ZAK! Drei.

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ZEITSCHRIFT FÜR ALLGEMEINEN KULTURPESSIMISMUS Hrsg. von Marshall von Pytz & Antonin U. Trébut

Heute: EIDGENÖSSISCHE LYRIK

Autoren: Maria Blonde, Robinskij Lambrechtowitsch, Janja Josipa Perkovic, Marschall von Pytz, Bernard Rieux, Sam Takttreppe, Antonin U. Trébut.

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Inhalt Vorwort Proklamation: Einführung des Goldenen Montags (AUT)

S. 3 S. 5

Eidgenössische Lyrik: Die Arbeit des Dichters (Paul Éluard) Die Stimme Robert Desnos‘ (Robert Desnos) Ohne Titel (Jacques Rigaut) Échéances du mort (Guy Viarre) Obstaculaire (Cédric Demangeot)

S. S. S. S. S.

Investigative Reportagen & Reiseberichte: Prisonniers des gouttes d’eau – Ein Besuch bei Lucy in Lyon (AUT)

S. 17

Soziales Engagement: Die Frontstadt Kunst fällt – Ein offener Brief an Jonathan Meese (AUT) Plädoyer für den Tod (AUT)

S. 21 S. 23

Lits et Ratures: Noten zu Desnos, Éluard, Rigaut (AUT) Zum Phänomen des Langeweileenthusiasmus (MB)

S. 24 S. 25

Werke der Bewegung: …..telle est la beauté (AUT) Tetraeder Joe (ST) Zur Fatalität (JJP) Fatum (BR)

S. S. S. S.

Unwissenswertes: Aphorismen der Woche

S. 34

Autoren & Kollaborateure

S. 34

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Vorwort Entscheidend ist nicht die Frage, ob der Groschen fällt, sondern ob Kopf oder Zahl.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir präsentieren Ihnen mit Freude die dritte Ausgabe der Zeitschrift für allgemeinen Kulturpessimismus. Sie steht unter dem Titel Eidgenössische Lyrik, da zu den üblichen Textkategorien eine solche mit Übersetzungen getreten ist. Antonin Trébut hat für diese seine Kenntnisse des Französischen geopfert und so können wir all jenen, deren mangelndes Talent und schlechter Geschmack sie von der Literatursprache schlechthin ferngehalten haben, einen Einblick in zweierlei gewähren: Erstens die literarische Revolte der Surrealisten in Form jeweils eines Gedichts von Paul Éluard und Robert Desnos, sowie einer wunderhübschen Suiziderzählung Jacques Rigauts. Zweitens haben wir die Ehre, mit dem Einverständnis der Éditions fissile Auszüge aus dem Werk zeitgenössischer französischer Dichter zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlichen zu dürfen, wofür Monsieur Cédric Demangeot sowohl als Autor als auch als Herausgeber der großartigen Poesie-Revue Moriturus unser Dank gebührt. Weiterhin enthält diese Ausgabe einen Reisebericht nach Lyon, welcher durch den Einfluss von Süßigkeiten zwar wenig als Stadtführer taugt, dafür allerdings als Leitfaden durch die Irrgärten eines geöffneten Geists. Unsere lieben Freunde Rieux und Takttreppe haben jeweils einen in ihrem Sinne beeindruckenden Text beigesteuert, ersterer ein Gedicht, dem nichts hinzuzufügen ist, letzterer eine klassische Wild-WestGeschichte in neodadaistischer Manier. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass unsere Agitprop nun von weiteren Kollaborateuren getragen wird, welche der Bewegung durchaus würdig sind. So verdanken wir die Gestaltung der Zeitschrift Herrn Robinskij Lambrechtowitsch und ein Gedicht über das uns immer umtreibende Thema der Fatalität Mademoiselle Janja Josipa Perkovic. Unser Mitstreiter Marschall von Pytz hatte tragischerweise seine Kreativität bei einer Sauftour in einer Berliner Kneipe liegen lassen und erst kürzlich vom Fundbüro

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(es lebe die deutsche Ordnung!) wiedererhalten, weshalb er in dieser Ausgabe weniger präsent ist, als in bisherigen und folgenden. Marschall von Pytz & Antonin U. TrÊbut

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Einführung des Goldenen Montags Der Montag als erster Wochentag symbolisiert durch den perpetuellen Neubeginn der so genannten Routine, welche nichts als Unterwerfung unter die kapitalistische Entmenschlichungsmaschinerie bedeutet, sowohl den zeitgenössischen Fatalismus als auch die Diktatur der Chronologie. Da es sich hierbei um zwei Hauptfeinde Neodadaistischen Denkens handelt, ordnen von Pytz & Trébut stellvertretend für die Bewegung die Einführung des Goldenen Montags an: Der heutige Konformismus, in Form absoluter Geschmacklosigkeit, hat seinen Hörigen das Tragen eines unteilbaren (individuellen) Kleidungsstils verordnet. Sie, die stumpfsinnige Masse, gefangen in den Schranken dualistischer Dialektik, glaubt ihren Todfeind, den Mainstream, durch etwas anderes überwinden zu müssen. Wir, sowohl klüger als auch intelligenter, wissen, dass der Glaube an die Synthese von Thesis und Antithesis eine Bauernweisheit ist. Daher wollen wir den Konformismus fördern, denn allein so kann er final überwunden werden: alles zerstört allein sich selbst. Als Symbol für selbigen gilt allgemein das Tragen von Krawatte, Hemd und Anzug. Daher fordern wir alle Kollaborateure und Sympathisanten auf, in Zukunft jeden Montag die edelste verfügbare Sonntagskleidung zu tragen, ein Vorgang, den wir endimancher nennen wollen. Bestätigt ist diese Methode längst durch die Versuche von Trébut und von Pytz, welche von diversen in Jeans und T-Shirt gewickelten Menschenmaschinen als Spießer o.ä. bezeichnet wurden. Nichts ist uns mehr Genuss als jene, die ihre Beschränktheit offenbaren, ohne es zu wissen. Vor allem die Damen der Schöpfung möchten wir bitten, all ihre Subtilität in der nicht einhüllenden Verhüllung ihrer wunderbaren Körper an den Tag zu legen, denn es gibt nur eins, was schöner ist als ein Mann mit gut gebundener Krawatte: nämlich eine festlich gekleidete Frau. Auf das wir die graue Maschinerie mit unserem Geist und unserer Haut überstrahlen! gez. von Marschall von Pytz & Antonin U. Trébut im Namen der Neodadaistischen Bewegung.

