Ja ­ und?

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Ja – und? Menschen mit Behinderung erzählen

Paula Lanfranconi, Text  |  Ursula Markus, Fotografie



Inhalt

Andersartigkeit verunsichert Wie alles begann „ Wir sind alle Menschen hier.“ Fabian Bächli „ Wenn man will, kann man alles ! “ Karin Schönenberger „ Sie reden mit uns ! “ Elisabeth Egli „ Vor dem Sterben habe ich ein wenig Angst.“ Peter Weiler „ Dann starre ich halt blöd zurück ! “ Alexandra Pulver „ Ich habe es geschafft. Irgendwie.“ Dölf Keller

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„ Philipp ist für mich da.“ Katrin Tresch und Philipp Letsch

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„ Ich unterschreibe nie mehr etwas ! “ Annemarie Meier

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„ Das macht Spass hier ! “ Tobias Tobler

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„ Ich kenne nur eine meiner beiden Mütter.“ Melissa Obrist

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„ In mir steckt eine Frau  ! “ Sandra Grande

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„ Den dritten Gang – und rätsch ewägg  ! “ Herbert Brändli

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Pro Infirmis

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Dank

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Fabian Bächli

ist 17 und hat Charme für zwei. Und er ist auch an zwei Orten zu Hause : bei den Grosseltern und natürlich bei Mama Özlem, der schönsten Frau der Welt.

„ Wir sind alle Menschen hier “ Gestern war ein komischer Tag. Ein Tag, an dem er nicht zu Oma und Opa gehen konnte, drüben im anderen Haus­ teil. „  Problem !“, sagt Fabian und sein Gesicht wird auf ein­ mal traurig. Oma und Opa sei es schlecht gewesen. „  Ziem­ lich !“ Und jetzt müssten sie Suppe essen, damit sie wieder gesund werden. Wenn ein normaler Tag ist, dann ist Fabian ein richti­ ger Schatz. Er lacht, macht gerne Sprüche, Charme blitzt in seinen dunklen Augen. Über der Oberlippe zeigt sich der erste Flaum. „  Ich bin 17“, beschreibt er sich selber. „  Gehe in die Johannes-Schule. Wir sind alle Menschen dort : Kinder, Lehrer und so.“ Wenn Herr Kühn, der Lehrer, Ärger hat, hilft ihm Fabian. Nach der Schule geht Fabian immer zuerst zu Oma und Opa. Sie machen dann eine Stunde lang Hausaufgaben zusammen. „  Aufgaben sind wichtig“, sagt Fabian. „  Schaf­ fen, rechnen, lesen !“ Nachher spielen und lachen sie noch ein Weilchen zusammen. Dann geht Fabian hinüber zu Özlem, seiner Mutter. Die beiden herzen und küssen sich, als hätten sie sich eine Ewigkeit lang nicht gesehen. Und Fabian ist glücklich, wieder bei der schönsten Frau der Welt zu sein. 8

Dass Fabian anders ist, merkte seine Mutter bald nach seiner Geburt. „  Er lag anders als andere Babys, irgendwie wie ein Frosch, und er hatte eine andere Augenstellung.“ Die junge Mutter war beunruhigt, stellte Fragen, doch die Ärzte wichen aus, tagelang. Özlem Bächli ist lebenslustig, warmherzig, initiativ. Eine Powerfrau. Sie kam als Kind mit ihren Eltern aus Istanbul in die Schweiz, hatte viele Pläne. Und Bilder im Kopf von dem kleinen Wesen, das bald zur Welt kommen würde. „  Und dann“, sagt sie, „  kommt ein behindertes Kind und, zack, alles ist weg. Keine Zukunft, keine Perspektive.“ Sie war froh, als ihr eine Ärztin schliesslich ziemlich direkt ins Gesicht sagte : Machen Sie sich keine Hoffnung. Ihr Kind hat ein Down-Syndrom ! „  Jetzt“, sagt Özlem Bächli, „  wusste ich endlich die Wahrheit und konnte wei­ termachen.“ Ihr Sohn, das war ihr von Anfang an klar, sollte zusammen mit nicht behinderten Kindern aufwachsen. Doch es war niemand da, der ihr sagen konnte, was sie tun könne. Sie begann zu recherchieren, engagierte sich in Eltern­ ­­vereinigungen, trat lokalen Vereinen bei, versuchte, Fabian in die nächstgelegene Spielgruppe zu bringen. Und stiess


