
IN LIEBE, EURE HILDE
Drehbuch: Laila Stieler
Juli 2022
HENSCHEL-SCHAUSPIEL
Theaterverlag GmbH
Lausitzer Pl. 15, 10997 Berlin
AUSSEN - HAUS HANS/GARTEN - TAG 1 1
HILDE nascht eine besonders große, reife Erdbeere. Der Saft läuft ihr über den Mundwinkel. Sie wischt ihn ab und schmult zu ihrer Schwiegermutter, MUTTER COPPI, die den Finger hebt.
MUTTER COPPI
Nicht! Sonst gibts keine Marmelade.
Sie pflücken Erdbeeren auf dem Beet, das zwischen ihren beiden Lauben liegt. Der kleine Garten mit Obstbäumen, Blumen und etwas Gemüse steht in voller Frucht. Überall sprießt und reift etwas. Hilde lächelt, was ihr zartes, etwas verhärmtes Gesicht unendlich verschönt. Mutter Coppi streicht ihr mit ihrer harten Hand übers Haar. Die beiden Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein. MUTTER COPPI, stämmig, resolut, dominant, eine Arbeitermutter wie von Käthe Kollwitz gezeichnet - HILDE dagegen schmal, filigran, etwas Unsicheres, um Verständnis, ja Entschuldigung Bittendes in ihren Gesten. Sie pflücken weiter, einvernehmlich. Bis Hilde von Ferne ein Geräusch hört. Ein Auto, oder mehrere. Hilde atmet tief ein. Ein Auto, hier in der Kleingartenanlage, das verheißt nichts Gutes, im Grunde weiß sie, was es bedeutet, sie hat es seit Tagen befürchtet. Das Geräusch kommt näher. Hilde blinzelt in die Sonne, schirmt ihre Augen ab und richtet sich auf. Jetzt erst sehen wir, dass sie schwanger ist, hochschwanger. Ihr Bauch steht von ihrem Körper ab wie etwas Fremdes.
Zwischen den Büschen tauchen zwei dunkle Wagen auf. Sie holpern über den unbefestigten Weg bis hin zur Parzelle, die sich am äußeren Rand der Kolonie befindet. Direkt am Waldessaum.
INNEN - HAUS HANS/SCHLAFZIMMER/WOHNKÜCHE - TAG 2 2
Hilde zieht ein Köfferchen unter dem Bett hervor, ihre Hände zittern. Sie geht zum Schrank, dem einzigen Möbelstück außer dem Bett hier im winzigen Schlafzimmer, holt ein akkurat gefaltetes Nachthemd heraus, einen Rock, nimmt vorsichtig ein schönes, rotes Kleid vom Bügel.
HENZE
Nehmen Sie was Warmes mit.
Hilde greift folgsam nach einer Strickjacke. Sie faltet die Kleidungsstücke in den Koffer. Schluckt, dann fragt sie:
HILDE
Wie lange wird es dauern?
HENZE
Das hängt von Ihnen ab.
Hilde schaut den jungen, hübschen KOMMISSAR HENZE prüfend an. Er lächelt. Nicht unsympathisch. Sie schließt den Koffer. Mit einer freundlichen Geste nimmt er ihn ihr ab.
Sie gehen durch die Wohnküche, die von zwei Gestapo-Beamten ruhig, effizient und routiniert zerlegt wird. Aus den Augenwinkeln beobachtet Hilde, wie sie einen Küchenschrank beiseite schieben. Dann tritt sie ins gleißende Sonnenlicht.
In einem dunklen, fensterlosen Keller patrouilliert ein SSMann auf und ab. An den gegenüberliegenden Wänden des Raumes stehen kastenartige Stühle mit Trennwänden, wie in der Kirche. Die Nische ist so tief, dass man den Nachbarn nicht sehen kann. Hier sitzt Hilde und neben ihr noch jemand, den sie atmen hört. Dann streckt der Jemand - etwa zwei Nischen entfernt - die Füße aus. Sie stecken in schönen, roten Pumps. Auch Hilde streckt den Fuß aus, der in abgetretenen braunen Schuhen steckt. Plötzlich wird die Tür aufgerissen. An der Seite von Henze erscheint LIBS. Henze schiebt sie auf den Stuhl gegenüber von Hilde. Sie hebt den Kopf und sieht Hilde an. Ihr einst so schönes, herausforderndes Gesicht ist verweint und verstört. Henze winkt Hilde.
INNEN - FAHRSTUHL - TAG 5 5
Hilde mit Henze im Fahrstuhl. Sie fahren mehrere Stockwerke. Ihr Baby tritt mit aller Kraft. Wahrscheinlich kriegt es keine Luft. Hilde zwingt sich zu tiefen, regelmäßigen Atemzügen und streicht über ihren Bauch.
HENZE
Darf ich?
Hilde erschrickt, zögert, nickt. Der Kommissar legt seine Hand auf ihren Bauch. Auch er spürt das Baby. Beglückt:
HENZE (CONT'D)
So ein Wunder, oder?! Meine Frau ist auch schwanger.
HILDE
Welcher Monat?
HENZE
Dritter erst.
INNEN - GESTAPO/GANG - TAG 6 6
Hilde und Henze steigen aus dem Fahrstuhl. Hilde folgt Henze den Gang entlang, sie atmet tief ein, bevor sie nach ihm das Büro betritt.
HENZE (OFF)
Samstag, 12.9. 1942. Vorgeführt erscheint die festgenommene Hilde Coppi, geboren am 30.5.1909.
INNEN - GESTAPO BÜRO - TAG 7 7
Eine Sekretärin tippt. Sie sitzt an einem kleinen Tisch, neben Henzes Schreibtisch, so dass Hilde nur ihren Rücken sieht. Henze öffnet einen Schrank, holt einen braunen Lederkoffer hervor. Hilde hat damit gerechnet. Sie drückt den Rücken gegen die Stuhllehne und erwidert Henzes Blick so arglos wie möglich. Henze öffnet den Koffer. Ein Funkgerät.
HENZE
Na, kennen Sie, oder?
HILDE (nickt)
Das hatte mein Mann zu Übungszwecken ...
HENZE
Übungszwecken?
HILDE
Naja, damit er vorbereitet ist, wenn er eingezogen wird-
HENZE
Quatsch! Gesendet hat er damit.
Hilde schüttelt den Kopf.
HILDE
Nein, geübt, nur geübt.
HENZE
An wen gingen die Funksprüche?
HILDE
Welche Funksprüche?
HENZE
Sie haben nicht mitgekriegt, dass Ihr Mann Funksprüche abgesetzt hat?
HILDE
Vielleicht versehentlich? Ich kenn mich ja nicht aus mit der Technik.
HENZE
Woher hatten Sie das Gerät?
Hilde zuckt mit den Schultern.
HILDE
Das war plötzlich da.
HENZE
Frau Schulze-Boysen hat angegeben, dass Sie einen ähnlichen Apparat bei ihr abgeholt haben?
Hilde überlegt, schüttelt entschieden den Kopf.
HILDE
Nein. Ich hab da nur mal einen Koffer mit Büchern abgeholt.
HENZE
Was für Bücher?
HILDE
Bücher halt. Über Elektronik, glaub ich. Für die Abendschule.
HABECKER
Hören Sie doch auf! Die SchulzeBoysen hat längst alles gestanden. Und die ist robuster als Sie.
KOMMISSAR HABECKER sitzt hinter Hilde an der Tür, ein Kerl mit Verbrechervisage. Er beißt noch einmal von seinem Brot ab, nimmt einen Schluck Kaffee aus der Thermoskanne. Hilde wagt nicht, sich nach ihm umzudrehen.
HILDE
Aber ich kenne die doch kaum ...
Habecker lacht auf und geht raus. Die Tür schlägt zu. Hilde atmet auf. Henze mustert sie mild.
HENZE
Das sieht nicht gut aus. Ihr Mann hat sie da ganz schön reingeritten.
HILDE
Das würde er nie tun.
Er sieht sie lange an. Glaubt er ihr? Er schüttelt den Kopf. Hilde fühlt sich einen Moment sehr matt und schwach. Dann aber beschließt sie weiter zu kämpfen.
HILDE (CONT'D)
Ich weiß, das ist verboten, aber er wollte so gern zu den Funkern ...
Henze packt eine Brotbüchse aus, schnuppert an den Stullen, bietet Hilde eine an.
HENZE Leberwurst?
Zögernd greift sie zu und spürt plötzlich ihren Hunger. Sie kaut, schlingt, erklärt dabei eifrig:
HILDE
Du musst mehr aus dir machen, hab ich immer gesagt. Da wollte er sich bilden. Mir zuliebe. Ich bin schuld ...
Da geht die Tür auf und Habecker kommt zurück. Offenbar nicht allein. Henze legt eilig das Brot beiseite, Hilde schluckt an ihrem letzten Bissen.
HABECKER
Coppi?!
Angespannt dreht sie sich um. ALBERT taumelt in den Raum. Er ist gefesselt. Sein sommersprossiges Jungsgesicht ist aschfahl, ein Auge zugeschwollen. Trotzdem schafft er es, ihr zuzulächeln.
HABECKER (CONT'D) Kennst du den?
Hilde starrt Albert wie gelähmt an.
HABECKER (CONT'D) Woher?
ALBERT
Vom Strand ... in Lehnitz ...
HABECKER
Ruhe!
Habecker schlägt Albert beiläufig mit dem Handrücken ins Gesicht. Hilde zuckt zusammen.
HILDE
Jaja ... Lehnitz ... da hab ich ihn mal gesehen.
HABECKER
Wie heißt er?
HILDE
Fritz oder Helmut ...?