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Die Arbeit des Dichters I Die schönen Weisen mit anderen zu sein Auf dem sommers kahlen Gras Unter den weißen Wolken Die schönen Weisen mit Frauen zu sein In einem grauen erhitzten Haus Unter durchsichtigem Tuch Die schönen Weisen mit sich selbst zu sein Vor dem weißen Blatt Bedroht von der Stummheit Zwischen zwei Zeiten, zwei Leerzeichen Zwischen der Langeweile und dem Rausch zu leben II Bist du gekommen In vertrauten Wänden Ein Buch zu greifen, dass niemand öffnet Bist du gekommen Der neugierigen Frau Zu sagen was nicht wiederholt werden kann Bist du gekommen An diesem so sichtbaren Ort Zu erblicken was die Blinden sehen III Der Weg ist kurz Schnell erreicht Die farbigen Steine Dann Der hohle Stein

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Schnell erreicht Die gleichsamen Worte Die Worte ohne Gewicht Dann Die Worte ohne Folge Reden ohne zu sagen Am Morgenrot vorbeigezogen Und es ist nicht Tag Und es ist nicht Nacht Nichts der Wiederhall des ziellosen Schritts IV Ein Jahr ein Tag so fern Spazieren klopfenden Herzens Die Felder zogen Unsere Reden unsere Gedanken in die Weite Der Weg bewegte sich von uns Die Bäume ließen uns wachsen Und wir beruhigten die Felsen Dort dämpften wir Alle Hitze Alle nützliche Klarheit Dort sangen wir Die Welt so nah Dort liebten wir Eine Menge schritt uns voran Eine Menge folgte uns Durchlief uns singend Wie immer wenn die Zeit Nicht mehr zählt wie die Menschen Und das Herz sich bindet Und das Herz sich befreit V Wie lang ist es her Dass ich allein war Und ich zittere noch Oh schlichte Einsamkeit Die du den schmeichelnden Zufall hinderst Ich bekenne dich gekannt zu haben

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Ich bekenne verlassen worden zu sein Ich bekenne sogar Jene die ich liebte verlassen zu haben Der Lauf der Jahre ordnete alles Wie ein Strahlenbündel Auf einem Fluss des Lichts Wie die Segel der Boote Vom schönen Wetter beschützt Wie die Flammen des Feuers Um die Hitze zu festigen Im Lauf der Jahre fand ich Oh unumrissene Gegenwart Die Weite den Raum der Liebe wieder Vervielfacht VII Ich weiß weil ich es sage Dass mein Verlangen recht ist Ich wünsche nicht Dass wir in den Schlamm sinken Ich wünsche dass die Sonne Sich auf unseren Schmerz legt uns belebt Ich wünsche dass unsere Hände unsere Augen Offen und rein aus dem Schrecken wiederkehren Ich weiß weil ich es sage Das meine Wut recht ist Der Himmel hat das Fleisch des Menschen gewalkt Wurde in Stücke gerissen Eingefroren unterworfen zerstäubt Ich wünsche dass man ihm Gerechtigkeit widerfahren lässt Gerechtigkeit ohne Mitleid Und das man den Henkern ins Gesicht schlägt Diesen Meistern ohne Wurzeln unter uns Ich weiß weil ich es sage Dass meine Verzweiflung unrecht ist Überall gibt es das zarte Innere Um die Menschen zu erfinden

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Mein Hochmut ist nicht unrecht Die alte Welt vermag mich nicht zu berühren ich bin frei Ich bin nicht Sohn eines Königs ich bin Mensch Den man niederwerfen wollte doch ich stehe Auszug aus: Paul Éluard – Poésie ininterompue (übers. aus dem Französischen von AUT).

Die Stimme Robert Desnos‘ So gleich der Blume und dem Zug der Luft Dem Fließen des Wassers den flüchtigen Schatten Der Ahnung eines Lächelns jenes Abends nach Mitternacht Gleichsam allen Glücks und der Traurigkeit Ist es mitternachts ihren nackten Körper zu zeichnen Unter den Glockentürmen und Pappeln Rufe ich jene, die auf den Feldern fielen Die alten Leichname, die jungen beschnittenen Eichen Die Stofffetzen auf der Erde und die Wäsche Welche vor den Farmen trocknet Ich rufe die Tornados und Wirbelstürme Die Flutwellen Die Erdbeben Ich rufe den Rauch der Vulkane und den der Zigaretten Die Ringe des Rauchs edler Zigarren Ich rufe die Liebe und die Liebenden Ich rufe die Lebenden und die Toten Ich rufe die Totengräber ich rufe die Mörder Ich rufe die Henker ich rufe die Piloten die Freimaurer Die Architekten Die Mörder Ich rufe das Fleisch Ich rufe jene, die ich liebe Ich rufe jene, die ich liebe Ich rufe jene, die ich liebe

Die triumphierende Mitternacht nimmt ihre seidenen Flügel {ab Und legt sich auf mein Bett Die Glockentürme und Pappeln knicken nach meinem Wunsch {um Diese stürzen und jene senken sich Die Gefallenen der Felder finden sich mich findend wieder

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Die alten Leichname erstehen auf meinen Ruf auf Die jungen beschnittenen Eichen sprießen grün Die vermoderten Stofffetzen in der Erde auf der Erde Wehen auf meinen Ruf wie die Banner des Aufstands Die trocknende Wäsche der Farmen bekleidet schöne Frauen Jene, die ich nicht liebe, folgen meiner Stimme sich zu {unterwerfen Und mich zu bewundern Die Tornados drehen sich in meinem Mund Die Wirbelstürme lassen, wenn sie können, meine Lippen {erröten Die Unwetter brauen sich zu meinen Füßen zusammen Die Typhone, wenn sie können, zerzausen mich Ich empfange die trunkenen Küsse der Zyklone Die Flutwellen sterben zu meinen Füßen Die Erdbeben erschüttern mich nicht Doch lassen alles auf meinen Befehl einstürzen Der Rauch der Vulkane bekleidet mich mit seinen Dämpfen Und jener der Zigaretten parfümiert mich Die Ringe des Rauchs edler Zigarren krönen mich Die so lang verfolgte Liebe versteckt sich in mir Die Liebenden hören meine Stimme Die Lebenden und die Toten unterwerfen sich und grüßen {mich Die ersten zurückhaltend, die zweiten vertraut Die Totengräber verlassen die halb geschachteten Gräber Und erklären allein ich könne ihre nächtliche Arbeit {befehlen Die Mörder grüßen mich Die Henker rufen die Revolution an Rufen meine Stimme an Rufen meinen Namen an Die Piloten werden von meinen Augen geführt Den Freimaurern schwindelt es, während sie mir lauschen Die Mörder erklären mich heilig Das Fleisch verzückt auf meinen Ruf hin Jene, die ich liebe, lauscht mir nicht Jene, die ich liebe, hört mich nicht Jene, die ich liebe, antwortet mir nicht Auszug aus: Robert Desnos – Les ténèbres (übers. aus dem Französischen von AUT).