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auf ängstliche Ablehnung. Da tat Özlem Bächli etwas für sie Typisches : Sie absolvierte gleich selber die Ausbildung zur Spielgruppenleiterin. „  Ich war“, sagt sie, „  überzeugt : Wenn man mich kennt und mich mag, dann nimmt man mein Kind auch an.“ Sie bekam recht. Als Fabian ins Kin­ dergartenalter kam, schrieben die Nachbarinnen sogar ei­ nen Brief an die Gemeinde und sagten, sie möchten gerne, dass Fabian mit ihren Kindern aufwachse. Die Einschulung brachte die nächste Hürde. Özlem Bächli ging gut vorbereitet auf die Schulbehörde. Sie hatte alle in Frage kommenden Schulen herausgesucht und verglichen : Regelschule, Privatschulen, heilpä­da­gogische Schulen, dazu Kilometerdistanzen, Kinder pro Klasse, Kos­ ten. Und sie präsentierte der immer noch skep­tischen Be­ hörde auch eine Alternative : die Montessori-­Tagesschule. Fabian würde dort das einzige Kind mit Behinderung sein.

Diese Tagesschule nahm ihn dann auf. Einfach war der Schulalltag nicht. Manchmal, räumt Özlem Bächli ein, seien die Lehrer fast verzweifelt. Sie selber vertraute darauf, dass Kinder viel von anderen Kindern lernen. Tatsächlich habe immer wieder ein Gspänli gesagt : Komm Fabian, ich erklärs dir ! Und plötzlich sagte Fabian : Aha, so geht das ! Auch im Umgang mit unerwarteten Situationen hätten die Kinder durch Fabian gelernt. Zum Beispiel mittags im Park. Alle wollten nach Hause, nur Fabian war noch nicht bereit. Er sagte einfach : Nein ! „  Und dann“, erinnert sich Özlem Bächli, „  mussten sich die Kinder etwas überlegen.“ Sollten sie ihn locken, ihm etwas anbieten ? Oder eben gera­de nicht locken ? Fabian sei an dieser Tagesschule sehr selbstständig geworden. Doch es gab keine Oberstufe, er musste an eine heilpädagogische Schule wechseln. Özlem Bächli hielt 11


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ihren Schmerz vor der Schulpflege nicht zurück. Und siehe da : Die Gemeinde schlug ihr eine Teilintegration vor. Fa­bian sollte jeweils am Morgen mit den Sek-A-Schülern kochen oder werken. Am Anfang sei das äusserst schwierig gewesen, doch die Lehrpersonen hätten Fabian die Stange gehalten : „  Jetzt hat er wieder beide Welten, und es geht ohne Begleitung.“ Inzwischen ist Fabian 17. Mit Julia, einer Mitschüle­ rin, verbindet ihn eine innige Freundschaft. Julia ist fast 15 und hat ebenfalls ein Downsyndrom. Die beiden Teenager mögen Musicals, „ Mamma Mia“ zum Beispiel, oder sie ge­ hen zusammen ins Theater. Sportlich sind sie auch. Für die Special Olympics trainierten sie gemeinsam so fleissig, dass Fabian Silber im Eiskunstlaufen gewann, Julia gar Gold. Fabian hat Charme für zwei. Das zeigt sich auch, wenn seine Mutter ihre Freundinnen einlädt. Dann be­ grüsst er sie schon mal mit : Guten Abend, schöne Frauen ! „Vierzigjährige“, schmunzelt Özlem Bächli, „  schmelzen 16

