Nachbarn kennenlernen! Zusammenfassung der Studie und Empfehlungen

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Nachbarn kennenlernen! Wirkung deutsch-polnischer Jugendbegegnungen Zusammenfassung der Studie und Empfehlungen Sabine Kakuie, Agnieszka Ĺ ada, Silke Marzluff


SABINE KAKUIE, AGNIESZKA ŁADA, SILKE MARZLUFF

NACHBARN KENNENLERNEN! WIRKUNG DEUTSCHPOLNISCHER JUGENDBEGEGNUNGEN ZUSAMMENFASSUNG DER STUDIE UND EMPFEHLUNGEN


INSTITUT FÜR ÖFFENTLICHE ANGELEGENHEITEN EUROPAPROGRAMM Die Publikation entstand in Rahmen des Projekts: „Nachbarn kennenlernen! – Wirkungen deutsch-polnischer Jugendbegegnungen auf die Teilnehmenden“ realisiert gemeinsam vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP) und Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) im Forschungs- und Innovationsverbund an der Evangelischen Hochschule Freiburg e.V. . Gefördert aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung und des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW).

Projektleitung ISP: Dr. Agnieszka Łada Projektleitung zze: Prof. Dr. Thomas Klie Forschungsteam: Małgorzata Fałkowska-Warska, Lena Föll, Ann-Katrin Fuchs, Lara Gregl, Anna Jezierska, Sabine Kakuie, Julia Kamenicek, Prof. Beata Łaciak, Silke Marzluff, Maria Nguyen, Corinna Weingärtner Grafische Gestaltung des Umschlags: Studio 27 (www.studio27.pl) Bild auf dem Umschlag: olly/fotolia.com

© Copyright by Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau 2014 Vollständige und/oder auszugsweise Nachdrucke von Materialien des Institutes für Öffentliche Angelegenheiten sind nur mit Einwilligung des Institutes gestattet. Das Zitieren von Textstellen sowie die Verwendung von empirischen Daten ist unter Angabe der jeweiligen Quellen erlaubt. ISBN: 978-83-7689-228-3 Herausgeber: Stiftung Institut für Öffentliche Angelegenheiten 00-031 Warschau, ul.Szpitalna 5/ 22 Tel.: (004822) 556 42 60, Fax: (004822) 556 42 62 E-mail: isp@isp.org.pl www.isp.org.pl Satz und Drucklegung: Ośrodek Wydawniczo-Poligraficzny „SIM” 00–669 Warszawa, ul. Emilii Plater 9/11 tel. 22 629 80 38 www.owpsim.pl


Inhaltsverzeichnis

Einführung

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Methodik

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Ergebnisse der Austauscherfahrungen

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Polnische und deutsche Austauschteilnehmende – Ähnlichkeiten und Unterschiede

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Empfehlungen

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Zu den Autorinnen

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Einführung

2014 sind 23 Jahre seit der Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks vergangen, der Organisation, die Deutschen und Polen maßgeblich Austauscherfahrungen ermöglicht. Bis heute hat das DPJW Austauschprojekte für fast zweieinhalb Millionen junge Polen und Deutsche gefördert. Darüber hinaus gibt es viele weitere Akteure, die Begegnungen zwischen Jugendlichen aus Polen und Deutschland ermöglichen. Die große Anzahl von Begegnungen führt zu der Frage nach den Wirkungen, nicht nur für die persönliche Entwicklung der Teilnehmenden, sondern auch für die Annäherung beider Länder – denn genau dieses Ziel verfolgt das DPJW seit seiner Gründung. Dabei ist das gegenseitige Bild der Teilnehmenden aus Deutschland und Polen von Interesse, ebenso wie ihre Meinungen zu Politik, Wirtschaft und Kultur des jeweiligen Nachbarlandes und Einschätzungen bezüglich der deutsch-polnischen Beziehungen. Das Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) aus Deutschland und das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP) aus Polen haben den Einfluss von Austauscherfahrungen auf Jugendliche beider Länder untersucht. Wie bewerten diese den Ablauf der jeweiligen Austauschfahrten und vor allem das Nachbarland und seine Gesellschaft? Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden in der Publikation: „Nachbarn kennenlernen! Wirkungen deutsch-polnischer Jugendbegegnungen auf die Teilnehmenden“ ausführlich dargelegt. In dem vorliegenden Papier sind die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst.

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Methodik

Die durchgeführte Untersuchung vergleicht Personen, die 2012 oder 2013 an schulischen und außerschulischen Austauschprogrammen in Polen bzw. Deutschland teilgenommen haben mit solchen, die zwischen 2003 und 2007 einen Austausch erlebten. Zudem wurde eine dritte Personengruppe einbezogen: Menschen, die das jeweilige Nachbarland noch nie besucht haben. Mit Gruppendiskussionen und Einzelinterviews wurden zwei qualitative Forschungszugänge gewählt, die sich gegenseitig ergänzen. 30 polnische und 28 deutsche Jugendliche wurden mittels Einzelinterviews befragt. Zudem gab es in Polen insgesamt vier Gruppeninterviews mit Schülerinnen und Schülern die an einem Austausch nach Deutschland teilgenommen haben (zwei Gruppen), Deutschland unabhängig von einem besucht haben (eine Gruppe) und die das Nachbarland noch nie besucht haben (eine Gruppe). In Deutschland wurden jeweils mit zwei Schülergruppen Gruppeninterviews geführt, die an einem Austausch teilgenommen haben und solchen, die Polen noch nicht besucht haben. Zwar stellen die Antworten von insgesamt 119 Jugendlichen und jungen Erwachsenen keine repräsentativen Forschungsergebnisse im quantitativen Sinn dar, sie erlauben jedoch Verallgemeinerungen und das Formulieren von Schlussfolgerungen und Empfehlungen, da sie auf Normen und Strukturen und damit Erklärungsansätze, die der Lebenswelt der Befragten zugrunde liegen, verweisen. Da sich die Ergebnisse aus den Einzelinterviews und Gruppendiskussionen ähneln und auch im Vergleich der Aussagen von Teilnehmenden beider Länder keine widersprüchlichen Angaben gemacht wurden, deutet vieles darauf hin, dass die Resultate dieser Untersuchung auf einen Großteil der entsprechenden Grundgesamtheit zutreffen. Dies wird zudem durch die Ähnlichkeit mit Ergebnissen repräsentativer Umfragen gestützt. Die Studie bietet kein Erfolgsrezept für gelingende Jugendbegegnungen. Sie verdeutlicht jedoch die große Bedeutung und Sinnhaftigkeit der Aktivitäten von Organisationen wie dem DPJW.