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Ohne Titel Ich werde ernst wie das Vergnügen. Die Leute wissen nicht, was sie sagen. Es gibt keinen Grund zu leben, aber auch keinen Grund zu sterben. Die einzige Art, die uns erlaubt sei, um unsere Verachtung für das Leben kundzutun, ist es anzunehmen. Das Leben ist die Mühe nicht wert, es zu verlassen. Man kann es einigen anderen aus Nächstenliebe nehmen, aber sich selbst? Die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit, der Verrat, die Treue, die Einsamkeit, die Familie, die Freiheit, die Initiativlosigkeit, das Geld, die Armut, die Liebe, die Abwesenheit der Liebe, die Syphilis, die Gesundheit, der Schlaf, die Schlaflosigkeit, das Verlangen, die Unfähigkeit, die Flachheit, die Kunst, die Ehrlichkeit, die Schande, die Mittelmäßigkeit, die Intelligenz, es ist nichts dabei. Wir wissen zu genau, wofür diese Sachen dienen, als dass wir darauf Acht geben würden; gerade gut genug, um einige vernachlässigbare selbstmörderische Unfälle zu rechtfertigen. (Es gibt natürlich, gar keine Frage, den körperlichen Schmerz. Ich hingegen halte mich gut: Sei’s drum für jene, deren Leber nicht mehr mitspielt. Ich muss mich als Opfer fühlen, aber ich will’s nicht jenen vorschlagen, die gegen den Krebs kämpfen). Und außerdem, was uns befreit, was uns all das Glück des Leidens nimmt, ist doch der Revolver, mit dem wir uns heute Abend erschießen werden, wenn’s uns denn passt. Ganz nebenbei, der Ärger und die Verzweiflung sind doch nichts anderes als Gründe, sich an das Leben zu klammern. Der Suizid aber ist praktisch: Ich wage nicht, daran zu denken – er ist zu praktisch – ich habe mich nicht umgebracht. Ein Zweifel bleibt: Man will nicht gehen, ohne sich vorher einen Namen gemacht zu haben; man will bei seinem Abgang die NotreDame de Paris mit sich niederreißen genauso wie die Liebe und das eigene Land. Der Suizid sollte eine Berufung sein. Manch fließendes Blut verlangt eine Rechtfertigung seines unendlichen Kreislaufs. Manche Finger sind zu ungeduldig, um nicht Fäuste zu ballen. Manch einen juckt es, die Hand gegen sich selbst zu richten, da er sich weigert, seinem Leben ein Ziel zu setzen. Nichts als Wunschträume. Unmögliche Wünsche. Hier verläuft die Grenze zwischen dem Leiden, dass einen Namen und einen Grund kennt, und jenem, dass für sich allein und unerkannt bleibt. Dies ist eine Art Pubertät des Geistes, die schon in manchem Roman beschrieben wurde (da ich, natürlicherweise, zu früh korrumpiert wurde, um eine Krise

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der Phase zu erleben, wo man beginnt, etwas drauf zu haben), welcher man auf andere Weise als durch den Suizid entflieht. Ich habe nie viel ernst genommen; als Kind habe ich den obdachlosen Frauen die Zunge rausgestreckt, welche meine Mutter anbettelten, und ihre Blagen gezwickt, die vor Kälte weinten; als mein Vater sich zum Sterben legte und mich zur Mitteilung seines letzten Willens ans Bett rief, nahm ich das Hausmädchen bei der Hand und sang: Man soll auf seine Eltern scheißen, ach was werden wir uns lieben! Immer, wenn ich das Vertrauen eines Freundes enttäuschen konnte, hab ich’s mir nicht entgehen lassen. Aber es ist müßig, sich über die Güte lustig zu machen, die Nächstenliebe zu verspotten, denn das sicherste komische Element ist es, Leuten ihr kleines Leben zu vermiesen, ohne jeden Grund, nur zum Spaß. Kinder wissen sehr genau, wie viel Freude es macht, einen Ameisenhaufen in Panik zu versetzen und zwei Fliegen beim Huren plattzuhauen. Während des Krieges warf ich eine Granate in einen Unterstand, in dem sich gerade zwei Kameraden für ihren Heimaturlaub fertigmachten. Was habe ich gelacht, das Gesicht meines Mädchens zu sehen, die erwartete, von mir geliebt zu werden und der ich mit voller Wucht ins Gesicht boxte, so dass sie der Länge nach hinschlug; was eine Feier, die Leute aus dem Gaumont-Palace-Kino rennen zu sehen, dass ich angesteckt hatte! Aber heute Abend habt ihr nichts zu befürchten, ich habe mir vorgenommen, ernst zu bleiben. – Es ist wirklich kein einziges wahres Wort in dieser Geschichte, ich bin der bravste kleine Junge in Paris, aber ich habe einen großen Spaß daran, mir vorzustellen, ich hätte oder würde noch solche ehrenhafte Taten begehen, einzig, damit sie nicht gelogen sind. Wie auch immer, ich mache mich zu gerne lustig! Aber über eins auf der Welt tät‘ ich es nie: Das Vergnügen. Wenn ich noch zu Scham oder Selbstverliebtheit in der Lage wäre, glaubt nicht, dass ich euch in dieses Geheimnis einweihen würde. Wann anders werde ich euch erzählen, warum ich nie lüge: Man hat vor seinen Dienern nichts zu verbergen. Kehren wir also zum Vergnügen zurück, welches als uns einziges wieder hochzuziehen und fortzureißen vermag, mit zwei Tönen Musik, dem Gedanken an die Haut und vielen anderen Dingen. So lange, wie ich nicht vom Ruf des Vergnügens überwunden werde, bin ich anfällig für den Schwindel des Suizids, das weiß ich. Als ich mich das erste Mal umgebracht habe, tat ich es, um mein Mädchen auf die Palme zu bringen. Dieser unverschämten kleinen Gestalt fiel plötzlich voller Reue ein, nicht mehr mit mir schlafen zu können, da sie ihren