ob so einem Spruch.“ Fabian genoss seinen Erfolg in vollen Zügen und wollte ihn auch in der Schule wiederholen. Freudestrahlend begrüsste er eine Sekschülerin mit : Bella, siehst gut aus heute ! Und war wie vor den Kopf gestossen, als die 14-Jährige sein Kompliment gar nicht cool fand. „ Für Fabian“, sagt seine Mutter, „  ist es schwierig zu entscheiden : Hier darfst du, dort nicht.“ Sie wünschte sich, die heilpädagogische Schule würde ihre Jugendlichen in diesem sensiblen Bereich begleiten. „  Auch bei ihnen“, argu­ mentiert sie, „  geht es hormonell drunter und drüber.“ Aber sie könnten keine Erfahrungen machen, hätten auch keine Freunde, mit denen sie sich austauschen können. Bald schon stellt sich für Fabian die Frage, wie es nach der Schule weitergehen soll. Er möchte Polizist werden. Oder Feuerwehrmann. Unbedingt ! Oma sagt dann jeweils : Das geht nicht. Polizisten und Feuerwehrmänner müssen richtig lesen und schreiben können. Seither liest Fabian noch eifriger in seinen Kinderbüchern. Aber noch viel lie­ ber würde er Krimis verschlingen. Die Berufsfindung sei etwas, was sie überfordere und auch schmerze, sagt Özlem Bächli. „  Die Auswahl ist be­ schränkt.“ Sie wünscht sich für Fabian eine Tätigkeit, wo er ein wenig gefördert würde. Vielleicht als Laufbursche ? Doch solche Nischenjobs gibt es nicht mehr. Sie dachte auch an ein Altersheim, wo er vielleicht den Nachmittags­ kaffee servieren könnte. Er sei ja so lieb, der sprichwörtliche Sonnenschein. Doch wenn er allein dort wäre, ohne seine Gspänli, würde es für ihn nicht aufgehen. Sie überlegte sich, selber etwas aufzugleisen, bremste jedoch ihren Unter­ nehmerinnengeist, denn Fabian habe Anrecht auf eine Lehre. Er kocht und isst fürs Leben gern. Vielleicht etwas in Richtung Haushalt und Küche ?



Früher verglich Özlem Bächli ihren Sohn mit normal begabten Kindern. Was die alles Tolles schafften ! Fabian würde, bei all seinem Charme, nie so weit kommen. Und sie würde auch nie Grossmutter sein – sie, die am liebsten in ei­ nem Mehrgenerationenhaus leben würde. Und manchmal ist der Alltag mit Fabian stressig. Es ist schon vorgekom­ men, dass er die Feuerwehr alarmiert hat, einfach so.

„ Fabian wird ein gutes Leben haben.“

Ihren Sohn ein wenig loszulassen, fällt ihr noch schwerer als anderen Müttern. Nie wird sie jenen Vormittag vor einem Jahr vergessen, als sie ihn zum ersten Mal allein zu Hause lassen musste, weil sie eine Sitzung zu leiten hatte. Fabian musste versprechen, nicht in die Küche zu gehen. Dann, mitten in der Sitzung, läutete das Handy. Es war Fabian. „  Ich koche !“, berichtete er stolz. Sie habe, erinnert sich die Mutter, vor lauter Angst zu hyperventilieren begonnen. Doch Fabian habe ihre Angst gespürt und gesagt : „  Mama ! Das war nur ein Scherz !“ Sie hat gelernt, ihr Kind anzunehmen. Hat viel über Behinderung und Normalität nachgedacht, hinterfragt auch den Begriff Intelligenz : Fabian, sagt sie sich, kann zwar

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nicht rechnen, aber er findet sich mit Tram und Bus zu­ recht, kann mit elektronischen Geräten umgehen, vor de­ nen sie selber kapitulieren müsse. Und er habe Humor und diesen ganz speziellen Charme. Manchmal schütten sich Mutter und Sohn richtig aus vor Lachen. Oder sie tanzen miteinander. „  Ob ich das mit einem sogenannt normalen Kind auch tun könnte ?“, fragt sie sich. Nur über etwas spricht sie nicht gerne. Über ihre Selbstaufopferung, welche längerfristig die Beziehung zum Partner unterminierte. „  Als Eltern eines behinderten Kin­ des belügt man die Umwelt und sagt : Kein Problem, wir machen das tipptopp !“ Doch bei vielen Paaren sei die Be­ hinderung häufig ein Trennungs- oder Scheidungsgrund. Und doch, sagt Özlem Bächli, und ihre ganze Lebens­ freude bricht wieder durch, habe sie es gut gemacht. Am liebsten würde sie noch ein oder zwei Kinder mit Down­ syndrom adoptieren. Sie ist ganz schön stolz auf ihren Fa­ bian. Und trotzdem werde sie immer eine Glucke bleiben, sie habe ständig Angst, eine Therapie zu verpassen, wenn er sich wieder schwerfälliger bewege oder undeutlicher spre­ che. „  Aber“, fügt sie sofort bei, „  Fabian hat ein glückliches Gemüt. Er wird ein gutes Leben haben.“ Fabian wird ungeduldig. Es ist Spätnachmittag, er will hinüber zu Oma und Opa. Er hat sie seit gestern nicht mehr gesehen. Heute ist fast wieder ein normaler Tag.


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