HENZE
Oder Albert Hößler? Sowjetischer Spion, Fallschirmspringer, Funker. Er tippt auf den Koffer. Hilde unternimmt noch einen Versuch:
HILDE
Ein Fallschirmspringer? Hier?
HENZE
Von den Russen in unserm Hinterland abgeworfen ...
HABECKER
Ist doch bei dir untergekommen! Dein Mann und er haben vom Boot aus gesendet.
Hilde schweigt.
HENZE
Tja. Unsere Beamten haben extra Segeln gelernt ...
AUSSEN - BADESTELLE - TAG 8 8
Die Badestelle eines Waldsees im Sonnenschein. Am Horizont ein Segelboot. HANS und ALBERT kommen aus dem Wasser. Der eine lang und schlaksig, der andere untersetzt, rothaarig. Sie werfen sich einen Ball zu und nähern sich drei Frauen, die auf einer großen, karierten Decke sitzen.
HILDE
Libs!
Hilde winkt fröhlich. Neben ihr die freche GRETE mit dem großen Mund und den üppigen Kurven, die Albert liebevoll abtrocknet. Hildes zweite Freundin, die makellos schöne INA, schaut sich um:
INA
Oh! Madame Schulze-Boysen ...
Libs nähert sich vom Waldrand her, keucht heran.
LIBS
Harro ist weg. Dienstreise. Ganz plötzlich.
Sie lässt sich neben Hilde fallen.
HILDE
Komm erstmal an ...
Hilde streichelt sie, gießt ihr Tee in eine Emaille-Tasse.
HILDE (CONT'D) Tee?
LIBS
Sogar Mütze und Koppel soll er vergessen haben, meint seine Sekretärin.
Grete und Ina sehen sich an, feixen. Ina raunt:
INA
Braucht er ja nich bei Stellizitas.
HILDE
Vielleicht hatte ers einfach eilig?
Grete und Ina kichern. Hilde sieht sie verständnislos an.
INA
(zu Libs)
Vielleicht solltest du sie einfach mal anrufen?
HILDE
Wen denn?
Albert entwischt Grete. Besorgt fährt er sich durch den roten Haarschopf. HANS hört auf sich abzutrocknen und setzt sich hin.
GRETE
Na, das Fräulein Mahlberg. Mensch, Hilde! Schauspielerin. Actrice. Capiche?
Libs wirft ihnen einen entnervten Blick zu. Hans räuspert sich. Alle Augen ruhen jetzt auf ihm. Er ist lang, blond, mit runder Hornbrille und grüblerischem Blick, eindeutig die Autorität der kleinen Gruppe.
HANS
Wann genau?
LIBS
Vorgestern.
HANS
Und das ist noch nie passiert?
LIBS
Phh! Doch ... in letzter Zeit ...
Grete und Ina glucksen, werden aber von Hans ignoriert.
HANS
Wirst du beobachtet? Hast du was bemerkt?
Libs beginnt zu schluchzen.
LIBS
Weiß ich nicht ... vielleicht ...
GRETE Was?
INA
Und wieso kommst du dann hierher?
LIBS
Um euch zu warnen natürlich?!
Kurz darauf: Alle packen zusammen, Handtücher, Thermoskanne, Becher, Hilde schüttelt die karierte Decke aus, Hans verstaut das Funkgerät im Picknickkorb, Ina knickt in ihren roten Pumps um und reibt sich den Knöchel.
HANS
Kontakte reduzieren in den nächsten Tagen. Wenn was ist, in der Eisdiele anrufen. Falls sie uns verhaften - Albert heißt Helmut und ist mein Kollege, ihr kennt ihn nur von hier, vom Strand. Klar?!
Libs beäugt den Aktionismus der anderen, der wie ein bekanntes, aber schlampig einstudiertes Stück wirkt.
LIBS
Also du meinst, sie haben Harro?
HANS
Sind nur Vorsichtsmaßnahmen ...
ALBERT
Woll mer das Funkgerät nich lieber hierlassen?
HILDE
Wer nimmt Alberts Uniform?
INA
Hol ich morgen bei dir ab.
HILDE
Und seine Pistole?
GRETE
Kann ich ...
LIBS
Ich habs gewusst! Ich habs immer gewusst! Irgendwann passiert es!
Hans fasst sie bei den Oberarmen, hält sie.
HANS
Libs! Er wird schon wieder auftauchen.
LIBS
Und woher willst du das wissen?
HANS
Wenn sie ihn verhaftet hätten, würden sie sofort auch auf mich stoßen.
(MORE)
HANS (CONT'D)
Aber ich hab vorgestern meine Einberufung bekommen. Warum sollten sie mich erst einberufen, um mich dann zu verhaften?
Libs nickt etwas erleichtert. Hildes Augen aber verengen sich. Sie schaut Hans an. Er weicht ihr aus.
AUSSEN - LANDSTRASSE - ABEND 9 9
Hans auf dem Motorrad, Hilde im Beiwagen. Die Allee wölbt sich wie eine Kathedrale über ihnen. Hans schaut zu Hilde. Hilde schaut nach vorn.
AUSSEN - HAUS HANS UND HILDE/GARTEN - ABEND 10 10
HANS Entschuldige.
Erregt hängt Hilde im Garten die Badesachen auf die selbstgezimmerte Wäschespinne. Dabei fällt ihr ein Handtuch runter. Hans greift danach. Hilde reißt es ihm aus der Hand, hängt es selbst auf. Unbeholfen steht er daneben, hält den Picknickkorb wie ein Schild vor den Körper.
HANS (CONT'D)
Ich wollte es dir doch sagen. Im richtigen Moment ...
Hilde dreht sich zu ihm, stemmt die Arme in Hüften. Sie sehen sich an.
HANS (CONT'D)
Hildelein ...
Hilde sieht ihn einfach nur an.
HANS (CONT'D)
Ich komm nicht gleich zur Front ...
Hilde schnaubt. Hans gibt es auf.
HANS (CONT'D)
Wenn du was brauchst, gehst du zu Mutti.
Er macht eine vage Geste zum Haus der Mutter. Hilde ist mit einem Schritt bei ihm und packt ihn am Kragen. Hans ist von ihrer plötzlichen Wildheit überrascht.
HILDE
Was brauch ich denn? Hm? Dass du überlebst. Mehr brauch ich nicht.
INNEN - HAUS HANS UND HILDE - NACHT
Sie schlafen miteinander. Sehr vorsichtig. Hans presst sich seitlich an Hildes Rücken, seine Hände greifen nach ihren Brüsten, während er in sie eindringt. Hilde dreht das Gesicht zu ihm. Sie küssen sich. AUSSEN - PADDELBOOT/FLUSS - TAG
Im frühen Morgennebel paddeln Hans und Hilde über den Fluss. Außer ihnen ist niemand hier. Hilde zieht das Paddel aus dem Wasser und zeigt auf einen Reiher am Ufer. Sie schaut auf den majestätischen Vogel, dreht sich zu Hans um, der jetzt auch aufgehört hat zu paddeln, sie streckt die Hand nach ihm aus, er greift danach, küsst sie. Sie gleiten in den Nebel, der über dem Wasser hängt.
- GESTAPO/BÜRO
Habecker gähnt und trinkt Kaffee. Hilde ist erschöpft, blass und eingefallen. Henze liest einen Brief vor:
HENZE
Liebe Frau Frickenhorst, Ihrem Sohn Leo geht es gut. Er befindet sich in sowjetischer Gefangenschaft. Gestern sprach er auf Radio Moskau in der Sendung Heimatpost und ließ Ihnen Grüße ausrichten ... Haben Sie den geschrieben oder Ihr Mann?
HILDE
Weder noch ...
HENZE
Sie wissen doch, welche Strafe aufs Abhören von Feindsendern steht?
Hilde zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf.
HENZE (CONT'D)
Mal abgesehen vom Verfassen solcher Briefe ...
HILDE
Ich hab doch nichts damit zu tun.
HABECKER
Ist aber genau das gleiche Papier wie das hier ...
Habecker wirft einen kleinen Stapel Flugblätter auf den Tisch. „Ständige Ausstellung – DAS NAZIPARADIES – Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo – wie lange noch?“
Hilde schaut einen Moment zu lange darauf, dann zuckt sie mit den Schultern.
HABECKER (CONT'D)
Von deiner Arbeitsstelle das Papier?
HILDE
Nein ...
Habecker greift nach einem Schlüsselbund und schleudert es nach Hilde. Sie weicht im letzten Moment aus.
HABECKER
Von deiner Arbeitsstelle?
Hilde nickt.
HABECKER (CONT'D)
Siehste. Und die Uniform von deinem Fallschirmspringerfreund, die du der Lautenschläger gegeben hast?
Hilde schweigt. Habecker sagt über die Schulter:
HABECKER (CONT'D)
Haben Sie das, Fräulein Breiter? “Es ist richtig, dass ich der Ina Lautenschläger die Uniform des Sowjet-Spions Albert Hößler gegeben-
Hilde will widersprechen, aber Habecker steht auf. Groß, breit, bedrohlich. Hilde verzagt. Die Sekretärin tippt unbarmherzig. Die Tasten klappern.
HABECKER (CONT'D)
Hat er dich angestiftet? Dein Mann?
Hilde presst die Lippen zusammen.
HENZE
Sagen Sie doch einfach, dass er es war. Denken Sie an Ihr Kind!
Hilde schüttelt den Kopf, Tränen quellen aus ihren Augen.
HILDE
Er hat mich nicht angestiftet.
HABECKER
Fertig, Fräulein Breiter?
Die Sekretärin spannt den Bogen aus und reicht ihn Habecker. Für einen Moment streift Hilde ihr distanzierter Blick.
Henze steht auf, holt einen Packen Fotos aus dem Schrank und legt sie Hilde vor.
HABECKER (CONT'D) Wen davon kennst du?