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Ergebnisse der Austauscherfahrungen

Polnische Jugendliche Allgemeine Beurteilung der Austauscherfahrungen und deren Auswirkungen

Wertvolle Erfahrungen Der Austausch wird von allen polnischen Teilnehmenden positiv bewertet. In ihren Augen zählt er zu den wertvollsten Erfahrungen ihres Lebens und hat in vielen Fällen sogar ihren weiteren Lebensweg mitbestimmt. Diejenigen, die bei deutschen Gastfamilien untergebracht waren, schätzten das Leben in einer deutschen Familie, da sie so deutsche Gewohnheiten und die deutsche Kultur intensiver kennen lernen konnten. Positive Erwartungen Die Teilnehmenden stimmen darin überein, dass sie auf den Austausch gespannt waren und ohne Vorbehalte nach Deutschland gefahren sind. Ihre positive Einstellung stützte sich oftmals auf das Wissen von Familienangehörigen und Freunden, die bereits Kontakt zu Deutschland und Deutschen gehabt haben. Die Deutschen: Nicht nur ordentlich Der Aufenthalt in Deutschland bestätigte die Teilnehmenden in ihrer Überzeugung, dass Deutsche ordnungsbewusst und gut organisiert sind. Entgegen ihrer Erwartungen zeigte der Austausch, dass Deutsche ebenso offen und „locker“ sind und eben nicht so „kalt“ und verschlossen wie in Vorurteilen postuliert. Wir sind verschieden Diejenigen, die an einem Austausch teilgenommen haben, nehmen zwar Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Polen wahr, generell werden jedoch von allen Befragten eher Unterschiede benannt. Die Untersuchung hat aufgezeigt, dass die Teilnahme an einem Austausch hierauf keinen Einfluss hat. Deutschland – reich und entwickelt Die Bewertung von Deutschland hängt nicht davon ab, ob die befragte Person bereits in diesem Land war. Es herrscht übereinstimmend die Ansicht vor, dass Deutschland ein reiches, sauberes, ordentliches und technologisch entwickeltes Land ist. Geschichte ist Geschichte Wie die Befragten berichten, war der Zweite Weltkrieg für die polnischen Teilnehmenden kein Gesprächsthema und hatte keinen Einfluss auf die

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gegenseitige Wahrnehmung. Historische Fragen spielen generell bei der Beurteilung der Deutschen eine immer kleinere Rolle. Besondere Rolle Deutschlands in Europa Unabhängig von einer Teilnahme an einem Austausch wird Polens Rolle in Europa als weniger bedeutend beurteilt, Deutschland hingegen weiterhin als reiches Land wahrgenommen, welches aufgrund seines Kapitals die Macht hat, mehr in Europa und der Welt zu bestimmen. Mobilität selbstverständlich Allgemein sinkt in Polen das Interesse an Austauschprogrammen unabhängig vom Reiseziel. Dies folgt aus den zahlreichen Möglichkeiten, ins Ausland zu fahren, sowie aus der wachsenden Konzentration auf das Leben in der virtuellen Welt. Am Land interessiert – an der Politik weniger Die Teilnahme an einem Austausch hat zum Teil den Wunsch hervorgerufen, nach Deutschland zu gehen, unter anderem um dort zu arbeiten oder zu studieren. Sie hat jedoch zu keinem größeren Interesse z. B. an der Politik des Landes geführt. Austausch lohnt Die Teilnehmenden stellen einheitlich fest, dass Austauschprogramme öfter organisiert werden sollten, da sie sich in ihren Augen positiv auf die gegenseitige Wahrnehmung der beiden Länder auswirke – was nicht gleichbedeutend damit ist, dass es keine Unterschiede, z.B. in der Wirtschaftsmacht – gibt.

Vergleich zwischen Antworten derjenigen, die in den Jahren 2003 bis 2007 an einem Austausch teilgenommen haben, und Teilnehmenden an einem Austausch im Jahr 2012

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Englisch statt Deutsch Die meisten nannten die Möglichkeit, ihre Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern als größte Motivation zur Teilnahme. Unter den Teilnehmenden der letzten Jahre (2012) bezog sich dies immer häufiger auf Englisch, anstatt auf Deutsch. Traumland versus Nachbarland Für die Teilnehmenden der Jahre 2003 bis 2007 war die Fahrt nach Deutschland eine Reise in ein besseres, reicheres Land, in den mythischen Westen. Die jüngeren Teilnehmenden wiederum sehen Deutschland immer öfter als Nachbarland an. Früher: gezielt, heute: zufällig Während Befragte eines Austausches im Jahr 2012 ihre Teilnahme häufig als „zufällig“ beschrieben, haben sich diejenigen aus den Jahren 20032007 vorher in höherem Maße für die deutsche Sprache oder Deutschland

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interessiert und daher aktiv nach Möglichkeiten zu einer solchen Fahrt gesucht. Auslandsreise an sich nicht mehr so „cool“ wie früher Da Auslandsreisen vor einigen Jahren noch nicht in einem Umfang wie heute möglich waren, hinterließ der Austausch vor allem bei denjenigen einen bleibenden positiven Eindruck, die in den Jahren 2003 bis 2007 an einem Austausch teilgenommen haben. Für Teilnehmende im Jahr 2012 ist zwar die Auslandsreise selbst nichts Besonderes mehr, der Austausch als solcher aber eine Attraktion. Keine Ängste mehr Austauschteilnehmende von 2003 bis 2007 hatten Ängste, wie die Deutschen die polnische Bevölkerung und das Land beurteilen würden. Solche Ängste tauchen hingegen in der zweiten Befragtengruppe nicht auf. Dies zeigt, wie sich die Wahrnehmung und die Selbsteinschätzung der Polinnen und Polen verändert haben. Vorurteile verschwinden Als negative Erfahrung führen Teilnehmende der Jahre 2003 bis 2007 Stereotype an denen sie begegneten, z. B. dass Polen klauen. Diejenigen, die 2012 einen Austausch mitgemacht haben, erwähnen solche Situationen nicht. Europa selbstverständlich Für die Teilnehmenden der Jahre 2003 bis 2007 hatte Europa eine größere Bedeutung als für die 2012 an einer Begegnung teilnehmenden Jugendlichen. Für letztere gehört die Europäische Union zum alltäglichen Leben dazu, so dass sie über diese gar nicht nachdenken.

