Almanya - Willkommen in Deutschland

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ALMANYA Nesrin und Yasemin Samdereli

WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND

DEUTSCHE DREHBÜCHER

Herausgegeben von Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön für die Deutsche Filmakademie




Über Nesrin Samdereli Nesrin Samdereli, geboren 1979 in Dortmund, begann nach dem Abitur ihre Autorentätigkeit als Lektorin bei der Kinowelt. Parallel verfasste sie mit ihrer Schwester Drehbücher für Kurzfilme, z.B. „Kismet“ (2001), der für den Short Tiger Award der FFA nominiert wurde und „Sextasy“ (2004). Von 2007 bis 2009 absolvierte sie ein Drehbuchstudium an der dffb in Berlin. 2002 schrieb sie für die TV-Komödie „Alles getürkt!“ das Drehbuch. Bei einer Folge der preisgekrönten TV-Serie „Türkisch für Anfänger“ (2006) arbeitete sie als Co-Drehbuchautorin. Der Kurzfilm „Delicious“ (2004) war ihre erste Regiearbeit. Über Yasemin Samdereli Yasemin Samdereli, geboren 1973 in Dortmund, absolvierte nach dem Abitur ein Studium an der HFF in München. Ihren ersten Kurzfilm „Schlüssellöcher“ als Autorin und Regisseurin realisierte sie 1994. Danach folgten die Kurzfilme „Lieber Gott“ (1995), „Lachnummern“ (1996), „Kismet“ (2001), sowie „Sextasy“ (2004). 2002 drehte sie ihren ersten TV-Spielfilm, „Alles getürkt!“, 2007 die Komödie „Ich Chefe, du nix“. Bei einer Folge der preisgekrönten TV-Serie „Türkisch für Anfänger“ (2006) arbeitete sie als Co-Drehbuchautorin. ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND ist das Kinofilmdebüt beider Schwestern. Über die Deutsche Filmakademie Die Deutsche Filmakademie e.V. wurde am 8. September 2003 in Berlin gegründet und hat inzwischen über 1000 Mitglieder aus allen künstlerischen Sparten des deutschen Films. Ziel der Filmakademie ist es, für die deutsche Kinolandschaft ein Forum zu schaffen, auf dem relevante Fragen diskutiert werden können, und die Aufmerksamkeit für den deutschen Film und seine Macher zu steigern. Mit Projekten wie „24 – Das Wissensportal der Deutschen Filmakademie“ fördert sie die filmspezifische Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich. Eine wichtige, wenn auch keineswegs primäre Aufgabe der Akademie ist seit 2005 die Wahl der Preisträger für den DEUTSCHEN FILMPREIS in sechzehn Kategorien und die LOLA-Galaverleihung selbst, auf der diese Preise verliehen werden. Gestützt auf das Votum der besten Fachleute hat der Deutsche Filmpreis die Bedeutung erhalten, die einer nationalen Auszeichnung zukommen sollte. 2011 waren außer ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND noch MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR von Miraz Bezar und VINCENT WILL MEER von Florian David Fitz für das „Beste Drehbuch“ nominiert.

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ALMANYA WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND

Ein Drehbuch von

Nesrin und Yasemin Samdereli Nominiert für den Deutschen Filmpreis

DEUTSCHE DREHBÜCHER Jahrgang 2011

Herausgegeben von Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön für die Deutsche Filmakademie

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Deutsche Filmakademie e.V. (Hrsg.) ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND Ein Drehbuch von Nesrin und Yasemin Samdereli Berlin: Pro BUSINESS 2010 ISBN 978-3-86805-894-9 1. Auflage 2011 © Nesrin und Yasemin Samdereli, alle Rechte vorbehalten Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen Produktion und Herstellung: Pro BUSINESS GmbH Schwedenstraße 14, 13357 Berlin Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Printed in Germany www.book-on-demand.de Gestaltung/Satz: e27 Brauns, Gackstatter, Quintus GbR Herstellungsleitung: Deutsche Filmakademie

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Vorwort

Am Anfang ist bekanntlich das Wort. So auch im Kino. Bevor sich eine Armada von Spezialisten anschickt, einen Film zu realisieren, muss sich ein Autor diesen Film erst einmal ausdenken, Satz für Satz, Szene für Szene. Das ist ein einsamer, aber hoch spannender Prozess. In einem „Making of“ allenfalls eine Einstellung von vier Sekunden, von außen gesehen im buchstäblichen Sinne unscheinbar. Dabei ist diese Arbeit elementar. Ohne sie könnten alle anderen gar nicht erst auspacken. Das Drehbuch ist jenes Medium, womit Regisseure begeistert, Produzenten überzeugt, Schauspieler gewonnen, Finanziers belagert, Kameraleute inspiriert und Teammitglieder geworben werden. Im Grunde besteht jeder Text in unserer Sprache aus unzähligen Kombinationen von knapp mehr als dreißig schwarzen Zeichen auf weißem Papier. Abstrakt gesehen ist es die Imagination und Kunst des Drehbuchautors, sie in einem Text so zu arrangieren, dass so etwas Komplexes wie ein vollständiger Film im Kopf der Leser entsteht. Und selbst wenn Autor und Regisseur ein und dieselbe Person sind, so entspricht die Vorstellung des Films, die er sich aufgrund seines eigenen Drehbuchs macht, niemals dem fertigen Film. Schon gar nicht eins zu eins. Jede Inszenierung entwickelt ihre eigene Dynamik. Und die Improvisation von Schauspielern, der Input eines Teams, die musikalische Interpretation des Komponisten und das Rhythmusgefühl des Cutters verfeinern den Film auf dem Weg seiner Herstellung. Drehbücher zu schreiben, ist eine eigene Kunst. Das Skript ist eine Herausforderung an die Fantasie der Leser. Wie beim Theaterstück. Wer erinnert sich nicht an die Schullektüre der Bühnenklassiker, die einem manchmal recht mühsam erschien? Diese vielen Dialoge mit ein paar kargen Regieanweisungen („tritt auf… tritt ab…“). Aber erst diese Lektüre ermöglicht, zwischen dem Text und seiner Inszenierung zu unterscheiden. Und man versteht, dass ein und dasselbe Stück auf unzählige Weisen realisiert werden kann. Das gilt für das Drehbuch nicht. Abgesehen von wenigen Remakes, erblickt der aus dem Drehbuch entstandene Film nur einmal und endgültig das Licht der Leinwand. Der Regisseur und sein Team hauchen den schwarzen Zeichen auf dem Papier Leben ein. Das Drehbuch ist nichts ohne den Regisseur und sein Team. Doch ohne ein gutes Drehbuch ist auch die ganze Kunst von Regie und allen Gewerken vergebens. Unsere Reihe „Deutsche Drehbücher“ soll die Arbeit herausragender Dreh-

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buchautoren, deren Bücher für den DEUTSCHEN FILMPREIS nominiert wurden, dem Publikum vorstellen. Nun kann sich jeder Filmfreund davon überzeugen, dass ein Drehbuch kein abgeschriebener Film ist. Denn von welchem Film hätte der Autor denn abschreiben sollen? Vielleicht kennen Sie den fertigen Film bereits und lassen sich jetzt überraschen, wie anders doch das zugrunde liegende Drehbuch war. Oder Sie kennen den Film noch nicht und wollen erst einmal das Drehbuch lesen, um zu erfahren, wie der Film im Kopf seines Autors aussah. Oder Sie lesen nur dieses Drehbuch und inszenieren in Ihrem Kopf Ihr ganz persönliches Meisterwerk… Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön

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COLLAGE ARCHIVMATERIAL 1960-1964 Man sieht einen kurzen Werbefilm, der es Ausländern schmackhaft machen soll, als „Gastarbeiter“ nach Deutschland zu kommen. Alles besagt, Deutschland ist im Aufschwung und in Deutschland geht´s lustig zu! Stramme Bauarbeiter walzen mit schweren Maschinen neue Straßen, grinsen dabei aber auffällig gut gelaunt in die Kamera. Die gleichen Bauarbeiter machen Feierabend, nehmen eine Flasche kühles Bier, prosten sich zu und trinken. Einige hübsche, blonde Frauen in Miniröcken schlendern vorbei und zwinkern den strammen Bauarbeitern kess zu. Eine Familie mit Kindern, alle ordentlich und schick zurecht gemacht, spazieren Eis schlemmend durch eine belebte, sonnige Innenstadt. Die zwei Kinder sehen einen Stand mit Zuckerwatte, sofort bekommen die Kinder auch das gekauft. Breite, glückliche Kindergesichter. Ein junger Schweißer beendet gerade seine Arbeit. Er wischt sich gut gelaunt den Schweiß von der Stirn, geht auf die Straße und steigt strahlend in seinen nigelnagelneuen BMW! Er winkt in die Kamera und fährt davon. Wie als Antwort darauf sieht man: Viele Gastarbeiter, die sich bereitwillig von deutschen Ärzten untersuchen lassen, dann einen Stempel auf ihre Unterlagen bekommen und sich freudig wieder anziehen. Massen von Männern stehen an einem Bahnhof und steigen fröhlich in einen Zug. Der Zug fährt los, einige Männer winken aus den Fenstern zu ihren Familien. ENDE ARCHIVMATERIAL

01 BAHNHOF KÖLN DEUTZ / VORHALLE, 1964 – INNEN – TAG EINBLENDUNG: 10. SEPTEMBER 1964, KÖLN In einer kleinen Halle stehen etliche JOURNALISTEN und warten ungeduldig. Einer schaut genervt auf seine Armbanduhr.

02 FAHRENDER ZUG, 1964 – INNEN – TAG Etliche türkische GASTARBEITER drängen sich um einen kleinen Spiegel. Ein Mann kämmt sich zuerst die Haare, danach seinen Schnauzbart. Einer der wenigen, der sich nicht an den Spiegel drängt ist HÜSEYIN YILMAZ (28), der stattdessen aus dem Fenster schaut.

03 BAHNHOF KÖLN DEUTZ, 1964 – AUSSEN – TAG

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Hüseyin steigt, wie viele andere Gastarbeiter aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig herrscht ein großes Gedrängel. Hüseyin folgt einfach dem Strom.

04 BAHNHOF KÖLN DEUTZ / VORHALLE, 1964 – INNEN – TAG Hüseyin ist gerade dabei, als Erster ein Zollhäuschen zu erreichen, als genau im selben Moment ein anderer Gastarbeiter, der Portugiese ARMANDO RODRIGUES (32), zur gleichen Zeit das Zollhäuschen erreicht. Kurz geben sich beide Männer verlegen den Vortritt, bis Hüseyin darauf besteht, dass der Portugiese den Vortritt bekommt. Kaum hat der Mann das Zollhäuschen passiert, wird er umzingelt von einer Horde Journalisten. Ein Blitzlichtgewitter bricht los. Etliche Fotografen versuchen, ihn möglichst fotogen vor der eigenen Linse zu platzieren. Sie halten ihm Mikros hin und löchern ihn mit Fragen. Die Musik „Auf in den Kampf, Torero“ wird eingespielt. Hüseyin, der mit einigen anderen Kollegen das Zollhäuschen passiert, sieht nun überrascht, dass sein Vorgänger nicht nur gefeiert wird, sondern auch ein Moped geschenkt bekommt. NACHRICHTENSPRECHER (OFF) Tausende von Kilometern sind sie gereist, unsere Freunde aus aller Herren Länder, um Deutschland helfend unter die Arme zu greifen. Das Wirtschaftswunderland Deutschland braucht Arbeiter, um dem voranschreitenden Aufschwung gerecht zu werden. Und da kommen sie auch schon, unsere Gastarbeiter. Und heute sind wir besonders glücklich, den Millionsten Gastarbeiter begrüßen zu dürfen. Es ist der Portugiese Armando Rodrigues. Olé! Hüseyin schüttelt lächelnd den Kopf und geht weiter, wo ein deutscher BEAMTER damit beschäftigt ist, die Gastarbeiter an ihre neuen Arbeitgeber weiterzuleiten. ARBEITGEBER (ZUM BEAMTEN) Firma Beck! Wir warten noch auf einen Türken! Der BEAMTE guckt in seine Unterlagen, dann zeigt er auf Hüseyin, der einfach in Greifweite steht. ZOLLBEAMTER Nehmen sie diesen! Der Deutsche sieht Hüseyin erst musternd an, nickt dann aber. ARBEITGEBER

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Ja, sieht ganz ordentlich aus! Er zieht Hüseyin zu sich und schüttelt ihm freundlich die Hand. Hüseyin grinst, nicht verstehend, aber freundlich zurück. Er wendet sich an seine Kollegen. HÜSEYIN (ZUM KOLLEGEN / TÜRKISCH MIT DEUTSCHEM UNTERTITEL) Bu fena görünmiyor. Bunu alayim! Ich denke, ich nehme diesen, er sieht ganz passabel aus! KOLLEGE #1 Haydi ozaman. Hakkini helal et. Birbirimizi kim bilir ne zaman göreceyiz. Dann mach´s gut, mein Freund! Wer weiß, wann wir uns jemals wiedersehen werden. Hüseyin umarmt kurz einen Kollegen, der direkt hinter ihm in der Schlange stand. HÜSEYIN (AUFMUNTERND) Ts, hic üzülme! En gec bir yil sonra,demet demet parayla memleketimize geri dönecegiz. Göreceksin! Ach was, spätestens in einem Jahr sind wir mit einem prall gefüllten Geldbeutel wieder zurück in der Heimat! Du wirst sehen! Hüseyin winkt seinem Kollegen zum Abschied und folgt dem Deutschen durch den Bahnhof Richtung Ausgang.

HAUPTTITEL: ALMANYA

EINBLENDUNG: 45 Jahre später

05 STRASSE / VOR EINEM ALDI – AUSSEN – TAG HÜSEYIN YILMAZ (70), mittlerweile ergraut, kommt wütend, einen vollen Einkaufswagen schiebend, aus dem Aldi. Neben ihm läuft FATMA YILMAZ (67), seine sympathische, pummelige, aber ebenfalls böse guckende Ehefrau. HÜSEYIN

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Ts, yok hayir! Fikrimi deyistirmdim! Ben alman, malman pasportu istemiyorum! Nein! Ich hab´s mir anders überlegt! Ich will den deutschen Pass doch nicht! Fatma stemmt wütend die Fäuste in die Hüften. Sie bleiben stehen. FATMA Sen kafani mi yedin? Biz bosuna mi vatandasliga bas vurduk! Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Wir haben doch nicht umsonst die Staatsbürgerschaft beantragt! HÜSEYIN O zaten senin fikrin di! Ben hic bir zaman emin deyildim. Das war deine Idee! Ich war nie davon überzeugt! FATMA Tanrim sen bana sabir ver. Ben zaten neden seninle tartisip duruyorum ki. Biz yarin bal gibi oraya gidip alman pasaportlarimzi alacagiz! Okadar! Allmächtiger, was diskutier’ ich überhaupt mit dir! Wir gehen da morgen hin, holen unsere Pässe und basta! Fatma schnappt sich den Einkaufswagen und rollt ihn nun entschieden weiter. Hüseyin bleibt kurz stehen, dann ruft er ihr nach. HÜSEYIN Bak hanim! Fazla üstüme gelme. Vallahi seni bosarim! Zwing mich nicht zum Äußersten, Frau! Das ist ein Scheidungsgrund! Aber Fatma ist schon weg. Hüseyin geht wütend schnaufend hinterher, doch da reißt auch schon seine Einkaufstüte und der ganze Inhalt entleert sich auf den Boden.

06 CANANS APPARTEMENT – AUSSEN – TAG Die hübsche, gerade aber sehr angestrengt blickende CANAN YILMAZ (24) räumt aufgebracht irgendwelche Einkäufe in ihren Küchenschrank. Neben ihr, ebenfalls sehr angespannt, steht ihr englischer Freund DAVID (29) und hält ihr auffordernd einen Schwangerschaftstest hin. CANAN Man David, du nervst! DAVID

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Sorry, but... du kannst nicht sagen, dass du seit vier Wochen nicht deine Tage hast and then... nothing! Lass uns bitte den Test machen! Während Canan den folgenden Dialog sagt, greift sie instinktiv zu einem Schokoriegel und fängt an, ihn zu essen. CANAN (AUFGEBRACHT) Mein Gott. Es ist völlig normal, dass die Regel mal ausbleibt! Bei dem ganzen Prüfungsstress, den ich grad hab, wundert mich gar nix! Ich bin nicht schwanger! Canan beißt wütend von dem Schokoriegel in ihrer Hand ab. David sagt nichts, sondern schaut nur auf den Schokoriegel in ihrer Hand.

07 GRUNDSCHULE / FLUR – INNEN – TAG Genau die gleichen Schokoriegel fallen gerade in rauen Mengen auf den Boden. Den kleinen, schwarzhaarigen CENK (6) hat es gerade kurz vor dem Ziel Klassenzimmer samt Schültüte „hingelegt“. CENK Scheiße! Rechts und links von ihm stehen seine Eltern, GABI (33), blond, groß, deutsch und ALI (34), langes, glattes, schwarzes Haar. Gabi und Ali sammeln eiligst die Süßigkeiten auf und stopfen sie in die kaputte Tüte. GABI Wir sind eh schon viel zu spät! ALI (AUFMUNTERND) Kein Problem, das haben wir gleich wieder! Kaum sind die Sachen eingeräumt, zieht Ali seinen Sohn wieder auf die Beine. Gabi staubt ihn noch blitzschnell ab und schon geht es weiter. Die kleine Familie geht eilig weiter zur Klassentür, die bereits geschlossen ist. GABI (AUSSER ATEM) So und jetzt ab mit dir! Cenk nickt etwas verunsichert. ALI

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Du wirst sehen, die Schule macht ganz viel Spaß! Wir warten hier auf dich, hm? Cenk nickt tapfer. Gabi öffnet die Tür und schiebt ihren Sohn in das Klassenzimmer. Ali und Gabi sehen sich kurz unsicher an.

08 SCHULE / KLASSENZIMMER – INNEN – TAG Cenk betritt zögerlich den Klassenraum. Die meisten Kinder sitzen schon. LEHRERIN (OFF) Du bist bestimmt Cenk Yielmatz, oder? Cenk nickt schüchtern. LEHRERIN (OFF) Dann such dir mal schnell einen Platz. Cenk sucht einen Platz. Der einzig freie Stuhl ist neben dem türkischen Jungen ENGIN (6), der ihn skeptisch mustert. Cenk setzt sich hin. ENGIN Sen türkmüsün? Cenk sieht kurz zu Engin, sagt aber nichts. ENGIN (SKEPTISCH) Verstehste kein Türkisch? Cenk schüttelt den Kopf. ENGIN Was bist’n du für’n komischer Türke?! Cenk kritzelt verlegen auf dem Tisch rum.

09 CANANS APARTMENT / BAD – INNEN – TAG Canan geht völlig aufgelöst durch das Bad, während David noch immer paralysiert auf den Schwangerschaftstest starrt. CANAN

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Das... das kann doch überhaupt nicht sein! Ich nehme die Pille, jeden Morgen. Scheiße man, David. Was hast du gemacht?! Canan sieht David vorwurfsvoll an. David sieht sie überrascht an. DAVID ICH??? CANAN Was, was hast du für komisches Sperma!? Ich versteh das nicht... das ist doch gar nicht möglich! DAVID Scheinbar doch. CANAN Nein. Der Test muss kaputt sein! Ich bin nicht schwanger! Canan geht trotzig aus dem Badezimmer.

10 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER – INNEN – NACHT Wir sehen ein Foto von Hüseyin und Fatma, wie sie als junges Paar unter einem Baum stehen und glücklich in die Kamera grinsen. Das Foto steht auf dem Nachttisch, direkt neben dem schlafenden Hüseyin. Auf der anderen Bettseite steht Fatma im Nachthemd und hält sich immer wieder abwechselnd zwei Blümchenkleider vor, die bis auf den Farbton total identisch sind. Sie wirkt schwer unsicher, welches ihr besser steht. FATMA Hadi söylesene. Hangisi daha cok yakisiyor? Jetzt sag doch... welches steht mir besser?!

Hüseyin öffnet verärgert seine Augen. Er sieht Fatma an, sieht die zwei fast identischen Kleider. HÜSEYIN

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Ya, sen delirdinmi?! Ikisi de ayni! Allahim, bana sabir ver! Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Die Kleider sind doch gleich! Allmächtiger, gib mir Kraft! Hüseyin dreht sich genervt um und schließt wieder demonstrativ die Augen. Fatma setzt sich genervt zu ihm ins Bett. FATMA Ya, nasil öyle rahat rahat yatarsin... sen hic heycanli deyil misin? Wie du einfach so schlafen kannst... bist du denn gar nicht aufgeregt wegen morgen? Hüseyin ist total genervt... HÜSEYIN NEIN! ... und dreht sich demonstrativ auf die andere Seite und schließt die Augen. Fatma überlegt einen Moment, ob sie ihren Mann weiter nerven soll, entscheidet sich aber dagegen und geht stattdessen zum Spiegel, wo sie nun ein drittes Kleid vor sich hält, was natürlich fast identisch ist zu den beiden Kleidern davor.

TRAUMSEQUENZ: 11 KREISVERWALTUNGSREFERAT / ZIMMER – INNEN – NACHT Hüseyin sitzt mürrisch vor einem deutschen BEAMTEN (40), der gründlich ihre Dokumente prüft. Neben ihm sitzt die glücklich strahlende Fatma. Der Beamte nimmt einen Stempelkasten und macht auf jedes Dokument fünf Stempel. Es dauert eine halbe Ewigkeit! Hüseyin sieht Fatma genervt an, sagt aber nichts. BEAMTER So! Herr und Frau... Yielmatz... jetzt fehlt nur noch Punkt 4 auf Anlage 18! Er sieht Hüseyin ernst an. BEAMTER Verpflichten sie sich, als baldige deutsche Staatsbürger die deutsche Kultur als Leitkultur zu übernehmen? Hüseyin und Fatma wechseln kurz einen irritierten Blick, nicken dann aber.

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BEAMTER Sehr schön. Das bedeutet... sie werden Mitglied in einem Schützenverein, essen zwei Mal die Woche Schweinefleisch... Hüseyin sieht den Mann schockiert an, was redet er da? Er blickt verzweifelt zu Fatma, aber Fatma grinst nur freudig. BEAMTER ... schauen jede Woche „Tatort“ und... verbringen jeden zweiten Sommer auf Mallorca!!! Ach und ja, falls sie Humor haben... weg damit! Der Beamte legt seinen Stift nieder und sieht das türkische Ehepaar ernst, sehr ernst an. BEAMTER Sind sie bereit, diese Pflichten auf sich zu nehmen? Hüseyin blickt nun völlig verstört. Er will gerade widersprechen, als... FATMA (MIT TÜRKISCHEM AKZENT) Ja! Natürlich! Muss ja alles Ordnung haben! Hüseyin sieht Fatma total platt an. Sie greift eilig nach dem Stift und unterschreibt. Dann sieht sie Hüseyin auffordernd an. Er schüttelt entschieden den Kopf. Fatma unterschreibt einfach für ihn. Der Beamte nimmt glücklich die Unterlagen wieder an sich und schüttelt Fatma und Hüseyin überschwänglich die Hand. BEAMTER (BEGEISTERT) Ich gratuliere!!! Sie sind jetzt... DEUTSCHE! Der Mann greift unter seinen Tisch und holt zwei Teller mit Schweinshaxe und Sauerkraut hervor, die er Hüseyin und Fatma vorsetzt. Hüseyin schaut ängstlich, Fatma aber grinst nur, nimmt sich Messer und Gabel und haut sich die Schweinshaxe rein wie nix Gutes. HÜSEYIN Fatma! Hör sofort auf damit! Frau, hörst du nicht?! Aber Fatma isst weiter. Der Beamte zaubert nun einen dritten Teller hervor und fängt ebenfalls an zu essen. Schockiert sieht Hüseyin zu Fatma. Sie steckt mittler-

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weile in einem Dirndl und prostet Hüseyin mit einer Maß Bier zu. FATMA (PLÖTZLICH BAYERISCH) Ja mei, Hüsseyn! Jetz hoab di net so! Mir san doch imma no Türkn! Plötzlich sieht sich Hüseyin selber in einem Spiegel. Er steckt plötzlich in wadenlangen Lederhosen. Sein Schnauzbart hat die Form eines „Hitler-Schnauzers“ und auch seine Frisur hat große Ähnlichkeit zu der Hitlers. Er rennt panisch aus dem Zimmer direkt...

SEHNSUCHTSBILD: 12 TÜRKEI/ DORFHAUS – AUSSEN – DÄMMERUNG ... in sein Dorf. Er schließt die Tür seines Hauses schnaufend hinter sich und tritt heraus in den wilden Garten. Sofort sieht Hüseyin wieder aus wie der alte. Er erblickt seufzend sein Heimatdorf. Die Sonne geht gerade unter, alles wirkt friedlich und ruhig. Hüseyin geht in den verwilderten, aber schönen Garten. Er setzt sich erschöpft auf einen großen Stein. Plötzlich zieht der Wind an, sodass Hüseyin fasziniert zuschaut, wie Gräser und Sträucher sich tanzend hin und her wiegen. Er blickt hoch zu dem Baum, unter dem er sitzt, und entdeckt einige Samen/ Blätter, die im Sonnenuntergang wunderschön durch die Luft gleiten. Hüseyin sieht sich dieses kleine Naturspektakel gebannt an, als Fatma ihn anspricht. Auch sie ist mittlerweile ganz die alte und sitzt neben ihm. FATMA Bana birsey söylemeden gercekden gidecekmidin Hüseyin? Wolltest du wirklich gehen, ohne etwas zu sagen, Hüseyin? Hüseyin sieht Fatma furchtbar traurig an. Er kann nichts antworten. FATMA Hüseyin?!

13 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER – INNEN – TAG Hüseyin liegt schlafend im Bett. Fatma steht noch immer wartend daneben. FATMA Hüseyin!

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Hüseyin schreckt aus dem Schlaf auf. FATMA Hadi cabuk giyin! Jetzt zieh dich endlich an! Fatma zieht einen sauber gebügelten Anzug aus dem Schrank und hält ihn Hüseyin hin. Hüseyin steigt frustriert aus dem Bett.

14 CANANS APPARTEMENT – INNEN – TAG Canan steigt vorsichtig aus dem Bett, wo David noch schlafend liegt. Sie geht vorsichtig an ihre Handtasche, kramt leise einen Schwangerschaftstest hervor und tippelt damit weiter ins Bad.