Hilde starrt auf die Gesichter ihrer Freunde. Auf Grete, Ina, Libs, Harro, Heinrich, Albert ...
HABECKER (CONT'D) Na los.
HENZE
Was meinen Sie, wer schon alles zugegeben hat, Sie zu kennen?
Hilde schluckt. Sie sagt so harmlos wie möglich:
HILDE
Ich weiß doch nur die Vornamen ...
HABECKER Zack, zack!
HILDE
Fritz ... Heinz, Magarete ... Elisabeth oder Elfriede das weiß nicht, Helmut ...
INNEN - GESTAPO/GANG - ABEND 15 15
Totale. Der leere Flur. Hinter einer dieser Türen verklingt Hildes dünne Stimme.
Eine Tür öffnet sich, zwei Beamte kommen mit einer Trage heraus und entfernen sich damit. Ein lebloser Körper liegt darauf, sein Kopf mit dem roten Haarschopf verdreht. Albert.
INNEN - GEFÄNGNIS/AUFNAHME - NACHT 16 16
Hilde zieht sich aus. Zwei KALFAKTORINNEN im dunkelgrauen Gefängnis-Drillich nehmen ihr die Sachen ab und durchsuchen sie. Eine von ihnen, eine graue, spitze Frau, befühlt Hildes Kleid. Eine Wärterin steht mit verschränkten Armen daneben. Ihr breites, verschlossenes Gesicht passt eher auf einen Bauernhof als in dieses Ambiente. WACHTMEISTERIN ANNELIESE KÜHN, genannt DIE BESTIE. Hilde ist beim Unterrock angekommen, sie zittert, sie friert. Sie wirft der Aufseherin einen bittenden Blick zu, aber die macht nur eine schroffe, ungeduldige Geste. Hilde zieht das letzte Kleidungsstück aus und bedeckt ihren schwangeren Bauch mit den Händen.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/TREPPEN - NACHT
Vor ihr der Rücken der Aufseherin. Hilde folgt der Wärterin über eiserne Treppen, künstliches Licht aus blauen Lampen. Anfangs hört man noch das Schlüsselklappern und die Stimmen anderer Wärterinnen. Je höher sie steigen, umso stiller wird es. Wie der Weg ins Grab.
INNEN - ZELLE UNTERSUCHUNGSHAFT - NACHT 18
Die Zellentür kracht hinter Hilde zu. Da steht sie in ihrem Sommerkleid. Zaghaft bewegt sie sich vorwärts. Auf einem Schemel liegen Bettwäsche, zwei Wolldecken, zwei Handtücher. An der Wand ist ein Bettgestell befestigt. Es quietscht beim Herablassen. Teilweise ist es durchgerostet. Hilde zerrt die Matratze, die an der Wand lehnt, auf das Gestell. Beim Anblick der Flecken darauf überkommt sie Brechreiz. Sie dreht sich weg, atmet tief durch. Dann bezieht sie sorgsam die Wolldecken und legt sie über den hässlichen Anblick. Erschöpft von dieser Aktion lässt sie sich auf dem Bett nieder. Da kracht die Klappe an der Tür herunter, eine derbe Stimme sagt:
KÜHN (OFF) Essen!
Hilde stemmt sich hoch, geht zur Tür, die rasselnd aufgeschlossen wird. Die Kühn tritt zur Seite und gibt der grauen Kalfaktorin den Weg frei, die Hilde einen Tonkrug mit Wasser und einen Napf gibt. Für einen Moment streift sie der aufmerksame und mitleidige Blick der Frau.
KÜHN (OFF) (CONT'D) Beeil dich. Gleich ist Nachtruhe.
Dann schließt sie die Tür. Hilde setzt sich aufs Bett, nimmt den Napf auf die Knie und erschauert. Eine widerliche Pampe. Undefinierbar. Stinkend. Hilde taucht den Löffel ein und lässt ihn mutlos wieder sinken.
INNEN - ZELLE UNTERSUCHUNGSHAFT - MORGEN 19 19
Grau. Die Wand gegenüber ist grau. Verschiedene Inschriften. Von draußen Schlüsselrasseln, durch das hoch gelegene Fenster dringen Kommandos und Türenschlagen herein. Jetzt knallt ein Schlüssel gegen ihre Tür. Das Guckloch klappt auf.
KÜHN
Coppi, lebst du noch?
HILDE (dünn) Ja ...
Guckloch zu. Die Wärterin zieht weiter. Hilde schließt die Augen wieder. Sie liegt verkrümmt auf dem Bett.
Die Wolldecke bis ans Kinn gezogen. Am liebsten würde sie so weiterdämmern, aber die Schmerzen. Sie schiebt sich hoch. Kratzt ihren Unterarm, auf dem sich eine Wanzenstraße abzeichnet. Erschrickt. Versucht, mit Spucke den Juckreiz zu stillen. Das Kind in ihrem Bauch strampelt. Das bringt sie zu sich.
HILDE (CONT'D)
Da bist du ja.
Sie bricht ab. Tränen steigen ihr in die Augen.
HILDE (CONT'D)
Ist gut, ist ja gut ...
Sie will aufstehen, sinkt zurück, versucht es erneut. Sie streckt die steifen Glieder, dann geht sie vorsichtig in die Kniebeuge. Wieder hoch. Keucht ein bisschen. Noch einmal. Sportlich war sie nie. Aber jetzt muss es sein. Sie geht zur Tür. Da auf dem Boden hat sie den Fraß abgestellt. Wieder ein Schauer. Sie hebt den Napf auf und setzt sich damit auf ihr Bett. Sie taucht den Löffel ein und schließt die Augen.
HILDE (CONT'D) Erdbeermarmelade.
Sie isst, es schüttelt sie. Sie nimmt den nächsten Bissen.
HILDE (CONT'D) Errdbeeermarrmelade.
Sie kann das schaffen. Wieder ein Löffel.
AUSSEN
Hilde piekt in eine Torte, kriegt aber kaum einen Bissen runter. Die Schwangerschaft sieht man ihr kaum an, der Bauch nur eine kleine Wölbung.
HANS (OFF)
Iss doch. Du musst jetzt für zwei essen.
Hilde nickt artig, kaut und sieht sich unruhig um. Neben ihr glitzert der Müggelsee. Nur eine Handvoll Ausflügler hat sich mitten in der Woche hierher verirrt. Ein Liebespaar, ein einsamer Mann mit Hut, zwei Frauen ... Hilde flüstert:
HILDE
Wollen wir nicht lieber gehen?
GRETE
Wieso? Is doch schön hier ...
Grete lehnt sich zurück, streckt dabei die Brust raus und mustert Albert, der ihr gegenüber sitzt. Er trägt die Uniform eines Wehrmachtssoldaten.
HANS (sehr respektvoll)
Noch Sahne, Albert?
Albert nickt. Grete schaut ihm auf den Mund.
GRETE
Wie isses da drüben? Kann man da leben?
Albert nickt und grinst über sein breites, sommersprossiges Gesicht. Grete beugt sich vor und flüstert:
GRETE (CONT'D)
Und Ihr Fallschirm - wo is der?
HILDE
Grete!
GRETE
Na, wat denn? Die gute Seide ...
ALBERT (sächsisch)
Mir können Du sagen ...
Sie stoßen mit ihren Kaffeetassen an. Grete kichert. Sie bedient sich von Hildes Kuchen.
GRETE
Hmmm. Gute Butter ...
Hans winkt dem OBER. Der hinkt heran.
OBER
Zahlen?
Albert holt Lebensmittelmarken aus seiner Jacke und gibt sie dem Mann. Der beäugt die Marken, sagt misstrauisch:
OBER (CONT'D)
Wolln Se mich verarschen? Die sind doch längst abgelaufen!
Er schaut in die Runde. Hilde senkt den Kopf auf den Teller, stopft ein Stück Torte in den Mund und verschluckt sich.
ALBERT
Zeische ma! Stimmt! So äne Sauerei! Da fährste schonne ma in Urlaub und dann gäbn se dir noch de falschen Reisemarken. Elende Misswirtschaft!
Albert greift nach den Marken. Hans will einspringen:
HANS
Nee, nee ... Übernehm ich. Er ist grad erst angekommen ...
OBER
Wo dienen Se denn?
Hilde presst die Hand auf den Mund, räuspert sich.
ALBERT
6. Armee, Ostfront. Aber da weeß de Linke nisch, was de Reschte dut.
Hans hält dem Ober seine Marken hin.
OBER
Schon jut. Kann er ja nüscht für. Schön Gruß an die Kameraden! Stalingrad is unser!
Er salutiert und entfernt sich. INNEN - HAUS HANS UND HILDE - ABEND 21 21
Albert beugt sich über den Taster und schreibt. Er ist schnell, ein Profi eben. Hans schaut ihm zu. Hinter ihnen tanzen Hilde und Grete miteinander zum Jazz, der leise aus dem Radio plätschert. Grete schaut zu Albert, genauer gesagt auf seinen Hintern. Hilde dreht Gretes Kopf in ihre Richtung.
HILDE
Grete! Er ist verheiratet.
GRETE
Ja, du mich auch, Hilde!
HILDE
Du übrigens auch-
GRETE
Wat meinste, wat Rudi so treibt?
Zwee Jahre ander Front? Du hast dich ja ooch getröstet.
Hilde schweigt. Sie tanzen. Albert nimmt die Kopfhörer ab.
HANS
Was haste geschrieben?
ALBERT
Nischt Großes. Dass ihr Potential habt, dass des Funkgerät läuft, mir aber trotzdem keene Verbindung krieschen ...
HANS
Ahh ...
Hans ist ein bisschen enttäuscht.
ALBERT
Und dass isch gut untergekommen bin.