Vergleich zwischen den Teilnehmenden an einem Austausch und solchen Jugendlichen, die nie in Deutschland waren und (oder) an einem Austausch teilgenommen haben

Begegnungen ändern Bilder Ob jemand bereits in Deutschland war oder nicht beeinflusst kaum die Bewertungen Deutschlands. Allerdings führt der Kontakt zu deutschen Einheimischen zu einem anderen Bild der Deutschen: Sie werden als freundlich und offen wahrgenommen. In allen Gruppen ist die Bewertung der Deutschen jedoch positiv und mehrheitlich besser als die Selbstbewertung. Direkte Erfahrung zählt Diejenigen, die an einem Austausch teilgenommen haben, stützen ihre Meinung über Deutsche auf ihre direkten Erfahrungen und bewerten diese. Dabei nehmen sie sowohl positive als auch negative Eigenschaften wahr und bilden sich so ein differenzierteres Bild vom Deutschland.

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Symmetrie und Wertschätzung bleibt ein Ziel Die Selbsteinschätzung der Polen ist sehr kritisch. Sie beurteilen sich negativ. Nur die polnischen Befragten, die nie in Deutschland gewesen sind, meinen, sie als Polen seien generell schlechter als die Deutschen. Die Austauscherfahrung bewirkt somit eine allmähliche Befreiung von Vorbehalten bzw. Komplexen der Polen in ihrer Beziehung zu Deutschen und führt zu einem höheren Selbstwertgefühl der Polen. Zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt Personen, die an einem Austausch teilgenommen haben, beurteilen die deutsch-polnischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt zwischenmenschlicher Kontakte. Auf die Frage nach der Bewertung der beidseitigen Beziehungen beziehen sie sich auf die Distanz der Polen zu den Deutschen, deren Ursprung ihrer Meinung nach in der Geschichte liegt. Sie thematisieren jedoch nicht die diplomatischen und politischen Beziehungen.

Deutsche Jugendliche Allgemeine Beurteilung der Austauscherfahrungen und deren Auswirkungen

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Urlaub in Polen Die Hauptmotivation zur Teilnahme an einem Schulaustausch stellt der Wunsch nach einer Art Urlaubsreise mit Schulkameradinnen und Schulkameraden dar. Teilnehmende eines außerschulischen Austauschs wollen hingegen Jugendliche aus einem anderen Land kennen lernen. Polen: nicht wirklich attraktiv Polen als Reiseziel des Austauschs ist an sich „nicht so wichtig“. Die Anziehungskraft Polens, bzw. im weitesten Sinne Osteuropas, besteht darin, dass es „etwas anderes als sonst“ ist. Man weiß wenig von Polen Viele der Jugendlichen hatten vor der Reise keine Vorstellung von Polen. Daher ermöglichte ihnen erst der Aufenthalt in diesem Land, sich eine Meinung zu bilden. Polnische Familien ticken anders Für die deutschen Befragten, die an einen Schulaustausch teilgenommen haben, stellt die Unterbringung in polnischen Familien ein ambivalent bewertetes Erlebnis dar. Neben der Freude das Alltagsleben in einer polnischen Familie mit zu erleben, werden Schwierigkeiten in der Kommunikation aufgrund einer häufiger fehlenden gemeinsamen Sprache mit den Eltern sowie eine unerwartet große Gastfreundschaft intensiv erlebt und dominieren die Erinnerung an den Austausch.

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Gegenwart und Zukunft zählen Den deutschen Jugendlichen zufolge ist die Erinnerung an die Vergangenheit wichtig und sollte nicht vernachlässigt werden. Dennoch wünschen sie sich, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren.

Vergleich zwischen den Teilnehmenden der Jahre 2003 bis 2007 und denjenigen, die 2012 oder 2013 einen Austausch erlebten

Vor einigen Jahren – Polen ein armes Land Bei Austauschteilnehmen aus den Jahren 2003 bis 2007 dominierte vor dem Austausch das Bild von Polen als einem armen Land. Zudem äußerten sie häufig, Geschichtswissen aus dem Unterricht zu haben. Teilnehmende eines außerschulischen Austauschs zwischen 2012 und 2013 bezogen ihre positiven Vorannahmen oftmals aus Erzählungen früherer Teilnehmender. Schülerinnen und Schüler, die 2012 oder 2013 nach Polen fuhren berichten einerseits von ihnen bekannten Stereotypen, von denen sie sich jedoch distanzieren, andererseits von einer großen Unkenntnis über Polen. Legendäre Herzlichkeit Alle befragten Teilnehmenden beschreiben die Polen als offen, herzlich und gastfreundlich. Allerdings beschreiben die jungen Erwachsenen, die in den Jahren 2003 bis 2007 an einem Austausch teilgenommen haben, die Polen sehr viel differenzierter als Befragte eines späteren Austauschs: „sehr offen“, „freundlich“, „freundschaftlich“, „herzlich“, „stolz“, „gastfreundlich“. In ihren Augen ist die Herzlichkeit der Polen „legendär“ und die Einstellung zu Deutschland sehr positiv. Unterschiedliches Interesse an Polen Bei den meisten Befragten hat sich das Interesse an Polen nicht vergrößert. Einige Teilnehmende der Jahre 2003 bis 2007 berichten allerdings von vermehrtem Interesse und über 20 weiteren Besuchen Polens. Vereinzelt geben Teilnehmende einer außerschulischen Austauschfahrt in den Jahren 2012 oder 2013 an, sich nun selbständig Informationen über Polen aus dem Internet zu beschaffen, was ein Indiz für ihr gestiegenes Interesse ist. Gutes Klima Teilnehmende eines außerschulischen Austauschs in den Jahren 2012 und 2013 nennen insbesondere neu geknüpfte Kontakte als großen Gewinn. Die Schülerinnen und Schüler wiederum erwähnen eher allgemein die positive Stimmung während des Austauschs. Diejenigen, die in den Jahren 2003 bis 2007 einen Austausch mitgemacht haben, heben außer der Veränderung ihres Bildes von Polen oder Deutschland auch ihre persönliche Entwicklung hervor.