15 CANANS APPARTEMENT / BAD – INNEN – TAG Canan schließt vorsichtig die Badezimmertür. Sie starrt auf den Test in ihrer Hand. Einen Moment zögert sie, dann öffnet sie das Päckchen.

16 SCHULE / KLASSENZIMMER – INNEN – TAG Eine Europakarte wird aufgespannt und an einer Tafel befestigt. Es ist eine kindgerechte, vereinfachte Darstellung Europas. Immer wieder werden kleine Fähnchen auf verschiedene Städte und Länder gespickt. Man sieht, wie sich die Grundschüler melden und etwas sagen. Immer mehr und mehr Fähnchen bedecken die Karte: Leipzig, Amsterdam, Saarbrücken, Chemnitz. Cenk sitzt schüchtern an seinem Tisch. LEHRERIN (OFF) Cenk... du hast dich noch gar nicht gemeldet... wohin sollen wir dein Fähnchen setzen? Cenk sieht die Lehrerin schockiert an. Sein Sitznachbar Engin sieht ihn skeptisch an. Cenk denkt angestrengt nach. CENK (IRRITIERT) Deutschland?

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LEHRERIN Ja, das stimmt. Und wie heißt das schöne Land, aus dem dein Papa ist? CENK Äh... Anatolien? Ein Junge, MARCO, sieht ihn irritiert an. MARCO Das heißt Italien! LEHRERIN Nein, Cenk hat Recht. Das Gebiet heißt Anatolien, das ist der Osten der Türkei. Cenk grinst erleichtert, er hat es gewusst. Die Lehrerin sieht irritiert auf die Karte. LEHRERIN (BEDAUERND) Oh... leider ist das nur eine Europakarte, die geht nur bis Istanbul... Genau hinter Istanbul ist die Karte abgeschnitten. Die Lehrerin nimmt einfach einen Magneten und setzt ihn einige Zentimeter weiter rechts, auf eine weiße Fläche. LEHRERIN Aber... hier ungefähr wäre es! Cenk erblickt das Elend. Er ist als Einziger nicht mehr auf der Karte, im Abseits. Ein leeres Weiß signalisiert seine Heimat. Engin grinst ihn wieder fies an. LEHRERIN Engin? Was ist mit dir? ENGIN Äh... Istanbul! Die Lehrerin nickt und setzt Engins Fahne auf die Karte. Engin grinst Cenk fies an.

17 WARTESAAL / KREISVERWALTUNGSREFERAT – INNEN – TAG

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Die Kamera fährt an einer Wand entlang, die in Bildern eine kleine Ausstellung mit dem Titel „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zeigt. Eine Fahrt über die stolze Ahnengalerie deutscher Bundeskanzler seit der Republikgründung zeigt Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Nachfolger. Die Kamera schwenkt runter vom Foto der Bundeskanzlerin auf Fatma, die glücklich lächelt und gerade ein Börek aus einer Tupperschüssel nimmt. Hüseyin sitzt mürrisch daneben. HÜSEYIN (MIT TÜRKISCHEM AKZENT) Hier schwöre ich hoch und freilich... FATMA Falsch! Hüseyin hält einen Zettel in Klarsichtfolie vor sich und blickt durch eine stark vergrößernde Lesebrille. FATMA (GENERVT) Es heißt... hiermit schwöre ich hoch und scheinlich... auf die Verfassung der Deutschen Bundesrepublik! Fatma blickt Hüseyin rechthaberisch an. Hüseyin nimmt mürrisch Fatmas Börek aus ihrer Hand und beißt selber rein. HÜSEYIN Allahim! Ich bin kein Deutscher! Und du auch nicht! Hüseyin zeigt in den Saal, wo eine 6-köpfige indische Familie sitzt. HÜSEYIN Na... und die erst recht nicht!

18 SCHULHOF – AUSSEN – TAG Kinder rennen wild über den Schulhof. Mädchen stehen in Mädchengruppen und Jungs in reinen Jungengruppen zusammen. Cenk steht etwas abseits und beobachtet, wie die Jungs zwei Fußballmannschaften bilden. Engin ist einer der Kapitäne. ENGIN Deutsche gegen Türken. Los, wer spielt mit?

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Cenk sieht das Unheil schon kommen. Bevor ihn jemand sieht, dreht er um und will gehen, als Engin ihn einfach am Kragen zurückzieht und in Richtung der deutschen Mannschaft schleudert. ENGIN Hier... den schenken wir euch! Das ist auch’n Deutscher! DEUTSCHER JUNGE (LACHEND) Ja klar! So sieht der auch aus! Alle türkischen Jungs brechen in Gelächter aus. Engin lacht am lautesten. Die deutsche Mannschaft lacht ebenfalls mit. Cenk kocht vor Wut. Er rennt auf Engin zu und schubst ihn so hart, dass dieser umfällt, dann sofort aufspringt und zurück boxt. Die beiden Kinder fangen an sich zu kloppen.

19 KREISVERWALTUNGSREFERAT / WARTERAUM – INNEN – TAG Fatma und Hüseyin kommen beide aus dem Bürozimmer. Fatma hält strahlend ihren deutschen Pass in ihren Händen. Hüseyin blickt unglücklich auf den Pass in seiner Hand. LEICHTE ZEITLUPE: Das Ehepaar läuft die langen, menschenleeren Gänge des Amtsgebäudes entlang. Hüseyin wirkt resigniert, in sich gekehrt.

20 CANANS APPARTEMENT / BAD – INNEN – TAG LEICHTE ZEITLUPE: Canan starrt wie unter Schock auf den positiven Schwangerschaftstest in ihrer Hand.

21 VOR DEM LEHRERZIMMER – INNEN – TAG LEICHTE ZEITLUPE: Cenk sitzt alleine und völlig ramponiert auf einer Bank im Flur. Sein Gesicht ist dreckverschmiert. Wütend wischt er sich mit dem Handrücken einige Tränen weg, die ihm ungewollt über die Wange kullern. In einiger Entfernung tauchen Gabi und Ali auf. Sie gehen eiligen Schrittes auf ihren Sohn zu.

22 HAUS FAMILIE YILMAZ – AUSSEN – TAG

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Man sieht ein altes, etwas renovierungsbedürftiges Mehrfamilienhaus mit auffällig vielen Antennen an der Hausfassade. Canan kommt ins Bild und läuft auf das Haus zu. Ihre Mutter, LEYLA (43), steht gerade am Fenster und winkt ihr. LEYLA Da bist du ja endlich! Beeil dich. Leyla schließt das Fenster eilig.

23 WOHNUNG LEYLA / KÜCHE – INNEN – TAG Leyla schließt das Fenster, schnappt sich das Baklava und eilt damit raus aus der Wohnung...

24 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KORRIDOR – INNEN – TAG ... wo direkt gegenüber die Tür offen steht zu Hüseyins und Fatmas Wohnung. Im Flur begrüßen die Großeltern ihren ältesten Sohn VELI (50) mit seiner Frau SEVGI und seinen beiden Töchtern. Alle begrüßen sich herzlich und drücken sich Küsschen auf. Merhaba, nasilsin, danke gut und dir, schallt mehrfach durch den Hausflur. Von oben im Treppenhaus kommt nun Gabi eilig runter, als sie plötzlich innehält und nach oben ruft... GABI Cenk, vergiss den Kuchen nicht! Eine Etage höher steht Cenk mit Ali ebenfalls dabei, zu den Großeltern zu gehen. Cenk hat den Marmorkuchen auf der Hand und saust damit runter, vorbei an Canan, die gerade ebenfalls die Wohnung erreicht, direkt in... die Wohnung der Großeltern, wo Hüseyin seinen Enkel mit offenen Armen empfängt. HÜSEYIN Na, wie war heute in Schule, hast du... (schockiert) Oha! Hüseyin schaut überrascht auf Cenks prächtiges Feilchen am linken Auge. Jetzt sieht auch Fatma das Feilchen und gibt sofort einen kurzen Schrei von sich. FATMA Aman tanrim! Gözüne ne oldu?

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Allmächtiger! Was ist mit deinem Auge passiert? Cenk drückt seiner Großmutter missmutig den Kuchen in die Hand. CENK Da! Der ist für euch! Er geht einfach an allen vorbei ins Wohnzimmer. Alle schauen besorgt zu Gabi und Ali. GABI (LEISE) Ein türkischer Junge aus seiner Klasse hat ihn gehänselt. Er wäre kein richtiger Türke. Alle schauen geschockt. HÜSEYIN (WÜTEND) Was? Ali, morgen gehst du in Schule und zeigst diesem Esekogluesek, was für Türken wir sind. ALI (VORWURFSVOLL) Baba! HÜSEYIN (BRUMMT VOR SICH HIN) Pah! Mein Enkel kein richtiger Türke.

25 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Mittlerweile sitzen alle im Wohnzimmer, haben sich Tee und Gebäck genommen und reden miteinander. Canan steht stillschweigend etwas abseits. Sie sieht sich den Haufen Familie an. Gabi beißt genüsslich in ein zusammengerolltes Lahmacun. GABI Hmm... lecker! Neben ihr steht Ali, der sich Luft zufächert, weil er es anscheinend zu scharf findet. ALI (GEREIZT ZU FATMA) Ja Anne, musst du das immer so scharf machen? Das ätzt einem ja alles weg!

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Er legt das Lahmacun genervt zur Seite, woraufhin sich Gabi auch dieses schnappt und hungrig isst. Ali sieht seine Frau kopfschüttelnd an. Es klingelt. HÜSEYIN Muhamed´dir. Acin kapiyi. Das wird Muhamed sein, macht die Tür auf. Veli zieht an seiner Zigarette, bemüht, gleichgültig zu wirken. Leyla will schon aufstehen, aber Fatma eilt voraus zur Tür. Herein kommt MUHAMED (48) mit altmodischer Brille, in Jeans und Hemd. VELI (LEISER) Wenn man vom Teufel spricht! Canan beobachtet Muhamed, der alle der Reihe nach begrüßt, bis auf Veli. Er und Muhamed würdigen sich keines Blickes. HÜSEYIN (LAUT) Familie, Hanim! Ich habe was zu sagen. Ich habe Überraschung. Fatma zieht grinsend die Pässe aus ihrer Tasche. FATMA Wir sind jetzt Deutsche! Hüseyin wirft Fatma einen giftigen Blick zu, aber bevor er noch etwas sagen kann, reden plötzlich alle wild durcheinander und wollen die Pässe sehen. Cenk wirft auch einen Blick drauf. CENK (VERWIRRT) Deutsche? Niemand außer Canan beachtet den kleinen Jungen. Alle reden wild durcheinander. Hüseyin versucht, alle wieder zur Ruhe zu bringen. HÜSEYIN Nein, das nicht Überraschung. Die richtige Überraschung ist... HÜSEYIN Ben Türkiyede, memlekedimizde, köyümüzde ev aldim!

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Ich habe in der Türkei in unserem Dorf ein Haus gekauft. Hüseyin strahlt über das ganze Gesicht, alle anderen verstummen augenblicklich. Fatma setzt sich schockiert hin. Ali übersetzt schnell flüsternd, was sein Vater soeben auf Türkisch gesagt hat. Gabi und Cenk schauen überrascht. VELI Wozu das denn? Wollt ihr etwa wieder zurück? Er sieht seine Eltern fragend an. Fatma wirkt genauso ratlos und überfordert wie der Rest. Hüseyin antwortet nicht, sondern zieht einfach stolz ein Foto aus seinem Portemonnaie. Er hält es seinem Enkel unter die Nase. HÜSEYIN Da! Ist es nicht schön? Das unsere Heimat! Das Foto zeigt ein leeres Grundstück mit einigen vertrockneten Büschen drauf. Irgendwo in der Ferne ein kleines, marodes Steinhäuschen mit einer Ziege davor. CENK (FRUSTRIERT) DA kommen wir her? HÜSEYIN Ben önümüzdeki tatilde hepimiz oraya gitmesini istiyorum. Ailece! Evin bir sürü yapilacak is var. Siz de yardim ederseniz cok iyi olur. Ich möchte, dass wir alle zusammen in den Herbstferien dorthin fliegen. Das Haus muss renoviert werden und ich brauche eure Hilfe. Alle sehen Hüseyin schockiert an. LEYLA (ÜBERRASCHT) Alle zusammen? HÜSEYIN (EUPHORISCH) Ja, wir alle! Wir werden unser Dorf wiedersehen. Dann lernt der Junge auch endlich seine Heimat kennen! Cenk sieht erneut auf das Foto, er wirkt total enttäuscht. VELI (SALOPP) Wir haben schon andere Pläne für die Herbstferien. Aber Muhamed kann

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dich begleiten, der hat doch Zeit. Ich zahle ihm auch den Flug. Muhameds Mine verfinstert sich schlagartig, aber er sagt nichts. Leyla sieht Veli vorwurfsvoll an. LEYLA Veli! HÜSEYIN (LAUT) Ich zahle Flüge von allen! Ne derseniz? Ilk yillarda yapigimiz gibi! Was sagt ihr? Wie früher! Hüseyin sieht seine Familie erwartungsvoll an, aber alle schütteln verneinend den Kopf. LEYLA (LACHT) Früher haben wir auch alle in ein Auto gepasst. Jetzt würde kaum ein Bus reichen. MUHAMED Die Zeiten sind vorbei! ALI Vielleicht nächstes Jahr! Die Familie fängt an, wild miteinander zu diskutieren, wann und ob überhaupt ein solcher Urlaub denkbar wäre. Cenk schaut zwischen seinen Verwandten hin und her. Der kleine Junge setzt sich frustriert abseits von seiner Familie auf den Boden. Er beginnt, recht aggressiv, mit seinem kleinen Tischkicker zu spielen. Außer Canan bemerkt dies niemand. Sie setzt sich zu ihm. Cenk schaut sie nicht an, sondern spielt einfach weiter. Canan überlegt einen Moment, was sie machen oder sagen soll, als plötzlich Hüseyin mit der Faust auf den Tisch haut. Alle sehen erschrocken auf. HÜSEYIN (SINIRLI) Allah kahr etmesin sizi! Niye birkere dediyimi yapmiyorsunuz? Babaniz olarak sizden bir haftanizi istiyorum. Yardima ihtiyacim var diyorum, sanki cok istemsim gibi siz hala cak, cak cene yapiyorsunuz! Unutmayin. Biz bir aileyiz? Verdammt noch mal! Müsst ihr immer widersprechen? Wenn ich euch bitte eine Woche mit mir in die Türkei zu fahren, damit wir das Haus zusammen renovieren, dann ist das ja wohl nicht zuviel verlangt! Sind wir eine Familie, oder was?!

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Alle anderen sehen sich nun betreten an. Hüseyin zündet sich verärgert eine Zigarette an. CENK (VERWIRRT) (Variante A) Was sind wir denn jetzt? Türken oder Deutsche? (Variante B) Was sind wir denn jetzt. Eine türkische oder deutsche Familie? Alle sehen Cenk überrascht an. GABI Deutsche. ALI Türken. Die beiden sehen sich etwas verwirrt an. GABI (ZU CENK) Dede und Nene haben jetzt den deutschen Pass. HÜSEYIN Das ist nur Stück Papier. Wir immer Türken. Du auch! Cenk ist mit der Antwort sichtlich unzufrieden. CANAN (AUFMUNTERND) Cenk, man kann aber auch beides sein! So wie du! CENK (VERÄRGERT) Nein, das geht nicht. Entweder die eine Mannschaft oder die andere! Cenk denkt nach. CENK Wenn Oma und Opa Türken sind... warum sind die dann hier? Kurz sehen sich alle überrascht an. CANAN Na, weil die Deutschen sie gerufen haben! Cenk sieht Canan ungläubig an. CANAN

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Na ja, nicht nur sie, sondern auch viele andere Türken oder Jugoslawen, Italiener... die wurden alle gerufen! Cenk schaut einen Moment nachdenklich. CENK (SKEPTISCH) Echt? Canan nickt. FLASH

26 NÖRDLICHES POLARGEBIET – AUSSEN – TAG Drei ESKIMOMÄNNER stehen an einem Eisloch und fischen.

27 GRIECHISCHES RESTAURANT / HAFEN – AUSSEN – TAG Eine GRIECHISCHE FAMILIE steht SIRTAKI tanzend in dem Lokal. ALLE Hellas!

28 KÜCHE EINER ITALIENISCHEN FAMILIE – INNEN – TAG Eine 6-köpfige italienische Familie sitzt bei Pasta und Wein am Tisch und diskutiert lautstark. Es gibt die obligatorische NONNA in Schwarz, die hübsche MAMMA mit üppigem Busen und BABY auf dem Arm, zwei rotzige KINDER und einen BILDERBUCHMACHO zum Ehemann. Er mäkelt an der Pastasauce rum. MACHOMANN Maria! Mir schmeckt´s nicht!

29 MÄNNERCAFE AM BOSPORUS – AUSSEN – TAG Einige türkische Männer, darunter auch der junge Hüseyin, spielen Backgam-

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mon und trinken schwarzen Tee. Sie streiten, weil jemand angeblich gemogelt hat. Fast entsteht eine Prügelei, als plötzlich eine Stimme, wie durch ein Megaphon gesprochen, aus dem Nichts erklingt. STIMME AUS DEM NICHTS Liebe Weltenbürger! Sofort hören die Männer auf zu streiten und sehen sich um.

30 KÜCHE EINER ITALIENISCHEN FAMILIE – INNEN – TAG STIMME AUS DEM NICHTS Hier spricht die Bundesrepublik Deutschland! Die Italiener sehen sich überfordert um, wo kommt die Stimme her? Der Macho schaut vorsichtig in den Topf Pasta.

31 GRIECHISCHES RESTAURANT / HAFEN – AUSSEN – TAG STIMME AUS DEM NICHTS Wir suchen Arbeitskräfte! Die Griechen stoppen ihren Sirtaki, um ebenfalls verwundert umherzuschauen.

32 NÖRDLICHES POLARGEBIET – AUSSEN – TAG STIMME AUS DEM NICHTS Bitte wenden sie sich unverzüglich an die nächste behördliche Stelle! Die Eskimos sehen sich suchend um, aber außer Schnee ist da nichts. ENDE FLASH

33 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Cenk muss grinsen. CENK Und dann? Was ist dann passiert?

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Er setzt sich hin und sieht Canan erwartungsvoll an. CANAN (ÜBERRASCHT) Du willst echt die ganze Geschichte hören? Cenk nickt eifrig. CANAN Aber wo soll ich denn anfangen? Hüseyin wirkt ein wenig erschöpft, aber trotzdem erfreut, dass Cenk Interesse zeigt. Er setzt sich in seinen Sessel. HÜSEYIN Na, am Anfang! Canans und Hüseyins Blicke treffen sich. Canan denkt kurz nach. CANAN Hm, na schön! Also... eigentlich begann alles in einem kleinen Dorf im Südosten der Türkei. Ungefähr da, wo Opa jetzt das Haus gekauft hat. Cenk hat noch immer das Schwarzweiß-Foto in der Hand und schaut es sich genau an. Das Zicklein, das im Vordergrund steht...

34 DORF / BRUNNEN 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG ...läuft zu einer Herde, die außerhalb eines kleinen, malerischen Dörfchens ins Tal wandert. Das Bild, das bisher in Schwarzweiß war, bekommt nun seine Farbe. CANAN (V.O.) Es war ein wunderschönes Dorf, in einem kleinen Tal, mit einem plätschernden Fluss, vielen Obstbäumen UND... einem Mädchen, das jeden Tag an den Dorfbrunnen ging, um Wasser zu holen. Ein wunderschönes Mädchen, in das Opa sich unsterblich verliebte. Die junge, gerade mal 15-jährige Fatma steht in der Schlange vor dem Brunnen. Sie wartet darauf, Wasser zu schöpfen. HÜSEYIN (LACHEND) (V.O.) Ich hab nie gesagt, dass deine Oma war schön!

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FATMA (STOLZ) (V.O.) Und wie schön ich war, Cenk! Alle wollten mich. Das junge, pummelige Mädchen ist tatsächlich sehr hübsch. Ihr Kopftuch hat schöne Verzierungen, die ihr ohnehin hübsches Gesicht noch besser zur Geltung bringen. In einiger Entfernung steht der junge Hüseyin (18) und sieht sie sehnsüchtig an. Kurz treffen sich ihre Blicke, woraufhin beide verschämt zur Seite schauen. Was weder Hüseyin noch Fatma bemerken, ist, dass direkt hinter Hüseyin ein kleines Zicklein anfängt, an seiner Hose zu knabbern. Hüseyin will sich keine Blöße geben und versucht, das Zicklein mit der Hüfte wieder wegzuschubsen, was aus Fatmas Perspektive natürlich sehr seltsam aussieht. Da das Zicklein nicht von seiner Seite weicht, dreht Hüseyin sich schnell um, nimmt das Tier auf den Arm und stellt sich wieder gerade hin. Er schaut etwas schüchtern zu Fatma, die nun nicht anders kann, als breit zu grinsen.

35 DORF / KLEINE RUINE – AUSSEN – TAG Der neue Tag bricht gerade an. Das Zicklein, das wir bereits kennen, knabbert an einigen trockenen Sträuchern.

36 DORF / KLEINER PFAD 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG Fatma und zwei andere JUNGE MÄDCHEN tragen Brennholz den kleinen Pfad entlang. Als sie Hüseyin in der Ferne sehen, müssen die beiden anderen Mädchen kichern. Nur Fatma wird ganz verlegen und blickt schnell zu Boden. Als sie aneinander vorbeigehen, können sie nicht anders, als sich doch für einen Moment tief in die Augen zu sehen. Kaum ist Hüseyin an den drei Mädchen vorbeigelaufen, sieht man, wie plötzlich die kleine Ziege aus der Ferne auf sie zuläuft, um sich wieder an Hüseyins Fersen zu häften.

37 SCHLICHTES DORFHAUS / WOHNZIMMER 50ER JAHRE – INNEN – TAG Ein typisch ländlich eingerichtetes Wohnzimmer mit vielen bestickten Kissen, Wandteppichen. In einem Kreis sitzen traditionell gekleidete Männer mit Pluderhosen und enormen Schnauzbärten. Unter ihnen auch der etwas enttäuscht guckende Hüseyin. Ihm gegenüber sitzt der streng blickende URGROSSVATER (52). CANAN Da Opa ganz schrecklich verliebt war, hat er, wie es damals üblich war, um Omas Hand angehalten, aber Urgroßvater sagte...

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URGROSSVATER (KOPFSCHÜTTELND) Hayir! Bizim kiz sana hak deyil. Kendine baska bir gelin ara. CANAN (V.O.) Das heißt auf Deutsch soviel wie... Der Urgroßvater macht gerade seinen Mund auf, um etwas zu sagen, als ihm Cenk ins Wort fällt. CENK (V.O.) Kannst du nicht alles auf Deutsch erzählen? Der Urgroßvater und der junge Hüseyin sind für einen Moment verwirrt und blicken fragend zum Himmel. CANAN (V.O.) O.K.! Dann eben in Deutsch! Hüseyin macht einen kleinen Moment Pause, dann schaut er ernst zum Urgroßvater. URGROSSVATER (ERNST) Nein, meine Enkeltochter bekommst du nicht. Such dir eine andere Frau! Hüseyin sieht resigniert auf den Boden, dann blickt er sehnsüchtig in eine Ecke des Raumes, wo die hübsche, dicke Fatma steht und verlegen auf den Boden schaut.

38 VOR DEM DORFHAUS 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin kommt sehr, sehr enttäuscht aus der Hütte.

39 DORF / KLEINER PFAD 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG CANAN (V.O.) Also hat Opa getan, was jeder türkische Mann tun würde, dem die Dame seines Herzens nicht freiwillig zur Frau gegeben wird. Man sieht, wie Hüseyin auf einem Esel herangeritten kommt. Er springt gekonnt von dem Tier ab und versteckt sich hinter einem großen Baum. Er schaut dahinter hervor.

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CANAN (V.O.) Er hat sie entführt! In einiger Entfernung sieht man die hübsche, dicke Fatma, die mit einem Ballen Brennholz auf dem Rücken einen kleinen Pfad entlang geht. Als Fatma nah genug ist, springt Hüseyin aus seinem Versteck. Fatma schreit auf und gibt Hüseyin reflexartig einen Schlag mit einem großen Stück Brennholz – KLONG! Der junge Mann geht benommen zu Boden, steht aber schnell wieder auf und BANG hat er noch eine sitzen. Hüseyin torkelt benommen. Fatma will Hüseyin noch einen Schlag verpassen, aber diesmal duckt er sich geschickt und ergreift sie. Kaum hat Hüseyin Fatmas Hand berührt, wird sie ganz still und fängt an zu weinen. CANAN (V.O.) Damals reichte es, wenn ein Mann eine unverheiratete Frau anfasste. Das bedeutete, dass dieses Mädchen entehrt war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als diesen Mann zu heiraten, denn kein anderer würde das mehr tun. Für einen Moment sieht Hüseyin Fatma voll Mitgefühl an. CENK (V.O.) Was bedeutet entehrt? Fatma und Hüseyin schauen schockiert. Fatma schaut beschämt zu Boden. Hüseyin guckt verlegen weg. CANAN (V.O.) (BEUNRUHIGT) Entehrt? Na ja, wie soll man das erklären? Für einen Moment herrscht Stille. Fatma und Hüseyin sind total beschämt. CENK (V.O.) Hat es was mit Sex-u-alisch zu tun...? Hüseyin und Fatma schütteln vehement den Kopf.

40 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Canan sieht überfordert zu ihrer Familie, die eigentlich gerade dabei war, den Tisch abzuräumen. Aus Scham halten alle für einen Moment geschockt inne, um

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sich anschließend in blinden Aktivismus zu stürzen. CANAN (SCHNELL) Nein, nein! Das ist was ganz anderes. Hüseyin zieht Fatma, die gerade mit einem Tablett an ihm vorbei laufen wollte, flirtend zu sich. HÜSEYIN (FLIRTEND) Weißt du noch damals? Fatma schaut ihren Mann nur geschockt an. FATMA Hüseyin! (leiser) Delirdinmi? Sie geht entschieden weiter. Hüseyin lehnt sich zufrieden zurück und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. HÜSEYIN (ZU CANAN) Erzähl weiter!

41 TÜRKISCHES DORF, 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin hält Fatma noch immer an der Hand und führt sie in ein Haus. Fatma senkt schüchtern ihren Blick. Die Kamera begleitet die beiden in das Häuschen.