Albert dreht sich zu Hilde und Grete und klatscht ab. Grete wechselt zu ihm und schmiegt sich an ihn. Hilde legt Hans die Arme um den Nacken.
HILDE
Hats wieder nicht geklappt?
Hans zuckt resigniert mit den Schultern.
HANS
Die Reichweite ...
ALBERT
Mir schaffen das. Morgen nehm’ mir dein Boot und funken vom See.
HILDE
Weil sich da die Wellen besser ausbreiten?
Albert pfeift durch die Zähne. Hans nickt stolz.
HANS
Tja, meine Frau!
GRETE
Leute! Wie wärs mit Tanzen?
Hilde lächelt und lehnt ihren Kopf an Hans’ Brust. Er zieht sie eng an sich und lässt sie auch nicht los, als das Lied zu Ende ist und die Stimme des Sprechers ertönt:
SPRECHER RADIO MOSKAU
Sie hörten Leonid Utesow und die Konzertnaja Frontowaja Brigada. Es folgt: Heimatpost.
Die Erkennungsmelodie von Radio Moskau ertönt. Albert springt zum Radio und verstellt den Sender. Hans späht aus dem Fenster, macht eine beruhigende Geste zu Albert, der den Regler wieder zurückdreht. Eine Stimme spricht plattdeutsch:
PAUL LETZIK
-der Obergefreite Paul Letzik aus Schwan, Mecklenburch. Ich bin seit 3 Wochen im Lazarett, weil ich ein’ Granatsplitter in den Arm bekommen hab ... Es wird ja behauptet, der Russe macht keine Gefangenen. Aber das stimmt nicht-
Albert sucht einen anderen Sender.
ALBERT
Bisschen Musik, hm?
GRETE
Ja! Jazz!
HILDE
Nein! Mach zurück! Bitte!
Albert gehorcht schulterzuckend:
ALBERT
Wieso? Kennste den?
Hilde schüttelt den Kopf und legt den Finger auf die Lippen.
PAUL LETZIK
... und am nächsten Tag lag ich schon im Lazarett. Hier werden wir genauso behandelt wie die russischen Soldaten. Man sollte nur nach Hause schreiben können! Bitte, wer das hört, sagt meiner Mama Bescheid, dass ich lebe! Paul Letzik aus Schwan, Wiendorfer Weg.
HANS
Hilde? Isn los?
Hildes Augen sind feucht. Hans legt den Arm um sie.
HILDE
Sicher denkt seine Mutter, dass er tot ist.
Albert und Hans grinsen sich an. Hans flüstert:
HANS
Hormone!
HILDE
Jaja. Bei euch gehts immer ums große Ganze!
Hilde schiebt ihn weg, geht zum Radio und macht es lauter.
INNEN - HAUS HANS - TAG 22 22
LEO FRICKENHORST
Hier spricht der Kriegsgefangene Leo Frickenhorst aus Rheine Westphalen, Kramer-Str. 6, zu seiner Mutter und seiner Schwester Hanni-
“Leo Frickenhorst, Rheine ...” tippt Hilde mit Schreibmaschine auf ein Briefkuvert.
Neben ihr vor dem Radio sitzt Grete, nimmt ihr das beschriebene Kuvert ab und reicht ihr ein frisches. Beide tragen Handschuhe.
AUSSEN - STRASSE MIT BRIEFKASTEN - DÄMMERUNG 23 23
Hilde steckt Briefe in einen Briefkasten. Grete reicht ihr einen weiteren Stapel. Sie stößt Hilde an. Hinter ihnen fährt ein Auto vorüber, es scheint zu verlangsamen. Hilde wagt nicht sich umzudrehen. Hektisch versucht sie, den ganzen Packen auf einmal in den Schlitz zu stopfen, aber nun steckt das Bündel fest, geht nicht vor und nicht zurück. Das Auto fährt so langsam, als würde es jeden Moment anhalten. Hilde ist wie gelähmt. Endlich fährt es vorbei. Grete prustet los.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - TAG 24 24
Hilde klopft an die Tür. Angst erstickt ihre Stimme:
HILDE
Hallo! Hallo! Kommen Sie! Bitte!
Wieder eine Wehe. Noch nicht ganz schlimm. Sie stützt sich auf dem Schemel ab, atmet, Schweiß auf der Stirn, es geht vorüber. Sie holt Luft. In der Zelle ist es kalt, Hildes Atem zieht weiße Fahnen. Sie trägt Gefängniskleidung, ein verwaschenes dirndlartiges Kleid in Dunkelblau, dessen Faltenwurf ihren Bauch noch größer erscheinen lässt. Darüber eine zu kleine Wattejacke und die Wolldecke.
Sie versucht, auf den Schemel zu klettern, um ans Fenster zu kommen, aber es klappt nicht. Da hämmert sie gegen die Tür, die Panik gibt ihr Kraft, sie schreit:
HILDE (CONT'D)
Kommen Sie!! Sofort! Lassen Sie mich raus! Mein Kind! Es bewegt sich nicht mehr!
Schritte jetzt. Endlich. Ein Schlüsselbund rasselt.
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - TAG 25
Die HEBAMME lauscht mit einem Hörrohr an Hildes Bauch.
HEBAMME
Schon unter 100 und Beckenendlage.
... sagt sie zu einem ARZT in Uniform, der Göring verblüffend ähnlich sieht. Der mustert Hilde ärgerlich.
ARZT
Tja, zu spät für einen Schnitt.
HEBAMME Extraktion?
ARZT
Eher Dekapitation. Wenn nötig auch der Arme.
Hilde schreit auf.
HILDE Nein!!
HEBAMME
Aber es lebt doch noch!
ARZT
Und sie? Die verreckt doch bei dem Blutverlust.
HEBAMME
Ich hol das jetzt.
ARZT
Phh! Ihre Verantwortung!
Er fügt sich aber der resoluten Hebamme, krempelt sich die Ärmel hoch und geht zum Waschbecken. Die Hebamme beugt ihr rundes Gesicht über Hilde.
HEBAMME Los, Mädchen! Muss schnell gehen.
Hilde nickt heftig. Die Hebamme drückt auf ihren Bauch. Hilde schreit.
HEBAMME (CONT'D)
Schrei ruhig, das hilft. Und mach die Augen zu, sonst siehst du morgen nur rot. Wir holen dein Kind, tot oder lebendig. - So! Jetzt mit aller Kraft!
Hilde kneift die Augen zusammen und presst.
HEBAMME (CONT'D) Na bitte! Ich hab den Fuß!
Hilde reißt die Augen auf und erblickt die Bestie. Sie steht am Fußende ihres Bettes und bewacht sie.
HEBAMME (CONT'D) Nochmal! Gib alles! Jetzt!
Hilde kneift Augen und Lippen zu und umklammert die Metallgitter am Kopfende. Sie presst lautlos. Tränen quellen unter ihren Lidern hervor.
HEBAMME (CONT'D)
Ich habs! Es kommt, es kommt! Mach weiter! Pressen! Na los doch!
Hilde beißt sich die Lippen blutig. Sie presst die Fäuste so sehr um die Gitter, dass die Knöchel weiß werden. Sie kann nicht anders, sie stöhnt, tief, laut. Dann ist ihr, als wiche jede Kraft aus ihrem Körper, als sei es egal, ob sie atme oder nicht, als ob sie falle, falle ... In dieses Gefühl einer beginnenden Ohnmacht hinein drängt sich etwas wie ein Japsen, ein Stimmchen. Hilde taucht auf und schnappt nach Luft. Sie sieht, wie die Hebamme den kleinen Körper in ein weißes Tuch schlägt und wegtragen will. Sie streckt die Arme aus.
HILDE
Bitte!
Niemand scheint sie zu hören. Sie schreit:
HILDE (CONT'D) Bitte!!
Die Kühn schnauft missbilligend und wechselt das Standbein. Die Hebamme zögert, sieht fragend zum Arzt.
HEBAMME Immerhin hat sies geschafft. Sogar die Gitter hat sie verbogen.
Der Arzt schaut auf die Gitterstäbe am Kopfende, schnaubt.
ARZT
Aber nur einen Moment. Der braucht Sauerstoff.
Der Arzt krempelt die Ärmel wieder runter, zuckt mit den Schultern und wirft einen Blick auf das Baby und auf Hilde.
ARZT (CONT'D)
Der kommt nicht durch.
Er geht. Die Hebamme legt Hilde das Kind in die Arme und knöpft ihr wie selbstverständlich das Nachthemd auf.
HEBAMME
Los! Leg ihn gleich an. Dass sich die Milch bildet.
HILDE
Ein Junge?
Die Hebamme nickt. Hilde schaut den Kleinen an. Er hat dichtes, dunkles Haar und seine Augen irren erstaunt durch den Raum wie von weither, wie von einer langen Reise. Er öffnet den Mund und kräht wie ein kleiner Hahn.
HILDE (CONT'D) (flüstert)
Hans, mein Hans.
HEBAMME
Hans soll er heißen?
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - NACHT
Der Kleine liegt im Kinderbettchen neben Hilde und schläft. Das winzige, zerknautschte Gesicht ihr zugewandt. Hilde schaut ihn an. Die Liebe überfällt sie plötzlich und schmerzhaft. Wie ein Riss, ein tiefer Stich. Sie presst die Faust auf den Mund.
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - TAG 27 27
Die Entbindungsstation ist ein langgestreckter Saal. An der vergitterten Fensterfront stehen 12 Betten, die durch Vorhänge voneinander getrennt sind. Neben einigen stehen Kinderbettchen. Auf der gegenüberliegenden Seite sind zwei Wickeltische, ein Tisch mit Kinderwaage, ein Waschbecken, Fläschchen für die Babys und Thermoskannen mit Tee. Eine Hochschwangere wischt mit einem Mopp den Raum.