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Vergleich zwischen Teilnehmenden an einem Austausch und solchen Jugendlichen, die nie in Polen waren und (oder) an einem Austausch teilgenommen haben

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Coole Polen Diejenigen, die bereits in Polen waren, tendieren überwiegend dazu, den „typischen Polen“ positiv zu beschreiben. Polen – Osteuropa? Jugendliche, die zuvor noch nie in Polen waren, neigen dazu, das Land unter „dem Osten“ zu subsumieren, welcher mit Fremdheit attribuiert wird. Auch Befragte, die Polen bereits besucht haben, äußern zum Teil Fremdheitsgefühle, können diese jedoch zumeist konkretisieren. Persönliche Erfahrung zählt Auf Grundlage der eigenen Erfahrungen können die Austauschteilnehmenden mehr Unterschiede zwischen beiden Ländern benennen, als diejenigen, die keinen Kontakt mit Polen hatten. Zudem unterscheiden sich die Personen beider Gruppen in ihren Assoziationen. Während die Personen mit Austauscherfahrung ihre Assoziationen auf persönliche Erlebnisse und Beobachtungen stützen, nennen diejenigen, die nie in Polen waren, vor allem Stereotype. Reisen bildet Diejenigen, die noch nie in Polen waren stützen ihre Vorstellungen von Land und Menschen auf Medienberichte und Vorurteile. In der Wahrnehmung der Geschichte tauchen keine Unterschiede zwischen Personen auf, die an einem Austausch teilgenommen haben, und denen, die nie in Polen gewesen sind.

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Polnische und deutsche Austauschteilnehmende – Ähnlichkeiten und Unterschiede

Wie anhand dieser Ergebnisse sichtbar wird, lassen sich Unterschiede und Ähnlichkeiten in den Antworten der deutschen und polnischen Befragten finden.

Motivation und Vorbereitung Unterschiede beziehen sich zum Beispiel auf die Motivation zur Teilnahme an einem Austausch, die auf polnischer Seite allgemein größer zu sein scheint. Problematisch ist, dass deutsche Teilnehmende nicht ausreichend auf ihren Aufenthalt in Polen vorbereitet sind, was bei ihnen zu Schwierigkeiten im Umgang mit den für sie fremden Normen und Werten führt. Sie sind weniger gut in der Lage, ihre eigenen kulturellen Werte und Verhaltensweisen zu reflektieren und haben mitunter Probleme, Werte ihres Gastlandes zu erkennen und zu akzeptieren. Dies ist auf polnischer Seite kaum der Fall. Die polnischen Befragten haben zudem ein größeres Wissen über das Nachbarland und führen weniger stereotype Bilder an, als die deutschen.

Fremd- und Selbstbild Während deutsche Befragte, die in einer Gastfamilie lebten, dies sehr ambivalent erlebten, gab es polnischen Teilnehmenden die Möglichkeit, das alltägliche Leben in Deutschland kennen zu lernen, was ihrem Wunsch entsprach. Ein Grund für die Probleme auf Seiten der deutschen Jugendlichen mag in sprachlichen Barrieren liegen, mit denen sie in polnischen Familien viel öfter konfrontiert waren, als polnische Jugendliche in Deutschland. Nach Meinung der polnischen Befragten ist Deutschland besser entwickelt als ihr Heimatland und auch bei den Deutschen gibt es eine Unterscheidung beider Länder: sie teilen sie in den Westen bzw. Osten ein. Ähnlichkeiten zeigen sich in der Charakterisierung der beiden Gesellschaften. Religiosität wird dabei von beiden Gruppen vor allem den Polen zugeschrieben. Polinnen und Polen werden zudem als freundlich, kontakt- und gastfreundlich wahrgenommen, während die Deutschen als gut organisiert, sorgfältig und effizient beschrieben werden. Das Selbstbild als Deutsche fällt im Großen und Ganzen positiv aus, jedoch zeigen sich die polnischen Befragten deutlich selbstkritischer, wobei eine Tendenz zum Wandel erkennbar ist. Mit dem geringen Selbstvertrauen der Polinnen und Polen hängt auch die Angst

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zusammen, vor Gästen „aus dem Westen“ negativ zu erscheinen. Damit verbunden sind konkrete organisatorische Probleme, basierend auf den Befürchtungen einiger polnischer Familien, den deutschen Jugendlichen keine angemessene Unterkunft bieten zu können. Gleichzeitig jedoch empfinden polnische Teilnehmende der Austauschprojekte der letzten Jahre die Reise nach Deutschland nicht wie eine Reise in eine „bessere Welt“, sondern vielmehr wie einen Besuch von Nachbarn. Für die Teilnehmenden aus den Jahren 2003 – 2007 war es immer noch eine Reise „in den Westen“. Trotz der geringeren Selbstkritik scheinen die deutschen Jugendlichen viel vorsichtiger mit Generalisierungen, Stereotypen und Beschreibungen Polens umzugehen. Während polnische Teilnehmende eine „typische Polin oder einen typischen Polen“ und eine „typische Deutsche oder einen typischen Deutschen“ problemlos charakterisieren, kritisieren die deutschen Teilnehmenden eine solche Kategorisierung. Ihnen zufolge können Eigenschaften nicht verallgemeinert, sondern nur einzelnen Personen zugeschrieben werden. Dadurch sei es auch nicht möglich, einer ganzen Bevölkerungsgruppe bestimmte Eigenschaften zuzuordnen. Für einige der Personen, die selbst in Polen waren, scheint es jedoch kein Problem darzustellen, Eigenschaften einer polnischen Person auf die gesamte Bevölkerung zu übertragen, sofern solche Charakteristika mit eigenen Erfahrungen verknüpft sind und nicht im Hinblick auf das eigene Werte- und Normenverständnis reflektiert wurden.

Geschichte Interessant sind zudem die Unterschiede in den Reaktionen auf die deutschpolnische Geschichte. So betonen die Deutschen einerseits die Notwendigkeit, an diese Vergangenheit und die deutschen Gräueltaten zu erinnern, auch wenn sie sich selbst nicht schuldig fühlen, während dies keine zentrale Rolle für die polnischen Befragten spielt. Andererseits drücken Jugendliche beider Nationen den Wunsch aus, dass die Beziehungen der beiden Länder sich mehr auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren, womit jedoch kein Vergessen der Vergangenheit gemeint ist. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob die Befragten an einem Austausch teilgenommen haben oder nicht. In dem Moment, in dem das andere Land ausschließlich mit den tragischen Geschehnissen der Vergangenheit assoziiert wird, scheint es schwierig, sich von dadurch geprägten Erwartungen und Auffassungen zu befreien. Die polnischen Befragten sehen die Deutschen und die deutschpolnischen Beziehungen in einem weiteren Kontext, wodurch sie mehr Anknüpfungspunkte haben, von denen der Zweite Weltkrieg nur einer von Vielen ist. Das bedeutet zwar nicht, dass die polnischen Jugendlichen ein besonders genaues Wissen über die deutsch-polnischen Beziehungen haben, aber insgesamt zeigen sie vielfältigere Meinungen und Zugänge als die Deutschen.