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hauptamtlichen Liebhaber betrüge. Ich weiß nicht mal, ob ich sie liebte, ich bin mir sicher, dass fünfzehn Tage der Abwesenheit von ihr mein Interesse an ihr gewaltig geschmälert hätten: Aber ihre Weigerung machte mich wahnsinnig. Wie konnte ich sie treffen? Habe ich erwähnt, dass sie mehr als nur eine Schwäche für mich hatte? Also habe ich mich umgebracht, um mein Mädchen auf die Palme zu bringen. Man mag mir diesen Selbstmord verzeihen, wenn man mein sehr junges Alter zum Zeitpunkt dieses Abenteuers in Betracht zieht. Das zweite Mal brachte ich mich aus Faulheit um. Ich war arm und hatte gegen jede Art von Arbeit eine angeborene Abscheu, also tötete ich mich eines Tages, ohne Überzeugung, genauso, wie ich gelebt hatte. Man kann nicht zu streng über diesen Tod urteilen, wenn man sieht, wie ich jetzt aufgeblüht bin. Das dritte Mal… ich erspare euch die Erzählung meiner anderen Selbstmorde, wenn ihr die eine noch hören wollt: Ich hatte mich nach einem Abend hingelegt, der sicher meine Langeweile nicht mehr gesteigert hat als andere. Ich entschloss mich und sprach im gleichen Moment den Grund aus: na und, wenn schon! Ich stand auf, suchte die einzige Waffe des Hauses, einen kleinen Revolver, den einer meiner Großväter gekauft hatte, geladen mit genauso alten Patronen (man wird noch sehen, warum ich dieses Detail erwähne). Da ich nackt schlafe, stand ich genauso im Zimmer. Es war kalt. Ich schlüpfte schnell wieder unter die Decke. Ich spannte den Hahn, fühlte die Kälte des Metalls in meinem Mund. In diesem Moment hörte ich sicherlich mein Herz schlagen wie dann, wenn man eine Granate pfeifen hört, wie in einem Moment vor dem Eingetreten unumkehrbarer Veränderung. Ich drückte ab, der Hahn schlug zu, aber der Schuss ging nicht los. Ich legte die Waffe auf meinen Nachttisch, möglicherweise lachte ich nervös. Nach zehn Minuten schlief ich ein. Ich glaube, es ist nicht unwichtig zu betonen, dass ich nicht eine Sekunde daran dachte, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Was zählt ist, die Entscheidung zum Sterben getroffen zu haben, und nicht das Sterben. Jemand, den der Ärger und die Langeweile verschonen, findet im Suizid vielleicht die Vollendung der Geste absoluten Desinteresses, außer, er ist auf den Tod gespannt. Ich weiß wirklich nicht, wann und wie ich angefangen habe, so zu denken, es ist mir außerdem egal. Aber hier haben wir ihn, den absurdesten Akt, und die größte Entfaltung der Phantasie,

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eine tiefere Entspannung Selbstfreilegung.

als

der

Schlaf,

die

reinste

Jacques Rigaut – Ohne Titel, in La Révolution Surréaliste No.2 (übers. Aus dem Französischen von AUT).

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Échéances du mort Dich zu lieben ist rein und unerbittlich und du {unwahrscheinlich jetzt als die Beerdigung die Winter anheult die Frühlinge anheult nein sie heulen und ich alte Jungfer die nicht schluckt ich kann die Sonntagskleider nicht tragen wo du bist als wenn dein Leben dein mich von all der Nacht weckendes Gegenübersein kein reichliches Bild wäre. * Du spielst in den Kneipen den Karten der Liebe gegenüber du sagst was sagen ist: meine Reise hält sich ans Mitleid {an den Dank eine beiläufig gestreifte Frau eine Fee anderswo {wo es nicht gelang zwei Geister und ihre geniale Abwesenheit vom Land auch ich habe von meinem Leben nicht die reinen Anteile gesehen. * zum Leben zum Tod zu gehen zu beenden zu beenden anzukündigen zu lieben.

Auszug aus: Guy Viarre – Échéanches du mort, in Moriturus No. 1 (übers. aus dem Französischen von AUT).

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Obstaculaire Wer einmal wie die Götter lebte? – wird wie eine Ratte sterben. In einer falschen Deckwand, ohne Augen. Falte, Rinde, Knoten Des Auswurfs dessen, was er begehrte. * Fallenlandschaft. Mit ausgewaschener Schlucht des Beweises und dem Abtragen des Nebelbergs. Dann der See am Bergkamm – eine vergiftende Lichtung. Eine uneinnehmbare Spalte und das Echo des Grundes. * Auf einem brennenden Stuhl Mit den Armen des Meers Und der Säule des Schlimmsten zwischen den Zähnen die Beschwernisse eines Wegs zum wieder-nichts aufsaugend klage ich einen Henker des Vergessens an.

Auszug aus: Cédric Demangeot - Obstaculaire, in Moriturus No. 1 (übers. aus dem Französischen von AUT).

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Prisonniers des gouttes d’eau… Qu’est-ce qu’on attend ? Une femme ? Deux arbres ? Trois drapeaux ? Qu’est-ce qu’on attend ? Rien. …..nous ne sommes que des animaux perpétuels . La lucidité de notre distraction mentale se trouvait représenté dans tous les espaces qu’on a parcourus. Même la naïveté d’un enfant ne pourrait surmonter notre franchise vers les couleurs, vers les sons et les humeurs de ce mécanisme étrange qui est appelé par les raisonnables comme suit : la ville. Moi, j’ai perdu la beauté elle-même à l’arrêt de bus, elle se cachait avec la vitesse d’une souris dans une bouche d’égout. Cette décision de la laisser s’enfuir, l’acte de rejeter cet objet sans issue était si satisfaisant. Oui, rien d’autre qu’être ennuyé jusqu’au but du possible était notre plaisir favori. Soit-il en n’importe quelle langue ou dans celle du chuchotement du délire, les mots ont jeté leur sens au-dehors de la fenêtre, mais ils ne nous manquent pas. On n’en a plus besoin dès que nous avons trouvé un moyen plus efficace que la vitesse du son et de la lumière : L’IMACHINERIE. L’air des mouvements alentours ce perce dans nos cerveaux avant l’intention déclenchant, donc quoi dire ? Faut-il respirer quand l’oxygène parvient nos peaux transpirantes ? Faut-il bouger soi-même quand tout environnement bouge à sa guise ? Faut-il interrompre la passivité absolue, se restreindre en buvant même des rayons des ombres ? Faut-il ? Rien. Nous avons surmonté l’individualisme dans le sens propre du mot, donc l’élément i n d i v i s i b l e de notre soi-disant personnalité. Nous avons neutralisé les je et les toi – maintenant il n’existe plus qu’un nous. On se sentait connecté par des liens dont on n’a jamais connu le nom, soitil par un câble stéréo ou par le sol qui touchait nos pieds en même temps. Un oiseau chantait des mélodies matinales dans nos poches de veste avec l’espoir d’une révolution juvénile, couvrant le bruit de l’automatisme matérialiste qui contamine toutes les rues, places et carrefours. Voici la beauté qu’on a crue perdu pour 252 mots précisément. Nous ne savons pas nous esquiver des parfumes d`été, plus jolies que les jambes d’une belle femme.