Hilde legt ihren Kleinen auf die Waage. Er quäkt. Neben ihr wickelt eine Mutter ihr Baby. Die Hebamme schaut Hilde über die Schulter.
HEBAMME Nicht schummeln!
Die Hebamme schiebt Hilde beiseite, stellt die Waage ein. Hinter ihnen schreit eine Frau (MÖRDERIN), die in den Wehen liegt. Aber die Hebamme lässt sich nicht stören. Sie trägt den Wert in eine Liste ein.
HEBAMME (CONT'D)
Wieder 70 weniger. Wenn du keine Milch kriegst und er weiter abnimmt, müssen wir zufüttern.
Sie wendet sich zu der Gebärenden.
HEBAMME (CONT'D)
Mach nicht so’n Tamtam! Deinen Alten haste doch auch still und leise erledigt.
HILDE Zufüttern?
HEBAMME
Aber das künstliche Zeug ist fetter und so bequem aus der Flasche, da mögen sie keine Muttermilch mehr.
Hilde hebt Hänschen aus der Waagschale und fragt bang:
HILDE
Und dann wird er mir weggenommen?
Die Hebamme beugt sich über die andere Frau.
HEBAMME
Jetzt tief in den Bauch atmen. Du hast kurz Pause. (zu Hilde) Ist doch auch zu seinem Wohl. So dünn und schwach, wie er ist.
Hilde weint.
HILDE
Bitte nicht! Bitte, bitte nicht!
HEBAMME
Drei Tage geb ich dir noch. Vielleicht kommt die Milch noch. Sieh zu, dass du mehr isst!
Die Gebärende schreit.
LIANE (OFF)
Schon wieder Suppe?
Hilde erwacht aus einem Dämmerzustand. Der Kleine schläft im Kinderbettchen neben ihr.
Eine Kalfaktorin klappert, von der Wärterin beaufsichtigt, mit dem Essenswagen durch die Entbindungsstation.
KÜHN (OFF)
Sei froh, dass du überhaupt was kriegst, Berkowitz.
Hilde schiebt den Vorhang ein Stück beiseite. Im Nachbarbett ist LIANE, blutjung mit hohen Wangenknochen und schwarzen Locken. Hilde stemmt sich hoch und versucht zu lächeln. So empfängt sie Wärterin und Kalfaktorin. Diese schöpft Suppe in den Napf und legt eine Scheibe trockenes Brot auf den Rand.
HILDE
Dankeschön. Kö-könnte ich wohl noch ein Stück Brot bekommen?
Die Kalfaktorin wartet stumpf auf die Anweisung der Kühn.
KÜHN
Jeder eins.
HILDE
Aber ich- ich hab zu wenig Milch.
KÜHN
Jeder eins. Vorschrift.
HILDE
Bitte!
Die Kühn gibt ein Zeichen. Die Kalfaktorin zieht weiter.
HILDE (CONT'D)
Bestie!
Alles sinnlos. Die Augen fallen ihr zu. Da hört sie sein Weinen. Sie manövriert sich auf die Bettkante, ihr schwindelt, sie steht auf, schwankt, steht. Dann holt sie den Kleinen aus seinem Bettchen und tritt mit ihm ans Fenster.
Milchglas, vergittert obendrein. Hilde wiegt ihr Kind. Sie entdeckt eine abgeschabte Stelle, durch die ein Stück Himmel zu sehen ist. Wolkenverhangen. Aber Himmel. Sie hält den Kleinen ans Licht. Flüstert:
HILDE (CONT'D)
Guck mal, da oben, das ist der Himmel. Himmel. Schön, nicht?! Der Himmel ... Ich geb dich nicht her. Du bleibst bei mir. Bei mir. Ja, guck nur, guck dir den Himmel an!
Der Kleine guckt mit Augen, die nur Licht und Schatten unterscheiden können, und versucht, sie zu fixieren. Hilde summt ein Schlaflied, da zuckt sein Mund, als ob er lachen will. Hilde gluckst und betrachtet ihn verliebt. Da geschieht es. Sie schaut an sich herab. Auf der Höhe ihrer Brüste bilden sich zwei runde, feuchte Flecken auf dem Nachthemd. Milch. Endlich.
AUSSEN - STRASSE MIT MAUER - NACHT 29 29
Hans streicht Klebezettel glatt, gleich mehrere nebeneinander, schnell und akkurat. Hilde schaut ihm zu und passt auf, dass niemand kommt. Was war das? Ein Geräusch?
HILDE
Hans!
Hilde blinzelt in die Dunkelheit. Ein Schatten. Mehrere. Sie kommen näher, Schritte, Stimmen.
HILDE (CONT'D) Da war was!
Hans spuckt die Klebezettel an und pappt sie an die Wand. Sie kleben nicht auf Anhieb. Er flucht leise. Die Zettel prangen quer über einem Plakat, das mit einer blutrünstigen Fratze für die Propagandaausstellung “Das Sowjetparadies” wirbt.
Auf Hans’ Flugblatt steht „Ständige Ausstellung – DAS NAZIPARADIES – Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo – wie lange noch?“
HILDE (CONT'D)
Komm! Bitte!!
Hilde packt Hans am Arm, zerrt ihn hinter sich her, wird immer schneller.
HANS
Ruhig. Ruhig, Hilde.
Hilde sieht sich um. Aus dem Dunkel hinter ihnen schält sich ein Mann in Uniform heraus.
STIMME
Halt! Stehenbleiben!
Hilde bleibt die Luft weg, sie zittert. Hans presst sie an die Mauer.
HANS
Küss mich!
Jetzt küssen? Hilde versucht ihr Bestes. Aus den Augenwinkeln verfolgt sie den Uniformierten, der sich nähert und nun ironisch sagt:
HARRO
Ihr könnt aufhören zu knutschen.
Hans und Hilde lösen sich. Vor ihnen steht HARRO, ein attraktiver, schneidiger Typ mit blitzenden Augen in der Uniform eines Luftwaffenoffiziers.
HANS
Harro! Was machst du hier?
Harro lacht erstaunlich jungenhaft und winkt mit der Rechten, in der er eine Pistole hält.
HARRO
Na, unsere Aktion beschützen. Und speziell unsere Jungschen. Falls uns doch jemand in die Quere kommt. (ruft nach hinten) Luft ist rein.
Weiter hinten löst sich ein Paar von der Mauer und kommt heran. Sie sind jung, Schüler noch. Das Mädchen (LIANE) schüttelt ihre dichten, dunklen Locken.
LIANE
Gehört ihr zu uns?
HANS
Pst! Seid bisschen vorsichtiger.
Sie lacht.
LIANE
Nehmt ihr doch die Nebenstraßen!
Sie pappt im Vorbeigehen schief einen Klebezettel an die Mauer, und kichernd ziehen sie weiter. Harro zuckt mit den Schultern und sieht dem Paar mit Wohlgefallen nach.
HARRO
Tja ... Frischer Wind. Tut uns gut, oder?!
Er nickt Hans und Hilde zu und folgt den beiden anderen. Hilde und Hans sehen ihnen nach. Hilde holt tief Luft. Hans schluckt. Beide versuchen, die Anspannung wegzureden.
HANS
Wo hat er die denn aufgegabelt?
HILDE
Konspiration war nie seine Stärke, oder?
Hans lacht. Hilde wendet sich ab und kotzt an die Mauer.
HANS
Was denn ...? Süße! Ach, mein Armes. Gehts? Gehts wieder?
Hilde richtet sich auf. Hans tupft ihr mit einem Taschentuch den Mund ab.
HANS (CONT'D)
Na komm, meine Alte. Wir machens auf unsere Weise, hm? Oder ...?
Hilde presst sich das Tuch auf den Mund. Schnieft.
HANS (CONT'D)
So schlimm?
Hilde schüttelt den Kopf, sieht Hans an.
HILDE
Ist das dritte oder vierte Mal diese Woche ...
Hans sieht sie an. Einen Moment. Dann kapiert er.
HANS
Ich dachte, du kannst keine Kinder kriegen?
Sie zuckt mit den Schultern und lacht. Hans stößt einen Triumphschrei aus, hebt sie hoch und wirbelt sie herum.
HILDE
Nicht! Sonst muss ich gleich wiederINNEN - HAUS HANS - NACHT
Hilde und Hans liegen im Bett. Die Gesichter einander zugewandt. Sie sehen sich nur an. Dabei führen sie ein Gespräch mit vielen Pausen.
HANS
Du kannst immer noch aussteigen ...
Hilde schweigt.
HANS (CONT'D)
Willst du nicht manchmal alles hinter dir lassen? Stattdessen lieber unser Häuschen ausbauen, im Garten wurschteln, unser Kind großziehen ... Hm? Hilde?
Eine Träne läuft über ihre Wange.
HILDE
Wie soll das gehen?
Hans schweigt.
HILDE (CONT'D)
Ich weiß auch nicht ... So lange hab ich auf dich gewartet. Und jetzt bist du da und- und ...
Sie schweigen.
HILDE (CONT'D)
Wird es gut mit uns ausgehen?
HANS
Wahrscheinlich nicht.
Jetzt weint auch er.
AUSSEN - HAUS HANS UND HILDE/GARTEN - MORGEN 31 31
Ein Wasserstrahl ergießt sich in eine Waschschüssel. Hans pumpt mit freiem Oberkörper trotz der morgendlichen Kühle. Er beginnt, sich zu waschen. Hilde lehnt in eine Wolldecke gehüllt im Vorbau der Laube und sieht ihm zu. Sie löst sich, geht zu ihm. Ihr Zeigefinger fährt über seinen Rücken. Hans richtet sich auf. Wasser perlt.