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Polen – Mitteleuropa Die jungen Deutschen, die in Polen waren, verbinden vielfältige Assoziationen mit dem Land und zeigen zudem die Tendenz, Dinge zu benennen, die beiden Ländern gemein sind, beispielsweise die Mitgliedschaft Polens in der EU als politischen Kontext. Darüber hinaus nehmen sie Polen öfter als ein mitteleuropäisches Land wahr und weniger als ein Osteuropäisches. Dies ist ein klares Ergebnis des Besuchs in Polen. Die deutschen Befragten, die nie in Polen gewesen sind, zeigen die Tendenz, Stereotype heranzuziehen, und beurteilen Polen als armes, kaltes und raues Land mit einer kriminell veranlagten Bevölkerung, das sich irgendwo im unbekannten Osten befindet. Bei der Beurteilung der Rolle Polens in Europa haben sie unterschiedliche Ideen, wobei einige nichts mit Polens tatsächlicher Rolle in Europa gemein haben.

Deutsche – offen und freundlich Auf polnischer Seite zeichnet sich ein in einigen Fällen ähnliches Bild ab So nennen polnische Befragte, die nach Deutschland gereist sind, die Freundlichkeit und Offenheit der Deutschen als Merkmale, die von der anderen Gruppe nicht erwähnt werden. Das Bild von Deutschland scheint allerdings nicht damit zu korrelieren, ob die befragte Person in Deutschland gewesen ist oder nicht. Deutschland wird in beiden Fällen als reicheres, saubereres, gut organisiertes Land mit einer weiter entwickelten Technologie gesehen, das besonders innerhalb der EU mit mehr Macht und Einfluss ausgestattet ist als Polen. Allerdings bewerten die polnischen Austauschteilnehmenden die Beziehungen von Deutschland und Polen anders als diejenigen, die nicht an einem solchen Austausch teilgenommen haben. Die Teilnehmenden betonen vor allem die zwischenmenschlichen Kontakte, während sich die anderen auf die Ebene der staatlichen Beziehungen beziehen.

Lust auf mehr Die meisten Teilnehmenden möchten den Kontakt zu ihrer Austauschpartnerin oder ihrem Austauschpartner aufrechterhalten oder ziehen sogar einen zweiten Besuch im Nachbarland in Betracht. Auch dies stellt ein offensichtliches Ergebnis des Austauschs dar. Obwohl der Enthusiasmus dabei auf polnischer Seite oft größer ist, geben die deutschen Teilnehmenden an, dass der Austausch ihnen geholfen hat, Ängste bezüglich ihres völlig unbekannten Nachbarn abgebaut zu haben. Während sich die polnischen Teilnehmenden auch einen längeren Aufenthalt in Deutschland vorstellen

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können, beispielsweise um dort zu studieren oder zu arbeiten1, käme für die Deutschen eher ein touristischer Besuch in Frage.

1 Dies könnte im Altersunterschied zwischen den polnischen und den deutschen Befragten begründet liegen. Die polnischen Jugendlichen waren in der Regel älter als die deutschen, sodass für sie die Zukunft inklusive Studien- und Berufsvorstellungen womöglich präsenter ist. Die deutschen Teilnehmenden scheinen sich hingegen noch nicht in einem solchen Ausmaß mit ihren Zukunftsplänen auseinanderzusetzen.

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Die Untersuchungsergebnisse zeigen: Wer einmal an einem schulischen und außerschulischen Austausch teilgenommen hat, würde anderen die Teilnahme an einem solchen Programm empfehlen. Dieses ermutigende Fazit und die hier vorgestellten Schlussfolgerungen aus den Forschungsergebnissen sollen dazu beitragen, zukünftige schulische und außerschulische Austauschprojekte noch erfolgreicher zu machen. Wir haben uns von den Untersuchungsdaten leiten lassen und fachlich erstrebenswerte Veränderungen empfohlen. Diese basieren nicht auf den organisatorischen oder finanziellen Rahmenbedingungen von Austauschprojekten und stellen somit auch keine Programmevaluation von Maßnahmen des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) dar. Berücksichtigt man außerdem die unterschiedliche Ausgestaltung schulischer und außerschulischer Austauschprojekte – zum Beispiel Teilnahmebedingungen, Programmgestaltung, Unterbringung – gilt nicht jede Empfehlung für alle Austauschformen. Unsere Empfehlungen folgen der Ablaufchronologie eines Austausches – Vorbereitung, Durchführung, Reflexion und Bewertung.

Vorbereitung

Die Qualität der Vorbereitung der Jugendlichen entscheidet über den Erfolg des Austausches. Die Vorbereitung auf das Austauschprogramm muss fester Bestandteil des Austauschprojektes sein. Es gibt zu beiden Ländern gutes und geeignetes Anschauungs- und Arbeitsmaterial. Voraussetzung ist allerdings, es gezielt im Unterricht oder in der Jugendarbeit einzusetzen, weil man nicht davon ausgehen kann, dass sich Jugendliche selbstständig vorbereiten. Grundlegendes Wissen: Die Jugendlichen benötigen allgemeine und aktuelle Informationen über das Nachbarland wie Grundzüge des politischen Systems, Namen großer Städte, Klima. Die Vermittlung solcher Themen ist auf deutscher Seite nötiger als auf polnischer, da in Deutschland der Wissenstand über Polen geringer ist als auf polnischer Seite über Deutschland. Interkulturelle Sensibilisierung: Anderes Land, andere Sitten? Es ist hilfreich, im Vorfeld sowohl offensichtliche Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern zu thematisieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit Gastfreundschaft. Damit wechselseitige Vorurteile nicht ungewollt verstärkt werden, ist es bei jedem Thema wichtig, Schulungsmedien gut zu sichten und auszuwählen sowie die