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La statue murmure :

du

président

de

la

république

pétrifié

Parce-que t’as les yeux bleus Que tes cheveux s'amusent à défier le soleil… Il ne reste rien à ajouter. Mais, dis-nous, dis-nous son nom ! Son réponse : Mère des souvenirs, maîtresse de maîtresses… - ô tais-toi, nous ne désirons plus nous souvenir de cet enthousiasme infantile ! Nous demandons notre disparition dans l’ E E E S C S P A P A P A C S C E S P A C E S P A C E S S S P P P A A A C C C E E E

Ma jeunesse en fauteuil à roulettes avec des oiseaux sur le manche de l’avenir mère blafarde chant d’un barde corps étincelant yeux enfantîles, bateaux creux, cerveaux prières perdus tyran élu foule succombe vide tombe héros des mots oublié bientôt.

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Voici la muraille de chêne : IîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîi Le caractère fugitif de l’amour est aussi celui de la mort. IîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîiîiîiIîiîi Voilà la femme de mes rêves : C H TÊ H E TE E V T V E O O E U R U X S X E J A A M M B B E E S S LA FIN DE TOUT AUT

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Die Frontstadt Kunst fällt Wir wollen uns an dieser Stelle mit einem selbsternannten Künstler beschäftigen. Da wir ihn jedoch für außer Stande halten, unser elaboriertes Sprachniveau auch nur annähernd zu verstehen, wird der an ihn gerichtete offene Brief in jenem heruntergekommenen Jargon daherkommen, den der Adressat selbst verwendet. Die folgenden Zeilen dienen des Weiteren jedem denkfähigen Menschen zum Verständnis der Provokationsmethodik, die von o.g. unfrei-nichtschaffendem soi-disant artiste genutzt wird – ob willentlich oder nicht, ist uns einerlei.

Heil Hitler, kleiner Jonathan! Deine infantile Geldmaschinerie zu ignorieren wäre uns lieber, doch strapazierst du unsere knappe Geduld ununterbrochen in allerlei Publikationsformen. Wir rekapitulieren: In Fachkreisen nennt man dich Spätentwickler, will nichts anderes heißen als eine behinderte Form von Existenz, die in betreutem Wohnen besser aufgehoben wäre als in der Öffentlichkeit, welche du mit Auftritten penetrierst, für die grenzdebil schon ein beschönigender Ausdruck ist. Du verehrst, wie viele andere verkappt, ganz offen deinen geliebten Führer, eine gute Wahl: er war ein dir vergleichbares Konglomerat genetischer Degeneration. Du bist, wie du in deiner kindlichen Geschwätzigkeit offenbarst, ein Muttersöhnchen, ein weiches Stückchen menschlichen Lebens also. Es wundert uns wenig, dass du mit solch harschem Vokabular um dich wirfst, das Schema ist alt wie die Zeit: schon die von dir sicherlich bewunderte SS war ein Haufen von feigen Versagern, die ihre Unfähigkeit mit harten Worten und animalischer Barbarei kaschieren wollten. Diktatur der Kunst! Ach, wie hübsch! Und wie provokativ! Wem nichts Besseres einfällt, der schreit nach der radikalen Lösung. Wir wollen dir bei deiner Endlösung der Kunstfrage gerne behilflich sein. Abgesehen davon, dass der erbärmliche Nazihaufen deine entartete Kunst verboten und dich an die nächste Wand hätte stellen lassen (obwohl, nein – du wärst sicher Fähnleinführer der HJ geworden! – unser Fehler), stellst du im selben Maße die diktatorische Rettung der Kunst dar, wie der impotente Österreicher – Gott habe ihn selig! – die Rettung Europas dargestellt hat. Es verwundert uns Kulturpessimisten wenig, dass die verrottete Bourgeoisie

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Beifall klatscht und dir ganze Geldbündel in den Anus schiebt. Schon Hitler war in seinem zeckenhaften Proletentum dem Appeasement der oligarchischen Snobs überlegen, die ihm noch munter zu politischen Vernissagen verhalfen, als er schon die Gewehre gegen sie durchladen ließ. Es ließe sich argumentieren, deine geistigen Fähigkeiten genügten nicht zur kritischen Reflexion des Pseudodadaismus, dem du alltäglich Reichsparteitage abhältst. Doch dann müsste man auch jene Amöben freisprechen, die allen Ernstes behauptet haben, sie kapitulierten nie, als die Yankees schon an der Elbe standen und der Bolschewik mit seiner Artillerie an den Führerbunker klopfte. Nein, nein, nochmals nein, jeder noch so traurige Fall geistiger Inkontinenz soll uns schön auf seinem Scheißhaufen von Verantwortung sitzen bleiben. Dennoch sind wir uns bewusst, dass dein fanatischer Irrsinn letzten Endes zu unserem Nutzen ist, denn während du dämlicher Mitläufer einer materialistischen Erzmaschinerie, die sich Kunst schimpft, noch lauthals den Endsieg propagierst, haben wir unsere Regimenter, Panzerdivisionen und Kampfgeschwader schon angriffsbereit vor deinem zusammengeschossenen Haufen an imaginierten Armeen stehen, und bald werden wir zur Großoffensive antreten, dich, all die anderen Kunstverbrecher und Helfershelfer hinwegfegen und uns wie Marschall Schukow rühmen, zu ihrer Befreiung 90.000 Granaten in die Hauptstadt abgefeuert zu haben. Sieg Heil! Sehen Sie? So einfach ist es. Antonin U. Trébut für die Neodadaistische Bewegung

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Ein Plädoyer für den Tod Le caractère fugitif de l’amour est aussi celui de la mort, sagte Robert Desnos. Ihm ist voll und ganz zuzustimmen. Wir sagen es immer wieder: einzig die Intensität ist von Bedeutung, also das qualitative Moment, nicht die Dauer. In diesem Sinne trennen wir zwischen erleben und existieren. So ziehen wir auch die amour fou der Liebe vor wie die luziden Träume dem erholsamen Schlaf. Ebenso halten wir den religiösen Glauben an den Tod als transzendentes Ereignis für menschlichen Größenwahn: Die Idee der Unsterblichkeit einer Seele ist nichts als Wunschdenken, welches die Existenz durch irgendetwas Höheres aufwerten will. Nein, der Tod ist weder Ende noch Übergang, er bedeutet schlicht und einfach die Abschaltung dessen, was allgemein als Vernunft und Bewusstsein bezeichnet wird. Après moi le sommeil , in diesem Satz findet sich alles, was dazu gesagt werden kann, nämlich das Hinübergleiten von der Phase des luziden Traums, für welchen wir das Leben halten, in jene des traumlosen Schlafes. Bei der amour fou existiert keine Trennung zwischen aimer follement und nichtlieben (sie ist keine Phase, sondern ein Erlebnis im wahren Wortsinne) – sie wirkt für das ganze Leben und das gesamte Bewusstsein. Genauso gibt es keine Trennung zwischen dem Leben und dem Tod, sie sind eins. Das Ende des Ichs, vor welchem manche panische Angst zu haben scheinen, ist ein Irrtum, denn der Tod kann nicht mehr und auch nicht weniger Erlebnis sein als das Leben, gerade dort, wo er die Illusion des Ichs beendet. Folgerichtig halten wir die maßlose Überschätzung des Werts des Lebens für Unfug, sowie alle ihr geschuldeten Verhaltensweisen, wie zum Beispiel lebensverlängernde medizinische Maßnahmen oder die Behandlung von vorgeblich psychisch Kranken, die (im schlimmsten Falle medikamentös) daran gehindert werden sollen, sich das Leben zu nehmen. Es wird von den Gegnern des Suizids immer wieder angeführt, der suizidale Mensch könne sein Leben mit Hilfe von außen ja doch noch genießen – wir fügen wiederholend an: Wenn er sein Leben genießen kann, kann er den Tod genauso genießen – er ist nur ein Erlebnis anderer Art. Es sei zur Vermeidung von Missverständnissen angefügt, dass wir nicht wie bei den oben genannten Fällen schulterzuckend zusehen, wenn Menschen das Leben gewaltsam genommen wird, also durch Mord (gerade der Tod im Krieg ist Mord): Das Leben dient keinem Zweck, genauso wie der Tod keinem Zweck dient und niemals dienen darf. Der Tod im Krieg

