherheit kein Vorteil für die wirre Situation am Mont Blanc und um die Situation noch zusätzlich zu erschweren, beginnen verschiedene Gemeinde, in deren Gebiet der Gipfel der Mont Blanc liegt, darüber zu streiten, zu welcher Gemeinde der Gipfel denn nun tatsächlich gehört. Die Konfusion geht weiter bis zu den Pariser Verträgen im Jahr 1947, in denen in beidseitigem Einverständnis die Wiederherstellung der Grenzen der Wiener Verträge aus dem Jahr 1860 festgelegt wird, in denen wiederum in keiner Weise Veränderungen an der Grenzführung am Mont Blanc angemerkt sind.

1957-1965, DER TUNNEL DURCH DEN MONT BLANC

Bei der Projektplanung und Konstruktion einigen sich die beiden Länder auf eine genaue Grenze, um in gleichberechtigter und von beiden Seiten anerkannter Weise den Bau des Tunnels zu finanzieren. In einer Linie mit dem Vertrag von Turin von 1860 und ohne die historischen Fehler der Karte von Mieulet zu beachten, wird der Grenzverlauf über den Gipfel festgelegt und der Tunnelbau legt damit die konstitutionelle Grenze zwischen den beiden Ländern fest.

1988

Zum ersten Mal in der „modernen“ Geschichte tauchen bei einer Prüfung der Autobahn durch die zuständige Gesellschaft Unterschiede bezüglich des Grenzverlaufs auf.

1995

Italien gründet eine Arbeitsgruppe, die mit der Klärung der an der Grenze festgestellten Unstimmigkeiten beauftragt wird. Die Antwort Frankreichs unterstreicht, dass diese Unstimmigkeiten nicht nur die Gipfelzone des Mont Blancs betreffen, sondern auch die Gebiete des Dôme du Gouter und des Colle del Gigante, dazu kommt, dass das historische Kartenmaterial Frankreichs während der beiden Weltkriege verloren gegangen war.

2015

Ihr fragt euch vielleicht, was diese ganze Geschichte mit uns Alpinisten und diesem Buch zu tun hat. In erster Linie ist es interessant, dass auch heute noch Grenzstreitigkeiten zwischen zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt. Zweitens sind wir gezwungen Absperrungen zu überqueren, die vom Bürgermeister von Chamonix willkürlich aufgebaut wurden, nachdem er den Zugang zum Glacier du Géant von der Torino Hütte aus als zu gefährlich befunden und ein Zugangsverbot verhängt hat, das absolut fehl am Platz ist. Die Provokation wurde noch zusätzlich verstärkt, als die Betreiber der Seilbahnen von Chamonix die Preise für alle, die die Überschreitung Aiguille du Midi – Helbronner Spitze machen wollten, anhoben, ohne sich mit den Betreibern der italienischen Seilbahnen abzusprechen.