42 TÜRKISCHES DORF, 50ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin, der Fatma noch immer an der Hand hält, führt sie in einen sehr bescheiden eingerichteten Raum. Die junge Frau schaut sich schüchtern um, ohne dabei jedoch den Blick zu heben. Das junge Paar setzt sich schweigend auf das ordentlich gemachte Bett. Fatma schaut konsequent weg von Hüseyin, der wiederum versucht, Blickkontakt aufzunehmen. Erfolglos. Da Fatma ihn nicht anguckt, lässt Hüseyin enttäuscht ihre Hand los. Für einen Moment sitzen beiden nur nebeneinander. Hüseyin wirkt entmutigt. Fatma überlegt kurz, dann greift sie langsam seine Hand, ohne ihn dabei anzusehen. Hüseyin blickt verwundert, aber auch gerührt zu seiner jungen Braut. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und rückt endlich etwas näher zu ihr... Die Kamera verliert die Beiden und schwenkt auf das offen stehende Fenster, wo gerade zwei kleine Jungs (Veli, 7 und Muhamed, 5) grinsend durch das Fenster spannern. Die Kamera verdichtet

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auf die Jungs, die sich kichernd wegdrehen und einem Huhn hinterher rennen. Den beiden folgend sehen wir nun ganz deutlich, dass dieses Haus nicht im Dorf steht, wie man vermutet, sondern in Istanbul.

43 ISTANBUL / VOR EINER KLEINEN BARACKE – AUSSEN – TAG ... Veli packt das Huhn, aber kaum hat er das gemacht, kommt Hüseyin, der nun um einige Jahre gealtert wirkt, zu den beiden und hebt seinen Sohn hoch, der noch immer das Huhn in den Händen hält. HÜSEYIN (LACHEND) Veli, du Sohn eines Esels. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ihr das arme Huhn nicht immer jagen sollt? Es legt vor lauter Aufregung keine Eier! FATMA (OFF) Veli, Muhamed! Essen ist fertig! Hüseyin stellt seinen Sohn wieder auf den Boden, der ihm das Huhn einfach schnell in die Hand drückt und blitzschnell seinem Bruder hinterher rennt. CANAN (V.O.) Also... Oma und Opa waren fleißig gewesen und hatten innerhalb kürzester Zeit fast die ganze Yilmaz-Sippe in die Welt gesetzt. Hüseyin geht kopfschüttelnd in die Baracke...

44 ISTANBUL / KLEINE BARACKE 60ER JAHRE – INNEN – NACHT ... wo Fatma, ein KLEINKIND (ca. 1 Jahr) im Arm haltend, gerade dabei ist, aus einem Kochtopf Essen auf vier Teller zu verteilen. Veli und Muhamed halten beide ihrer Mutter ihre Teller hin. Hüseyin setzt sich zu allen anderen auf den Boden. Fatma zerteilt das Brot mit den Händen und gibt beiden Jungs etwas davon. Muhamed schaut vergleichend auf das Stück Brot, was sein älterer Bruder bekommen hat. MUHAMED (MOTZEND) Veli hat ein größeres Stück Brot bekommen! FATMA (VERDREHT DIE AUGEN) Hat er nicht. Die sind beide gleich groß!

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VELI (GRINSEND) Doch, mein Stück Brot ist wirklich größer. FATMA Haltet beide den Mund! Sonst kriegt ihr gar nichts mehr zu essen! Hüseyin schaut seine Kinder kopfschüttelnd an. Die Kinder sind jetzt ruhig, werfen sich aber giftige Blicke zu. Fatma gibt jedem der Kinder einen Löffel Essen aus dem Kochtopf. Kaum ist es auf den Tellern, essen die Kinder hungrig. Veli hat seinen Teller als Erster leer gegessen. Er wischt mit dem Brot noch die letzten Reste auf. Dann streckt er seiner Mutter den Teller entgegen. Er will Nachschlag. Sein Bruder Muhamed, obwohl er noch Essen auf dem Teller hat, macht es ihm nach. Hüseyin beobachtet das unglücklich. Er steht plötzlich auf und geht aus dem Zimmer. FATMA (VERWUNDERT) Wohin gehst du denn? HÜSEYIN (OHNE SICH UMZUDREHEN) Frische Luft schnappen! Ich bin gleich wieder zurück. VELI Darf ich mitkommen? HÜSEYIN Nein, heute nicht! Hüseyin geht aus dem Raum. Veli entdeckt den Teller seines Vaters, auf dem noch Essen liegt. Er greift schnell danach. Muhamed, der das sieht, greift ebenfalls danach.

45 STRASSE VOR KLEINER BARACKE, 60ER JAHRE – AUSSEN – NACHT Hüseyin läuft verärgert die Straße entlang. Er wirkt verzweifelt. Aus der Baracke ist ein lautes Stimmenwirrwarr zu hören. VELI (SCHREIT) (OFF) Ich hab den Teller zuerst entdeckt. MUHAMED (SCHREIT ZURÜCK) (OFF) Hast du nicht! Du hast eh schon mehr Essen bekommen!

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FATMA (SCHREIT) (OFF) Möge Allah euch beide strafen. Kann man denn nicht mal in Ruhe essen, ohne dass ihr beide streitet. Hüseyin läuft weiter, bis er das Geschrei nicht mehr hören muss.

46 ISTANBUL / BAUSTELLE, 50ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin schleppt, wie viele andere, Zement von einem LKW zu einer Baustelle. Er ächzt unter dem schweren Gewicht.

47 TÜRKISCHES TEEHAUS, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Viele Türken sitzen an kleinen, viereckigen Holztischen mit schlichten Stühlen und trinken Tee. Plötzlich zeigt einer von ihnen überrascht in seine Zeitung. MANN #1 Guck mal, was hier steht. Ein anderer Mann schaut ganz interessiert über die Schulter des Mannes. MANN #2 Wo? Der Zeitungsleser deutet in die Zeitung. MANN #1 Na da! Mann #2 schaut einen langen Moment in die Zeitung. MANN #2 Ich kann nicht lesen, was steht denn da? Hüseyin kommt zu den Männern und sieht ebenfalls in die Zeitung. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. MANN #1 Da steht, dass sie Arbeiter für Deutschland suchen. Der Mann meiner Kusine ist schon seit einigen Monaten bei den Ungläubigen und er schickt jeden Monat ein dickes Bündel Geld nach Hause. Er sagt, dass er in einem Jahr soviel sparen kann, dass er hier ein Geschäft eröffnen wird oder sich ein Taxi 38


kauft. (traurig) Ich hab mich schon beworben, aber mich haben sie nicht genommen. Hüseyin klopft ihm aufmunternd auf die Schulter.

48 KLEINE BARACKE, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin kommt mit einem Brief in die Baracke. Er macht ihn auf und liest ihn. Immer erstaunter. Fatma ist gerade dabei, Geschirr zu waschen. HÜSEYIN (ÜBERRASCHT) Deutschland... ich werde nach Deutschland gehen! In einer Woche kann ich schon fahren. Fatma guckt ihren Mann verwundert an. FATMA (GESCHOCKT) Was? Du hast mir gar nicht gesagt, dass du nach Deutschland willst! HÜSEYIN (ENTSCHIEDEN) Aber ich sage es dir doch jetzt?! Fatma starrt Hüseyin an. FATMA (VERÄNGSTIGT) Und was wird aus mir und den Kindern? HÜSEYIN Du bleibst hier. Meine Eltern können kommen und auf euch aufpassen. Fatma muss sich auf diesen Schock erstmal setzen. Sie fängt an, frustriert mit ihrer Hausarbeit weiterzumachen, bis Hüseyin endlich auffällt, dass er Fatma deutlich verstimmt hat. HÜSEYIN Fatma. Mein Herz... es gibt kaum Arbeit hier. Wenn wir wollen, dass es unseren Kindern einmal besser geht, muss ich gehen und Geld verdienen. Das verstehst du doch, hm?

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Fatma sieht ihn traurig an und nickt. Natürlich versteht sie. Trotzdem rollt ihr eine Träne über die Wange.

49 KLEINE BARACKE, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Eine kleine Traube von Nachbarn und Verwandten steht zusammen und immer wieder verabschieden sich Väter von ihren Familien. Etwas weiter steht ein kleiner LKW, auf dessen Ladefläche bereits einige Männer sitzen und warten. Zwei Musiker spielen: Davul Zurna! Pauke und türkische Oboe, die traditionellen Instrumente. Hüseyin steht am LKW, er umarmt seine Kinder schnell ein letztes Mal. Fatma steht weinend dabei. HÜSEYIN (ZU VELI) Du bist jetzt der Mann im Haus! Du musst gut auf alle aufpassen, ja? Veli nickt stolz. Fatma weint ungehalten und auch die anderen Kinder sind kurz davor. Hüseyin muss ebenfalls schwer schlucken. HÜSEYIN (SANFT) Fatma, weine nicht! So Gott will, bin ich bald wieder zurück! Fatma nickt, weint aber trotzdem. Hüseyin nimmt ein weißes Stoff-Taschentuch aus seiner Tasche und wischt Fatma ihre Tränen damit weg, dann hält er das Taschentuch Fatma hin. Es hat eine kleine, schwarze Rose aufgestickt. Fatma nimmt es lächelnd. Einen Moment sehen sich die Zwei nur tief in die Augen. Der LKW hupt. Hüseyin nickt traurig. Er steigt auf den LKW, der sofort losfährt, und winkt seiner Familie zum Abschied. Fatma winkt mit dem Taschentuch zurück. Veli guckt zwischen seiner weinenden Mutter und seinem sich mehr und mehr entfernenden Vater hin und her.

50 ZUG, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin sitzt mit einigen anderen Männern in einem Zug und fährt durch die heiße Türkei. Er schwitzt. ÜBERBLENDUNG: Hüseyin sitzt noch immer im Zug, aber mittlerweile bibbert er vor Kälte und zieht sich einen Pullover über.

51 BAHNHOFSPLATZ, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG

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Hüseyin kommt aus der Bahnhofshalle. (Dieses Bild steht im direkten Anschluss zu Bild 2.) Er schaut sich neugierig um, während er dem Deutschen folgt, der ihn abgeholt hat. Auf einer Seite stehen Busse, wo Dutzende von Türken einsteigen. Neben den Bussen sind große Schilder, auf denen: Krüpp, Thüssen und Siemäns steht. Auf der anderen Seite hat sich eine Menschentraube gebildet und hört einem POLITIKER zu, der eine Rede hält. Man versteht den Politiker nicht, da er eine Phantasiesprache (Kauderwelsch) spricht. POLITIKER Sehn vertettet Gestbelüter. Mer sehn krucka wuddelig seh enneunesem Lind bekrödern zo knanne. Der Politiker hört genauso plötzlich auf zu reden, wie er angefangen hat, und wartet auf Applaus. Die Türken, die kein Wort verstanden haben, klatschen aus Höflichkeit. Jetzt erst übersetzt der Dolmetscher, was gesagt wurde. DOLMETSCHER Herzlich Willkommen in Deutschland. Wir hoffen, dass die Reise angenehm war und freuen uns sehr auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Sie werden entweder von ihren Arbeitgebern in Empfang genommen oder mit Anschlusszügen in die jeweiligen Städte weitergeführt. Wieder klatschen die Gastarbeiter. Hüseyin beobachtet das Ganze während er noch immer seinem deutschen Abholer folgt. Sie gehen vorbei an den großen Bussen, hin zu einem sehr kleinen, eher bescheidenen Kleinbus. Hüseyin steigt etwas irritiert ein.

52 BAUSTELLE AN STRASSE, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin arbeitet mit anderen Türken an einer Straße. Er steht an einer Walzmaschine. Ein deutscher VORARBEITER nickt zustimmend, als er an Hüseyin vorbei geht. Hüseyins Blick fällt auf eine DEUTSCHE FAMILIE (Mann, Frau und zwei Kinder), die auf der anderen, bereits fertig geteerten Straßenseite geht. Hüseyin arbeitet traurig weiter.

53 GASTARBEITERLAGER, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin kommt mit seiner Lohntüte in der Hand ins Zimmer und fängt an, sein Geld zu zählen. Er nimmt drei Scheine aus dem ganzen Bündel raus, den Rest steckt er zufrieden in eine kleine Teebüchse. Dann überlegt er kurz, nimmt von

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den Dreien noch einen Schein weg und steckt ihn ebenfalls in die Dose. Die Büchse versteckt er in seinem Stiefel.

54 ISTANBUL / POST, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Fatma steht mit Veli und Muhamed und dem kleinen Baby auf dem Arm an einem Postschalter. Muhamed kann kaum über den Schalterrand gucken. Hinter den Dreien wartet eine Schlange von Frauen mit ihren Kindern. Der Mann hinter dem Schalter überreicht ihr einige Geldscheine. Fatma lächelt dankbar und geht wieder.

55 GASTARBEITERLAGER / ZIMMER, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin sitzt erschöpft mit anderen türkischen Männern an einem kleinen Tisch, auf dem sie mit einem Picknick-Gaskocher ihr Mittagsessen zubereiten. Hüseyin schlägt Eier in die Pfanne, als in diesem Moment ein anderer Kollege ihm einen Brief in die Hand drückt. KOLLEGE #1 Post aus der Heimat. HÜSEYIN (GLÜCKLICH) Danke! Hüseyin wischt sich schnell die Hände an seiner Hose ab und öffnet ihn aufgeregt. Ein Foto von Fatma mit den drei Kindern und ein kleiner Brief kommen zum Vorschein. Er liest den Brief, ein sehnsuchtsvolles Lächeln huscht über sein Gesicht.

56 BAUSTELLE AN STRASSE, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin arbeitet erneut an der Baustelle.

57 ISTANBUL / POST, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Fatma kommt gerade wieder an die Reihe beim Postamt. Das Kind, das Fatma noch immer auf dem Arm trägt, ist mittlerweile ein zwei Jahre altes süßes MÄDCHEN und auch Muhamed kann deutlich besser über den Schalterrand gucken.

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Der Postbeamte zahlt ihr einige Scheine aus, die Fatma glücklich entgegen nimmt.

58 BAUSTELLE AN STRASSE, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin arbeitet an der Baustelle.

59 GASTARBEITERLAGER / ZIMMER, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Hüseyin liegt unten in seinem Doppelbett. Er schaut zu den Fotos seiner Familie, die er direkt über seinem Gesicht an der Unterseite des oberen Bettes befestigt hat. Auf den Fotos sind seine Kinder unverändert, so wie er sie verlassen hat.

60 ISTANBUL/ POST, 60ER JAHRE – INNEN – TAG Fatma zählt aufmerksam das Geld, das sie gerade ausgezahlt bekommen hat. Mitterweile kann Muhamed ohne Weiteres über den Schalterrand gucken. Auch Veli ist deutlich gewachsen. Als Fatma sich umdreht, um das Postamt zu verlassen, sieht man, dass das kleine Mädchen bereits vier Jahre alt ist und hüpfend neben ihrer Mutter herläuft.

61 ISTANBUL / VOR EINER TÜRKISCHEN KONDITOREI – AUSSEN – TAG Veli, Muhamed und die kleine LEYLA drücken sich die Nasen an dem Schaufenster einer türkischen Konditorei platt. Im Schaufenster sind verschiedenste Süßigkeiten verlockend zu sehen: Baklava, Sekepare, Saray burmasi, Helva etc. Im Inneren sieht man Fatma, die gerade einkauft und mit einem kleinen Paket wieder herauskommt. Sofort stürzen sich die Kinder darauf. VELI Lass mich das Baklava tragen. Bitte Mama. MUHAMED Nein, mich! FATMA Nichts da. Das gibt es später, nach dem Essen.

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VELI Bitte Mama, dürfen wir jeder ein Stückchen haben? Bitte, bitte, bitte! MUHAMED Ja, bitte nur eins! LEYLA (SCHÜCHTERN) Nur ein ganz kleines, ja? Fatma kann nicht anders und muss grinsen. Sie schaut sich schnell um. FATMA Na schön, aber jeder nur eins. Sie öffnet das Paket und gibt jedem der Kinder ein Stück Baklava. Die Kinder sind begeistert.

62 VOR KLEINER BARACKE, 60ER JAHRE – AUSSEN – TAG Hüseyin kommt mit einem Koffer in der Hand die Straße entlang, als sein ältester Sohn Veli (10 Jahre) ihn sieht und aufgeregt auf ihn zuläuft. VELI Baba! Hüseyin hebt ihn hoch und drückt ihn fest an sich. Dann setzt er ihn wieder ab und schaut zu seinen anderen beiden Kindern, Muhamed (8) und Leyla (4), die ihn nicht erkennen und misstrauisch mustern. Hüseyin schaut plötzlich sehr gerührt. HÜSEYIN Muhamed? Leyla? Wie groß ihr schon seid! Erkennt ihr mich nicht? Ich bin´s! Die Kinder sehen ihn verunsichert an. Hüseyin schaut einen Moment sehr traurig. Fatma kommt aus der Baracke gelaufen. Als sie ihn sieht, bricht sie augenblicklich in Tränen aus. Diesmal vor Freude. CANAN (V.O.) Opa hatte eigentlich nie vor, in Deutschland zu bleiben, und seine Familie wollte er auch nicht nach Deutschland holen. Eigentlich wollte er nur ein Jahr hier arbeiten, Geld sparen und dann wieder zurück in die Türkei. Warum hatte er also seine Meinung geändert?

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63 GRUNDSCHULE ISTANBUL / BÜRO, 1970 – INNEN – TAG Man sieht, wie Fatma und Hüseyin vollkommen geschockt schauen. HÜSEYIN Was??? FATMA Was??? Der LEHRER (55) nickt nur ernst. LEHRER Jawohl! Ganze 21 Tage hat er am Stück die Schule geschwänzt! Da fehlt es wohl an Disziplin in der Familie! Hüseyin blickt beschämt zur Seite. Dann gibt er dem Lehrer ehrfürchtig die Hand und geht. Fatma bleibt einen Moment stehen, da ihr Mann einfach so ohne sie davongebraust ist. Dann läuft sie ihm schnell hinterher.

64 AM BOSPORUS, 1970 – AUSSEN – TAG Anstatt in der Schule zu lernen, sitzt Veli mit zwei weiteren Freunden am Strand und fischt. Die drei Freunde stehen lachend an der Promenade und halten ihre Angelschnüre ins Wasser.

65 STRASSEN VON ISTANBUL, 1970 – AUSSEN – DÄMMERUNG Veli geht mit einigen Fischen, die ihm an einer Leine über die Schulter hängen, vergnügt die Straße entlang. Ein GEMÜSEVERKÄUFER lächelt ihm zu. Veli geht zu dem Verkäufer und zeigt ihm die Fische. GEMÜSEVERKÄUFER Na, wie war es heute in der Schule? VELI Prima! (pokernd) Fünf Stück! GEMÜSEVERKÄUFER (SCHÜTTELT DEN KOPF) Nein, höchtens drei! Die Fische sind ganz mickrig.

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VELI Vier! GEMÜSEVERKÄUFER (ZUFRIEDEN) In Ordnung! Er gibt Veli vier kleine Süßigkeiten (Eti Puff), die Veli glücklich einsteckt und dafür dem Gemüseverkäufer die Fische überlässt.

66 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – NACHT Man sieht, wie Veli von seinem erbosten Vater gejagt wird. Die zwei anderen Geschwister kichern amüsiert auf, wobei sie Angst haben, den Zorn des Vaters auf sich zu lenken. Nach ein paar Runden in dem kleinen Zimmer rennt Veli schnell hinaus. HÜSEYIN Ich arbeite Tag und Nacht, damit aus euch Zurückgebliebenen mal anständige Männer werden und du, Sohn eines Esels, gehst nicht zur Schule. Ich brech dir alle Knochen. Bleib stehen, habe ich gesagt. Bleib stehen! Muhamed und Leyla lachen sich amüsiert zu. LEYLA Jetzt hat er sich wieder selbst beschimpft! Da sein Sohn ihm entkommen ist, dreht sich Hüseyin zu den anderen, die sich sofort verstecken. HÜSEYIN (WÜTEND) Ich werde euch alle mitnehmen nach Almanya, da werden sie euch schon Disziplin und Ordnung beibringen! Das können sie nämlich, die Deutschen! Ha! Dann werden wir ja sehen, wer sich noch traut, die Schule zu schwänzen! Die Kinder gucken ihren Vater überrascht an, ebenso die dicke Fatma. Hüseyin stampft, leise vor sich hinfluchend, aus der Hütte. Muhamed rennt besorgt zu seiner Mutter. MUHAMED Meint er das ernst? Bringt er uns nach Almanya?

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FATMA Nein, natürlich nicht. Was sollen wir denn da? MUHAMED (BEUNRUHIGT) Ich will nicht weg! Er kann ja Veli ruhig mitnehmen, ich bleib hier! FATMA Wir gehen nirgendwo hin. Du kennst doch deinen Vater. Muhamed sieht seine Mutter skeptisch an. MUHAMED (BEUNRUHIGT) Ja, eben! CANAN (V.O.) Aber Opa hatte seine Drohung tatsächlich wahr gemacht und innerhalb einer Woche alle nötigen Papiere zu ihrer Ausreise beantragt.

67 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – NACHT Fatma und die Kinder schauen sich die Papiere verwundert an. HÜSEYIN In einer Woche fliegen wir. Ich hab schon alles arrangiert. Alle gucken sich sprachlos an. Dann rennt Muhamed plötzlich zu einem Schrank, zieht eine Urkunde aus der Schublade und reicht diese verzweifelt seinem Vater. HÜSEYIN (VERWUNDERT) Was ist das? MUHAMED Mein Zeugnis! Hüseyin sieht sich das Papier in seiner Hand an und nickt. HÜSEYIN (STOLZ ZU FATMA) Nur Einsen! Der Junge schlägt nach mir! MUHAMED (HOFFEND)

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Bleiben wir hier? HÜSEYIN Ts, natürlich nicht! Wir gehen nach Almanya, wie ich es gesagt habe! Muhamed schaut unglücklich.

68 AM BOSPORUS, 1970 – AUSSEN – TAG CANAN (V.O.) Also hieß es Abschiednehmen! Aus der Entfernung sieht man, wie Veli mit seinen beiden besten Freunden auf großen Steinen sitzt, die direkt am Meer liegen. Die drei Teenager sitzen schweigend mit dem Rücken zu uns und schauen auf das weite Meer.

69 STRASSE, 1970 – AUSSEN – TAG Muhamed, in Schuluniform, schaut immer wieder hinter einem Baum hervor. Er beobachtet ein kleines MÄDCHEN, das mit zwei Freundinnen „Seilhüpfen“ spielt. Muhamed überwindet sich und macht einen Schritt vor. Dann hält er doch inne, dreht sich um und geht traurig weg.

70 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – TAG Einige Frauen sitzen zusammen in dem ärmlich dekorierten Zimmer. In der Mitte des Raumes ist ein aufgeklappter Koffer, der fast vollständig gepackt ist. Fatma kommt, mit einem Tablett in der Hand, in den Raum. Sie geht zu allen vier Frauen, wobei sich jede ein Glas vom Tablett herunternimmt. Dann stellt Fatma das Tablett ab und packt die letzten Kleinigkeiten in den Koffer. Eine der Frauen, NAZIFE (20), reicht Fatma ein paar selbstgestrickte, schöne, bunte Wollsocken. NAZIFE Hier Liebes, in Deutschland soll es doch so kalt sein. Fatma nimmt das Geschenk und packt es in den Koffer. Sie lächelt glücklich in die Runde. Die Frauen lächeln zurück.

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FATMA Danke Nazife, die sind sehr schön. GÜLBEYAZ Hat Hüseyin schon eine Wohnung für euch? FATMA Ja, sie hat sogar drei Zimmer. Dann haben wir endlich auch ein Kinderzimmer. NAZIFE Ich hoffe, dass der Antrag von meinem Mann auch bald akzeptiert wird. Dann sehen wir uns, so Allah will, schon bald wieder. Die Frauen nicken zustimmend. Eine dritte Frau, EMINE (30), überreicht Fatma einige selbstgestrickte Waschlappen. EMINE Die hab ich selbstgestrickt! Die Deutschen sollen doch so dreckig sein! Fatma sieht die Waschlappen dankbar an. FATMA Wie schön sie sind. Mögen deine Hände immer gesund bleiben! Jetzt überreicht ihr GÜL (31) eine Tüte mit getrockneten Okraschoten und Tomaten. GÜL Und das ist von mir! Es ist nicht viel... aber, ich hab gehört, dass es in Deutschland nur Kartoffeln gibt! Fatma schluckt. Sie verstaut sorgfältig das Gemüse, als sie plötzlich zu weinen beginnt. FATMA (WEINEND) Wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden. Was sollen wir nur in einem fremden Land? Wir können doch gar nicht die Sprache. Und wenn die Kinder krank werden, können wir nicht mal zum Arzt. Wie sollen wir das alles nur machen?

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Die anderen Frauen weinen ebenfalls hemmungslos mit.

71 STRASSE VOR BARACKE, 1970 – AUSSEN – TAG Muhamed kommt mit zwei Mülltüten aus dem Hauseingang. Er tritt auf die Straße, wo schon sein kleiner Freund EMRE (8) auf ihn wartet. Muhamed schmeißt den Müll in hohem Bogen einfach auf einen riesigen Müllhaufen an der Straße. Muhamed und sein Freund setzen sich auf die gegenüberliegende Straßenseite auf den Bordsteig. EMRE Wusstest du, dass es in Deutschland überall Coca Cola gibt? MUHAMED (BEEINDRUCKT) Wirklich? EMRE (NICKEND) Ja, sie haben Massen davon! Wenn du da bist, schickst du mir dann welche? MUHAMED Das geht nicht! EMRE Warum nicht? MUHAMED Wie soll denn eine Flasche Cola in einen Briefumschlag passen?! Emre denkt einen Moment nach, dann nickt er enttäuscht. Muhamed hat Recht. EMRE Ich bin froh, dass wir da nicht hin müssen. Das sind alles Ungläubige da. (beeindruckt) Mein Bruder hat mir gesagt, die Deutschen essen Schweinefleisch und Menschen! Ihr Zeichen ist so ein toter Mann am Kreuz. Den haben die auch aufgegessen! (Variante A) Und jeden Sonntag treffen sie sich in ihren Kirchen und essen einen neuen Mann und trinken sein Blut! (Variante B) Und jeden Sonntag treffen sie sich in einer Kirche und da essen sie von ihm und trinken sein Blut! Muhammeds Selbstsicherheit bröckelt. Er schaut seinen Freund verängstigt an.

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MUHAMED Echt? Die essen Menschen? Emre nickt nur.