Hilde und ihre MUTTER mit einer großen Tasche laufen an der Mauer mit den Flugblättern entlang. Hildes Mutter Hedwig ist eine schwere Frau mit dem teigigen Teint eines Menschen, der selten an die frische Luft kommt. Hilde betrachtet ihr Werk mit gewissem Stolz. Hedwig bemerkt es.
MUTTER
Komm schneller, Hildelein! Sonst ist die Wolle ausverkauft und-
HILDE
Mama, ich muss dir was sagen!
MUTTER
-dann gibts keine warmen Strümpfe und du kriegst wieder eine Blasenentzündung.
HILDE
Mama ...?
Die Mutter läuft noch schneller. Ihre Augen irren ängstlich zu dem schiefen Flugblatt Lianes und wieder zurück zu Hilde.
MUTTER (flüstert)
Sag lieber nichts, Hildelein! Mein Herz!
HILDE
Ich bekomme ein Kind.
Hedwig wirft Hilde einen ungläubigen Blick zu. Sie begreift, dass es kein Scherz ist. Sie bleibt stehen. Tränen treten ihr in die Augen.
Hilde stillt ihr Hänschen und kann den Blick nicht von ihm lassen. Nicht mal die rüde Stimme des Arztes erschüttert sie.
ARZT (OFF)
Ab ins Bett. Wir sind doch hier nicht auf der Kirmes!
LIANE (OFF)
Ich wollte nur zur Toilette.
HEBAMME
Mach, was der Doktor sagt, Berkowitz!
Der Arzt, die Hebamme und die Bestie treten an Hildes Bett.
ARZT
So. Und hier? Lebt immer noch?
HILDE
Er hat zugenommen.
ARZT
Phh. Brathähnchen.
Schlechtgelaunt weist er mit dem Kopf auf den Kleinen. Die Hebamme nimmt Hilde das Baby ab, das zu weinen beginnt. Hilde verfolgt angespannt jede Geste.
HEBAMME
Muss ja nicht jeder ein Brummer werden. Was wiegt er heute?
HILDE 2560.
ARZT Nachwiegen.
Resolut fährt ihm die Hebamme über den Mund.
HEBAMME
Ach! Die schummelt nicht. Das sind mindestens 100 Gramm. Seh ich auch ohne Wiegen. Gut gemacht, Coppi!
Flugs gibt die Hebamme Hilde den Kleinen zurück, worauf er sich sofort beruhigt. Der Arzt streift Hilde mit einem Blick.
ARZT
Hm. Die mit den schmalen Hüften, was? Manchmal die besseren Mütter.
Hilde räuspert sich und sagt schüchtern:
HILDE
Das hat der Doktor Minnigerode auch immer gesagt, bei dem ich früher gearbeitet hab.
ARZT
Ah ... Krankenschwester?
HILDE
Zahnärztliche Assistentin.
ARZT Ausgebildet?
HILDE
Das nicht. Aber ich hab fast 10 Jahre in der Praxis gearbeitet.
Der Arzt sieht Hilde an, als bemerke er sie zum ersten Mal.
KÜHN
Von mir aus kann sie auf Zelle.
Der Arzt fährt herum.
ARZT
Sind Sie der neue Arzt, Fräulein Kühn? (zur Hebamme) Die bleibt. Schreiben Sie in Ihren Bericht: Risiko-Schwangere über 30, Kind nach Lageanomalie und Komplikationen noch zu schwach.
Er zieht weiter, hinter ihm die Kühn und die Hebamme. Die spitzgesichtige Kalfaktorin bleibt einen Schritt zurück. Mit einer raschen Bewegung zieht sie ein Taschentuchpäckchen aus ihrem Kleid und lässt es auf Hildes Bett fallen. Hilde greift danach. Das Päckchen enthält ein Ränftlein Brot.
INNEN - GEFÄNGNIS/UNTERSUCHUNGSZIMMER - TAG 34 34
Hilde wäscht sich die Hände.
ARZT
Mach schon!
Der Arzt liegt auf dem gynäkologischen Stuhl und sperrt den Mund auf. Hilde tritt heran, schiebt seinen Kopf zur Seite, untersucht seine Mundhöhle und piekt mit einem Holzstäbchen gegen den schmerzenden Zahn. Der Arzt stöhnt. Hilde erschrickt, aber mit einer gewissen Lust piekt sie erneut.
HILDE
Tut mir leid, aber das muss sein.
Der Arzt stöhnt einmal mehr. Hilde legt das Stäbchen weg.
HILDE (CONT'D)
Karies. Der muss raus. Der Dr. Minnigerode ist ja an der Front, aber bei Dr. Ohlert sind Sie auch gut aufgehoben. Samariter 164.
ARZT
Soll ich mir das merken? Schreibs auf und dann ab.
Der Arzt richtet sich auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn und betastet den schmerzenden Zahn.
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - TAG 35 35
Hilde zieht eine Bettpfanne unter dem Po der spitzgesichtigen Prostituierten hervor und hilft der Frau, die Unterhose hochzuziehen. Sie tut das geschickt und sanft zugleich.
HILDE
Vorsicht! Mit deiner Narbe.
Dann wendet sie sich der MÖRDERIN im Nachbarbett zu, der sie eine kühlende Kompresse auf die entzündete Brust legt. Die Frau seufzt, hält Hildes Hand auf ihrer Brust einen Moment fest. Hilde lässt es geschehen.
MÖRDERIN
Tut jut.
HILDE
Essigsaure Tonerde.
Hilde zieht behutsam ihre Hand weg.
HILDE (CONT'D)
Ruf mich, wenn ich wechseln soll.
Die Mörderin langt unter ihr Kopfkissen und gibt ihr einen trockenen Brotrand, den Hilde schnell in ihrem Kleid verschwinden lässt.
HILDE (CONT'D) Danke.
MÖRDERIN Politische, ne?
ARZT (OFF)
Hilde! Zack, zack! Mastitis Nr. Zwei.
Hilde eilt zu Arzt und Hebamme, die sie bei der Visite begleitet.
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - ABEND 36 36
Liane stöhnt und schlägt mit der Faust aufs Bett.
HILDE
Du schaffst das. Ich habs doch auch überstanden.
Liane schüttelt den Kopf.
HILDE (CONT'D) (ruft)
Fräulein Kühn! Fräulein Kühn!!
LIANE
Bleib bei mir! Der Arzt ist so ein Schlächter.
Hilde sitzt auf ihrer Bettkante, streichelt sie und versucht, sie abzulenken:
HILDE
Genau wie der Ohlert, der Zahnarzt, den ich ihm empfohlen habe. Der schlimmste, bei dem ich je war.
Liane lächelt matt. Tränen treten ihr in die Augen.
HILDE (CONT'D)
Was willst du lieber? Junge oder Mädchen?
LIANE
Mädchen. Unbedingt ein Mädchen.
HILDE
Kriegst du bestimmt. Und wenn nicht, wirds halt ein Junge.
Liane lächelt, entspannt sich. Sie fasst sich in den dichten Schopf, löst eine silberne Spange aus dem Haar.
LIANE
Stimmts eigentlich, dass das Baby schöne Haare kriegt, wenn man sie sich vorher wäscht?
HILDE
Klar. Und wenn du dir die Nägel kurz schneidest, wird es später reich.
LIANE Wirklich?
Hilde gluckst. Liane merkt, dass sie veralbert wird und schlägt schlapp nach Hilde.
LIANE (CONT'D) Mann, Hilde ...!
Dann kommt die nächste Wehe. Hilde ruft energisch:
HILDE
Fräulein Kühn!!
Liane stöhnt, Hilde legt ihr die Hände auf den Bauch.
HILDE (CONT'D) Ruhig! Ruhig! Denk an was Schönes! Hm? Denk an die Sonne, das Wasser, deinen Liebsten ...
Sie beißt sich auf die Lippen, das hätte sie nicht sagen sollen. Jetzt sieht Liane sie mit großen dunklen Augen an.
LIANE
Meinst du, wir kriegen Gefängnis?
Hilde ist einen Moment sprachlos ob der Arglosigkeit des Mädchens. Sie räuspert sich, sagt so heiter es geht:
HILDE
Wir sind im Gefängnis.
LIANE
Du weißt schon ... So richtig.
HILDE
Na ja ... wahrscheinlich ...
Liane schaut Hilde irritiert an ob ihres vagen Tons.
LIANE
Aber doch nicht viel, oder?
HILDE
Nein ... Du kommst sicher frei.
INNEN - REICHSVERSICHERUNGSANSTALT/BÜRO - TAG
Blick aus dem Fenster der Reichsversicherungsanstalt. Hans spaziert vorm Eingang auf und ab. Kein Zweifel, er wartet auf sie.
Hilde atmet schneller. Sie beobachtet ihn von oben und kämmt sich aufgeregt.
Ein paar Fräuleins verlassen das Gebäude und schauen sich nach Hans um, schließlich erscheint Hilde mit einer leichten Röte im Gesicht.
HILDE
Wartest du schon lange?
Hans winkt ab, schaut am Gebäude hoch.
HANS
Hier arbeitest du jetzt?
HILDE
Seit mein Zahnarzt eingezogen wurde.
HANS
Kann ich ja ne Lebensversicherung bei dir abschließen.
HILDE
Unerschwinglich in diesen Zeiten. Vielleicht ne Unkrautversicherung für deinen Garten?
HANS
Ehrlich? Das gibts?
Hilde lacht.
HILDE
Natürlich nicht. Aber wir haben schon verrücktes Zeug, z.B. eine Hochzeits-Rücktrittsversicherung.
HANS
Wenn man kalte Füße kriegt?
Sie sehen sich an, lächeln, schweigen. Hans räuspert sich.
HANS (CONT'D)
Ich ... äh brauch mal deine Hilfe.