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Empfehlungen


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Diskussion sensibel zu führen. Jugendliche brauchen einen sicheren Raum, um offen über Vorurteile, Erwartungen und Ängste sprechen zu können. Gezielte Fragen können sie zur Selbstreflexion anregen: Welche Gewohnheiten oder Normen werden von Jugendlichen beider Länder geteilt? Welche Elemente gehören eher zur nationalen Kultur? Welche Aspekte formen die eigenen Normen? Grundwortschatz: Sich begrüßen, bedanken, entschuldigen, verabschieden – das sollten die Jugendlichen in der Sprache des Gastlandes können, bevor sie dorthin reisen. Jugendliche das Programm ihres Austausches mitbestimmen lassen: Die Empfehlung ist nicht neu und Organisatoren von Austauschprogrammen beteuern auch, sie zu berücksichtigen. Teilnehmende Jugendliche sehen das jedoch nach wie vor anders. Die Möglichkeit, das Programm mitzubestimmen, motiviert Jugendliche, sich mit Einzelheiten der Gestaltung auseinanderzusetzen und daran mitzuwirken. Zum Beispiel, indem sie recherchieren, was in der Stadt oder in der Region, in die sie reisen, erkundet werden kann, oder indem sie mit den Jugendlichen des Nachbarlandes schon vor der Reise in Kontakt treten, um gemeinsam zu besprechen, was interessant sein könnte, oder indem sie die Gäste an Lieblingsplätze führen ... Einkaufszentren, Fußballstadien zum Beispiel. Obwohl diese Empfehlungen leicht realisierbar wären, werden sie nach Ansicht von teilnehmenden Jugendlichen bisher zu wenig umgesetzt. Organisatoren und Betreuungspersonal vor und während des Austausches fortbilden: Wer einen schulischen oder außerschulischen Jugendaustausch durchführt, sollte an einem Vorbereitungstraining für Multiplikatoren teilnehmen. Hier wird Wissen über das Gastland vermittelt, für einen interkulturellen Dialog befähigt und für die Besonderheiten der deutsch-polnischen Beziehungen sensibilisiert. Begleitpersonen brauchen diese Sachkenntnis, aber auch Kompetenz für den Umgang mit Jugendlichen. Lehrkräfte oder Betreuende in der Jugendarbeit, die nicht über diese Sozialkompetenz verfügen oder den Herausforderungen nicht gewachsen sind, die Jugendaustauschprojekte mit sich bringen, können Jugendliche auf den Austausch nicht adäquat vorbereiten. Insofern dient ein Vorbereitungstraining auch der Entscheidung, eine externe Person zur Vorbereitung der Jugendlichen zu gewinnen. Erfahrung der Trainer nutzen: Eine sinnvolle Lösung scheint zu sein, eine Trainerin oder einen Trainer mit einer interkulturellen und polnischdeutschen Expertise in der Vorbereitungsphase zu beauftragen. Aktuelle Materialien zur Vorbereitung: An das DPJW richtet sich die Empfehlung, seine Trainingsmaterialien auch weiterhin regelmäßig zu erneuern oder neue zu erstellen und verstärkt für die Vorzüge eines

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Vorbereitungstrainings zu werben. Vor allem Leitende von Schulen und von Einrichtungen, die außerschulische Austauschprogramme organisieren, müssen erkennen können, dass eine gute Vorbereitung nicht nur die Qualität des Austausches hebt, sondern auch das Ansehen der Schule bzw. der Einrichtung verbessert. Ziel klar – Weg klar: Die Organisatoren müssen ihre Ziele für den Austausch benennen. Es macht einen Unterschied, ob der Austausch mit dem Nachbarland dem gegenseitigen Kennenlernen dient oder als Studienreise konzipiert ist. Wenn es darum geht, das Gastland kennenzulernen, muss das Augenmerk stark auf der Begleitung der Jugendlichen während des Austausches liegen. Bewährt hat sich dazu der Wechsel von gemeinsamen Treffen mit den Jugendlichen beider Länder und nach Ländern getrennten Treffen. So ergeben sich für die jungen Menschen Freiräume, um auch irritierende oder befremdliche Gefühle in der vertrauten Gruppe besprechen zu können. Überwiegt der Charakter einer Studienreise ist die Planung des jugendgerechten Programms zur Wissensvermittlung von entscheidender Bedeutung. Die Interviews haben klar gezeigt: Das Programm deckt sich nicht immer mit den Interessen der Jugendlichen, vor allem, wenn die Reise als Bildungsreise angelegt ist. Für den Erfolg des Austausches ist es deshalb wichtig, dass die Jugendlichen vor der Reise genau wissen, worauf sie sich einlassen. Es empfiehlt sich, sie in einem größeren Ausmaß als bislang in die Programmgestaltung einzubeziehen und darauf zu achten, dass die Balance zwischen Bildung und Freizeitaktivitäten stimmt. Zeit zur freien Verfügung: In jedem Fall brauchen Jugendliche während des Austausches sowohl als Gast als auch als Gastgeber genug Zeit, die sie auf ihre Weise dafür einsetzen können, das Gastland kennenzulernen bzw. es den Gästen vorzustellen. Es geht ja nicht ums Große Ganze, sondern hier wie dort eher darum, Alltag, Naheliegendes, Lebensweisen zu entdecken und zu verstehen. Um ihre Neugier zu befriedigen, aber auch, um Vorurteile abzubauen, werden Jugendliche es meist vorziehen, erstmal shoppen zu gehen und sich an angesagten Plätzen in der Stadt zu treffen als ein Museum zu besuchen. Auf deutscher Seite meist nicht vorhanden: fundiertes Wissen über Polen und seine Geschichte. Die polnischen Organisatoren erwarten, dass die deutschen Jugendlichen gute Kenntnisse über Polen und seine Geschichte mitbringen. Die Erfahrungen zeigen jedoch: Das ist meist nicht der Fall. Und: Grundlegendes Wissen über Polen lässt sich Jugendlichen weniger gut über Museumsbesuche vermitteln. Geballte Bildungsangebote dieser Art zur Beseitigung von Wissenslücken bewirken eher Desinteresse. Die Jugendlichen empfinden das zuweilen als langweilig. Als Empfehlung für die Programmgestaltung ergibt sich daraus: Das DPJW sollte in seinem Regelwerk stärker darauf verweisen, dass Austauschprojekte