72 STRASSE VOR BARACKE, 1970 – AUSSEN – TAG Leyla spielt mit einigen ihrer Freundinnen 5-Stein. Sie schmeißt erst einen Stein in die Luft, sammelt schnell mit der gleichen Hand einen anderen Stein vom Boden und fängt den geworfenen wieder auf. Ein Geschicklichkeitsspiel, das Leyla perfekt beherrscht. Plötzlich hört man Fatmas laute Stimme. FATMA (OFF) Veli, Muhamed, Leyla! Kommt rein! Die Mädchen hören auf zu spielen und schauen sich einen Moment an.

73 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – NACHT Die ganze Familie Yilmaz schläft in einem Raum. Während die Eltern auf einem etwas höher liegenden Schlafsofa liegen, haben die Kinder Matratzen auf dem Boden. Man sieht das kleine Gesicht von Muhamed, der zufrieden grinst. Er schließt die Augen und versucht einzuschlafen.

TRAUMSEQUENZ: 74 ZIMMER – INNEN – TAG Muhamed liegt auf einem großen, schönen Bett. Der Raum, in dem er sich befindet, ist hell und freundlich. In seinem Mund hat er einen Strohhalm, der so lang ist, dass er bis auf den Boden reicht, wo er direkt in eine Coca-Cola-Flasche mündet. Das letzte Bisschen wird schlürfend ausgetrunken. Muhamed erhebt sich leicht von seinem Bett und steckt den Strohhalm einfach in eine andere, bereits geöffnete, aber noch volle Coca-Cola-Flasche. Der Boden des Zimmers ist voll mit Coca-Cola-Flaschen! Cola, wohin das Auge reicht. Muhamed grinst zufrieden. Er ist in seinem ganz persönlichen Coca-Cola-Himmel. Dann geht die Tür des Zimmers quietschend einen Spalt weit auf. Erschrocken sieht Muhamed zur Tür. Wer oder was mag nun jetzt zur Tür hereinkommen? Plötzlich kommt Jesus mit seinem schmerzverzerrten Gesicht zur Tür herein. Auf seinem Rücken hat er das schwere Kreuz. Seine Hände und Füße bluten. Auf dem Haupt trägt er

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die blutige Dornenkrone. Im Bruchteil einer Sekunde reißt Jesus eine seiner festgenagelten Hände los – FLOP – und greift gierig nach Muhameds Ohr. Muhamed brüllt, was das Zeug hält! MUHAMED Ahhhh!

75 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – NACHT Muhamed erwacht schreiend aus seinem Traum. Auf seiner Brust sitzt eine große, fette Ratte. Eine Petroleumlampe wird angemacht. Muhamed schreit noch lauter. MUHAMED Ahhhhhhhhhhhh! Die Ratte bahnt sich blitzschnell ihren Weg durch die anderen schlafenden Kinder, die nun ebenfalls alle aufspringen. Das Tier entkommt durch ein kleines Loch in der Zimmerwand. Muhamed fasst sich an sein schmerzendes Ohr. Als er auf seine Hand schaut, sieht er Blut. MUHAMED (HYSTERISCH) Ahhh, mein Ohr blutet. Die Ratte hat mein Ohr gefressen! Ahhh, mein Ohr! Vor lauter Aufregung übergibt sich der arme Junge. Die Anderen schreien angeekelt auf. LEYLA Ihhhhh! Muhamed hat gekotzt! VELI Bähh! Hüseyin stampft wütend aus dem Bett. HÜSEYIN (WÜTEND) Diese verdammten Ratten. Er läuft zu Muhamed und zieht ihn an seinem ohnehin schmerzenden und blutenden Ohr.

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HÜSEYIN (WÜTEND) Sohn eines Esels, warum kotzt du hier mitten in das Zimmer?! Sieh dir diese Sauerei an. Und wie das stinkt. Pah! (laut) FATMA! Muhamed fängt an zu weinen. Fatma nimmt ihren Sohn auf den Arm. Hüseyin greift nach einem Stock und geht damit los, die Ratte zu jagen. FATMA Schimpf nicht mit dem Jungen! Er hat sich erschrocken. (zu Muhamed) Wasch dich und zieh dir ein neues Hemd an, dann kannst du bei uns schlafen. LEYLA (SCHNELL) Ich will auch bei euch schlafen! Sie geht schnell zum Bett ihrer Eltern und legt sich hinein. VELI (VORWURFSVOLL) Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Loch stopfen! MUHAMED Ich bin doch nicht dein Sklave, mach´s selber! Muhamed geht zum Schrank, um sich ein frisches Hemd zu nehmen. Als er den Schrank öffnet, sieht er aber, dass dieser schon vollkommen leer ist. Er schaut zu dem großen Koffer. MUHAMED (SCHREIEND) Mama, die Sachen sind alle schon im Koffer! Fatma, die gerade das Erbrochene aufwischt, wirft das Tuch wütend auf den Boden. FATMA (GEREIZT) Nicht mal in der Nacht hat man seine Ruhe. Möge Allah euch alle strafen. Sie stampft erbost zu dem Koffer.

76 KLEINE BARACKE, 1970 – INNEN – NACHT Das Licht ist wieder aus und Muhamed und Leyla liegen links und rechts von ihrer Mutter. Alle schlafen. Fatma zieht die Decke zu sich herüber, sodass Hüseyin ganz ohne Decke da liegt. Er fängt an zu frieren und wird dadurch wach. Er ver-

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sucht, die Decke wieder ein Stückchen zu sich zu ziehen, aber die drei Schlafenden halten die Decke fest bei sich. Hüseyin atmet resigniert aus, steht auf und verschwindet kurz aus dem Zimmer. Kurz darauf legt er sich wieder ins Bett. Er hat sich seine Jacke und Socken angezogen.

77 STRASSE VOR KLEINER BARACKE, 1970 – AUSSEN – TAG Eine kleine Menschentraube hat sich versammelt. Es wird viel geweint. Frauen, die sich umarmen. Männer, die sich die Hände schütteln, aber nicht weniger gerührt sind. Vor der kleinen Baracke steht ein kleiner LKW, dessen Ladefläche nicht überdacht ist. Die Männer tragen die Koffer auf die Ladefläche. Da im Fahrerhäuschen maximal drei Personen sitzen können, steigt die gesamte Familie Yilmaz hinten auf, wobei es sehr schwer ist, die dicke Fatma hoch zu hieven. Die Männer stöhnen. FATMA (VORWURFSVOLL) Jetzt drückt doch, was seid ihr nur für Männer? Veli und Leyla grinsen aufgeregt, als der Motor startet. Der LKW fährt langsam los. Plötzlich entdeckt Muhamed das kleine Mädchen mit der Brille, die etwas abseits steht und zuschaut, wie sich der Wagen langsam entfernt. Die Blicke der beiden Kinder treffen sich. Keiner von beiden winkt. Sie schauen nur traurig. Eine Frau schüttet einen kleinen Eimer mit Wasser dem Wagen hinterher. Sie winkt dem LKW mit einem Taschentuch nach. CENK (V.O.) Wieso schmeißen die mit Wasser nach ihnen? CANAN (V.O.) Ach das... ja, das ist eine sehr alte türkische Tradition. Wenn sich jemand auf eine lange Reise macht, schüttet man ihm zum Abschied Wasser hinterher. Es bedeutet, dass diese Person genauso schnell wieder zurückkommen soll, wie das Wasser braucht, bis es verdunstet ist.

78 FAHRENDER LKW, 1970 – AUSSEN – TAG Die Familie Yilmaz winkt ihren Verwandten hinterher. Zum ersten Mal sieht man etwas mehr von der Umgebung. Das Viertel ist voll mit kleinen, selbst erbauten Baracken. Er herrscht schönes Wetter und trotz der offensichtlichen Armut wirkt alles wunderschön. Man winkt so lange, bis man sich aus den Augen verliert. Fatma kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und weint. Die kleine Leyla guckt ihre Mutter mitfühlend an. Es wird zum Abendgebet aufgerufen. Aus

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1001 Moscheen vermischen sich die Gebetsrufe der Muezzins, als ob auch sie sich von der Familie verabschieden wollen. Die Kamera schwenkt in den Himmel...

79 FLUGZEUG, 1970 – AUSSEN – TAG Ein Flugzeug fliegt durch den wolkenlosen, strahlend blauen Himmel. Durch das Fenster sieht man Hüseyin, der komatös am Fenster schläft, neben ihm Fatma, die sich kaum traut rauszuschauen. ÜBERBLENDUNG: Die Maschine bricht durch einen Wolken bedeckten Himmel. Es sind dramatische, graue, fast schwarze Gewitterwolken, die an ihrem Fenster vorbeiziehen. Fatma krallt sich ängstlich in Hüseyins Oberarm, der schmerzerfüllt aus dem Schlaf schreckt und wütend auf Fatma einredet.

80 FLUGHAFEN / FLUGZEUG, 1970 – AUSSEN – TAG Die Tür des Flugzeuges wird geöffnet und sofort nach der Stewardess sieht man, wie Familie Yilmaz, einer nach dem anderen, langsam die Treppen herunter steigt. Alle schauen sich neugierig um. FATMA (VERÄNGSTIGT) Oh. Hier sieht es seltsam aus! LEYLA (ENTTÄUSCHT) Hier sieht es ja genauso aus wie bei uns. Muhamed schüttelt den Kopf. MUHAMED (ENTTÄUSCHT) Nein, überhaupt nicht. Hier sieht es ganz anders aus. Guck doch mal! ALI (OFF) So, wir müssen jetzt auch leider los! Es ist schon spät und du musst morgen in die Schule! Alle sehen sich verwundert um. Woher kommt die fremde Stimme?

81 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNZIMMER – INNEN – TAG

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Ali hält Cenk seine Jacke hin, aber Cenk schaut nur missmutig. Die anderen Familienmitglieder sitzen ebenfalls still da und sind in Gedanken. Alle wirken durch das Erinnerte gerührt. Vor allem Hüseyin und Fatma. CENK Aber wie sah es denn aus? Was war denn anders? HÜSEYIN (ENTSCHIEDEN) Das wirst du bald sehen. Weil, fahren wir alle zusammen hin! Weil Opa hat Haus gekauft und braucht jetzt Hilfe von Familie! Von ganze Familie! Hüseyin sieht nochmal in die Runde. Niemand traut sich, diesmal zu widersprechen. Ali zieht Cenk die Jacke über, während Gabi ihm in die Schuhe hilft. Wieder bricht ein lautes Stimmenwirrwarr los: Tesekürler, danke für alles, schlaft schön, macht´s gut, hadi-tschüs! Nur Canan macht keine Anstalten zu gehen. CANAN Ich helfe Oma noch beim Abwasch. LEYLA Nimm dir später aber ein Taxi nach Hause, hm! Leyla gibt ihrer Tochter einen dicken Kuss zum Abschied und steckt ihr einen 20-Euro-Schein zu. Canan nickt etwas unglücklich. Alle verschwinden aus der Wohnung.

82 HAUSFLUR FAMILIE YILMAZ – INNEN – NACHT Veli, seine Frau Sevgi und seine beiden Töchter gehen gerade die Treppen herunter, als Sevgi Veli ernst ansieht. SEVGI Du musst alleine fahren. Ich komm nicht mit! Die Mädchen auch nicht. Veli bleibt vor lauter Überraschung kurz stehen. Sevgi geht einfach weiter. VELI Was soll das heißen, du kommst nicht mit?! Natürlich kommst du mit. Ich zieh doch nicht alleine mit denen los. Veli geht ihr nach und holt sie wieder ein. Sevgi geht wortlos weiter.

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83 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Fatma nimmt die letzten dreckigen Teller vom Tisch, bevor Canan ihn mit einem nassen Lappen abwischt. Hüseyin liegt zufrieden auf dem Sofa. Canan legt den Lappen auf den Tisch und setzt sich zu ihrem Opa. CANAN (ANGESPANNT) Dede, ich kann nicht mitkommen. Ich habe wirklich keine Zeit. Ich hab Prüfungen! HÜSEYIN Ach, Prüfungen, Prüfungen, Prüfungen! Hayatin en sinav nedir, biliyormusun? Neyin önemli neyin önemsiz oldugunu bilmek. Kim bilir biz ailece daha ne kadar izin yapabilceyiz! Mutlaka gelmen gerekir. Die wichtigste Prüfung im Leben ist, dass man weiß, was wichtig ist. Und was ist wichtig? Familie! Du musst mitkommen. Wer weiß, wie oft wir noch alle zusammen Urlaub machen können. Hüseyin tätschelt Canan liebevoll die Wange, dann verschränkt er die Arme hinter seinem Kopf und schließt zufrieden die Augen. Er öffnet nur ein Auge und schaut grinsend zu Canan. HÜSEYIN Es wird ganz schön! Göreceksin! Er schließt wieder zufrieden die Augen. Canan sieht ihn einen Moment schweigend an, sie seufzt. Fatma kommt mit einer Decke zu ihnen. Sie deckt Hüseyin zu. FATMA Bizde yaslanuyoruz artik! Son zamanlarda deden cok cabuk yoruluyor. Halbuki bütün isi ben yabiyorum. Ach, wir werden auch nicht jünger. In letzter Zeit ist er immer so erschöpft... dabei mach ich doch die ganze Arbeit. Fatma schüttelt den Kopf, dann räumt sie leeres Geschirr weg. Canan seufzt und geht aus dem Zimmer.

84 WOHNUNG ALI & GABI / BADEZIMMER – INNEN – NACHT Cenk sitzt im Pyjama auf der Waschmaschine und putzt etwas unbeholfen seine Zähne. Gabi steht am Waschbecken und schrubbt ebenfalls. Nun kommt auch

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Ali dazu. Er hat seine Zähne scheinbar unterwegs gebürstet, drängelt sich ans Waschbecken vor und spuckt rein. Dann geht er zu Cenk und nimmt ihn von der Waschmaschine runter auf seinen Arm. Er hält ihn über das Waschbecken, damit auch er den Schaum ausspucken kann, dann wischt er ihm mit einem Handtuch über den Mund. ALI Und? Startklar für die Gutenacht-Geschichte? Cenk nickt. Gabi hat mitterweile den Mund auch wieder frei von Zahnpasta. GABI Was magst du denn heute hören? „Das tapfere Schneiderlein“? Oder... „Frau Holle“? Cenk geht kurz wieder an die Waschmaschine, wo bereits ein Märchenbuch liegt. Er nimmt es und gibt es seiner Mutter. CENK Lieber das! Gabi sieht auf das Cover des Buches. GABI „Ali Baba und die 40 Räuber“? Cenk nickt. Ali muss grinsen, sagt aber nichts. CENK War Ali Baba auch Türke? Gabi sieht ihren Sohn, dann Ali fragend an. ALI So mutig wie er war... bestimmt! CENK Wieso kann ich kein Türkisch? Gabi und Ali sehen ihren Sohn sprachlos an. GABI (NETT) Aber du kannst doch etwas Türkisch!

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Cenk schüttelt den Kopf. ALI (BESORGT) Was genau ist eigentlich in der Schule passiert? Cenk sieht seinen Vater kurz an, sagt aber nichts.

85 FAHRENDE U-BAHN – INNEN – NACHT Canan sitzt total in Gedanken in der U-Bahn, während sie ihre iPod-Kopfhörer auf hat. Eine Rumänin mit fünf kleinen Kindern betritt die U-Bahn. Canan bemerkt sie. Das Jüngste, ein dickes Baby, schreit sich die Seele aus dem Leib. Die anderen Kinder albern rum und machen sich ebenfalls bemerkbar. Ein DEUTSCHES EHEPAAR im Rentenalter kommt dazu und setzt sich genau gegenüber der Frau mit den Kindern. Die Rentnerin schaut kopfschüttelnd zu der jungen Mutter, dann erwartungsvoll zu ihrem Mann. DEUTSCHE RENTNERIN (EXTRA LAUT) Haben die keine anderen Hobbies?! WIE DIE WILDEN! Die Rumänin sieht verlegen weg. Die Rentnerin schüttelt wieder empört den Kopf. Canan beobachtet das Ganze. Plötzlich fühlt sie sich selbst angegriffen. Sie weiß einen Moment nicht, wie ihr geschieht, dann sieht sie die Frau wütend an. CANAN (IRONISCH) Ja, das müssen sie entschuldigen... aber wenn wir so den ganzen Tag im Dschungel hocken, haben wir einfach nix Besseres zu tun. Wir haben ja auch früher in Iglus gelebt und uns vom Kamelhandel ernährt. Na, und die Reise nach Deutschland hätten wir fast mit dem Leben bezahlt. Wir mussten ja durch den Amazonas, die Sahara und die Mongolei. Und das alles barfuß, weil wir auch zu blöd waren, um uns Schuhe zu basteln! Aber... es hat sich ja gelohnt, weil hier in Deutschland jeder Ausländer einen iPod bekommt und wir von so netten Menschen umgeben sind, die keine Wilden sind. DEUTSCHE RENTNERIN (BISSIG) Wer hat denn mit ihnen geredet? Canan steht wütend auf. Sie geht zur Tür. CANAN (WÜTEND) Es gibt Menschen, die freuen sich über Kinder... auch wenn’s mehr als eineinhalb sind!!!

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Plötzlich kommt eines der rumänischen Kinder, ein Mädchen (8), zu ihr und schaut sie verwundert an. MÄDCHEN Wo, wo gibt es denn die iPods? Canan sieht das Mädchen überfordert an.

86 CANANS EIN-ZIMMER-APPARTEMENT – INNEN – NACHT Direkt auf dem Fußboden vor ihr liegt ein kleiner weißer Strampelanzug. Auf dem Strampler steht „Made with love“, darunter ein rotes Herz. Canan seufzt. David steckt den Kopf um die Ecke. DAVID Und? How did it go? CANAN (MÜDE) Ich fahre in den Herbstferien in die Türkei. David schaut verwundert. DAVID WAS? Jetzt, aber... wieso? Ich mein, ist das überhaupt gut für dich, in deinem Zustand? CANAN David, ich bin in der 6. Woche! Das Ding ist nichtmal so groß wie ein Gummibärchen! Außerdem brauch ich jetzt Zeit, um es meiner Familie beizubringen. Canan setzt sich frustriert auf ihr Bett. CANAN Gott! Die werden mich hassen. Scheiße, wie konnte das nur passieren?! David setzt sich zu ihr aufs Bett. DAVID Nachher sie freuen sich... Eltern freuen sich doch immer über Enkel. Canan sieht David nur fassungslos an.

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CANAN Freuen? Man David. Raffst du es nicht? Fängst du jetzt auch an wie alle anderen Idioten. (verstellt die Stimme) Wo ist das Problem? Du bist doch eine moderne junge Frau. Deine Familie ist doch modern. (normale Stimme) Ja, sind sie. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass sie es O.K. finden, wenn ich unverheiratet schwanger werde. Das ist eine Scheiß-Katastrophe! Ich werde alle enttäuschen. Man, das hätte nicht passieren dürfen. Als wär ich zu blöd zu verhüten. Das ist einfach nicht fair! Ich hab doch immer die ScheißPille genommen! Sie fängt an zu weinen. David versucht, sie zu trösten, aber Canan widersetzt sich der Umarmung und geht ins Bad.

87 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / BALKON – INNEN – TAG Ein schneeweißes Bettlaken wird ausgeschüttelt und über eine Wäscheleine gehangen. Fatma steht, in Schürze und mit Kopftuch, auf dem Balkon und hängt entschieden Wäsche auf. Sie entdeckt plötzlich einen Vogelschiss auf ihrer sonst blütenreinen Bettwäsche. Verärgert nimmt sie das Laken wieder weg und packt es wieder in den Wäschekorb. Das laute, nervige Pfeifen eines Wasserkessels ist zu hören. Fatma wartet kurz ab, ob jemand anderes sich drum kümmert. Es pfeift erneut. Fatma stampft wütend zurück in die Wohnung.

88 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KÜCHE – INNEN – TAG Die Wasserkanne spuckt schon Wasser, als Fatma sie schnell vom Herd nimmt. Hüseyin sitzt frühstückend am Tisch und liest seelenruhig seine türkischen Tageszeitung. Fatma ist auf 180. HÜSEYIN Hanim... yavas, yavas yaslaniyorsun! Deminden beri öten bu su düdüyünü duymadinmi? Hem sen niye yesil zeytin aldin? Ben yesil zeytini sevmediyimi cok iyi biliyorsun! Frau... langsam wirst du wohl alt! Hast du das Wasser nicht pfeifen gehört? Und wieso hast du grüne Oliven gekauft, du weißt doch, ich mag nur die schwarzen! FATMA

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Ama yesil zeytini cok seviyorum! Weil ich die grünen sehr gerne mag! Hüseyin sieht überrascht von seiner Zeitung auf. HÜSEYIN Oha! Yine derdin ne? Yoksa yine regim mi yapiyorsun sen? Was ist dir denn auf den Magen geschlagen... machst du etwa wieder Diät? Fatma schrubbt wütend an der Spüle rum. FATMA Siyah zeytin yiye yiye bikdim. 50 yildir siyah zeytin yiyiyoruz! Ich kann keine schwarzen Oliven mehr sehen! Seit 50 Jahren essen wir schwarze Oliven. Hüseyin sieht seine Frau verstört an. HÜSEYIN Biz a zeytinin rengini tartismiyoruz.Cicar dilinin altindaki baklayi da söyle, neyin var senin? Wir streiten hier doch bitte nicht über die Farbe der Oliven! Sag endlich, was du hast! Fatma wischt noch immer hektisch an der Spüle. FATMA O ev! Niye o evi bana sormadan aldin? Ben sana Türkiye ´ye dönmek istediyimi söylemedimi? Benim yerim cocuklarimin yaninda. Almanyada! Das Haus! Wieso hast du das Haus gekauft! Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht mehr zurückziehen will... mein Platz ist hier, bei den Kindern! In Deutschland! Fatma klatscht den Spülschwamm in die Spüle. Hüseyin ist erstaunlich ruhig. Er sieht Fatma überrascht an. HÜSEYIN Töhbe yarabbim, kimse temelli döniyoruz demediki! Ben o evi yazlik olarak aldim! Allmächtiger, wer hat denn gesagt, dass wir zurückziehen?! Ich hab es als Sommerhaus gekauft! Fatma sieht Hüseyin ebenfalls überrascht an. Sie wirkt ganz erleichtert, muss sogar grinsen. Hüseyin lächelt ebenfalls. Er piekst sich eine grüne Olive auf und isst

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sie. Fatma hält kurz inne, dann holt sie einen geöffneten Briefumschlag aus der Tasche. Sie geht zu Hüseyin und hält ihm den Brief hin. FATMA Bak bugün postayla bir davetiye geldi! Das kam heute mit der Post. Wir wurden eingeladen! HÜSEYIN (LESEND) „Deutschland sagt Danke“! Hüseyin liest weiter, erschrocken. FATMA Göcmenler icin bir senlik! (gülerek) Osya biz artik Almaniz. Eine Veranstaltung für Immigranten. (kichernd) Dabei sind wir doch jetzt Deutsche! HÜSEYIN Konusma yapmami istiyorlar benden, üstelik basbakanin önünde. Bunlar delimi ne? Hayata yapmam. Die wollen, dass ich eine Rede halte, vor der Bundeskanzlerin? Sind die verrückt? Auf keinen Fall! Er wirft den Umschlag auf den Tisch. FATMA (HEYCANLI) Ama... Aber... Hüseyin sieht sie so genervt an, dass sie nur die Augen verdreht und schweigt.

89 SUPERMARKT – INNEN – TAG Muhamed schiebt seinen Einkaufswagen etwas lustlos durch die Gänge. Er greift ganz routiniert zu einer 2-Liter-Cola-Flasche, als sein Blick plötzlich auf etwas fällt, was ihn offensichtlich so fasziniert, dass er die Flasche links liegen lässt und sich wie hypnotisiert zu etwas hinbewegt. Man sieht die verführerische Rückenansicht einer Frau, die einen perfekt geformten Körper hat. Muhamed starrt absolut fasziniert, aber dann überholt er die Frau, ohne sie im Geringsten zu beach-

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ten. Sein Blick galt nicht der Frau, sondern... ... einer überdimensional großen Coca-Cola-Flasche, die in einer Ecke des Supermarktes steht. Muhamed steht absolut fasziniert vor der XXL-Werbeflasche. Er schaut sich zuerst vorsichtig um, ob ihn auch niemand beobachtet, bevor er seine Hand ausstreckt, um die Flasche zu berühren... aber da quietscht es laut und eine alte Dame kommt, ihren Einkaufswagen schiebend, um die Ecke gebogen. Muhamed rollt seinen Wagen verlegen weiter.

90 STRASSE – AUSSEN – TAG Veli lehnt über seinem nigelnagelneuen Mercedes Benz und poliert ihn. Das Auto erstrahlt in vollem Glanze. Veli sieht das Auto nachdenklich an.

91 BANK – INNEN – TAG Hüseyin, ordentlich zurecht gemacht, und Canan stehen an einem Schalter Schlange. Canan sieht ihren Opa vorwurfsvoll an. CANAN Niemand verreist mit soviel Bargeld... außerdem hast du doch eine Kreditkarte?! Hüseyin reagiert auf Canans Vorwürfe gar nicht. Er hockt neben einem kleinen MÄDCHEN (5), das neben seiner Mutter steht und ihn breit angrinst. KLEINES MÄDCHEN (FASZINIERT) Noch mal! Hüseyin überlegt kurz, dann zieht er seine Brille von der Nase. Das Mädchen lacht. KLEINES MÄDCHEN (FASZINIERT) Noch mal! Hüseyin setzt wieder die Brille ab, das Mädchen lacht erneut. Plötzlich hat Hüseyin eine Idee. Er drückt sein Gebiss vor und nimmt es kurz raus. Das Mädchen lacht diesmal viel lauter. Hüseyin macht es gleich nochmal. Sie lacht wieder. KLEINES MÄDCHEN

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Und jetzt die Nase! Hüseyin schaut das kleine Mädchen überrascht an, bevor er laut zu lachen beginnt. Canan ist das Ganze ein wenig peinlich. CANAN Dede! Hüseyin steckt die Zähne schnell wieder rein. HÜSEYIN Ne oldu? Kücükgen buna cok gülüyordun, unutunmu? Was denn? Als Kind hast du dich immer darüber kaputt gelacht! Ein Schalter wird frei und Canan und Hüseyin rücken auf. CANAN Guten Tag! Wir möchten bitte 3000 Euro in türkische Lira wechseln. Der BANKANGESTELLTE (Anfang 40) schaut irritiert. BANKANGESTELLTER (SPITZ) Wir? Canan sieht den Mann einen Moment ernst an. Hüseyin ist abgelenkt und schaut noch immer zu dem kleinen Mädchen. CANAN Mein Großvater möchte 3000 Euro in türkische Lira wechseln! BANKANESTELLTER (MIT AUFGESETZTEM LÄCHELN) Verstehe! Und sie spielen die Übersetzerin. HÜSEYIN (UNBEDACHT) Ja, sie ist super Übersetzerin! Canan schaut ihren Opa genervt an.