HILDE
Brauchst du Papier?
Hans schüttelt den Kopf. Sie könnte jetzt Fragen stellen. Macht sie aber nicht. Sie läuft neben ihm und schaut nach vorn. Und Hans läuft neben ihr und für einen Moment scheint es, als würde er ihr den Arm um die Schultern legen wollen, dann aber zupft er ihr nur eine Lindenblüte vom Ärmel.
Hans schiebt den Küchenschrank beiseite, holt den Koffer mit dem Funkgerät aus dem Versteck unter den Dielen, stellt ihn auf den Tisch, klappt ihn auf und sieht sie gespannt an. Hilde guckt. Sie sieht eine Spule, Skalen und Schalter, unbegreifliche Technik eben. Hans räuspert sich.
HANS
Hm ... den Koffer kennst du ja schon ...
Hilde hat eine vage Eingebung:
HILDE
Ein ... Funkgerät?
Hans nickt beklommen. Hilde muss sich setzen. Sie atmet hörbar aus.
HANS
Hätt ichs dir doch nicht zeigen sollen?
HILDE
Doch, doch ...
Hans sagt stockend:
HANS
Für Nachrichten an die Freunde ...
HILDE
Den sowjetischen Geheimdienst?
HANS
Der Kontakt kam über Harro ... Die wollen Informationen von ihm aus dem Luftfahrtministerium.
HILDE
Was für Informationen?
Hans schüttelt den Kopf und packt das Funkgerät wieder ein.
HANS
War blöd von mir. Ich will dich da nicht reinziehen. Zu gefährlich.
HILDE
Was für Informationen?
HANS
Na, wo Hitler aufmarschieren wird, mit welcher Truppenstärke, wann er angreift usw.
HILDE
Die Sowjetunion angreift?
HANS
Sicher. Ist nur ne Frage der Zeit.
Hilde steht auf, streicht ihr Kleid glatt und sagt fest:
HILDE
Und wie kann ich dir helfen?
Hans holt ein dickes Kompendium heraus und legt es vor Hilde auf den Tisch “Das Einmaleins des Funkens”.
HILDE (CONT'D) Muss ich das jetzt alles ...?
HANS
Na, nur wenn du willst ... Also, der Sender arbeitet mit Kurzwellen, ja, hier siehst du (tippt auf eine Zeichnung), die haben ein sehr gutes Reflexionsverhalten-
HILDE
Aha ...
HANS
-weil sie an der Ionosphäre reflektiert und zurück zum Erdboden gestreut werden, dann wieder in den Raum und zurück, und so kann das Signal um die ganze Erde wandern-
HILDE
Hm, hm ...
Hans verstaut den Koffer im Versteck.
HANS
Weißt du, die Technik ist einfach, aber das Morsen ...!
Er legt zwei Holzbrettchen auf den Tisch, Nägel, Kabel, Summer, eine Batterie, Wäscheklammern.
HANS (CONT'D)
Das ist wie ne neue Sprache lernen. Ich brauch jemand, der mit mir übt. Ich bin erst bei 2 wpm ...
Hilde starrt ihn verständnislos an.
HANS (CONT'D) Wörter pro Minute.
Hilde legt den Kopf schräg und sagt ein bisschen kokett:
HILDE
Und hast du schon Ina oder Grete gefragt?
Hans sieht sie an.
HANS
Darf ich dich küssen?
Hilde schüttelt den Kopf.
HANS (CONT'D) Wegen Franz?
Hilde antwortet nicht, geht zum Tisch, greift nach dem Buch, blättert blicklos darin und atmet tief ein. Dann schließt sie das Buch mit leisem Knall, ist mit einem Schritt bei Hans, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn. Hans hebt sie hoch, hält sie fest und küsst zurück.
Die Spannung zwischen den beiden entlädt sich. Küssend reißen sie sich die Kleider runter, zieht Hans sie zu sich herab auf den Küchenboden. Sie setzt sich auf ihn, entledigt sich des letzten störenden Stücks Stoff und beugt sich über ihn und ihre Nippel berühren seine Brust und sie flüstert:
HILDE
Nicht zu hart hier am Boden?
Aber da lieben sie sich schon und es ist egal.
INNEN - HAUS HANS - ABEND
Hilde liegt nackt bäuchlings auf dem Bett, Hans daneben. Er tippt mit dem Finger zwischen ihre Schulterblätter und ahmt dabei die Morsetöne nach:
HANS
Dahdididit - didah - didahditdidah - dahditdah - dit
(Untertitel: barake)
HILDE
Was? Viel zu schnell! Nochmal!
Er wiederholt langsamer:
HANS
Dahdididit - didah - didahditdidah - dahditdah
(Untertitel: barak)
Hilde schüttelt den Kopf, studiert eine Morsezeichentabelle.
HILDE
Dreimal kurz ist S, langkurz ist N, Sn, kurzlang ...
HANS
Nein! Langkurzkurz, kurzlang-
HILDE
Nee, Quatsch, also, du warst dreimal kurz ...
HANS
Tss! Tss!
Hans steht auf, um ein Glas Wasser zu holen. Hilde sieht ihm nach, sein schlaksiger Gang, seine langen schönen Beine, sein Po ... Sie atmet heftig ein und wird ganz rot vor Freude. Hans kommt zurück. Er taucht seine Fingerspitzen ins Wasser.
HANS (CONT'D)
Dreh dich um. Auf dem Bauch gings besser.
Hilde lacht, dreht sich um. Hans tippt ihr mit den feuchten Fingerspitzen auf den Bauch. Hilde zieht ihn zu sich.
Hilde und Hans laufen Hand in Hand diskutierend an der Mauer entlang. An Plakaten, die vor dem Russen, dem Untermenschen, warnen. Die Summtöne des Morsetasters liegen darüber.
HANS (OFF)
(Untertitel: barke)
Morgens in der U-Bahn legt sich eine Hand auf Hildes Knie, der Finger tippt einen Rhythmus. Hilde lächelt. Sie sitzt neben Hans. Beide zerzaust, übernächtigt und glücklich.
HANS
(Untertitel: banke dilde.)
HILDE (flüstert)
Nicht so schnell ...
Hans tippt langsamer. Hilde kneift konzentriert die Augen zu.
HANS
(Untertitel: banke dilde.)
HILDE
(kopfschüttelnd, flüstert) Hm ... Banse ...?
Aus Klammern, Brettern, Kabel und Summer sind zwei Morsetaster entstanden, auf denen Hilde und Hans üben. Beide nur in Unterwäsche. So sitzen sie sich gegenüber. Hans sendet, Hilde schreibt die Zeichen auf vergleicht sie mit dem Morsealphabet und zieht ratlos die Schultern hoch.
HILDE
Hansegilde?
Hans seufzt, versucht es erneut.
HANS (OFF)
(Untertitel: Danke, Hilde!)
Hilde versteht.
HILDE
Achso ... Danke, Hilde!
Hans seufzt erleichtert und lehnt sich zurück. Hilde lächelt.
HILDE (CONT'D)
Bitte, Hans. Wann sollst du den ersten Funkspruch senden?
HANS
In zwei Wochen.
HILDE
Was?? Phh! Da müssen wir jeden Tag üben wie beim Stenolehrgang.
Kleidung und Schuhe liegen neben dem Bett. Hans bedeckt Hildes nackten Körper mit kleinen, zarten Küssen. Von oben nach unten. Es beginnt wie ein Spiel und wird immer erregender. Hilde schließt die Augen und lässt sich fallen. In der Ferne Sirenen.
Ein Rauschen kommt aus dem Lautsprecher. Hans schaut hoch.
HANS
Was senden wir?
LIBS
Vielleicht, dass wir an sie denken? Dass wir bei ihnen sind nach der Kriegserklärung?
Harro schüttelt den Kopf.
HARRO
Kürzer. Nur Grüße, liebe Grüße ... äh 1000 Grüße, ja 1000 Grüße ...
HILDE ... an die Freunde?
HARRO
Ja. 1000 Grüße allen Freunden.
HANS
Ich nehm den Siebener-Code?
Harro nickt zufrieden. Neben ihm stehen Hilde und Libs. Hans atmet tief ein und macht sich an die Arbeit, die Nachricht zu übermitteln. Hilde starrt ihm auf die Finger und hält die Luft an. Ihre Lippen formen die Buchstaben mit, zucken, als er sich verschreibt.
Hans ist erheblich schneller geworden an der Morsetaste, allerdings zittert er vor Aufregung. Beim letzten Wort sieht sie, wie seine Hand krampft. Kurzentschlossen legt sie ihre Hand auf seine und tippt mit ihm die letzten Morsezeichen. Libs schaut Hilde von der Seite an. Nun warten sie und Hilde erwidert fast trotzig ihren Blick. Man hört nur das Rauschen. Dann aber, leise und von weiter Ferne, kommt ein Signal zurück. Hans notiert emsig die Zeichen.
HARRO
Was? Was sagen sie?
HANS
Danke, Berlin. Bitte Code ändern.
HARRO
Es hat funktioniert! Hans! Es hat funktioniert. Wir haben Kontakt!
Harro klopft ihm auf die Schulter. Libs hüpft und schreit:
LIBS
Das muss gefeiert werden!
Hans erhebt sich, Schweiß auf der Stirn, er sieht nur Hilde an.
Hilde schließt vorsichtig die Tür auf. Atemlos flüstert sie:
HILDE
Mama! Er will mich heiraten! Was soll ich machen?
Die Mutter, die im Schein einer dürftigen Lampe am Esstisch etwas in eine Reisetasche packt, dreht sich um. Sie schüttelt den Kopf, ihre Miene entsetzt, ihre Lippen formen das Wort: Nein. Aber zu spät. Jetzt erst bemerkt Hilde die zweite Gestalt, die hinter der Mutter zusammengekauert war und sich nun erhebt. ELLA.