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nicht nach dem Umfang des vermittelten Wissens bewertet werden. Das Programm sollte die jeweiligen Gastgebenden darin unterstützen, ihr Land so vorzustellen, dass Jugendliche erste Eindrücke erhalten und ein Verständnis für das Alltagsleben gewinnen. Besuche in KZ-Gedenkstätten sehr gut vor- und nachbereiten: Die Untersuchung zeigt: Deutsche und Polen haben unterschiedliche Erwartungen, wenn es darum geht, die schwierige deutsch-polnische Vergangenheit zu thematisieren. Es ist deshalb wichtig, dem Prozess während des Austausches ausreichend Zeit und Raum zu geben: Gespräche sollten zunächst in der eigenen Gruppe stattfinden, bevor sich Gastgebende und Gäste zum gemeinsamen Austausch treffen. Wer Verständnis für andere entwickeln soll, muss sicher sein, auch offen über die eigenen Gefühle und Eindrücke sprechen zu können.Vor allem Besuche in KZ-Gedenkstätten sollten deshalb mit ausreichend Zeit im Vorfeld und danach ausgestattet werden. Die Verbrechen und Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs dürfen weder in Vergessenheit geraten noch thematisch bei einem deutsch-polnischen Jugendaustausch ausgeklammert werden. Dennoch ist festzustellen, dass Jugendliche oft nicht das Bedürfnis haben, über die Geschichte zu sprechen, sondern sich in beiden Ländern mehr für Gegenwart und Zukunft interessieren. Das führt zu der Frage, wie es gelingen kann, sowohl die Erinnerung an die Vergangenheit aufrechtzuerhalten als auch die Interessen der jungen Menschen ernstzunehmen. Als eine Art Bindeglied könnte die gemeinsame Mitgliedschaft beider Länder in der Europäischen Union fungieren und den Blick für die gemeinsame Zukunft beider Länder in einem vereinten Europa öffnen. Gastfamilie oder Jugendherberge: die Art der Unterbringung sorgfältig wählen. Ob es besser ist, Jugendliche in einer Gastfamilie oder in einer Jugendherberge unterzubringen, muss abgewogen werden. Polnische Jugendliche scheinen den Aufenthalt in einer Gastfamilie zu bevorzugen, da sie sich meist mit allen Familienmitgliedern in Deutsch oder Englisch verständigen können. Deutsche Jugendliche haben dagegen in Gastfamilien Sprachprobleme, wenn die Gasteltern ausschließlich polnisch sprechen. Das hat sich bewährt: die gesamte Gruppe für die ersten Nächte in einer Jugendherberge unterzubringen und sie dann in die Familien einzuladen. Kommt das aus zeitlichen Gründen eher nicht in Frage, gilt auch hier: am besten die Jugendlichen bereits bei der Planung nach ihren Präferenzen fragen. Der Umgang mit Altersunterschieden will gekonnt sein: Deutsche Jugendliche, die an einem Austausch teilnehmen, sind oft jünger als die polnischen Schülerinnen und Schüler – was durch die Verkürzung der deutschen Schulzeit bis zum Abitur von neun auf acht Jahre verstärkt wird. Die Programmgestaltung muss die Probleme auffangen, die sich aus

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einem größeren Altersunterschied ergeben könnten. Die Fähigkeit der Selbstreflexion ist altersabhängig und sollte deshalb bei Reflexionsrunden berücksichtigt werden.

Durchführung – während des Austausches

Zeit für eigene Gruppe: Jede Teilnehmergruppe sollte Zeit zum Austausch in der eigenen Gruppe haben. Emotionen sollten unmittelbar besprochen werden, da dies die beste Möglichkeit ist, Missverständnisse oder Konflikte auszuräumen und gegenseitiges Verständnis zu unterstützen. Auch innerhalb der eigenen Gruppe sollte es Zeit geben, über Stereotype und das, was als unangenehm oder irritierend erlebt wurde, zu sprechen und dabei zu lernen, nicht automatisch die eigenen Werte über die des anderen Landes zu erheben. Dadurch kann die Selbstreflexion erhöht werden. Methoden adäquat zum Alter: Da das Alter der Teilnehmenden variiert, ist es wichtig, adäquate Methoden und Herangehensweisen zu finden. Auch Reflexionsrunden sollten am Ende gemeinsam mit beiden Gruppen abgehalten werden, sodass alle von den Erfahrungen der anderen profitieren können. Hierfür ist es wichtig, dass die Personen, die diese Gesprächsrunden anleiten, entsprechend qualifiziert sind. Mitunter kann es auch von Vorteil sein, wenn nicht die Lehrkraft, sondern eine externe und damit neutrale Person die Jugendlichen in diesem Prozess begleitet.

Nach dem Austausch

Auswertungstreffen: Erfahrungen reflektieren, Beobachtungen zusammenfassen. Das kann helfen, Erlebnisse oder Beobachtungen besser zu verstehen, die während des Austausches als „befremdlich“ oder „schwierig“ wahrgenommen wurden. Vielleicht ist es auch möglich, den Austausch zwischen den Gruppen beider Länder durch OnlineMeetings oder die Zuteilung von Aufgaben zu unterstützen, die in einem binationalen Tandem bearbeitet werden müssen. Das könnte helfen, das Verstehen und Wissen über das andere Land und dessen Traditionen weiter zu verbessern. Allerdings sollte das Interesse der Jugendlichen an einer Aufrechterhaltung von Kontakten nach Ende des Austausches nicht überschätzt werden. Auf die Reaktionen der Umgebung vorbereiten: Da die Reise ins Nachbarland nicht immer vom ganzen sozialen Umfeld der Teilnehmenden positiv kommentiert wird, könnten Strategien vermittelt werden, wie Jugendliche mit skeptischen Äußerungen zu ihren positiven Austauscherfahrungen umgehen können. Dies könnte zum Beispiel auch Thema einer gemeinsamen Abschlussrunde sein.