92 EIN-ZIMMER-APPARTEMENT MUHAMED – INNEN – TAG Muhamed steht in seinem kleinen Apartment vor dem laufenden Fernseher und

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bügelt ordentlich seine Hemden. Er sieht Nachrichten. Plötzlich klingelt es an der Tür.

93 EIN-ZIMMER-APPARTEMENT MUHAMED / FLUR – INNEN – TAG Er öffnet die Tür. Kaum ist die Tür offen, gibt Fatma ihrem Sohn links und rechts einen Kuss auf die Wange und schiebt sich in die Wohnung. FATMA Hosbulduk, oglum. Willkommen, mein Sohn. MUHAMED Hosgeldin Anne! Willkommen, Mutter!

94 EIN-ZIMMER-APPARTEMENT MUHAMED – INNEN – TAG Fatma hat einen nigelnagelneuen Koffer in der Hand und eine Tüte mit Essen. Sie stellt eilig den Koffer ab und fängt an, das mitgebrachte Essen auf einem Teller zu servieren, und stellt es Muhamed hin. Fatma sieht schockiert das Bügelbrett. FATMA Ay, sen niye ütü yapiyorsun, oglum? Temiz mintanin kalmadimi? Du bügelst? Waren nicht mehr genug saubere Hemden da? Muhamed isst hungrig das mitgebrachte Essen. Er zeigt auf den Koffer. MUHAMED Anne, ben gelmiyorum! Ich komm nicht mit. FATMA Tabii ki geliceksin. Aramizda hic olmasa eli cekic tutan bir erkek olsun. Biliyorsun. Ne Cem ne de Ali bu islerden anlar. Natürlich kommst du mit. Ich brauch doch wenigstens einen Mann da, der ordentlich einen Nagel in die Wand schlagen kann! Cem und Ali sind in diesen Dingen völlig unbrauchbar! Muhamed nickt trotzig.

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MUHAMED Korkma, Cem beyefendi ellerini kirletmez, ama bulur bir gariban, elline biraz para verip yaptirir isini. Keine Sorge. Herr Cem wird sich die Finger nicht schmutzig machen. Er zahlt bestimmt jemanden, der das macht. Fatma fängt an, altes Geschirr wegzuspülen. FATMA Birak abini de, bizi düsün. Sen bize yardim edeceksin! (dikkat ederek) Hem kim bilir. Belki sana yeni bir es buluruz! Vergiss jetzt mal deinen Bruder, denk an uns! Wir brauchen deine Hilfe. (vorsichtig) Und vielleicht finden wir ja auch eine Frau für dich? Muhamed sieht sie schockiert an. MUHAMED Gine beni biraksin diyemi? Ben es mes istemem! Damit sie wieder abhaut?! Ich brauch keine Frau! Fatma sagt nichts mehr, sondern spült weiter. Muhamed isst trotzig weiter.

COLLAGE: 95 EIN-ZIMMER-APPARTEMENT MUHAMED – INNEN – NACHT Muhamed schaut einen langen Moment auf den neuen Koffer, den seine Mutter für ihn gekauft hat. Er legt ihn aufs Bett. Als er ihn öffnet, stutzt er einen Moment. Der Koffer ist bereits perfekt gepackt. Hemden, Hosen, Socken, Unterwäsche etc. Muhamed schüttelt lächelnd den Kopf...

96 WOHNUNG ALI & GABI / SCHLAFZIMMER – INNEN – NACHT ... Gabi schließt einen Koffer, Ali öffnet ihn wieder und sieht Gabi vorwurfsvoll an. Neben dem einen Koffer stehen noch zwei weitere. Für jeden einen. Ali hält Gabi nun eine Vielzahl von Medikamenten, Insektenschutzmitteln und einen Erste-Hilfe-Koffer hin. Gabi schüttelt den Kopf, sie scheint, alles für völlig unnötig zu halten. Während die Zwei diskutieren, kommt Cenk einfach rein und packt seinen Koffer unbemerkt mit Spielzeug voll.

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97 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNKÜCHE – INNEN – NACHT Unmengen von Nescafé werden in eine große Reisetasche gelegt. Hüseyin kommt in das Zimmer, sieht Fatmas Aktion und fängt eine Diskussion mit ihr an. Er räumt den Kaffee wieder aus, Fatma schimpft und will es wieder einräumen. Sie einigen sich auf die halbe Menge.

98 CANANS APPARTEMENT – INNEN – NACHT Canan ist gerade dabei, ihren fertig gepackten Koffer zu schließen. ENDE COLLAGE

DAVID Ich will nicht, dass du mitfliegst! CANAN David, ich kann nicht einfach absagen! Ich hab’s ja schon versucht... außerdem brauch ich die Zeit, um es meiner Mutter zu sagen! David denkt kurz nach. DAVID Okay, dann komme ich mit to Turkey! Ich bin doch jetzt auch Familie! Canan sieht David fast schockiert an. CANAN Nein, bist du nicht! Du bist der Vater meines... Embryos. Das ist was komplett anderes! David schaut Canan verletzt an. DAVID (WÜTEND) Canan, WIR kriegen ein Kind. Wir sind bald eine Familie. DU, ICH und das BABY! CANAN Das macht uns noch lange nicht zu einer Familie. Zu einer Familie gehören mehr. Da sind Onkels und Tanten, Großeltern... da ist eine Geschichte!

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DAVID Wer wird dieses Kind großziehen? WIR oder deine Familie!? Für einen Moment schauen sich die beiden nur wütend an, dann dreht sich David um und geht aus dem Zimmer.

99 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER – INNEN – TAG Fatma steigt aufgeregt in einem rosa Nachthemd ins Bett. Sie legt die deutschen Pässe behutsam neben sich auf den Nachttisch. FATMA Bu bizim alman pasaportlarimzla ilk yolculugumuz olacak. Das wird die erste Reise mit unseren deutschen Pässen! Hüseyin schweigt nur. Fatma macht das Licht aus und beide schließen die Augen, um zu schlafen.

100 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KÜCHE – INNEN – NACHT Hüseyin sitzt im Pyjama am Tisch und raucht. Vor ihm auf dem Tisch liegen die neuen deutschen Pässe. Hüseyin schließt müde seine Augen. Dann fällt sein Blick auf ein altes Foto an der Wand, das ihn und Fatma als junges Paar, in traditionell türkischer Kleidung vor einem großen Baum stehend, zeigt. Plötzlich bewegt sich der Baum im Wind und verliert Blätter, die sanft zu Boden fallen.

101 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNKÜCHE – INNEN – TAG Aufgeregt flitzt Fatma durch die Wohnung, während sie parallel hektisch die Wohnung saugt. Hüseyin versucht, die Koffer zum Ausgang zu hieven, aber ständig ist ihm Fatma oder der Staubsauger im Weg. HÜSEYIN Aman yarrabim, hanim ne yapiyorsun sen Allah askina? Simdi buralari temizlemek zamani mi? Izine gidiyoruz!

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Allmächtiger, Frau! Wozu in Allahs Namen musst du JETZT staubsaugen. Wir gehen! FATMA Kirli eve mi dönelim? Sollen wir in eine dreckige Wohnung heimkehren?! Hüseyin schüttelt nur genervt den Kopf. Es klingelt. FATMA Taxi geldi. Cabuk! Das wird das Taxi sein. Schnell! Fatma macht den Sauger aus und rennt an die Tür.

102 FLUGHAFEN / CHECK-IN – INNEN – TAG Die ganze Familie Yilmaz sitzt gelangweilt auf ihren Koffern und Bänken am Check-In. Die Anzeige zeigt für ihren Flug ganze vier STUNDEN VERSPÄTUNG. Manche essen, andere trinken. Cenk steht inmitten von ihnen. CENK Mir ist langweilig! GABI Willst du was spielen? CENK (SCHÜTTELT DEN KOPF) Nein, ich will lieber die Geschichte hören. Canan! Canan sieht Cenk überrascht an. Sie muss grinsen. CANAN O.K... also... wo waren wir stehengeblieben? CENK (WIE AUS DER PISTOLE) Sie sind mit dem Flugzeug in Deutschland angekommen und fanden, dass es hier so anders aussieht, aber hier sieht es doch gar nicht anders aus! CANAN Doch und ob! Also...

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Canan sieht kurz zu Hüseyin, der sie aufmunternd anlächelt. CANAN Sie stiegen aus dem Flugzeug aus... und sofort wurde klar, dass hier ALLES anders war.

103 FLUGHAFEN / PASSKONTROLLE, 1970 – INNEN – TAG Die Familie läuft einen schmalen Gang auf die Passkontrolle zu, wo einige große, blonde POLIZISTEN stehen und streng gucken. Veli zeigt auf die Männer. VELI (FASZINIERT) Guck mal! Die Männer hier haben keine Schnauzbärte. Leyla guckt zu den Polizisten und tatsächlich. Kein einziger der Männer trägt einen Schnauzer. LEYLA (ERSTAUNT) Ui! Die Familie läuft ehrfürchtig den Deutschen entgegen. Ein POLIZIST wirft Hüseyin einen scharfen Blick zu. Die Kinder gucken aufmerksam zu. POLIZIST (IN KAUDERWELSCH) Sure drag, hotten ze öhre poppit treit (Pause) – Passport? Hüseyin reicht dem Polizisten die erforderlichen Papiere rüber. Der Polizist schaut sich jedes der Kinder genau an. POLIZIST Wotte datte FATMA? Hüseyin zeigt auf seine Frau, die etwas verwirrt den Polizisten anlächelt. FATMA (ÄNGSTLICH) Oh Allah, was hat er gesagt? Stimmt was nicht? Wie immer antwortet Hüseyin seiner Frau nicht. POLIZIST Uhnka Klöbskele? Cöm?

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HÜSEYIN (VERWIRRT) Ähh, nöke, fröt! Dök Emre! Er schaut plötzlich verwirrt. HÜSEYIN (SCHNELL) Nöke! Ähm, Yusuf, Musa... FATMA (VORWURFSVOLL) Warum zählst du die Namen deiner Verwandten auf! Sag es richtig, sonst lassen die uns nicht rein. HÜSEYIN (WÜTEND) Halt den Mund, Frau. Vor lauter Nervosität will Hüseyin der Name seines Sohnes nicht einfallen. Er fängt wieder von vorne an. Er deutet mit seiner Hand auf jedes seiner Familienmitglieder und sagt die Namen dazu. HÜSEYIN Fatma, Veli, Muhamed! Bei seiner Tochter macht er eine lange Pause. Der Name scheint ihm nicht einzufallen. Alle gucken Hüseyin verwirrt an. LEYLA (FLÜSTERND) Leyla! HÜSEYIN (ERLEICHTERT) Dek Leyla! Er atmet tief aus. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn, aber er hat es geschafft. Der Polizist nickt etwas mürrisch. Dann stempelt er die Papiere mit Wucht ab und gibt sie zurück. Die Familie geht erleichtert durch die Passkontrolle.

104 FLUGHAFEN / TAXISTAND, 1970 – AUSSEN – TAG Hüseyin geht zu einem großen, blonden, stämmigen TAXIFAHRER, der fast zwei Meter lang ist. Ein Bär von einem Mann. Hüseyin zeigt ihm einen Zettel,

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auf dem eine Adresse steht. Der Mann nickt. Die Kinder schauen den großen Mann erstaunt an. MUHAMED Siehst du? Das sind hier alles Riesen! LEYLA (VERUNSICHERT) Oh je, ob die Kinder auch so groß sind? Muhamed und Leyla schauen sich verunsichert an.

105 FAHRENDES TAXI, 1970 – INNEN – TAG Während Hüseyin vorne sitzt, ist Fatma mit den drei Kindern hinten. Leyla hat sie auf dem Schoß. Alle schauen gespannt aus den Fenstern. In den Reflexionen der Fenster sieht man, dass Deutschland der späten Sechziger. Plötzlich wird Muhamed total panisch. Er zeigt mit dem Zeigefinger auf etwas. MUHAMED (SCHREIT) Eine Riesenratte! Oh nein, hier gibt es Riesenratten. Die anderen Kinder schauen ebenfalls angeekelt. LEYLA (VERÄNGSTIGT) Ih, die fressen uns bestimmt auf. FATMA (PANISCH) Riesenratten? Wo? Hüseyin schaut erst aus dem Fenster und schüttelt dann den Kopf. HÜSEYIN Das ist doch keine Ratte, du Holzkopf. Das ist ein Hund! MUHAMED (IRRITIERT) Ein Hund? Warum hat er dann keine richtigen Beine? Hüseyin zuckt mit den Schultern. Erst jetzt sieht man, dass die Kinder einen Dackel anstarren, der brav neben seinem Herrchen auf dem Gehsteig tippelt. LEYLA (VERWUNDERT) Und warum ist die Ratte an einem Seil?

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HÜSEYIN (SCHULTERZUCKEND) Die Deutschen gehen mit ihren Hunden spazieren, dazu binden sie sie an Seile! Fatma schaut Hüseyin nun total verunsichert an. FATMA Sie gehen mit ihnen spazieren? Können die Hunde hier das nicht alleine? HÜSEYIN (ERNEUT SCHULTERZUCKEND) Die lassen die Tiere sogar in ihren Betten schlafen. FATMA (ANGEEKELT) In einem Bett? Mensch und Tier? (schaut flehend zum Himmel) Allmächtiger, gib uns Kraft. Das Taxi fährt weiter, die Kinder starren noch immer auf den Dackel.

106 DEUTSCHLAND / VOR EINER SIEDLUNG, 1970 – AUSSEN – TAG Das Taxi hält vor einer Tordurchfahrt, wo es offensichtlich nicht durch kann. Die Familie steigt aus und geht durch das Tor. Muhamed blickt hoch zu einer Mariastatue, die direkt über der Einfahrt thront. Der kleine Junge schluckt verunsichert und läuft schnell seiner Familie hinterher, die ihm bereits einige Schritte voraus ist. CUT TO: Familie Yilmaz läuft an einer Straßenfront mit Garageneinfahrten vorbei. Veli schaut total beeindruckt zu einem DEUTSCHEN, der sorgsam seinen nigelnagelneuen Mercedes Benz poliert. Veli geht zwar weiter, muss aber immer wieder zu dem Auto blicken. CUT TO: Hüseyin bleibt vor einigen sauber eingezäunten Mülltonnen stehen und zeigt stolz drauf. HÜSEYIN Und das sind Müllkisten! Da schmeißen die Deutschen den ganzen Dreck rein. Alle sehen erstaunt auf das große Ding, das so sauber und ordentlich wirkt. Fatma traut dem Ganzen nicht, sie geht hin und öffnet die Tonne. Sie macht große Augen. FATMA

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Tatsächlich! VELI Was für eine Verschwendung! Das kann man doch prima als Schrank benutzen! Hüseyin sieht seinen Sohn kopfschüttelnd an. Er geht einfach weiter. Die anderen folgen ihm schnell.

107 DEUTSCHLAND / VOR EINEM HAUS, 1970 – AUSSEN – TAG Mit ihren Koffern in den Händen geht die Familie Yilmaz in das Haus.

108 HAUSFLUR – INNEN – TAG Die Familie steigt die Treppen hoch. Es ist ein altes Haus mit sehr alten, abgenutzten Holztreppen. Die Toiletten sind noch auf dem Hausflur. HÜSEYIN (STOLZ) Das ist euer neues Zuhause. Sie erblicken eine DEUTSCHE NACHBARIN (50) in einem blauen, alten Kittel, unter dem sie nur Unterwäsche trägt. Die Frau wischt etwas lustlos den Boden, während sie Radio hört. Wir erkennen die Melodie von „Hoch auf dem Goldenen Wagen“, aber der Songtext ist auch hier „Kauderwelsch“. HÜSEYIN (BEIM VORBEIGEHEN) Sure Drag! NACHBARIN Sure Drag, Efendi Yielmatz! Döte ditte da Omska? HÜSEYIN (LÄCHELND) Jö, Jö! Fatma lächelt etwas verkrampft die Nachbarin an. Die Kinder schauen beobachtend. Dann laufen alle weiter. FATMA (SCHOCKIERT) Die Frau ist ja halbnackt!

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HÜSEYIN (ZUCKT MIT DEN SCHULTERN) Andere Länder, andere Sitten! Hüseyin reißt plötzlich eine Tür auf. Es ist eine sehr einfache, etwas schäbige Toilette. HÜSEYIN (STOLZ) Das da ist unsere eigene Toilette! Alle schauen total überrascht. Das soll eine Toilette sein? FATMA Was ist das für ein komischer Stuhl? HÜSEYIN (AMÜSIERT) Frau, das ist doch die Toilette. Da setzt man sich drauf! FATMA (SCHOCKIERT) Mit dem Po? Da drauf? Was sind das nur für Barbaren. Da sammelt sich doch bestimmt der ganze Dreck! Fatma guckt, als ob sie jeden Moment losweinen muss. Sie atmet tief aus. FATMA (ENERGISCH) Da geht keiner drauf, bis ich sie geputzt habe. Wer weiß, was für Krankheiten die Deutschen haben. Allmächtiger, stehe uns bei. Sie gehen weiter. Im obersten Stockwerk des Gebäudes angekommen, besteht ihre Wohnung aus drei Zimmern. In einem der Räume steht ein alter Eisenofen. HÜSEYIN (STOLZ) Hier können wir Wasser kochen und uns waschen!

109 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KÜCHE – INNEN – TAG Hüseyin öffnet die Tür zu einem anderen Zimmer. Die Familie beugt sich hinter ihm in den Raum, um besser zu sehen. Der Raum ist so was wie eine Wohnküche. Die Tapete ist typisch 60er Jahre.

110 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER – INNEN – TAG

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Hüseyin öffnet die Tür in das Schlafzimmer, das mit einem großen Doppelbett und einem alten Holzschrank möbliert ist. Die Familie steht wieder hinter ihm und beugt sich nach vorne, um mehr sehen zu können.

111 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KINDERZIMMER – INNEN – TAG Hüseyin öffnet die Tür zum Kinderzimmer. Der Raum ist fast leer. Hier steht nur ein Bett. Wie zuvor steht die Familie hinter Hüseyin und schaut in den Raum. HÜSEYIN (STOLZ) Das ist das Kinderzimmer! Die Kinder grinsen zufrieden. Dann fällt aber Veli auf, dass es ja nur ein Bett gibt. VELI (ENTTÄUSCHT) Sollen wir etwa zu dritt in einem Bett schlafen? HÜSEYIN Leyla schläft bei uns. Ihr beide schlaft hier in dem Bett, bis ich ein neues gekauft habe. MUHAMED Ich will nicht mit dem da in einem Bett schlafen. Hüseyin wirft seinem Sohn einen sehr, sehr strengen Blick zu, der ihn verstummen lässt. HÜSEYIN (WÜTEND) Der da ist dein Bruder! Dein Fleisch und Blut.

112 TOILETTE – INNEN – TAG Fatma ist gerade dabei, die Toilette zu putzen. Sie verzieht angeekelt das Gesicht. Vor der Tür steht Muhamed und springt von einem Bein auf das andere. MUHAMED (NÖRGELND) Putz schneller, ich muss! FATMA (WÜTEND) Halt den Mund. Ich wisch hier die Scheiße von den Deutschen auf und dir 77


ist das auch noch zu langsam. Na warte! Dir werde ich’s zeigen! Fatma erhebt sich und will gerade zu ihrem Sohn, um ihm eine runter zu hauen, als dieser die Flucht ergreift. MUHAMED Ich muss aber! FATMA Dann geh hinters Haus! Muhamed geht die Treppen langsam runter.

113 HINTER DEM HAUS – AUSSEN – TAG Muhamed kommt um die Ecke, wo ein großer Haufen mit alten Möbeln und sperrigen Holzplatten steht. Er geht zu einem etwas höher gewachsenen Busch und will gerade seine Hose aufmachen, als ein Mann aus dem zweiten Stock aus dem Fenster brüllt. Er hat eine Stoffserviette um den Hals gebunden und hält noch Messer und Gabel in der Hand. BÖSER NACHBAR Hütten Sacka de katter tattanma! Der Mann fuchtelt bedrohlich mit den Armen. Muhamed rennt, wie von der Tarantel gestochen, los.

114 HAUSFLUR – INNEN – TAG Muhamed rennt die Treppen hoch. Gerade als er im zweiten Stock angekommen ist, wird eine Tür aufgerissen und der böse Nachbar steht vor ihm. Muhamed weiß einen Moment nicht, was er machen soll. Er rennt blitzschnell an dem Mann vorbei, weiter die Treppen hoch. Dann sieht er seine Mutter, die noch immer die verdammte Toilette putzt. Muhamed schaut etwas verloren auf die Toilette, rennt dann aber weiter in ihre Wohnung.

115 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KÜCHE – INNEN – TAG Völlig außer Atem schließt Muhamed die Tür hinter sich. Er hyperventiliert und fasst sich an den Schritt, wobei er immer von einem Bein auf das andere springt.

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Er sieht die Spüle, fummelt an seiner Hose. Gerade als er den Reißverschluss endlich geöffnet hat, fällt sein Blick auf ein kleines Kruzifix, das über der Spüle hängt. Muhamed schaut den gekreuzigten Jesus schockiert an. Er sieht genau so aus, wie der Jesus aus seinem Traum.

116 TOILETTE – INNEN – TAG Fatma ist gerade dabei, eine kleine Barbiepuppe als Dekor an das Toilettenfenster zu stellen. Die Puppe hat ein selbstgestricktes Kleid an. Sie grinst zufrieden, als plötzlich der ohrenbetäubende Schrei von Muhamed zu hören ist. MUHAMED (OFF) Ahhhhhhhhhhh, Mama! Vor Schreck fällt Fatma die Puppe in die Kloschüssel. FATMA (ERSCHROCKEN) Oh, Allmächtiger. Was ist denn jetzt schon wieder!

117 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KÜCHE – INNEN – TAG Als Fatma das Zimmer betritt, sind die beiden ältesten Söhne im Zimmer. Veli lacht über seinen kleinen Bruder. VELI (LACHEND) Dieser Angsthase hat sich vor der Jesusfigur so erschrocken, dass er sich in die Hose gepinkelt hat. Fatma schaut auf die Hose von Muhamed, die bestätigt, was Veli so eben behauptet hat. Immer wieder muss der Junge würgen, als ob er sich jeden Moment übergeben müsse. MUHAMED Üäh, nehmt es weg, nehmt es weg!!! Fatma geht zu dem kleinen Kreuz an der Wand. FATMA Was ist denn das? MUHAMED Üäh, nimm es weg, üäh!

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Fatma fängt an zu lachen und nimmt die Figur von der Wand. FATMA Das ist doch nur eine Holzfigur. Veli nimmt seiner Mutter die Figur aus der Hand. VELI Das ist Jesus. Das beten die Christen an. FATMA (VERWIRRT) Die beten eine Holzfigur an? Veli nickt. FATMA Ts, was es nicht alles gibt. Allmächtiger, eine Holzfigur! Fatma schüttelt den Kopf und geht aus dem Zimmer. Muhamed steht noch immer verstört da, als Veli sich wieder über ihn kaputtlacht.

118 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KINDERZIMMER – INNEN – NACHT Veli und Muhamed liegen zusammen in ihrem Bett, wobei beide an jeweils einem Bettende sind. Muhamed zieht die Decke ganz bis unter sein Kinn, was dazu führt, dass die Decke Veli dann nur noch bis zu den Schultern reicht. Veli zieht die Decke hoch bis zu seinen Ohren, wodurch die Decke jetzt wieder Muhamed nur bis zu den Schultern reicht. Muhamed holt aus und boxt wütend auf Velis Bein.

119 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER – INNEN – NACHT Hüseyin, Fatma und Leyla liegen im Bett. Das kleine Mädchen schläft tief und fest, während die Eltern noch wach sind. (Parallel hört man, wie im Hintergrund Veli und Muhamed im Nachbarzimmer streiten und der Streit immer lauter wird.) FATMA (FLÜSTERND) Du musst morgen unbedingt einkaufen, wir haben kein Brot mehr.

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Hüseyin schüttelt verneinend den Kopf. HÜSEYIN (FLÜSTERND) Das geht nicht. Wenn ich von der Arbeit komme, sind alle Geschäfte schon zu. Du musst das machen! Fatma sieht ihn schockiert an. FATMA (LAUT) Bist du verrückt? HÜSEYIN Pscht! FATMA Du kannst mich doch nicht alleine dahin schicken. HÜSEYIN (ENERGISCH) Sollen wir morgen Abend hungern? FATMA (PANISCH) Aber, was soll ich denn sagen? Ich kann doch gar nicht ihre Sprache! HÜSEYIN Dann wird es Zeit, dass du sie lernst. VELI (OFF) Ahhhhh! Wütend wirft Hüseyin die Decke zurück und springt fluchend aus dem Bett. HÜSEYIN (ZORNIG) Diese Eselssöhne. Na wartet, euch werde ich’s zeigen. Er stampft wütend aus dem Zimmer.

120 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KINDERZIMMER – INNEN – NACHT Veli und Muhamed sind gerade dabei sich zu raufen, als sie die Schritte ihres Va-

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ters hören. In Panik legen sich die beiden schnell wieder ins Bett und ziehen sich die Decke bis über ihre Gesichter. Die Tür geht auf, der Lichtschalter wird betätigt und Hüseyin stampft wütend ins Zimmer. HÜSEYIN Ihr Zurückgebliebenen! Ich muss morgen um 6 Uhr aufstehen. Die beiden Jungs liegen unter der Decke und rühren sich nicht. HÜSEYIN Wenn ich nur noch einen Mucks von euch höre, dann schlage ich euch beide windelweich. Habt ihr mich verstanden? Die Gesichter unter der Decke nicken. Hüseyin dreht sich um und geht wieder aus dem Zimmer. Das Licht geht aus und langsam kommen sie unter der Decke hervor. MUHAMED (OFF) Das ist alles deine Schuld, du Schwachkopf. VELI (OFF) Ich? Wer hat denn angefangen? MUHAMED (OFF) Wegen dir sind wir hier! Wenn du nicht immer die Schule geschwänzt hättest, wären wir jetzt alle noch zuhause! Muhamed dreht sich nun trotzig um. Veli sieht seinen Bruder schulterzuckend an.

