Unbekannte Tierart
Der Mythos des nächtlichen Milchdiebes Um einen Ziegenmelker in Europa aufzuspüren, braucht es einiges: die richtige Jahreszeit, eine geeignete Umgebung, gutes Sehvermögen, ein feines Gehör und sicher auch viel Glück. Entgegen eines alten römischen Mythos kann man sich aber eins sparen: eine Ziege. n von Tom Stadler
Meister der Tarnung Wer im späten Frühling in Niedersachsen oder in den östlichen Bundesländern Deutschlands durch lichte Kiefernwälder, Moore oder weite Heidelandschaften wandert, sollte gelegentlich zweimal auf den Weg vor sich schauen. Zwischen Torf, Mulch oder Laub könnte sich hier ein Vogel befinden, der im Gegensatz zu vielen seiner entfernten Verwandten, tagsüber gerne auf dem Boden verweilt. Perfekt getarnt, mit Gefieder, welches
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braun, weiß, grau und schwarz gemustert ist und an Baumrinde erinnert, sitzt der Ziegenmelker völlig regungslos, quasi im Energiesparmodus, auf der Erde und wartet, bis die Dämmerung und damit sein Einsatz beginnt.
Jagt wie ein Wal Nach einem erholsamen Tag zu Boden erhebt sich der Ziegenmelker, um auf Nahrungssuche zu gehen. Der nachtaktive Vogel ist ein meisterlicher Luftjäger und zielt zumeist auf Fluginsekten. Er benutzt dabei eine ausgeklügelte Technik: Insekten, die auf dem Heidegras sitzen, werden im Hinflug, wenn der Ziegenmelker ganz dicht über das Feld zieht, hochgejagt, um sie im Rückflug mit seinem breiten Schnabel, den er wie einen Kescher aufspannt, einzusammeln und zu fressen. Er ist ein überaus wendiger Flieger, der zu spektakulären Luftmanövern in der Lage ist. Wenn er sich durch Wanderer oder Naturbeobachter gestört fühlt, kann er heranrasen und seine Flügel geräuschvoll aneinanderschlagen. Besonders anpassungsfähig zeigt er sich direkt nach der Rückkehr nach Südwesteuropa, meist Mitte April. Ist es zu dieser Zeit noch zu kalt und fliegen daher kaum Insekten, kann der Ziegenmelker auf dem Boden sitzend in eine Art Lethargie verfallen, in der er seinen Stoffwechsel herunterfährt, um Energie zu sparen.
Fotos: Tatiana/stock.adobe.com (u); J. Schneider/www.5erls-naturfotos.de (o)
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ie muss man sich einen Vogel vorstellen, der den Namen Ziegenmelker trägt? Ein weicher, abgerundeter Schnabel? Besonders kräftige und gut koordinierte Flügel? Nein, er kommt tatsächlich ganz anders daher, als der Name impliziert: ein etwa drosselgroßer Körper, ein flacher Kopf mit großen, pechschwarzen Augen, ein breiter, von ganz genau zwölf Borsten umgebener Schnabel und sehr kurze, dünne Beinchen. Der daher etwas irreführende Name geht nämlich auf einen Mythos zurück. Plinius der Ältere beschrieb den Ziegenmelker in seiner Naturalis historia als abscheulichen Vogel, der nachts den Ziegen die Milch aus den Eutern söge, woraufhin diese erblinden würden. Dass dieser, zugegeben etwas kauzig aussehende Zeitgenosse wohl nur von Insekten angelockt wurde, die das Weidevieh umgaben, reichte bis heute nicht als Erklärung, ihn wieder umzutaufen.