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Vernetzung von Austauschorganisatoren fördern: Wer einen schulischen oder außerschulischen Austausch organisiert, profitiert davon, sich zu vernetzen, um Erfahrungen mit anderen austauschen zu können. Das hilft, eine gute Praxis weiterzuverbreiten und einen gemeinsam entwickelten Qualitätsstandard von Austauschmaßnahmen zu erreichen. Das ist auch im Interesse derer, die einen solchen Erfahrungsaustausches finanziell unterstützen. Weitere Projekte gezielt anbieten: Es ist empfehlenswert, interessierten Jugendlichen, die bereits an einem Austausch teilgenommen haben, die Teilnahme an weiteren deutsch-polnischen Projekten anzubieten. Sie können so ihr Verständnis vom Nachbarland verbessern und selbst zu „Botschaftern“ ihres Landes werden. Jugendliche nach ihrer Einschätzung fragen: Organisatoren von Austauschprojekten sollten die Gelegenheit wahrnehmen, die Jugendlichen nach dem Austausch zu befragen. Eine anonyme Befragung gibt wertvolle Einblicke, wie die jungen Menschen das Austauschprogramm wirklich bewerten. Die Evaluation könnte langfristig dazu genutzt werden, Programmpunkte beizubehalten, die auf großes Interesse gestoßen sind, und jene zu verändern, die den Befragten nicht gefallen haben. Die Auswertung würde auch erhärten, was sich sonst vielleicht nur „gefühlt“ wahrnehmen lässt: zum Beispiel, dass mitunter die Person, die durch ein Museum oder eine Ausstellung geführt hat, die Bewertung mehr beeinflusst als das, was das Museum inhaltlich zu bieten hat.

Allgemeine Anmerkungen

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Das Interesse an Jugendbegegnungen lässt bei Jugendlichen nach: Auf polnischer Seite spielt die Tatsache, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, ins Ausland zu gehen, eine Rolle. Auf deutscher Seite sind Barrieren aufgrund von Änderungen im Schulsystem entstanden, die der Teilnahme an einem Austausch entgegenstehen. Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur hat den Druck auf die deutschen Schülerinnen und Schüler erhöht. Viele Jugendliche befürchten, zu viel Unterricht zu verpassen, wenn sie an einem Austausch teilnehmen. Deshalb sollten Austauschprojekte besser in die Lehrpläne integriert und neue Austauschformen angeboten werden. Schließlich ist es unbestritten, dass junge Menschen von einem Austausch vor allem persönlich sehr profitieren. Sie erwerben interkulturelle Kompetenzen und setzen sich mit Erfahrungen auseinander, die im Spannungsfeld von vertraut und fremd entstehen. Beides sollte stärker wertgeschätzt werden, zumal diese Fähigkeiten zunehmend gefordert, aber nur schwer im Schulsystem zu erwerben sind. Die Betonung dieser Aspekte könnte das Interesse an Austauschprojekten wieder steigern. Aber

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auch zeitgemäße und interessante Austauschformen sollten entwickelt werden. Programme zielgruppengerecht gestalten: Die Studie zeigt: Jugendliche, die heute an Austauschprogrammen teilnehmen, besuchen vielfach Gymnasien mit einer besseren Reputation und kommen aus Elternhäusern, die mit viel ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital ausgestattet sind. Für diese jungen Menschen ist der Besuch eines fremden Landes selbst nichts Neues und Aufregendes mehr. Sie haben oft hohe Erwartungen an das Austauschprogramm und diese sollten berücksichtigt werden, wenn der Austausch ein Erfolg werden soll. Für junge Menschen aus einem anderen sozialen Umfeld und weniger wohlhabenden Familien ist die Teilnahme an einem Austausch oft in erster Linie eine Chance, ins Ausland zu reisen. Die Programme sollten generell so gestaltet werden, dass sie die Interessen aller Teilnehmenden gleichermaßen berücksichtigt. Weitere Zielgruppen gewinnen: Die Studie zeigt: Es gibt polnische Familien, die allein deshalb darauf verzichten, an einem Austauschprogramm teilzunehmen, weil sie einem Gast keine in ihren Augen adäquate Unterbringung bieten können. Es lohnt sich für das DPJW, dafür nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Die materielle Situation sollte keine ausschlaggebende Rolle für die Teilnahme an einem Austausch spielen. Darüber hinaus sollte man nicht nur – wie in Polen häufiger zu beobachten – die Klassenbesten, sondern möglichst auch schwächere Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am Jugendaustausch ermuntern. Diskussionen über Europa als gemeinsame Basis: Das Thema Europa wird angesichts der zunehmenden Zahl europakritischer Stimmen relevanter. Für die jüngeren Generationen sind die großen positiven Veränderungen, die durch den europäischen Integrationsprozess zustande kamen, nicht mehr sichtbar – sie sind für sie selbstverständlich. Die Gelegenheit, Erwartungen an Europa und die EU auszutauschen und die Rolle beider Länder in Europa zu verstehen, sollte genutzt werden. Interessante Inputs für solche Diskussionen sollten von den Begleitpersonen gegeben werden, da die Jugendlichen häufig kein ausgeprägtes Interesse an Politik haben, wohl aber für alltagsrelevante Themen. Dass viele Erleichterungen im Leben wie beispielsweise Grenzüberquerungen ohne Kontrollen erst durch die EU-Politik möglich wurden, könnte bei den Jugendlichen ein Gegengewicht zu den vielen eurokritischen Stimmen bilden. Denn es scheint, als wären Vorteile solcher Art oftmals zu wenig bewusst. Thematisiert werden können auch Themen wie Studieren im Ausland, fachliche Austausche oder ein Europäischer Freiwilligendienst als durch die EU finanzierte Programme, von denen die Jugendlichen später profitieren können.

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Sabine Kakuie – Projektmitarbeiterin im Freiburger Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung. Studium der Soziologie, Sozialpsychologie und Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Freiwilliges Engagement; Freiwilligendienste Dr. Agnieszka Łada – Leiterin des Europa-Programms und Senior Analyst am Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten (seit 2007). Promotion in Politikwissenschaft an der Universität Warschau. Studium der Politikwissenschaft in Berlin sowie Aufbaustudium in Organisationspsychologie in Dortmund. Sie ist Teilnehmerin des Programms: Executive Master for the Public Management an der Hertie School of Governance in Berlin. Spezialisierung auf folgende Bereiche: EU-Institutionen, insbesondere Europäisches Parlament, Deutschland und deutsch-polnische Beziehungen, polnische Außen- und Europapolitik, Wahrnehmung Polens im Ausland bzw. der Ausländer in Polen. Silke Marzluff, M.A. – Geschäftsführerin im Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze). Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Psychologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie European Studies an der University of Sussex, England. Arbeitsschwerpunkte: Freiwilliges Engagement, Demografischer Wandel in Kommunen, Bürgerbeteiligung.

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Zu den Autorinnen



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