121 TANTE-EMMA-LADEN, 1970 – INNEN – TAG Die Eingangstür geht auf. Fatma betritt ängstlich und schüchtern den Tante-Emma-Laden. Außer ihr ist sonst kein Kunde da. Hinter dem Tresen lächelt ihr ein ÄLTERER VERKÄUFER (Mitte 50) freundlich zu. Fatma lächelt schüchtern zurück. VERKÄUFER (NETT) Nö kröte Ingste! Mö dricken nö.

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FATMA (VERLEGEN) Guten Tag! Der Mann hinter der Theke nickt freundlich. VERKÄUFER Guuuhter Tack! Fatma sieht sich in dem Laden um. Überall in den Regalen stehen Konserven oder verpackte Lebensmittel. FATMA (SCHÜCHTERN) Ich hätte gerne ein Brot! Der Mann sieht sie fragend an. Er schüttelt den Kopf. FATMA Äh... BROT? Der Mann kratzt sich am Kopf. Er geht an ein Regal, nimmt eine Konservendose heraus und hält sie ihr hin. Fatma sieht die Dose irritiert an. FATMA Aber nicht doch... BROT! Brooot! Der Mann schüttelt wieder überfordert den Kopf. VERKÄUFER Nö kröte Ingste... dricken nö! Fatma sieht sich verzweifelt um. FATMA Dann eben kein Brot! Haben sie MILCH? Fatma sieht ihn mit großen Augen an. Der Mann schüttelt erneut den Kopf, diesmal resignierter. FATMA Verdammt, der versteht aber auch gar nix! MILCH! Wieder ein ahnungsloser Blick vom Verkäufer. Fatma denkt kurz nach. Es kostet

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sie einige Überwindung, aber dann kommt ein... FATMA MUHHHHH! Muhhh! Der Verkäufer hat endlich verstanden. Er strahlt plötzlich übers ganze Gesicht. VERKÄUFER (LAUT) Metta! Jö, Metta! Der Mann greift in einen Kühlschrank und holt eine Flasche Milch hervor. Fatma schlägt glücklich die Hände zusammen. FATMA Dem Allmächtigen sei Dank! Sie kennen Milch!

122 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / KINDERZIMMER – INNEN – TAG Leyla steht am Fenster und sieht draußen Muhamed im Regen, der gerade einen Sack Müll in die Tonne schmeißt. Dann rennt er schnell wieder hoch. Etwas nass vom Regen kommt er wieder zu Leyla und gemeinsam sehen die beiden auf eine Wanduhr. Die letzten Sekunden vergehen und die Uhr springt auf Punkt 8 Uhr. Leyla und Muhamed schauen einen Moment wartend, dann biegt ein Müllwagen in ihre Straße. Fasziniert schauen sie zum Müllwagen, der vor ihrer Haustür hält. Eine Gruppe von deutschen Müllmännern ist gerade dabei, den Müll zu entsorgen. Einer von ihnen schaut zu den Kindern rauf, die aus dem Fenster die Männer beobachten und winkt ihnen. Leyla und Muhamed winken beide glücklich zurück. LEYLA Wenn ich groß bin, werde ich Müllmann. MUHAMED Du bist ein Mädchen, du kannst kein Müllmann werden. LEYLA (TROTZIG) Kann ich doch! MUHAMED Kannst du nicht. Es heißt ja auch Müllmann und nicht Müllfrau. Oder hast du schon mal eine Müllfrau gesehen?

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Leyla sagt nichts. MUHAMED Siehst du? LEYLA (TROTZIG) Ich werde trotzdem Müllmann! FATMA (OFF) Veli, Muhamed, Leylaaaa! Kommt baden! Oder wollt ihr morgen schmutzig in eure neue Schule?! Die zwei Kinder verziehen sofort das Gesicht. MUHAMED Schon wieder??? Wir waren doch erst letzte Woche!

123 SCHULHOF – AUSSEN – TAG CANAN (V.O.) Nach nur sechs Wochen wurden alle Kinder eingeschult, obwohl keiner von ihnen auch nur einen einzigen Satz Deutsch sprach. Fatma steht etwas unsicher auf dem Schulhof. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sich Veli, Muhamed und Leyla mehr oder weniger hinter der dicken Frau verstecken. Fatma drückt ihre Kinder nun alle vor sich. Eine Horde von deutschen Kindern steht ihnen spielend aber auch neugierig gegenüber. Die Kinder der Familie Yilmaz wechseln schüchterne Blicke mit den deutschen Kindern. Veli grinst ein blondes Mädchen an, was ihn keck anzwinkert. Muhamed hingegen blickt nur in das finstere Gesicht eines dicken, deutschen Jungen mit roten Haaren und fehlenden Schneidezähnen. Muhamed schluckt.

124 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / WOHNKÜCHE – INNEN – TAG Fatma hat für jedes der Kinder Schulbrote gemacht. Die Brote sind dick, sehr dick geschnitten und mit Sucuk belegt. Veli kommt in die Küche und nimmt sich seine Schulbrote. VELI (GENERVT) Ist da wieder Sucuk drauf? Fatma antwortet nicht.

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VELI Mama, Knoblauchwurst stinkt! Die deutschen Kinder machen sich schon lustig über uns! Die nennen uns Knoblauchfresser! FATMA Die sollen mal ganz ruhig sein! Die können ja nicht mal anständiges Brot backen! Ganz schwarz und sauer ist das. Pfui. Und jetzt ab in die Schule, ihr kommt noch zu spät. Veli nimmt frustriert sein Pausenbrote und geht.

125 VOR EINEM SCHAUFENSTER – AUSSEN – NACHT CANAN (V.O.) Aber neben der Knoblauchwurst gab es noch eine andere Sache, die den Kindern schmerzlich bewusst machte, dass sie keine Deutschen waren – WEIHNACHTEN! Das Schönste, was Deutschland und die westliche Kultur zu bieten hatte. Ein großer schöner Weihnachtsbaum glitzert verlockend im Schaufenster. Das schöne Lametta, die kleinen Weihnachtskugeln und die Krönung: ein wunderschön glitzernder Weihnachtsstern. Was für ein Anblick. Schön verpackte Geschenke schweben an einer Schnur um den Baum herum. Veli, Muhamed und Leyla starren das Schaufenster voller Entzückung an.

126 VOR EINEM HAUS / HAUSEINGANG, 1970 – AUSSEN – TAG Leyla sitzt, dick verpackt in Winterklamotten, mit zwei deutschen MÄDCHEN auf der Treppe vor ihrem Hauseingang. Die Kinder haben etliche Geschenke bei sich, die sie alle zu Weihnachten bekommen haben. Leyla sieht sich die BarbiePuppen, die Bücher und Hörspielkassetten sehnsüchtig an. CANAN (V.O.) Von ihren Freunden wussten Onkel Veli, Muhamed und Tante Leyla, wie die Deutschen Weihnachten feierten. Also nervten sie Oma so lange, bis

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auch in ihrem Wohnzimmer ein Weihnachtsbaum stand.

127 WOHNUNG – INNEN – NACHT Veli, Muhamed und Leyla stehen vor Fatma und schauen sie mit einem grandiosen Dackelblick an. VELI (FLEHEND) Bitte. MUHAMED Bitte! LEYLA Bitte. Fatma verdreht genervt die Augen. FATMA Also gut. Ich gehe da rein... und dann muss ich mit der Glocke läuten? VELI (AUFGEREGT) Die Geschenke! Du musst die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen und dann erst mit der Glocke läuten, O.K.? LEYLA Zuerst die Geschenke, dann mit der Glocke, O.K.? Veli wirft seiner kleinen Schwester einen genervten Blick zu. Fatma nickt müde und geht in ein Zimmer. Dann kommt sie mit einigen nicht verpackten Geschenken (Barbie-Puppe, Pullover) wieder zurück. MUHAMED (VERZWEIFELT) Oh nein, wir dürfen die Geschenke doch vorher nicht sehen! LEYLA Oh nein, wir dürfen die Geschenke doch vorher nicht sehen! FATMA (GENERVT) Dann macht eure Augen eben zu! Veli atmet genervt aus. Er schließt seine Augen. So auch Muhamed und Leyla.

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Die Drei warten einen langen Moment, bis plötzlich ein liebliches, engelhaftes Glöckchen ertönt. Ganz langsam, fast ehrfürchtig, gehen sie in das andere Zimmer und...

128 WOHNZIMMER – INNEN – TAG ... sehen einen kleinen, schiefen Tannenbaum, der einfach scheußlich aussieht. Die Geschenke darunter sind zerknittert. Das Ganze ist ein Alptraum. Veli erblickt unglücklich das Fiasko, er schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Fatma sieht natürlich, dass ihre Kinder gar nicht mit dem Ergebnis zufrieden ist. FATMA (VERTEIDIGEND) Ach, ich kann so was nicht. Wir sind doch keine Deutschen! Alle drei Kinder sehen ihre Mutter vorwurfsvoll an. Fatma schluckt. FATMA (ABLENKEND) Möchte jemand Baklava? VELI Baklava ist doof! FATMA Seit wann denn das?! Die Kinder strafen Fatma mit Ignoranz. Sie fangen an, mit ihren Spielsachen zu spielen. FATMA Dann eben nicht! Fatma setzt sich auf das Sofa und isst nun selber frustriert das Baklava. Hüseyin setzt sich zu Leyla, die mit einer blonden Barbiepuppe spielt. HÜSEYIN Ist das Kleid nicht etwas zu kurz? LEYLA (KICHERND) Nein, das ist schön so! Sie schaut ihren Vater lächelnd an. Dann fällt ihr sein Schnauzbart auf.

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LEYLA Baba, kannst du deinen Bart nicht mal wegmachen? Hüseyin sieht seine Tochter überrascht an. Fatma ebenfalls. HÜSEYIN Warum? Richtige Männer tragen immer einen Schnauzbart! Das gehört sich so! LEYLA Aber hier macht das niemand. Das ist nicht schön. Leyla spielt trotzig weiter. Sie geht mit der Puppe zu ihren Brüdern und plötzlich beginnen auch die Kinder untereinander Kauderwelsch zu reden. LEYLA Tatannma hütten sacka! MUHAMED Krucksta Motta! Hüseyin sieht seine Kinder fast schockiert an. Er erhebt sich frustriert, geht zum Fenster und öffnet es. Er blickt lange raus in die Nacht, wo nichts ist. Dann, aus der Ferne, hört Hüseyin die typischen Geräusche aus Istanbuls Straßen (akkustischer Effekt): Autos, Hupen, bellende Hunde, Musik, Menschen die sich unterhalten etc.

129 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER, 1972 – INNEN – TAG Fatma liegt im Bett, während ein DEUTSCHER ARZT (40) seinen Arztkoffer wieder schließt. Leyla sitzt unglücklich neben ihr auf dem Bett. Fatma sieht ihre Tochter und den Arzt beunruhigt an. FATMA Was hat er gesagt. Habe ich etwas Schlimmes? LEYLA (ZUM ARZT)

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Sübke söre? Der Arzt nickt. Fatma schaut zwischen ihrer Tochter und dem Arzt hin und her. FATMA Nun sag doch schon! LEYLA (SAUER) Du bekommst noch ein Baby! Fatma sieht ihre Tochter etwas verwirrt an. FATMA Ein Baby? Der Arzt nickt freudig. ARZT JÖ, Böbü! Verengstee dötten mockat se! Fatma sieht den Arzt fragend an. Er sieht in sein kleines Langenscheidt-Büchlein. ARZT Ähm... sie sein schwanger... im vier Monat! Der Arzt lächelt sie an. Fatma muss aufgeregt lachen. FATMA Allmächtiger! Ein Baby! ÜBRBLENDUNG:

130 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ – INNEN – TAG Man sieht das Gesicht des nigelnagelneuen, schreienden Babys. CANAN (V.O.) Und dann wurde dein Vater geboren. Er war der Erste aus unserer Familie, der in Deutschland auf die Welt kam.

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Die ganze Familie Yilmaz hat sich versammelt, um das neue Weltwunder zu begrüßen. Fatma hält den weinenden Säugling in den Armen. MUHAMED Das ist ein echter Deutscher. Sieht auch aus wie einer! Echt hässlich! Die anderen Kinder lachen. VELI Den lassen wir auch nicht beschneiden. FATMA Allmächtiger. Natürlich wird er beschnitten, was du immer für einen Unsinn redest. Großaufnahmen von dem zufrieden guckenden Baby. CENK (LACHEND) (OFF) War er wirklich so hässlich?

131 FLUGHAFEN / AUSGANG – AUSSEN – TAG Die Familie läuft gerade aus dem Flughafen. VELI Natürlich... schau ihn dir doch an... der sieht doch heute noch hässlich aus! Alle müssen lachen, nur Hüseyin ist in Gedanken schon woanders. Er bleibt stehen und sieht sehnsüchtig in die Ferne. HÜSEYIN (LÄCHELND) Wir sind da... Erst jetzt realisieren auch die anderen, dass sie tatsächlich schon auf türkischem Boden stehen. Auch sie hören kurz mit dem Packen auf und sehen sich um. Hüseyin lächelt, dann macht er einen tiefen Atemzug und schließt genussvoll die Augen. HÜSEYIN (GLÜCKLICH) Türkiye! Sogar, die Luft riecht hier anders.

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Canan sieht ihn überrascht an, sie scheint nichts Besonderes zu riechen. Ein stinkiger, alter Lastwagen fährt gerade jetzt an beiden vorbei und hinterlässt eine dunkle Abgaswolke. Cenk steht daneben und tut nun ebenfalls einen tiefen Atemzug. Er verzieht das Gesicht. HÜSEYIN (GLÜCKLICH) Ich hole das Auto! Siz bekleyin! Hüseyin geht, ohne auf die anderen zu warten, davon. Ali schaut ihm verwirrt nach. ALI Soll ich mitkommen? HÜSEYIN (BEIM WEGGEHEN) Nein, bin gleich zurück. ÜBERBLENDUNG: Die ganze Familie Yilmaz schaut überrascht, als direkt vor ihnen ein „Dolmus“ hält aus dem laute türkische Musik dröhnt. Hinterm Steuer sitzt Hüseyin und grinst bis über beide Ohren. Als sich die Wagentüren öffnen, rennt Cenk als Erster rein. Hüseyin steigt aus. Die Koffer werden gerade verstaut, als Fatma Ali einige Briefe in die Hand drückt, während sie die Pässe und anderen Dokumente wieder in ihrer Handtasche verstaut. Ali schaut plötzlich total überrascht auf den Brief in seiner Hand. ALI Hier steht ja, dass ihr ins Schloss Bellevue eingeladen seid??? Zu einem Gartenempfang, unter dem Motto „Deutschland sagt Danke“? Hüseyin wirft Fatma einen giftigen Blick zu, aber diese isst unbeeindruckt ihren Apfel weiter. HÜSEYIN Ich geh da nicht hin. ALI (LACHEND) Da steht, dass die Bundeskanzlerin anwesend sein wird! Und dass sie sich freuen würden, wenn du als 1.000.001ster Gastarbeiter etwas zum Anlass sagen würdest. GABI Ne, das glaub ich nicht! Zeig mal her!

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Gabi liest den Brief, sie grinst breit. Jetzt schauen auch die anderen Geschwister interessiert. GABI Gibt’s ja nicht! Opa wird vor der ganzen Nation sprechen!!! Hüseyin sieht sich mulmig um. HÜSEYIN Ich sag gar nix! GABI Aber wieso, ist doch ein prima Anlass, auch mal was zu kritisieren, Hüseyin. Jetzt nimmt auch Muhamed den Brief in die Hand und liest. Er hat kaum angefangen, da reißt ihm Veli ihn grob aus der Hand. VELI Ich geh für dich da hin! Ich weiß schon, was ich denen erzähle! Veli liest und muss nun auch grinsen. Muhamed wirft ihm giftige Blicke zu. MUHAMED Niemanden interessiert, was DU zu sagen hast! Baba ist eingeladen! VELI Halt mal die Luft an! HÜSEYIN Kesin ulan! Ich geh nix hin, und fertig! Hüseyin steigt entschieden in den Bus. Die Anderen folgen ihm. GABI (AUFGEREGT) Das wird bestimmt auch im Fernsehen übertragen. Gabi zwinkert Cenk fröhlich zu. GABI Jetzt werden Oma und Opa noch auf ihre alten Tage berühmt. FATMA (ERSCHROCKEN)

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Was? Nein, ich nix Fernsehen! ALI (SCHNELL) Gut, dann geh ich mit! VELI Wieso denn du? Ich bin der Älteste. LEYLA Ich dafür die Fotogenste! Baba, du musst dir gut überlegen, was du sagen willst! Hüseyin wird allmählich selbst ganz nervös. HÜSEYIN (GENERVT) Ach was, ich sag irgendwas. Das kein Problem. Für einen Moment sind alle mucksmäuschenstill. Alle denken das Gleiche, aber niemand traut sich, es auszusprechen. HÜSEYIN (WÜTEND) Was? Ihr denken, ich kann nicht reden vor allen. Mein Deutsch ist besser als Türkisch von meiste Deutschen. Pah! Wieder Stille. HÜSEYIN Allah askina birakin. Söyliyecek birsey bulurum! Simdi kafami sisirmeyin. Tatildeyiz! Um Allahs Willen, das ist doch keine große Sache! Ich werd mir schon was überlegen und jetzt nervt mich nicht weiter. Wir sind jetzt im Urlaub! Hüseyin steigt ganz demonstrativ in den Wagen. Schluss mit der Diskussion.

132 FAHRENDER BUS – INNEN – TAG Hüseyin sieht strahlend aus dem Fenster, er zeigt Cenk etwas, an dem sie vorbei fahren. Leyla und Muhamed reden und lachen. Fatma schält eine Gurke, viertelt sie und verteilt sie an alle. Cenk isst Gurke. Canan lehnt Gurke ab. Sie schaut in Gedanken aus dem Fenster.

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133 LANDSTRASSE – AUSSEN – TAG Der Dolmus fährt vorbei an Maisfeldern.

134 RESTAURANT – AUSSEN – TAG Der Bus hält an einem Restaurant, das direkt an der Landstraße liegt. Alle steigen müde aus dem Wagen. Ein kleiner SIMITVERKÄUFER (9) kommt schnell zu ihnen gelaufen. Er trägt ein Tablett mit Sesamringen (Simits) auf dem Kopf. Der Junge ist ordentlich, aber ärmlich angezogen (kurze Hose und ein Hemd). Seine Haare sind durcheinander, aber er hat dieses Strahlen im Gesicht. SIMITVERKÄUFER Gel abi, azina giren en lezetli simitleri al! SIIIMIIITTT. Komm Bruder, iss die besten Simits, die deine Zunge je probiert hat. SIIIMIIITTT. Der Junge geht sofort zu Hüseyin, der ihn nett, aber auch etwas melancholisch anlächelt. HÜSEYIN Tamam! Ver bakalim 10 tane! O.K., nehme zehn! Der kleine Simitverkäufer strahlt übers ganze Gesicht. SIMITVERKÄUFER 10 tane mi? Zehn? Hüseyin nickt nur. Der kleine Simitverkäufer nimmt schnell das Tablett vom Kopf und fängt an, zehn abzuzählen. Cenk schaut dem Jungen fasziniert zu. CUT TO: Gabi und Ali stehen etwas abseits und beobachten das Ganze. ALI Er sollte dem Jungen nichts abkaufen. So unterstützt man nur, dass seine Eltern ihn weiter arbeiten lassen. GABI Wahrscheinlich geht’s ohne nicht... wer schickt schon freiwillig seine Kinder arbeiten?

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ALI Trotzdem, Kinder sollten kein Geld verdienen müssen. CUT TO: Der kleine Simitverkäufer überreicht Hüseyin die Simits in einer selbstgemachten Tüte aus Zeitungspapier. Hüseyin gibt ihm im Gegenzug das Geld. Dann überreicht der kleine Junge Hüseyin noch einen Bonus-Simit. SIMITVERKÄUFER Buyrun Amca, buda bende sana hediye! Hier Onkel, der ist von mir für dich! Hüseyin schaut den kleinen Jungen plötzlich sehr gerührt an. Er nimmt den Simit nickend an. HÜSEYIN Sag ol!! Danke! Hüseyin schaut den Jungen einen langen Moment an. Er zündet sich erneut eine Zigarette an.

135 RESTAURANT – AUSSEN – TAG Die komplette Familie Yilmaz sitzt zusammen im Schatten und isst hungrig. Neben Fatma und Hüseyin sitzt auch der kleine Simitjunge und isst schüchtern mit. Nur Ali hat nichts vor sich und schaut skeptisch auf Gabis große Fischplatte. ALI (BEUNRUHIGT) Man soll doch an diesen Raststätten nix essen. GABI Ali! Jetzt aber! Das ist doch total lecker! Gabi isst genüsslich den Fisch und langsam läuft auch Ali das Wasser im Mund zusammen. Als der Kellner kommt, um Getränke abzustellen, ergreift er die Chance. ALI Bakarmisin, bana da bir balik ver...lütfen!

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Entschuldigung, geben sie mir auch einen Fisch... bitte! Gabi grinst kurz, sagt aber nicht. Veli sieht den kleinen Jungen grinsend an. VELI Büyüdüyünde ne olmak istiyorsun? Weißt du schon, was du werden willst, wenn du mal groß bist? Die anderen sehen Veli leicht vorwurfsvoll an. VELI Was denn?! Jeder kann alles erreichen! SIMITVERKÄUFER Fark etmez. Is olsun yeter! Egal, Hauptsache Arbeit. Die, die das verstanden haben, lächeln etwas verkrampft. Ali bekommt seine Fischplatte, die er hungrig zu essen beginnt. Er sieht fast ein wenig stolz dabei aus. GABI Und? ALI Hm... das ist wirklich gut. Gabi nickt. Sie lächeln sich kurz an. Der Simitverkäufer sieht Cenk neugierig an. SIMITVERKÄUFER Sen kacinci sinifa gidiyorsun? In die wievielte Klasse gehst du? Cenk schaut beschämt zu Boden. ALI (SCHMATZEND) Warum sagst du denn nichts? Du kannst doch Türkisch! Oglum, niye türkce konusmuyorsun? Cenk schüttelt nur den Kopf. Einige Familienmitglieder sehen sich ratlos an. Vor allem Hüseyin wirkt ein wenig traurig.

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SIMITVERKÄUFER Türkce bilmiyormu? Fark etmez. O almanca biliyorya! Bende biraz almanca biliyorum! Hallo komm, du kaufen Simit, sehr lecker! Kann er kein Türkisch? Macht nichts, dafür kann er Deutsch, oder? Ich kann auch Deutsch! Cenk irritiert die Konfrontation mit dem Jungen sehr. ÜBERBLENDUNG: Hüseyin ist gerade dabei, die Rechnung zu bezahlen. Der Kellner gießt jedem der Gäste noch „Kolanya“ (türkisches Erfrischungsparfüm) in die Hand. Hüseyin sieht seine Familie einen Moment wortlos an. Dann drückt er dem kleinen Simitverkäufer eine Digitalkamera in die Hand. HÜSEYIN Gel bakalim oglum. Hadi bizim fotorafimizi cek. Hier mein Sohn. Mach bitte ein Foto von uns. Der Junge nickt begeistert. Fatma ist etwas irritiert. FATMA Simdi fotoraf da nerden cikdi? Üstümüze basimiza bak! Hic derli toplu deyilizki! Jetzt? Ein Foto? Aber wir sind doch gar nicht zurecht gemacht. HÜSEYIN Dahada güzel olsan o zaman kimbilir birileri kacirmaya kalkar, vallahi! Wenn du noch hübscher wärst, dann müsste ich ja Angst haben, dass du von einem anderen entführt wirst. Alle schauen etwas überrascht. Besonders Fatma. Plötzlich müssen die Kinder über ihren Vater lachen. Ali übersetzt schnell für Gabi, was Hüseyin gesagt hat. GABI Oh, ich sehe schon. Die türkische Luft bekommt dir. Fatma schüttelt verlegen den Kopf. FATMA Dieser Mann! Allahim, gib mir Kraft. Der Junge baut sich in entsprechender Entfernung auf.

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SIMITVERKÄUFER Hadi bakalim. Hepiniz gülümseyin. Allah gülmeyen isanlari sevmez! Jetzt alle schön lächeln. Allah mag niemanden, der nicht lächelt. Alle lächeln und... klick, das Foto ist gemacht. Die Anderen gehen wieder Richtung Bus, wobei Ali sich unwohl an den Bauch fasst. ALI Irgendwie... ist mir übel! Alle sehen überrascht zu Ali. Gabi denkt kurz nach. GABI Ich hab für Cenk Zäpfchen dabei... willst du? Ali wirft Gabi einen völlig irritierten Blick zu, dann stürmt er plötzlich ins Gestrüpp und übergibt sich augenblicklich. Gabi muss kichern. Alle anderen verziehen kurz angeekelt das Gesicht. Gabi fängt an, nach Medikamenten zu suchen und findet eine Packung. Sie geht Ali hinterher. GABI (RUFEND) Vielleicht doch eins? ALI (OFF) NEIN! Der Simitverkäufer reicht Hüseyin den Fotoapperat. Cenk steht neben seinem Opa und schaut dem Simitverkäufer aufmerksam zu. Der Simitverkäufer reicht Hüseyin zum Abschied die Hand. Noch bevor sie fertig sind, reicht ihm auch Cenk schnell die Hand. Die beiden Jungs lächeln sich einen Moment nett zu. SIMITVERKÄUFER Sag ol amca, yemek icin. Allah her zaman yardimcin olsun! Danke Onkel für das Essen. Möge Allah dein Wegbegleiter sein. HÜSEYIN Senin de. Kücük adam! Deiner auch, kleiner Mann. SIMITVERKÄUFER Alasmaladig! Auf Wiedersehen, mach’s gut! HÜSEYIN

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Güle, güle! Auf Wiedersehen. CENK (LEISE) Güle, güle. Hüseyin bemerkt glücklich, dass sein Enkel gerade Türkisch gesprochen hat. Cenk und Hüseyin sehen dem Simitverkäufer bewundernd dabei zu, wie er das Tablett mit den Simits auf seinen Kopf setzt und geht. Der Junge winkt ihnen. Cenk winkt zurück. Hüseyin schaut Cenk einen langen Moment an. HÜSEYIN (FLÜSTERND) Cenk, komm mit. Cenk sieht seinen Opa kurz fragend an. ÜBERBLENDUNG

136 RESTAURANT / AN EINEM OBSTSTAND – AUSSEN – TAG Nicht weit weg von ihnen steht Canan mit ihrer Mutter Leyla, die sich gerade heimlich eine Zigarette anzündet. Sie versteckt sich halb hinter dem Obststand, damit Hüseyin und Fatma sie nicht sehen. Canan steht dabei und wedelt den Qualm weg. CANAN Mama? Leyla macht einige tiefe Züge. LEYLA Hm? Canan sieht sie kurz angespannt an, sie atmet tief aus, sie wird es ihr nun sagen. CANAN Ähm... ich, die letzten Wochen waren ziemlich... ereignisreich. Leyla sieht Canan nichts ahnend an, als plötzlich ein Müllwagen vor den beiden entlang fährt und stoppt. Zwei MÜLLFRAUEN springen hinten ab und fangen an, die Mülltonnen zu entleeren. Leyla sieht die beiden mit offenem Mund an. LEYLA

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Das gibt’s doch nicht. Müllfrauen! Und das hier! (eilig) Wo ist Muhamed? CANAN Wieso? Was ist denn? Leyla drückt die Zigarette eilig aus und hastet davon. LEYLA Das erklär ich dir später. (ruft) Muhamed? Muhamed! Hier gibt es Müllfrauen! Sie stürmt davon, um Muhamed die Müllfrauen zu zeigen. Canan sieht ihrer Mutter frustriert nach. Sie atmet erschöpft aus.