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hingegen ist angeblich ein solcher für irgendeine Sache, also ein Mord, der teleologisch durch stumpfsinnige Selbstüberschätzung gerechtfertigt wird – es dürfte niemandem entgangen sein, dass wir nichts mehr ablehnen, als eine Sache durch einen Zweck zu rechtfertigen. So können wir zu keinem anderen Schluss kommen als zu dem folgenden: Man soll das Leben da schätzen, wo es wirkliches Erleben ist, und dort verachten, wo es nichts als Automatenwesen, als perpetuelle Kapitulation gegenüber dem Fatalismus ist. Gleiches gilt für den Tod, denn er steht zu diesem in der gleichen Verbindung wie der Traum zum Wachsein. Die Angst vor beidem, genau wie die vor dem Unterbewussten, überlassen wir jenen, die das Sesam öffne dich! zu diesen Pforten nicht kennen. AUT

Robert Desnos (1900 – 1945). Die Freiheit und Empathie eines Dichters finden sich selten so schlüssig vereint wie bei Desnos. Wie viele seiner surrealistischen Mitstreiter verließ er nach einer für ihn wie für die Bewegung gewinnbringenden Phase dieselbe, da sein Charakter sehr schmerzhaft gegen das Ego André Bretons geprallt war. Seine Leistung wird offenbar, wenn man sich bewusst macht, dass er wegen seiner Tätigkeit in der Résistance deportiert wurde und dennoch, sogar im KZ, Liebesgedichte schrieb. Dieser Akt absurdester Menschlichkeit, nämlich der absoluten Gewalt ihren Gegenpart – nicht etwa Gegengewalt, sie ist Teil von ihr, sondern die Liebe – entgegenzuhalten, macht das Phänomen Robert Desnos aus. Er erlebte noch die Befreiung Theresienstadts, seiner letzten Station, um dann der Krankheit zum Opfer zu fallen, welche Folge der dortigen Zustände war. Paul Éluard (1895 – 1952). Éluard, der Miterfinder des Surrealismus und spätere Haus- und Hofdichter der KPD, kann für sich zweierlei rühmliches in Anspruch nehmen: Sowohl in der Résistance aktiv gewesen zu sein als auch seine Frau von Dalì ausgespannt bekommen zu haben. Seine Themen, Freiheit und Liebe, machen ihn zu einer Art Schulklassiker surrealistischer Literatur. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass er mit der besten Signatur aller Zeiten zeichnete. Jacques Rigaut (1898 – 1929). Als er sich das Leben nahm, wusste Man Ray ihn vor allem dafür zu loben, die am

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besten gebundene Krawatte Frankreichs getragen zu haben. Rigaut war die Verkörperung eines Dandys, welcher seine Betroffenheit über die Erfahrungen des Weltkriegs und das Scheitern des Fortschritts durch geheuchelte Selbstverliebtheit und Zynismus zu überspielen versuchte. Sich immer bewusst, dass sein Spiel als Dorian Gray kein dauerhaftes sein konnte, beschäftigte er sich in seinem unnachahmlichen Schreibstil vor allem mit der Frage des Suizids, welcher für ihn konsequenterweise auch zur Antwort wurde. AUT

Zum Phänomen des Langeweile-Enthusiasmus Zu viel Kaffee, eine Vorlesung über die griechischen Götter und ihre irdischen Besuche, eine nicht ganz strukturierte Dozentin, und, weil man nie genug davon kriegt, noch mehr Kaffee. Anfangs steuert der Ehrgeiz den Stift in der Hand und die Seiten füllen sich mit Wortfetzen, fast wie in Trance zieht sich die Hand von links nach rechts, doch der Kopf ist schon längst nicht mehr fähig, den Einzelheiten zu folgen. Die Stimme schweift immer weiter weg, fast nicht mehr zu hören, nur noch ein dumpfer Klang, der den Tagtraum einleitet. Dann plötzlich erscheinen weiche hellblaue, leicht rosa Schäfchenwölkchen, die von kleinen Engeln in cremefarbenen Höschen bewohnt werden, die unglaublich glücklich erscheinen, wenn sie ihren lieben langen Tag Backgammon spielen und keine anderen Sorgen haben, als die fehlenden Klamotten, wenn die kühle Nacht anbricht. Worüber man nachdenkt ist nicht mehr nachzuvollziehen, wenn der Stift auf das Blatt Papier trommelt. Unbewusst steigt eine Nervosität die schlafenden Glieder auf. Zum Trommeln des Stiftes gesellt sich der stetige Schlag des Fußes gegen den Stuhl des Vordermanns. Plötzlich ziehen sich alle Muskeln zusammen, die Augen suchen wirr durch den Raum, finden kein Ziel. Verzweifelt greift die Hand nach dem Kaffeebecher und muss enttäuscht feststellen, dass diese Lage nun langsam dem kritischen Zustand näher kommt. Enttäuscht wird der Stift weggeschmissen. Unruhig wippt man auf dem Stuhl hin und her. Vor lauter Anstrengung rutscht ein etwas zu lautes Seufzen aus dem Mund, während sich gleichzeitig die Stirn in Falten zieht. LANGEWEILE. Sobald man sich dieses Zustandes bewusst wird, der Körper schon endlos nach Abwechslung und Ablenkung gesucht hat, der Kopf leer ist, diese Leere jedoch füllen

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will, ist der Zeitpunkt gekommen - der Enthusiasmus schwillt an. Die gesamten Glieder werden erwärmt, auf dem Papier finden sich kleine Kritzeleien wieder, die zunächst keinen tieferen Sinn haben, jedoch bestrebt sind etwas zu werden. Eine Geschichte erzählen wollen. Ein Teil des Ganzen werden wollen. Vermehren sich - wissen jedoch nicht wohin - ein Ende ist nicht in Sicht. Verloren in Gedanken, abgeschweift ins Unendliche und nicht mehr mit der Umgebung verbunden, vermehren sich die Gedankenblitze, umgewandelt in Zeichen auf dem Papier, die Lebensgrundlage aller Erzeugnisse dieses Zustandes. Der Zeiger der Uhr, die Zeit, eine in sich überflüssige Erfindung, die einen weiter hetzt und nie in Ruhe lässt - Stille ist wünschenswert und nie erreichbar tickt unsäglich weiter. Gefangen auf dem Stuhl, der die einzige Möglichkeit bietet, seine Freiheit auszuleben, lässt einen weiter hin und her wippen. Reicht nicht aus. Das Papier vor einem füllt sich weiterhin, mit unsinnigen Zeichnungen, welche immer noch bestrebt sind, vollendet zu werden. Gedanken schweifen und lenken den Stift. Wörter reihen sich aneinander, ergeben keinen Sinn - ein Gedicht? Was ist kein Gedicht? Es gedeiht und blüht auf dem Blätterboden. Der Zeiger tickt. Der Zustand wandelt sich in die Vorstufe des Wahnsinns. Unverhofft unterbrochen durch den Lärm der vergessenen Anwesenden. Der trübe Blick klärt sich. Das erlebte schwindet der Realität. Das Bewusstsein kehrt zurück. Der Geist findet den Weg in seine Hülle. Es existieren nicht mehr nur Vorstellung und die Hand, welche diese transportierte. Der Zeiger nimmt seine wahre Stellung wieder ein. Fünf vor Zwölf. Tatendrang verschwunden. Phänomen verständlich? MB

…..telle est la beauté Hedon saß auf einem Sofa in der hintersten Ecke, als Krapul die Bar betrat. Durch den Rauch setzten sich seine Konturen ab, eine lange Adlernase und die dutzende Zentimeter langen Finger, die er wie Spinnenbeine den Tresen entlanglaufen ließ. Das klackernde Geräusch der auf das Holz treffenden Fingernägel bohrte sich in seinen Kopf, als sei gerade diese Frequenz künstlich verstärkt worden. Er goss

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sich das letzte Viertel seines Bieres ruckhaft ein, während Krapul grinsend näherkam. Neben ihm saß Séduit, ein graziler Bursche mit zarten Gesichtszügen. Eben noch hatte er ihm sanft über die Schenkel gestrichen und einige Liebesworte ins Ohr geraunt. Seine Anwesenheit hatte den atmosphärischen Druck aus dem Raum genommen, seine Hand den Zweifelspfeil fast schmerzlos aus seinem Fleisch gelöst; ein Kuss darauf schloss die Wunde. Seine Haltung war gerade, wenn auch nicht fest gewesen, doch nun, da das Klackern der Fingernägel näherkam, brach er in sich zusammen. Die Schultern sackten ein, seine tiefblauen Augen starrten bewegungslos in Richtung des Geräusches, die Pupillen weiteten sich, um sie verging das Blau in einem blassen Grau. Krapul schloss, mein lieber Freund summend, seine Glieder um Séduits Hals; er lächelte ihn freundlich an, während dieser zappelnd um sein Leben rang. Als es vorbei war, ließ er den warmen Körper unter den Tisch gleiten und setzte sich an dessen Platz. Hedon nippte schon am nächsten Bier, er hatte die Szene mit gläsernen Augen betrachtet. Krapul lehnte sich mit großer Geste zurück, entnahm einem goldenen Etui eine Zigarette und steckte sie mit einem Streichholz an. Er begann mit einer solchen Kraft zu ziehen, dass sich der ganze Raum in seine Richtung bog. Eine Sekunde herrschte völlige Stille, dann blies er eine Eruption aus sich heraus, in der alles verschwand. Darf ich vorstellen? raunte er mit einer Stimme, deren höflicher Ton die Brutalität der Forderung kaum zu kaschieren vermochte. Aus dem Rauch zeichneten sich Formen ab: Prostituierte, die sich ihre Lumpen von den vernarbten und faltigen Körpern zu reißen begannen, sie lachten kreischend, spreizten ihre Schenkel und streckten ihm ihre Scham zu; aus dem Etui wuchsen kleine Häuschen, bis er in ihre Straßen hinab gesogen wurde, alles war Gold, es regnete kleine goldene Tropfen, kein Wind blies, es war nicht kalt, nicht warm, er war weder glücklich noch verzweifelt, nichts regte sich außer den vorbei laufenden sterilen Formen. Dann verließ er die Stadt, senkte seinen Adlerblick Gottes auf einen Friedhof: dort war eine Zeremonie im Gange, ein Sarg wurde in ein Grab gesenkt, aus ihm strahlte warmes Licht, das Kreuz davor trug seinen Namen. Unzählige Menschen aus allen Teilen der Erde standen da, sie waren allesamt jung und von exquisiter Schönheit, sei weinten bitterlich, bis jemand im Schmerz seinen Namen rief, ein erregtes Zucken ging durch die Menge, nun plötzlich rissen sie sich gegenseitig die Kleider von den Leibern, fielen

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übereinander her oder onanierten, stöhnten alle seinen Namen, bis der Klimax sie zu einem großartigen Chor anschwellen ließ. Nun verschwammen die Bilder, nur noch das helle Atmen der nach dem Orgasmus Daliegenden klang in seinen Ohren, dann verwischte auch der Ton und die Schwärze schloss sich um ihn. Als das Licht zurückkehrte, wähnte er sich im selben Raum und vermochte doch keinen Anhaltspunkt dafür zu finden. Er fühlte seine Schädeldecke schmerzen, griff sich an den Kopf, und wirklich, in seiner Stirn war ein kleines Loch, sein Hinterkopf fehlte ganz. In seiner rechten Brust steckte der Reuespeer, sein Gift sickerte langsam und hell brennend in sein Fleisch. Er wollte vor Schmerz schreien und war doch unfähig, seine Lungen vollzusaugen. Er blickte nach links, dort saß das Skelett Krapuls, eine brennendende Zigarette noch zwischen den Fingerknochen. Unter dem Tisch lag Séduit, die Augen waren aus den Höhlen getreten und doch war sein blau angelaufenes Gesicht von so wunderbarer Schönheit, dass Hedon sich herunterbeugte, seinen Kopf griff und ihm die kalten Lippen küsste. AUT