137 RESTAURANT / BARBERSHOP – AUSSEN – TAG Hüseyin sitzt in einem typisch türkischen BERBER, einem Friseursalon für Herren. Hüseyin wurde gerade fertig rasiert und steht nun auf. Gleich nach ihm setzt sich nun Cenk auf seinen Platz zu dem Barbier, der tatsächlich auch sein Gesicht einschäumt. HÜSEYIN Ich fange an, ja? Cenk nickt. HÜSEYIN Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Mitbürger! Hüseyin sieht erwartungsvoll zu seinem Enkel, war das richtig? Cenk nickt vorsichtig. Der Barbier tut so, als würde er ihn ebenfalls rasieren, wischt aber nur mit einem Plastikmesser den Schaum weg. HÜSEYIN Ich danke ihnen viel, dass sie mich haben hier eingeladen. Cenk muss lachen. Er haut sich gegen den Kopf. CENK Das heißt sehr! Ich danke ihnen sehr, man Opa! HÜSEYIN (ROLLT MIT DEN AUGEN)

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Ja ja. Schon wieder vergessen. Also, ich danke ihnen sehr. Hüseyin denkt einen Moment nach. Er scheint, den Faden verloren haben. HÜSEYIN Was wollte ich nochmal sagen? (auf Deutsch) Ach, weißt du was? Ich sag einfach zu Bundeskanzlerin: Hey Angela, wo Problem. Ich komme aus dem Osten und du auch! Wir beide gleich: Ossis! (lacht) Oder, vielleicht besser ich sollte singen. Hüseyin verändert sofort seine Position, hebt die Arme zum Tanz und singt los. HÜSEYIN Dam üstünde, o neler, dam üstünde, o neler.... Er trällert ein türkisches Volkslied, was die prallen Brüste einer Frau besingt. Cenk lacht sich tot über seinen Opa. Der Barbier hat ihn nun fertig „rasiert“ und wischt mit einem Tuch den restlichen Schaum weg. CENK Opa, warum tanzt du denn so. Du bist doch keine Frau! HÜSEYIN Oglum, bizim kültürde Erkekler de oynar. Hemde böyle, kollari kaldiralak! Koc gibi! Hadi, sende oyna! Kind, in unserer Kultur tanzen die Männer auch. Und zwar so, mit gehobenen Armen. Stolz! Los, tanz mit. Hüseyin hebt wieder die Arme, singt weiter und tanzt. Der Barbier dreht sein Radio lauter und ein schönes, traditionelles Lied ertönt. Cenk überlegt kurz, dann steht er auch auf, stellt sich seinem Opa gegenüber, hebt seine kleinen Arme und macht es ihm nach, muss aber immer wieder lachen, weil er sich so doof vorkommt.

138 RESTAURANT / BUS – AUSSEN – TAG Mittlerweile finden sich alle wieder am Bus ein. Ali wirkt nun wieder etwas fitter. Er hat ein feuchtes Handtuch auf der Stirn. Fatma sieht besorgt zu ihrem Jüngsten. Gabi reicht ihm nett ein Wasser. Ali nimmt es dankend an. Leyla und Muhamed kommen dazu. Leyla ist noch immer ganz euphorisch über die Müllfrauen.

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LEYLA Töhbe, da muss ich erst in die Türkei kommen, um Müllfrauen zu sehen! Sie lachen. Hüseyin kommt mit Cenk ebenfalls dazu, als ihm auffällt, dass Canan fehlt. Er sieht sich um. HÜSEYIN Ich komm gleich... geht ruhig schon in Auto! Die anderen nicken. Hüseyin geht wieder Richtung Obststand, als er von dort endlich sieht, wie Canan im Schatten unter einem Baum sitzt... total in Gedanken versunken. HÜSEYIN Canan? Canan erschrickt kurz und will schon wieder aufstehen. CANAN Geht’s weiter? HÜSEYIN Keine Eile, wir haben Zeit. Hüseyin setzt sich nun einfach direkt neben seine Enkelin. Ihnen gegenüber sitzt eine türkische Frau mit Kopftuch und einem Kleinkind auf dem Arm. Hüseyin sieht der Frau zu. HÜSEYIN Annenin haberi varmi? Weiß deine Mutter es schon? Canan sieht ihren Opa schockiert an. Hüseyin sieht sie nun ebenfalls an. Er wirkt ganz ruhig. Canan schluckt schwer, sie versucht zu überspielen. CANAN Was... was meinst du denn?! Hüseyin sieht seine Enkelin an. HÜSEYIN

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Nenen 4 cocuk dogurdu. Ben bu islernden anlarim! Baskalari görmiye bilir ama ben görüyorum! Deine Oma hat vier Kinder bekommen! Ich weiß, wie sich sowas ankündigt! Canan sieht auf den Boden. Sie schüttelt den Kopf. Tränen kullern ihr über die Wange, die sie schnell wegwischt. HÜSEYIN Evli deyilsin. Üniversteyide daha bitirmesin. Biraz daha bekleseydin yani olmazmidi? (Canan uzunca bakiyor) Ama ne yapalim. Hayat isde! Önemli olan cocugu babasiz birakmaman. Bir babasi var, demi? Du bist nicht verheiratet! Dein Studium hast du auch noch nicht beendet. Du hättest dir mehr Zeit lassen sollen! HÜSEYIN (PAUSE) Aber gut. Hauptsache, du lässt das Kind nicht ohne Vater! Es gibt doch einen Vater?! Canan nickt nun. CANAN (SCHLUCHZEND) Aber er ist kein Türke! HÜSEYIN Zatan öyle birsey düsünmüsdüm! Das hab ich mir schon gedacht. CANAN Er ist Engländer! Hüseyin sieht seine Enkelin überrascht an. HÜSEYIN Engländer? Dann schüttelt er lächelnd den Kopf. HÜSEYIN Ingiliz mi? Bare Alman olsaydi! Aman...bosver! Önemli olan siz ikiniz birbirinizi sevip ve sagmaniz! Hätte es denn nicht wenigstens ein Deutscher sein können? Ach, egal! Hauptsache, ihr wisst einander zu schätzen.

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Er sieht Canan direkt an. Canan weiß gar nicht, was sie sagen soll, dann nickt sie. Plötzlich hupt es. Canan sieht Hüseyin unsicher an. Hüseyin nimmt sie fest in den Arm und flüstert ihr noch schnell ins Ohr. HÜSEYIN Bak, fazla bekleme ve annene söyle! Warte nicht zu lang, es deiner Mutter zu sagen! Canan nickt dankbar, als ein zweites Mal die Hupe ertönt. HÜSEYIN Geliyoruz! Tamam! Langsam! Hüseyin wischt Canan die Tränen weg, dann stehen sie gemeinsam auf und gehen zusammen zurück zum Bus, wo alle schon warten. Einen Moment wird Hüseyin so schwindelig, dass er sich kurz an Canan festhalten muss. CANAN (BESORGT) Geht’s dir nicht gut? Hüseyin schüttelt schnell den Kopf. HÜSEYIN Nur die Hitze... alles gut. Hüseyin lächelt wieder und geht weiter.

139 FAHRENDER BUS – INNEN – TAG Alle sitzen wieder im fahrenden Bus. Canan sitzt etwas verunsichert neben ihrer Mutter Leyla und lächelt sie schüchtern an. Hüseyin hat Cenk auf seinem Schoß. Er sieht rüber zu Canan und zwinkert ihr zu. VELI Baba, weißt du nun, wen du zu diesem Empfang mitnimmst? Hüseyin sieht fragend zu Fatma, sie schüttelt entschieden den Kopf. FATMA Ich geh nicht ins Fernsehen!

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HÜSEYIN Dann kommt Cenk mit. Alle sehen Hüseyin irritiert an. LEYLA Cenk? HÜSEYIN Warum nicht?! Alle wirken ein wenig enttäuscht, aber Cenk und Hüseyin grinsen sich glücklich an. Cenk schaut zufrieden aus dem Fenster. Er sieht die vielen Olivenbäume. CENK Hier sieht es wirklich ganz anders aus!

140 STRASSE AN OLIVENHAINEN – AUSSEN – TAG Der Bus fährt noch immer vorbei an endlosen Olivenplantagen.

141 FAHRENDER BUS – INNEN – TAG Ali sitzt am Steuer. Neben ihm Gabi, die eine Landkarte vor sich hält und immer wieder irritiert auf die Straße sieht. FATMA Meine Beine sind schwer wie Steine, vallahi! CENK Sind wir endlich da? Mir ist langweilig! Fatma reicht dem Jungen augenblicklich ein Börek. Cenk sieht das Börek gelangweilt an. Hüseyin sieht seinen Enkel an. Er winkt ihn zu sich. HÜSEYIN Cenk... willst du noch Rest von Geschichte hören? Cenk dreht sich überrascht zu ihm.

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CENK Geht’s noch weiter? HÜSEYIN (FRÖHLICH) Natürlich! Canan? Hüseyin sieht Canan auffordernd an. Sie wirkt überrascht, sieht dann zu Cenk. CANAN Soll ich? Cenk nickt sofort. Canan lächelt ihn an. CANAN O.K! Wo war ich denn... also, unsere Familie lebte bereits in Deutschland und war seitdem nicht zurückgekehrt. Erst nach drei Jahren fuhren sie zum ersten Mal wieder in die Türkei.

142 WOHNUNG FAMILIE YILMAZ / SCHLAFZIMMER, 1973 – AUSSEN – TAG Fatma sitzt auf einem riesigen Koffer und versucht, das Ding irgendwie zu schließen, als Hüseyin dazu kommt. Sie sieht ihn mit einem Dackelblick an. FATMA Hüseyin? Hüseyin drückt nun ebenfalls mit. HÜSEYIN (GENERVT) Verdammt Frau! Ich hab doch gesagt, pack nur das Nötigste! FATMA (UNSCHULDIG) Ich hab keine Unterhose mehr eingepackt, als unbedingt nötig! Hüseyin sieht Fatma skeptisch an und öffnet den Koffer. Zum Vorschein kommen Berge von Schokolade, Gummibärchen, Strumpfhosen, Niveacreme und Shampoo. Hüseyin nimmt die Sachen genervt wieder raus. Fatma räumt sie schnell wieder ein. HÜSEYIN Hast du noch irgendetwas im Supermarkt zurückgelassen? Was das wieder

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gekostet haben muss! FATMA Es war im Angebot! Außerdem warten alle Verwandte auf Geschenke aus Deutschland! Sollen wir mit leeren Händen kommen? Sie werden denken, wir seien geizig! HÜSEYIN Als würde hier das Geld auf den Bäumen wachsen! Pah! Hüseyin schnaubt, als genau in diesem Moment noch Muhamed herein stürmt. Er zieht eine kleine Flasche Cola, die er versteckt hat, unter seiner Jacke hervor und reicht sie seinem Vater. MUHAMED (FLÜSTERND) Steck sie ganz unten rein... damit die da (er zeigt raus aus dem Zimmer) sie nicht finden! HÜSEYIN (VERÄRGERT) Was willst du mit einer einzigen Flasche, du Holzkopf! Wir sind zu sechst! (enttäuscht) Willst du sie etwa alleine trinken und deine Geschwister zusehen lassen? Hab ich dir das so beigebracht? Hüseyin ist kurz davor, die Flasche wegzuschmeißen, als Muhamed ihn an der Hand hält. MUHAMED (FAST HEULEND) Aber sie ist doch für Emre! Ein Geschenk! Ich hab’s ihm versprochen, bitte Baba! Hüseyin schaut gerührt. HÜSEYIN Ein Geschenk für deinen Freund? Muhamed nickt. HÜSEYIN Na schön! Wenn du es ihm versprochen hast... Versprechen muss man halten! Er quetscht die Cola in den ohnehin überfüllten Koffer.

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143 FAHRENDES AUTO, 1973 – AUSSEN – TAG FATMA (OFF) Bismillah... möge Allah seine schützende Hand über uns halten und uns heil und gesund in der Heimat ankommen lassen! Das Auto fährt gerade mal 50 Meter. VELI (OFF) Sind wir schon da? HÜSEYIN (OFF) Du Sohn eines Esels! Wir sind doch erst vor zwei Minuten losgefahren! In drei Tagen sind wir da! Das Auto fährt weiter, hält an einer Ampel. VELI (OFF) Was??? So lange??? Wieso fliegen wir nicht wieder? Ich will nicht fahren! HÜSEYIN (OFF) Na warte! Dir zeig ich, fliegen! FATMA (OFF) Hüseyin, jetzt reg dich doch nicht auf! Du bist schlimmer als die Kinder, vallahi! Jetzt fahr schon weiter! Das Auto fährt rasant weiter. Wenige Sekunden später. LEYLA (WEINERLICH) (OFF) Ich muss Pipi! Ich kann nicht drei Tage warten!

144 COLLAGE, 1973 – INNEN / AUSSEN – TAG / NACHT In den Reflexionen der Wagenfenster sieht man die 3-tägige Autofahrt. Sie fahren durch Österreich, Ex-Jugoslawien, Bulgarien. Sie machen immer wieder Rast, wo Fatma auf einem Picknick-Gasbrenner Tee kocht und Rühreier mit Sucuk brät, was die Familie anschließend hungrig verschlingt. Sie fahren weiter. Geraten in einen unendlich langen Stau, wo zig andere türkische Familien, vollbepackt bis zum Gehtnichtmehr, ebenfalls im Stau stehen.

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CANAN (OFF) Auch wenn sich auf den ersten Blick gar nicht viel verändert hatte, wurde schon bald klar, dass sich eigentlich alles verändert hatte... WIR hatten uns verändert.

145 BARACKE ISTANBUL / PLUMPSKLO – INNEN – TAG Veli sieht verstört auf das kleine Loch in dem betonierten Boden, der als Toilette dienen soll. Neben dem Loch ein Wasserhahn auf Bodenhöhe, darunter ein Behälter mit Wasser. Statt Klopapier! Hinter ihm steht Fatma. Auch sie sieht das Loch mit Unbehagen an. VELI Da soll ich reinkacken? Fatma haut Veli auf den Hinterkopf. FATMA Spricht man so? Was stellst du dich so an! Du kennst es doch noch von früher! Veli schüttelt den Kopf. VELI Da kack ich nicht drauf! Da kack ich lieber auf die Straße! Veli macht kehrt und rennt weg. Fatma sieht ihrem Sohn kopfschüttelnd nach. FATMA (LAUT) Untersteh dich, du Sohn eines Esels! Fatma sieht das Klo einen Moment an. Auch sie verzieht kurz angeekelt das Gesicht, geht dann aber rein.

146 STRASSE VOR DER KLEINEN BARACKE, 1973 – AUSSEN – NACHT Muhamed sitzt mit Emre auf der Straße. Er hält ihm die Cola-Flasche stolz unter die Nase.

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MUHAMED (STOLZ) Für dich! Aus Deutschland! Emre sieht die Flasche enttäuscht an. MUHAMED Das ist Coca Cola, Mann! Echte deutsche Cola! Emre sieht Muhamed enttäuscht an. EMRE Nur eine Flasche? Das ist alles? Muhamed sieht seinen Kumpel fassungslos an. MUHAMED Sohn eines Esels, weißt du, wie schwer es war, die hierher zu schleusen??? Emre sieht Muhamed beleidigt an. EMRE Kemal hat von seinem Cousin aus Deutschland ein ferngesteuertes Auto bekommen... und du Geizhals schenkst mir nur eine Flasche? Das ist alles was ich bekomme? Ihr habt soviel Geld da drüben, da hättest du mir zumindest einen ganzen Kasten mitbringen können! Emre steht auf, drückt Muhamed die Flasche wieder in die Hand und geht beleidigt weg. Muhamed sieht seinem Freund fassungslos nach. Er hat Tränen in den Augen.

147 BARACKE ISTANBUL – INNEN – NACHT Die gesamte Familie Yilmaz sitzt gemütlich vor einem kleinen SchwarzweißFernseher, als Muhamed verheult das Haus betritt. Fatma sieht ihren Sohn besorgt an. FATMA Was ist denn mit dir los??? War Emre nicht da? Hüseyin sieht die Flasche in seiner Hand. Muhamed heult los. MUHAMED Er wollte lieber ein ferngesteuertes Auto! Dabei hab ich ja nicht mal selbst

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eins! Er sagt, ich bin geizig! Fatma zieht Muhamed an sich und streichelt ihm über den Kopf. HÜSEYIN Das ist ja unmöglich! Jetzt fangen die Kinder auch schon so an! Pah! Es zählt nur noch Geld, Geld, Geld! Als hätten wir in Deutschland alle einen Goldesel zu Hause, der Münzen scheißt! FATMA Hüseyin! HÜSEYIN Na ist doch wahr! Hüseyin stampft wütend aus dem Raum. Fatma bleibt mit den Kindern vor dem Fernseher.

148 BARACKE ISTANBUL / PLUMPSKLO – INNEN – NACHT Hüseyin sitzt gerade über seinem Plumpsklo, als plötzlich die kleine Glühbirne, die von der Decke hängt, ausgeht. HÜSEYIN (WÜTEND) (OFF) Heee! Veli, Muhamed... macht sofort das Licht wieder an! Plötzlich hört man ein Gerumpel vor der Tür. FATMA (OFF) Stromausfall. Seufzen von Hüseyin. HÜSEYIN Diese verfluchten Hurensöhne! Wir zahlen für den Strom und die schalten ihn an und aus, wie sie lustig sind! Das ist der zweite Ausfall diese Woche, verflucht! CANAN (V.O.) Es waren nur Kleinigkeiten, aber sie läpperten sich und führten dazu, dass Opa, ganz anders als geplant...

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149 STRASSE VOR HAUS FAMILIE YILMAZ – AUSSEN – TAG Hüseyin, Fatma und alle anderen Familienmitglieder schauen zu etwas hinauf, was wir aber noch nicht sehen können. CANAN (V.O.) ... ein Haus in Deutschland kaufte, und nicht in der Türkei.

150 FAHRENDER BUS – INNEN – TAG Cenk schaut nachdenklich. CENK Ist es das Haus, wo jetzt alle wohnen? Canan nickt. CENK (NACHDENKLICH) Wie viele Jahre ist Opa schon in Deutschland? CANAN Fast 45! Cenk denkt nach. CENK Warum reden Dede und Nene dann so schlecht Deutsch? Plötzlich müssen alle laut lachen. Cenk schaut sich überrascht, aber glücklich um. Nur Hüseyin hört man nicht. Canan dreht sich zu ihm um, als sie sieht, wie er mit geschlossenen Augen an der Fensterscheibe lehnt. Ihr Gesicht wird plötzlich ernst. Sie schüttelt Hüseyin sanft. CANAN Dede? (etwas lauter) Dede? Muhamed, der hinterm Steuer sitzt, schaut nun ebenfalls zu Hüseyin.

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MUHAMED (BESORGT) Baba? Schläfst du? FATMA Hüseyin!

151 STRASSENRAND / SONNENBLUMENFELD – AUSSEN – TAG ZEITLUPE: Die Geräusche sind stark verblasst. Ein starker Wind zieht plötzlich wieder auf und wirbelt Staub und Blätter in die Luft. Gabis Hand hält die kleine Hand von Cenk fest umschlossen. Cenk schaut zurück, während ihn seine Mutter mit sich in Richtung Sonnenblumenfeld zieht. Cenk dreht sich immer wieder um. Er sieht, wie Hüseyin leblos auf der Straße liegt. Sein Kopf ruht in Fatmas Schoß, die bitterlich weint. Sein Vater Ali schaut auf die Leiche seines Vaters. Er scheint wie unter Schock. Seine Tante Leyla hält sich die Hände vors Gesicht. Sein Onkel Veli schreit wütend in das Handy in seiner Hand. Canan hockt an den Bus gelehnt, weint und versucht, ebenfalls über Handy die Polizei zu erreichen. Sie schaut kurz auf. Für einen kurzen Moment treffen sich ihr und Cenks Blick. Dann versperren ihm mehr und mehr Sonnenblumen die Sicht. Veli schaut nach vorne zu seiner Mutter. Aber er kann nur ihren Rücken sehen. Sie läuft zielstrebig weiter ins Feld und hält seine kleine Hand fest. Cenk schaut wieder zurück, aber von der Straße ist nichts mehr zu sehen. Sie sind jetzt komplett umrandet von einem hohen Sonnenblumenfeld. Cenk schaut sich um. Bemerkt die Details. Die dicken Stämme der Sonnenblumen mit der pelzigen Oberfläche. Die wenigen, aber sehr großen Blätter. Cenk schaut hoch zu den Sonnenblumen, die gegen den Himmel ragen.

152 VOR EINER TÜRKISCHEN POLIZEIWACHE – AUSSEN – TAG Einige Straßenhunde suchen in umgeworfenen Mülltonnen nach Futter. Nur wenige Meter entfernt sitzt Cenk neben seinem Vater auf einer Parkbank und beobachtet die Tiere. CENK Wem gehören die Hunde? ALI Niemandem. Cenk schaut seinen Vater verwirrt an. Ali streichelt ihm über den Kopf, er kämpft

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gegen aufkommende Tränen. Cenk sieht, wie das kleinde Rudel weiterzieht. CENK Wo ist Opa jetzt? Ali schluckt. Er überlegt einen langen Moment, dann deutet er mit der Hand auf sein eigenes Herz. ALI Da und... ... er zeigt nun mit dem Finger auf Cenks Herz. ALI ... da! Cenk sieht traurig zu Boden. Ali zieht ihn sanft zu sich. ALI Komm mal her. (Pause) Weißt du, Sterben ist nichts Schlimmes... es ist ganz normal... Menschen werden geboren, dann werden sie groß, dann leben sie ihr Leben... und irgendwann... gehen sie wieder. Cenkt sieht seinen Vater an, er überlegt. CENK Wohin denn? Ali denkt auch einen Moment nach. ALI Weißt du noch, was wir letzte Woche gesehen haben... das mit dem Wasser? Dass es seine Form verändert? Cenk nickt. ALI Wenn es richtig kalt ist, wird Wasser zu Eis, wenn es warm ist, wird es flüssig... und wenn es kocht, dann verdampft das Wasser... und steigt in die Luft. Aber egal, wie das Wasser gerade aussieht, ... es bleibt immer Wasser. Verstehst du, was ich meine?

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Cenk denkt eifrig nach. Dann nickt er zufrieden. CENK Ja! Opa ist verdampft. Ali muss kurz lachen, dann sieht er ihn gerührt an. ALI So in etwa. Plötzlich kommt Fatma mit Canan, Leyla und Gabi aus der Polizeiwache. Fatma hält in ihren Händen Hüseyins Brieftasche und die anderen persönlichen Wertgegenstände, die er bei sich trug. Darunter auch das weiße Taschentuch mit der kleinen Rose drauf, das er ihr damals geschenkt hatte.

153 KLEINES HOTEL – AUSSEN – DÄMMERUNG Der rote Bus hält vor einem Hotel. Langsam und müde steigen die Familienmitglieder aus.

154 KLEINES HOTEL / FLUR – INNEN – NACHT Mit ihren Koffern gehen alle in die jeweiligen Zimmer.

155 MUHAMEDS HOTELZIMMER – INNEN – NACHT Muhamed sitzt auf dem Bett und starrt vor sich hin. Er wischt sich die Tränen vom Gesicht.

156 GARTEN / POOLANLAGE DES HOTELS – AUSSEN – NACHT Canan kommt aus dem Gebäude. Sie entfernt sich einige Schritte und holt ihr Handy aus der Tasche. Sie wählt eine Nummer. CANAN It´s me. (muss plötzlich weinen) Can you please call me back.

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Sie beendet die Nachricht und muss nun noch mehr weinen.

157 ZIMMER VON ALI, GABI UND CENK – INNEN – NACHT Cenk steht am Balkon und sieht Canan, die einsam im Hotelgarten weint. Dann dreht er sich zu seinen Eltern, die zusammen auf dem Bett sitzen. Ali weint, Gabi tröstet ihn. Cenk schaut wieder von dem Balkon.

158 FATMAS ZIMMER – INNEN – NACHT Fatma sitzt auf dem Bett und schaut bedrückt auf den Boden. Leyla ist gerade dabei, den Koffer zu öffnen. Sie zögert, macht ihn dann aber doch auf. Der Koffer ist voll mit Nivea, Schokolade und anderen Dingen, die Fatma in alter Manier wieder eingepackt hat. Leyla packt einige Sachen aus. Kleidungsstücke von Hüseyin kommen zum Vorschein. Fatma schaut unglücklich und wischt sich wieder Tränen weg. Leyla weiß nicht, was sie machen oder sagen soll.

159 HOTELBAR – INNEN – NACHT Muhamed sitzt an der Hotelbar und trinkt Raki. Veli kommt in die Lobby und sieht Muhamed schon von Weitem. Er überlegt kurz, geht dann zielstrebig zu ihm. Er setzt sich auf den Hocker neben seinem Bruder. Die beiden Männer schauen sich kurz an. BARKEEPER Siz ne icersiniz? Was möchten sie trinken? VELI Kardesim ne iciyorsa bende aynisini istiyorum! Das Gleiche wie mein Bruder! Der Barkeeper nickt und geht den Raki vorbereiten. Keiner von beiden sagt etwas.

160 FATMAS ZIMMER – INNEN – NACHT

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Leyla ist gerade dabei, ihre Anziehsachen aus ihrem Koffer zu suchen, als plötzlich Canans Handy klingelt. LEYLA Canan, dein Handy! Da Canan offensichtlich im Bad ist, nimmt Leyla das Handy. Auf dem Display erscheint Davids Gesicht, als Cowboy verkleidet mit Schnäuzer und Hut. Leyla sieht das Foto ernst an. Canan kommt verheult mit Zahnbürste aus dem Badezimmer. Leyla hält ihr das Handy etwas vorwurfsvoll hin. LEYLA Wer ist der Cowboy? Er hat schon vier Mal angerufen! Canan sieht Davids Bild auf dem Display. Sie überspielt sofort ihre Überraschung. CANAN Ähm, das ist ein Freund aus der Uni, der braucht bestimmt irgendwelche Bücher von mir oder so... Leylas Gesicht entspannt sich. LEYLA Dann sag ihm, dass du weg bist. Leyla dreht sich um und packt Sachen in ihren Koffer. Canan sieht sie einen langen Moment an. CANAN Mama, das... das ist nicht ein Freund, das ist... mein Freund! David. Leyla dreht sich wütend um, kann aber noch nichts sagen. Canan schluckt. CANAN Und ich bin schwanger! LEYLA WAS? Fatma sieht besogt zu den Beiden.

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161 HOTEL – AUSSEN – NACHT In dem Hotel brennen kaum noch Lichter. Die meisten Gäste scheinen zu schlafen.

162 HOTELBAR – INNEN – NACHT Muhamed und Veli sitzen noch immer zusammen an der Bar. Beide sind angetrunken. VELI Ja, Allah askina, lass uns endlich diesen Streit beiseite legen! OK?! MUHAMED Nein, nicht O.K! VELI Was willst du eigentlich von mir? Dauernd machst du mir Vorwürfe! Muhamed dreht sich wütend zu ihm um. MUHAMED Ich will gar nichts von dir. Lass mich einfach in Ruhe. (Pause) Du bist’n Scheiß-Bruder, der beschissenste überhaupt! Du interessiert dich nur für dich! (Pause) Du warst nicht da, als Melek mich von heute auf morgen sitzen gelassen hat... du hast dich’n Scheiß gekümmert, als ich meinen Job verloren hab, du... Veli starrt auf den Boden. VELI (UNTERBRICHT) Ich hab dir Geld geschickt! War das nichts? (Pause) Jeder tut, was er kann! Muhamed steht auf und geht. VELI Sevgi will sich von mir scheiden lassen. Muhamed hält kurz an. Er sieht Veli an. MUHAMED Gut, hat sie endlich kapiert, was für ein Arschloch du bist.

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Er geht einfach weiter. Veli sieht Muhamed hilflos nach. Er bleibt alleine sitzen.

163 FATMAS ZIMMER – INNEN – NACHT Canan sitzt heulend vor ihrer Mutter, die sie völlig schockiert anstarrt. LEYLA Wie kannst du nur? So dankst du mir, dass ich dir so viele Freiheiten gelassen hab? Ich weiß genau, was die Leute sagen werden. Da fehlt der Mann im Haus. (Pause) Gut, dass dein Vater das nicht miterleben muss! Auch noch mit einem Deutschen! Leyla bricht nun selbst in Tränen aus. Fatma reicht ihr ein Taschentuch. Canan schluckt schwer, sie wischt sich Tränen weg. CANAN Er ist Engländer. Leyla und Fatma sehen Canan nun wirklich überrascht an. LEYLA (PERPLEX) Wieso denn Engländer??? CANAN (HEULEND) Ich weiß nicht! Wir sind seit zwei Jahren zusammen. Und ich liebe ihn. Das Kind war ein Unfall, aber jetzt ist es nun mal da. (vorwurfsvoll) Oder willst du, dass ich es wegmachen lasse?! Fatma schaut beide schockiert an. FATMA Pscht! Susun! Töbe, töbe. Allahin verdiyi cqani sizmi almak istiyorsunuz? Günah! Daha fazla sacma sapan seyler duymak istemiyorum! Pscht! Möge Allah euch beiden verzeihen für eure dummen Worte. Was redest du denn da! Ein Kind ist ein Geschenk des Allmächtigen und ich will jetzt keine dummen Worte mehr hören. LEYLA Anne, duymadinmi ne söyledi? Hamile! Tanrim, iyiki babam bunlari duymadi. Hast du denn nicht gehört, was sie gesagt hat? Sie ist schwanger!

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CANAN Dede hat’s gewusst. Ich weiß nicht wie, aber er hat’s gewusst! Er hat mich drauf angesprochen. Und er hat tausend Mal besser reagiert als du! Canan weint wieder. Plötzlich schaut Fatma ganz gerührt. FATMA Evet. Hep ona ayan olurdu. Ben hamile oldugum zaman, ta benden önce bilirdi. Kizim, baban beni kacirdigi zaman bende hamileydim. Das sieht ihm ähnlich. Immer wenn ich schwanger war, hat er es auch vor mir gewusst. (zu Leyla) Damals, als er mich entführt hat,... war ich schon schwanger mit dir. Canan und Leyla fällt die Kinnlade runter. Sie sehen Fatma total schockiert an. LEYLA Bu ailede bir ben mi namusluyum? Bin ich die einzige Anständige in dieser Familie? Leyla schaut ihre Mutter ungläubig an. Fatma geht zu Canan und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. FATMA Aglama kizim! Bebek icin aglamak iyi deyil. Weine nicht mein Kind. Das ist nicht gut für das Baby. Leyla sieht zu, wie ihre Mutter ihre Tochter tröstet. Sie atmet kurz aus, dann geht sie ebenfalls zu Canan und nimmt sie in den Arm. Fatma lächelt Leyla aufmunternd zu. FATMA Biz bir care buluruz ama simdilik bu bizim sirimiz kalsin, oldumu? Das schaffen wir schon! Aber vorerst bleibt das unser Geheimnis! Mh? Leyla nickt. Canan drückt beide fest an sich.

164 HOTELBAR – INNEN – NACHT Veli sitzt völlig betrunken vor dem Barkeeper. Er hat seine Magnetkarte in der Hand und spielt damit herum.

165 ZIMMER VON ALI, GABI UND CENK – INNEN – NACHT

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Cenk liegt mit seinen Eltern in ihrem Bett. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. CENK Was ist mit dem Fest? Dede wollte doch eine Rede halten! Seine Eltern schauen nur kurz traurig. Keiner antwortet.

166 FATMAS ZIMMER – INNEN – NACHT Fatma kommt in einem Nachthemd aus dem Badezimmer und will gerade ins Zimmer, als es plöztlich gegen die Tür poltert. Fatma schaut vorsichtig durch den Spion. POV FATMA: Veli steht torkelnd an Muhameds Tür. Plötzlich wird sie aufgerissen und Muhamed im Pyjama sieht ihn entgeistert an. VELI Ich hab meine Karte verloren und dieser Mistkerl von Nachtportier ist einfach nicht an seinem Platz! Kann ich bei dir pennen? Veli wartet gar nicht ab, sondern geht nun einfach an Muhamed vorbei in dessen Zimmer. Muhamed schnauft genervt aus, aber schließt nun die Tür hinter sich. Fatma lächelt gerührt.

167 HOTELZIMMER MUHAMED – INNEN – NACHT Veli und Muhamed liegen wie damals als Kinder, Fuß an Kopf, im Bett. Veli ist schon fast eingeschlafen, aber Muhamed starrt noch an die Decke. VELI (SCHLÄFRIG) Danke, dass ich hier schlafen kann. Muhamed gibt nur ein kurzes Brummen von sich, was „Schon O.K.“ heißen soll. Veli schließt die Augen. Kurze Stille. MUHAMED Das mit Sevgi... das tut mir leid!

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Obwohl er schon fast eingedöst war, öffnet Veli nun doch seine Augen. Er lächelt. Dann wird ihm plötzlich die Decke ein Stück weggezogen, sodass sie ihm nur noch bis zum Bauch reicht und nicht mehr zum Kinn. Nun rutscht sie bei Muhamed wieder hoch. Ungewollt muss er grinsen.

168 HOTEL – AUSSEN – NACHT Eine Mondsichel steht am Himmel, der über und über bedeckt ist mit Sternen.

169 KRANKENHAUS / BÜRO – INNEN – TAG Veli, Muhamed, Fatma und Canan stehen zusammen vor einem BEAMTEN. Er trägt weiße Krankenhauskleidung. Der Mann stempelt immer wieder Dokumente ab. Er reicht Fatma einen Zettel. MEMUR Bu yabancilar icin olan mezarligin adresi! BEAMTER Das ist die Adresse von dem nächsten Friedhof für Ausländer. Alle sehen den Mann irritiert an. FATMA Yanlislik oldu galiba. Benim kocam türkdü! Das muss ein Missverständnis sein. Mein Mann ist Türke. MEMUR Alman passaportu var. BEAMTER Er hatte einen deutschen Pass! Alle sehen den Mann fassungslos an, bitte? FATMA Ne söyliyorsunuz! Bu sadece bir kagit! Bu passaport onu almanmi yapiyor? Was reden sie denn da! Der Pass macht ihn doch nicht zum Deutschen. Das ist ein Stück Papier. MEMUR

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Hukuga göre alman olunca, müslüman mezarinda gömülemez! Sizin icin kanunlari görmezden gelmemi isterseniz, bu tabii ki benim icin büyük bir risk! Siz bilirsiniz! BEAMTER Er hatte die deutsche Staatsangehörigkeit. Offiziell ist er ein Ausländer und darf auf keinem islamischen Friedhof beerdigt werden! Ich müsste die Gesetze brechen, um ihnen diesen Wunsch zu erfüllen... das wäre ein großes Risiko für mich. Er sieht die Familienmitglieder fragend an. Sie wissen, worauf der Mann hinaus will.

170 FAHRENDER BUS – INNEN – TAG Muhamed sitzt am Steuer, alle anderen sind tief in Gedanken, schauen nur aus dem Fenster. ALI (WÜTEND) 10.000 Euro! Dieses korrupte Arschloch! Gabi sieht Ali mahnend an. Nicht vor dem Kind. FATMA Muhamed, dur! Alle sehen Fatma überrascht an. ALI Geht‘s dir nicht gut? Muhamed hält an. Fatma sieht ihre Kinder eindringlich an. FATMA Babanizi köye götürüyoruz! Hüseyin muss in unser Dorf! Sofort! Alle schauen irritiert. MUHAMED Anne, kendin duydun. Gereken kagitlar eksi! Bu Allahis mutlaka bize zorluk

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cikarir! Passaporta bakarsan babam alman! Mutter, uns fehlen die Dokumente dafür. Der Typ wird uns Schwierigkeiten machen. Baba ist offiziell Deutscher, da... FATMA O sadece bir kagit! Babaniz hic bir zaman alman olmak istemediki. Simdi bu yüzden köyde gömülmezse ben kendimi hic bir zaman af etmem. Das ist nur ein Stück Papier! Er wollte nie den deutschen Pass, wenn er nun deswegen nicht in seinem Dorf begraben werden kann, werde ich mir das nie verzeihen! VELI Ama mezar iyin devletden gereken kagit lari yok sa biz istesekde babami gömemeyiz! Aber ohne offiziellen Schein werden sie ihn nicht dort beerdigen lassen. Fatma schaut entschieden. FATMA Artik köyümüzde topragimiz var. Wir haben jetzt ein eigenes Grundstück in unserem Dorf! Fatma sieht ihre Kinder an. Erst jetzt verstehen sie. LEYLA Das ist illegal. Fatma sieht ihre Tochter an und zuckt mit den Schultern. FATMA Binlerce yildir ölülerimizi topraga gömüyoruz! Bunda kanuna aykiri ne var? Bu Hüseyinin hakki. Ben onu köye gömecem, siz isterse yardim edin yada etmeyin. Seit Jahrtausenden begraben wir unsere Toten in der Erde. Was soll daran illegal sein. Es ist sein Recht. Ich werde Hüseyin in unser Dorf bringen, ob ihr mir nun helft oder nicht. Fatma wirkt total entschieden. Alle sehen sich kurz überlegend an. Dann nicken sie sich zu. Gabi schaut kurz unsicher, Ali bemerkt es. ALI Willst du lieber schon mal mit Cenk zurück?

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Gabi sieht Ali entgeistert an. GABI (ENERGISCH) Spinnst du?! Wir sind eine Familie. Cenk und ich werden bei Hüseyins Beerdigung dabei sein! Egal, wo die sein wird! Ali sieht Gabi erleichtert und gerührt an. Er drückt ihre Hand. CENK Machen wir jetzt etwas Verbotenes? Alle sehen sich an. Fatma nickt trotzig. CENK Cool! Cenk schaut aufgeregt zwischen seinen Eltern hin und her. Muhamed muss lächeln. MUHAMED Gut, dann... los! Muhamed startet erneut den Motor. Sie machen einen 180°-Turn.

171 LANDSTRASSE – AUSSEN – TAG Das Auto durchfährt Sonnenblumenfelder, karge Berglandschaften, üppige Wiesen an einem Fluss.

172 KLEINES TÜRKISCHES DORF – AUSSEN – DÄMMERUNG Der Bus fährt eine holprige Dorfstraße entlang. Einige Kinder haben den Wagen entdeckt und laufen aufgeregt an seiner Seite entlang. Viele der Dorfbewohner kommen aus ihren Häusern und laufen ebenfalls zu dem Wagen. Die Familie steigt aus. Sie werden herzlich von den Dorfbewohnern begrüßt. Die meisten weinen und drücken sich. Cenk sieht überrascht zu den vielen Kindern, die sehr ärmlich gekleidet sind, aber fröhlich grinsen. Sie kommen zu ihm. Cenk sieht sie etwas ängstlich an, immerhin sind sie in der Überzahl. Gabi schaut ebenfalls kurz besorgt, gibt ihrem Sohn dann aber ein Zeichen, dass er ruhig mit den Kindern spielen soll. Cenk steht umzingelt von den Dorfkindern. Ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen lächelt ihn schüchtern an. Cenk lächelt schüchtern zurück. Sie setzen sich alle zusammen auf den Boden und fangen an, 5-Stein zuspielen. 126


Cenk muss grinsen. Er versucht, es nachzuspielen, mehr schlecht als recht, aber sie haben Spaß. Leyla sieht zufällig die Szene. Sie lächelt schwermütig. Fatma sieht in der Ferne das Haus, was sie von dem Foto kennt. Nun sind sie da, aber Hüseyin ist nicht mehr unter ihnen. Fatma geht eiligen Schrittes auf das Haus zu. Ihre Kinder bemerken es und folgen ihr.

173 VOR DER HAUSRUINE – AUSSEN – TAG Als sie das Haus erreichen, ist Fatma außer Atem. Sie steht vor dem alten, renovierungsbedürftigen, zweistöckigen Gebäude. Fatma geht weiter. Sie läuft um das Haus herum, wo sie erstaunt feststellen muss, dass das Haus nur aus einer Fassadenwand besteht. Hinter der Tür ist nichts! Die Familienmitglieder sehen sich fassungslos an, sie wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen. Fatma blickt über ihr neues, völlig marodes Grundstück, als sie in der Ferne den Baum erblickt. Es ist genau der, hinter dem Hüseyin sich damals versteckt hatte, um Fatma zu entführen. Fatma muss lächeln und weinen zugleich. ÜBERBLENDUNG: Die Trauergesellschaft steht an dem Grab im Garten. Alle stehen um das Grab und blicken in die Ferne zu dem Felsen, wo einst Hüseyin Fatma entführt hat. Fatma nimmt weinend das weiße Taschentuch aus ihrer Tasche. Sie küsst es und wischt sich die Tränen damit ab, bevor sie es zu dem Leichnam legt, der nun ohne Sarg, im Leichentuch im Grab liegt. Sie schüttet etwas Erde nach. Nachdem die Familie die Erde ins Grab geschüttet hat, treten sie zur Seite und lassen die anderen Freunde und Verwandte ebenfalls Erde schütten. Cenk schaut einen Moment in die Gesichter seiner weinenden Verwandten. Vor den Erwachsenen sieht er nun jeweils ihre Kindheitsidentitäten. Der 8-jährige Muhamed trinkt mit Strohhalm aus einer Colaflasche. Der 10-jährige Veli hat eine Schnur mit geangelten Fischen locker über der Schulter hängen. Cenk sieht zu Fatma. Neben ihr steht die junge, ca. 15-jährige Fatma und streichelt ihr über den Kopf. Sie hält ihr etwas Börek hin, was Fatma trotz Trauer isst. Neben Fatma steht die kleine ca. 7-jährige Leyla. Sie sitzt auf dem Boden und spielt alleine und sehr melancholisch 5-Stein. Sie schaut kurz zu Cenk. Cenk schaut zu seinem Vater Ali und seiner Mutter, die eng beieinander stehen. Gabi trägt ein Baby auf dem Arm. Das Baby trägt einen Strampler, wo „made in Germany“ drauf steht! ÜBERBLENDUNG: Wie es Tradition ist, wird nach der Beerdigung gemeinsam gegessen. Mehrere Tische sind aufgestellt und alle Nachbarn und Verwandte bringen Töpfe mit Essen herbei. Obwohl das Haus nur als Ruine existiert, sitzen alle gemeinsam zusammen und essen und trinken.

174 VOR DER HAUSRUINE / DOLMUS – INNEN – TAG

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Die komplette Familie Yilmaz sitzt wieder in dem Bus, nur Muhamed ist noch nicht eingestiegen. Er zögert, als er einen Fuß in den Dolmus setzt. Plötzlich hält er inne. LEYLA Was ist denn? Hast du was vergessen? Muhamed sieht Leyla kurz an. MUHAMED Ich bleib hier! Die anderen sehen ihn irritiert an. MUHAMED Ja! Ich bleib hier. Ich werde das Haus aufbauen. Alle schauen Muhamed wortlos an. Leylas und sein Blick treffen sich. Sie lächelt. LEYLA Gut! Keiner widerspricht, irgendwie macht es Sinn, dass Muhamed bleibt. Fatma sieht ihn gerührt an. Er lächelt alle noch mal an, dreht sich dann um und steigt wieder aus.

175 STRASSE VOR DER HAUSRUINE – AUSSEN – TAG Muhamed steht nun draußen bei den Verwandten und sieht erleichtert, wie seine Familie ohne ihn weiterzieht. Er schüttet ihnen einen großen Eimer Wasser hinterher und winkt.

176 DOLMUS – INNEN – TAG Die Familie winkt zum Abschied. Cenk erkennt die Wasserzeremonie wieder und lächelt. Veli und Muhameds Blicke treffen sich kurz. Beide schenken sich ein Dreiviertel-Lächeln.

177 DORF – AUSSEN – TAG

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Der Bus fährt langsam die kleine Dorfstraße entlang. Als sie an dem Felsen vorbeifahren, sieht Cenk, wie aus dem Nichts die Gestalt des jungen Hüseyin auftauchen. Er versteckt sich hinter dem großen Stein. Er schaut vorsichtig über den Felsrand. In einiger Entfernung sieht man die junge, hübsche Fatma, die mit dem Brennholz auf ihrem Rücken direkt auf den Felsen zuläuft. Kaum hat sie den Felsen erreicht, springt Hüseyin aus seinem Versteck. Cenk muss grinsen.

178 WOHNUNG DEUTSCHES RENTNERPAAR – INNEN – TAG Der Fernseher läuft, während das deutsche Rentnerehepaar, was wir bereits aus dem Bus kennen, mit Bauernschnitten und Leberwurst beim Abendbrot sitzt. Im Fernsehen kündigt eine MODERATORIN den nächsten Beitrag an. MODERATORIN Nun zu einem weit erfreulicheren Thema. Unter dem Motto „Deutschland sagt Danke“ lud heute die Bundeskanzlerin Angela Merkel 200 Immigranten der ersten Stunde ein. RENTNERIN (VERÄRGERT) „Deutschland sagt Danke“! Die sollten sich bei UNS bedanken. MODERAROTIN Warum aber dann ein 6-jähriger Junge zum Mittelpunkt der Veranstaltung wurde, dass verrät uns der folgende Beitrag von Thomas Kleinbauer. FERNSEHBEITRAG IM FERNSEHER: Cenk steht umzingelt von einer Gruppe von Journalisten, Kameramännern, Fotografen, die ihn entweder fotografieren oder ihm Fragen stellen. Der kleine Junge wirkt etwas überfordert, stellt sich aber der Situation. SPRECHERSTIMME Dieser 6-jährige Junge hat heute im Schloss Bellevue einen denkwürdigen Auftritt hingelegt. Er hielt anstelle seines verstorbenen Opas, der damals als 1.000.001ster Gastarbeiter nach Deutschland kam, eine Rede. Die Rentnerin schaut zu ihrem Mann, der sie wie immer ignoriert. Sie schüttelt genervt den Kopf. Auf dem Bildschirm sieht man Cenk, der auf einem großen Rednerpult steht. ÜBERGANG VOM FERNSEHER IN DIE REALE SZENE

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179 SCHLOSS BELLEVUE / SAAL – INNEN – TAG Cenk muss sich strecken, damit er überhaupt ans Mikro kann. CENK (SCHÜCHTERN) Ich bin Cenk. Hüseyin Yilmaz ist mein Opa! Er ist letzte Woche gestorben! Ein Raunen geht durch das Publikum. CENK Aber ich weiß, was er sagen wollte. Wir haben zusammen geübt. Cenk räuspert sich. Er nimmt die steife, formelle Haltung an, die Hüseyin beim Proben hatte. Überhaupt imitiert er seine ganze Mimik und Gestik, was sehr komisch wirkt. CENK Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Mitbürger. Ich danke ihnen sehr, dass ich als der 1.000.001ste Ausländer, der nach Deutschland zum Arbeiten kam, heute zu ihnen sprechen darf... Cenk macht eine kleine Pause. Das Publikum applaudiert amüsiert. CENK Ich lebe seit 45 Jahren hier. Manchmal war es schlecht, manchmal war es gut, aber wir sind glücklich jetzt... Das Publikum klatscht nun begeistert – und während Cenk im Hintergrund weiterredet, schwenkt die Kamera über das Publikum. Hinten im Publikum steht Canan mit David. Neben ihnen der Rest der Familie. Sie klatschen ebenfalls. Canans Blick fällt plötzlich zur Seite. An der Tür, am Ende des Raumes, steht Hüseyin und sieht ebenfalls zu. Er lächelt Canan an. Canan lächelt zurück. Hüseyin zeigt raus aus der Tür, er verlässt den Raum. CANAN (V.O.) Ein kluger Mann antwortete mal auf die Frage: Wer oder was sind wir? „Wir sind die Summe all dessen, was vor uns geschah, all dessen, was unter unseren Augen getan wurde, all dessen, was uns angetan wurde. Wir sind jeder Mensch und jedes Ding, dessen Dasein das unsere beeinflusste oder von unserem beeinflusst wurde. Wir sind alles, was geschieht, nachdem wir nicht mehr sind, und was nicht geschähe, wenn wir nicht gekommen wären.“ Canan überlegt kurz, dann verlässt sie die Menge und folgt ihm ebenfalls raus...

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180 SONNIGER PARK – AUSSEN – TAG ... in einen Park, wo Hüseyin unter einem Baum sitzt und raucht. Canan setzt sich zu ihm und ganz selbstverständlich setzen sich nun auch die anderen Familienmitglieder dazu, niemand wundert sich. Auch nicht, als ihre eigenen Identitäten aus der Vergangenheit erscheinen. Der junge Hüseyin mit der jungen Fatma, die Kinder. Alle setzen sich dazu und nach und nach füllt sich das Bild und alle Personen, die in der Geschichte zu sehen waren, treffen sich hier ein letztes Mal. ABBLENDE EINBLENDUNG AUF SCHWARZ „WIR RIEFEN ARBEITSKRÄFTE, ES KAMEN MENSCHEN.“ MAX FRISCH FÜR DURSUN & ZEHRA MACIT AUF DEM ABSPANN

181 SCHULKLASSE VON CENK – INNEN – TAG Cenk sitzt wieder neben Engin, noch immer ignorieren sie sich. Einige Mädchen beäugen Cenk und kichern, weil sie ihn scheinbar im Fernsehen gesehen haben. An der Wand hängt weiterhin die Europakarte. Noch immer steht Cenks Fahne im Abseits. Er wirkt unruhig. Cenk hebt seine Hand. LEHRERIN Ja, Cenk? Cenk steht auf und geht an die Tafel. Er drückt der Lehrerin die Landkarte der Türkei in die Hand. CENK Da ist die Türkei drauf. LEHRERIN (ÜBERRASCHT) Oh, ähm, ja, danke, das ist aber nett. Sollen wir sie... dazu hängen?

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Cenk nickt. Die Lehrerin lächelt, hängt dann die Karte neben die Europakarte. Sie nimmt Cenks Fähnchen kurz von der Wand und hält Cenk sein Fähnchen hin. Er geht zur Landkarte und findet nach kurzem Suchen das Städtchen Erzincan. Sein Fähnchen wird platziert. Er nickt zufrieden und setzt sich nun wieder hin. Engin sieht ihn kurz an. Er denkt nach, dann hebt auch er seine Hand. LEHRERIN Ja Engin? ENGIN Ähm... eigentlich komm ich aus Ovacik. Das ist auch in Anatolien! Cenk sieht Engin überrascht an. LEHRERIN Na schön... dann... hier. Die Lehrerin nimmt Engins Fahne und stellt sie nach kurzem Suchen auf das richtige Dörfchen. Cenks und Engins Fahne stehen sich nun sehr nah. Die Jungs lächeln sich schüchtern an.

182 SCHULHOF – AUSSEN – TAG Wieder spielen die Jungs draußen Fußball, aber diesmal ist auch Cenk mit dabei. Glücklich rennt, spielt, schießt er mit... endlich ist auch er am Ball und – schießt ihn direkt ins Tor.

ENDE

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Bisher sind folgende Drehbücher in der Reihe

DEUTSCHE DREHBÜCHER erschienen:

2008 AUF DER ANDEREN SEITE Von Fatih Akin KIRSCHBLÜTEN – HANAMI Von Doris Dörrie 2009 CHIKO Von Özgür Yildirim NACHT VOR AUGEN Von Johanna Stuttmann NOVEMBERKIND Von Heide und Christian Schwochow 2010 DAS WEISSE BAND Von Michael Haneke DIE FREMDE Von Feo Aladag WHISKY MIT WODKA Von Wolfgang Kohlhaase

2011 ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND Von Nesrin und Yasemin Samdereli

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MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR Von Miraz Bezar VINCENT WILL MEER Von Florian David Fitz

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