Tetraeder-Joe – Der durchschnittlichste Cowboy des milden Westens Tetraeder-Joe ritt auf seinem rosa Zwergpony durch die gepflegte und mit Blumenbeeten versehene Prärie. Die Sonne schien, aber nur angenehm warm, so dass man keinen Sonnenbrand bekam. Sicherheitshalber hatte Tetraeder-Joe trotzdem einen hohen Lichtschutzfaktor aufgetragen, damit seine weiche Haut keinen Makel bekam. Er ritt vorbei an Kakteen, die jede Woche von Gärtnern rasiert wurden, damit sich niemand an ihren Stacheln verletzen konnte, er trabte vorbei an sorgsam platzierten Steinen und Büschen, bis er in eine kleine Stadt gelangte. Boredom's Creek. Das mit Bedacht gewählte Ziel seiner Reise. Tetraeder-Joe bewarf die erschrockenen Einwohner mit Marshmallows, um ihnen Respekt einzuflößen. Vor dem KakaoSaloon stieg er ab, gab seinem Pony Chantal ein Zuckerstückchen und drückte vorsichtig die Tür des Saloons auf. Die verhalten und rücksichtsvoll geführten Gespräche der Gäste verstummten, als er seinen Kashmir-Pullover auszog und sich wie selbstverständlich eine warme Milch mit Honig

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bestellte. Aus purer Bosheit schoss er mit seiner Wasserpistole in die Luft und forderte ein Duell. Doch niemand wollte sich ihm stellen. Darum klaute er allen die Pfefferminzpastillen und zog sich mit seiner Beute zu einem Bad zurück. Als Tetraeder-Joe Pfefferminzpastillen lutschend und ein Lied der Spice Girls pfeifend in der Wanne saß und – nur ein bisschen – an sich herumspielte, platzte – nach höflichem Anklopfen - sein langjähriger Widersacher Monokel-Otto herein – nicht ohne sich respektvoll umzudrehen, damit Tetraeder-Joe sich anstandsgemäß abtrocknen und ankleiden konnte. Nach einer rasanten Hosenanziehung wirbelte Tetraeder-Joe langsam herum und warf ein Stück Papier nach Monokel-Otto. Dieser wich aus und konterte mit einer kleinen Wasserbombe. „Argh!“ rief der gefährlichste unter den ganz durchschnittlichen Cowboys des milden Westens, als sein Flanellhemd nass wurde. Monokel-Otto sah sich schon die Oberhand gewinnen, als Tetraeder-Joe eine brachiale Verbal-Attacke startete: Blödmann, rief er (aber nicht zu laut, damit sich die anderen Gäste des Hauses nicht gestört fühlten). Monokel-Otto taumelte schwer getroffen und öffnete das Fenster, um sanft heraus zu fallen. Furchtlos kletterte Tetraeder Joe ihm nach und wagte den riskanten Sprung aus dem Erdgeschoss. Wuchtig wie ein mittelgroßer Kiesel landete er im weichen Gras des Gartens, strich sich die Hose glatt und setzte gleich zum nächsten Schlag an: Er wies Monokel-Otto darauf hin, dass dieser Hausfriedensbruch begangen hatte. Der Monokler gab sich geschlagen und ging sofort zum Sherif, um sich verhaften zu lassen. Monokel-Otto wurde zu 5 Sozialstunden im Kindergarten verurteilt und wagte es nie wieder, die Ruhe von Boredom's Creek zu stören. Tetraeder-Joe hingegen wurde mit Drei Mark Fuffzich belohnt und kaufte sich eine Coke Zero. Wieder einmal hatte Tetraeder-Joe die Welt gerettet. ST

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Zur Fatalität ich ging und ich sah und ich fühlte. Es gibt keine Auswege Auch keine Einwege Im Grunde keine Wege. Nicht einmal Um-Wege Nur Möglichkeit – und darunter dazwischen und dahinter kein Schicksal, keinen Gott – nicht einmal DIE Zeit. Was es ausmacht zu sein – beinhaltet nur Brücken die du trägst. Keine Mauern, keinen Einschluss. Bleib vergessen im immer Treuen damit Erinnerung eine Trophäe ist die du baust um Babel ein Mahnmal zu sein. Du bist weil du dich zu tragen beginnst – du weißt nichts, damit du in der Weite wächst. JJP

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Fatum Ich kann eure Spiele spielen Das macht sie nicht weniger leer Erst abseits der Rotte begreif ich Eure und meine Verlorenheit Warum so fremd? Wir kommen von hier Und doch: das Staunen macht Angst Die Sonne trocknet aus mir das Tier, Das ich immer bin, bis es nachtet Traumlos zittern im Raum, der flieht Wir nennen das Zeit, die vergeht Und wir mit ihr… Das ist die Folter Die da weckt die Lust auf Vergessen Wir keuchen, wir schlingen, wir spielen Spiele Wir tönen schrill, damit es nicht still wird Um uns. Denn Worte sind auch nur Geräusche. So sprich doch! Sprich! Von allem sprich! Nur Vom Tode nicht! Denn manchmal presst er Die kalte Hand auf unsere bebende Schulter Und haucht sein: Noch nicht… aber bald. Allmächtiger Richter am Kreuzweg! Drum wenden wir störrisch das Antlitz In die Dämmer der Kindheit ab Und kreisend begehren wir gierig Ihr leises Versprechen vom Glück. BR

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Aphorismen der Woche

Die Phänomenologie des Scheißens Soviel ist uns die Liebe zur Weisheit wert.

Gegen den Pogrom schwimmen Moralischer Leistungsport für Weltverbesserer.

Kreatiefpunkt Schaffensphase der Konterrevolutionäre.

Autoren & Kollaborateure Maria Blonde; geboren in Bonn, hauptberufliche Muse, Begründerin des Literaturkreises Dumm & Schlank, quantitative Photographin und Entdeckerin des völligen Kommunikationszusammenbruchs (Richter’sche Methode). Robinskij Lambrechtowitsch; geboren in Bangkok, Künstler vor und nach dem Herrn, Erfinder der Schnöselei, Photograph, Dichter und auf vielen CDs zu hören. Janja Josipa Perkovic; geboren im Pays de la Magie, Malerin und Dichterin, hat den Zaun zwischen Zeichen und Inhalt abgerissen. Marschall von Pytz; geboren im Harz, Geschichtenerzähler erster Güte, Generalfeldmarschall a.d. der Roten Armee und Träger des großen muttersprachlichen Ordens. Bernard Rieux; geboren in Maribor, erster echter Poet nach dem Untergang des Abendlandes, lehnt den Neodadaismus rundherum ab und wird daher gegen seine Willen hier publiziert. Sam Takttreppe; geboren in Mühlheim, neodadaistischer Dichter erster Stunde. Seine hochelaborierte Prosa gilt als wegweisend für die Bewegung. Antonin U. Trébut; geboren in Budapest, Dichter & Verfasser des Ersten und Einzigen Manifests des Neodadaismus.

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