ELLA
Wer? Wer will dich heiraten, Betty?
Hilde erstarrt. Schluckt. Sie kann so schlecht lügen.
ELLA (CONT'D)
Wer ist es? Dieser Hans?
Hilde nickt, tritt näher, wagt aber nicht in Ellas Gesicht zu sehen, dessen dramatische Mimik die ehemalige Schauspielerin verrät. Die Mutter versucht abzulenken.
MUTTER
Brauchst du Mehl, Ella? Kannst du kochen in deiner neuen Bleibe?
Ella antwortet nicht, sinkt zurück auf den Stuhl. Hilde setzt sich zu ihr. Sie bewohnt mit ihrer Mutter ein schmales Zimmer mit abgetrennter Küchenecke, das Doppelbett hinter einem Vorhang. Sie schweigen. Die Mutter löffelt Mehl aus einem großen in ein kleineres Glas. Es klappert aufreizend. Ab und zu wirft sie einen Blick auf die beiden.
MUTTER (CONT'D)
Ich kann dir noch mehr besorgen. Ich weiß, wo-
ELLA
Hast du das in die Wege geleitet, Hedwig?
MUTTER
Warum sollte ich?
ELLA
Was weiß ich? Weil wir Juden sind, Franz und ich? Dass deine Tochter unter die Haube kommt? Deutsche Haube, natürlich.
MUTTER
Haben wir nicht nötig, Ella. Und dein Sohn ist jung, sieht gut aus, er wird es überleben.
ELLA
Achja? Weißt du, was mit uns passiert? Weißt du, wohin sie uns verschleppen? Diese Lager! Von wegen Arbeit und Erholung!
MUTTER
Ella!
Die Mutter ringt nach Luft, stellt endlich das Glas beiseite.
MUTTER (CONT'D)
Das ist unsagbar grauenhaft! Und wir helfen ja, wo wir können-
ELLA
Heirate ihn nicht, Betty! Es dauert doch nicht mehr lang. Der Russe wird sich schon zu wehren wissen. Und dann kommt Franz zurück und ihr seid wieder zusammen. Ihr wart doch füreinander bestimmt. Hab deinen Spaß, das versteh ich ja, aber heirate nicht. Du brauchst keinen Notnagel. Du hast Franz.
HILDE
Ich hab mich in Hans verliebt.
ELLA
Das geht doch vorbei.
MUTTER
Ella! Hilde kann nichts für das alles. Die macht Sachen, die ich gar nicht wissen möchte, so gefährlich sind die.
Ella beginnt zu weinen.
ELLA
Mir gehts doch nur um mein Kind. Mein einziges.
MUTTER
Mir auch.
Ella nickt, wischt sich die Tränen ab und steht auf.
ELLA
Sag es Franz nicht, ja? Noch nicht!
Hilde will etwas erwidern, aber Ella kommt ihr zuvor:
ELLA (CONT'D)
Es würde ihn zerstören! Lass ihn noch im Glauben, dass er und du-
Sie schüttelt den Kopf, steckt das Glas mit dem Mehl in die Tasche, läuft raus.
HILDE
Ella! Warte!
Hilde will ihr nach, die Mutter hält sie auf.
MUTTER
Nicht doch, Hildelein!
HILDE
Sag nicht immer Hildelein zu mir!
Sie sinkt auf den Stuhl zurück.
HILDE (CONT'D)
Arme Ella ...
Die Mutter seufzt, streichelt sie vorsichtig.
MUTTER
Wieso nennt sie dich eigentlich immer Betty?
Hilde zuckt mit den Schultern.
HILDE
Franz ... mochte das ... Hilde war ihm zu ... altbacken.
Hilde starrt auf ihre Hände, schüttelt den Kopf.
HILDE (CONT'D)
Es geht nicht, ich kann nicht ...
MUTTER
Aber du liebst Hans doch, oder? Hilde?
HILDE
Hab um Bedenkzeit gebeten ...
INNEN -
Hilde liegt wach neben der Mutter im Doppelbett und starrt in die Dunkelheit. Neben ihr auf dem Nachttisch steht ein gerahmtes Foto von FRANZ und ihr.
INNEN - GEFÄNGNIS/BADERAUM - TAG
Wasser perlt. Hilde fährt sich mit grober Kernseife über Arme, Dekolleté, Brust, spült den grauen Schaum mit Wasser ab, das sie in der hohlen Hand schöpft. Einen Moment verweilen ihre Fingerspitzen auf ihrer Haut. Sie sitzt in einer Badewanne, allein in einem Raum, in dem acht Wannen kreisförmig angeordnet sind. Ein paar Meter hinter ihr an der Tür steht die Kühn und starrt die Wand an. Hilde steigt aus der Wanne und beginnt sich abzutrocknen. Die Kühn wirft ihr einen schnellen Blick zu.
HILDE
Danke. Fürs Extra-Baden ...
Die Kühn nickt kurz und schaut wieder weg.
INNEN
Hilde geht den Gang entlang, der zum Besucherraum führt. Sie trägt ihr schönes rotes Kleid, das nunmehr um den Busen herum ziemlich knapp sitzt. Im Haar hat sie Lianes silberne Spange, und in den Armen hält sie ihr Kind. Sie ist wie erblüht. Und trotz der tristen Umgebung geht ein Strahlen von ihr aus, eine neue Ruhe und Sicherheit. Am Ende des Flurs tauchen zwei Gestalten auf, kommen auf sie zu. Sie kneift die Augen zusammen, aber es besteht kein Zweifel, der Lange mit dem schleppenden Schritt-
HILDE
Hans!
Sie rennt los.
KÜHN
Halt! Stopp! Coppi!
Die Kühn greift nach ihr, aber Hilde reißt sich los und läuft, rennt, wie sie noch nie gerannt ist.
KÜHN (CONT'D) Bleib stehen!
Die Kühn stampft hinterher. Aber Hilde rennt, als könnte ihr Hans im nächsten Moment vom Erdboden verschluckt werden. Tränen laufen über ihr Gesicht. Hans will ihr entgegen eilen, wird aber von seinem WÄRTER zurückgerissen.
HILDE
Hans!
Sie hat ihn erreicht. Hans legt die Arme über sie. Er trägt Handschellen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn.
KÜHN Auseinander!
Die Kühn japst heran und versucht, Hilde wegzuziehen.
WÄRTER
Na, na! Sind doch Mann und Frau.
Der Wärter schüttelt den Kopf, schließt die Handschellen auf.
KÜHN
Vorschrift!
HANS
Wen haben wir denn da?
Seine Stimme ist rau. Ein Brillenglas ist zersprungen, auf der Wange hat er einen Bluterguss und am Hals ein Mal wie von einem Strick. Am schlimmsten aber sind seine Augen, die gucken, als hätte er schon mit allem abgeschlossen. Hilde erschrickt. Hans versucht zu lächeln. Hilde nimmt alle Kraft zusammen und legt Hans das Kind in die verletzten Hände.
HILDE
Unser Hänschen.
HANS
Wollte wohl keine Hilde werden?
Hans hält den Kleinen steif. Dieser beginnt zu weinen. Hans will ihn sofort zurückgeben, aber Hilde schüttelt den Kopf.
HILDE
Nein, nein, üben! Ist doch dein Sohn.
HANS
Üben ... Hilde, ich-
HILDE
Ganz leicht, siehst du. Und leise mit ihm sprechen, das hat er gern.
Widerstrebend lässt sich Hans darauf ein und wiegt das Kind. Allmählich kehrt der Glanz in seine erloschenen Augen zurück.
HANS
Hänschen! Na, mein Hänschen ...
HILDE
Guck mal, der Papa ...
Das Kind versucht, Hans zu fixieren.
HANS
Hier bin ich. Du wirst doch nicht so kurzsichtig werden wie ich?
HILDE
Im Moment sieht er nur Umrisse.
HANS
Mehr ist von mir auch nicht übrig.
Tapfer spricht Hilde gegen seine Resignation an.
HILDE
Aber er hört schon auf dich, siehst du? Recht so. Hör auf deinen Vater.
Hans starrt Hilde fassungslos an. Seine Augen glitzern. Ein kurzer, inniger Moment.
HILDE (CONT'D)
Wieviel Zeit haben wir noch?
HANS Zeit?
Hilde presst die Lippen zusammen.
WÄRTER
Noch ne Viertelstunde. Wollter aufm Flur bleiben?
Sie laufen los. Hans trägt seinen Sohn, Hilde an seiner Seite, wie eine kleine Familie. Zur Linken und Rechten die Kühn und der Wärter. Er öffnet die Tür zur Besucherzelle.
INNEN - GEFÄNGNIS/BESUCHERZELLE - TAG
50 50
Alle treten ein. Der Raum wird in der Hälfte durch einen langen Tisch geteilt.
Vor den vergitterten Fenstern sind tatsächlich Blumenkästen, jetzt allerdings schneebedeckt. Der Wärter und die Kühn bleiben an der Tür stehen, er dreht sich zur Wand, die Beamtin behält Hilde und Hans im Auge.
HILDE
Wir müssen ihn wickeln.
Hilde schnuppert am Baby.
HANS
Aha ...?
Hans schnuppert auch und verzieht das Gesicht. Er will Hilde das Kind zurückgeben, aber sie schüttelt den Kopf.
HILDE
Nee, jetzt du ...
Vorsichtig legt Hans den Kleinen auf dem Tisch, schlägt die Decke auf. Aber er scheitert am Ausziehen des Stramplers. Hänschen weint.
HILDE (CONT'D)
Nein, nicht so. Du musst nur die Haken lösen ...
HANS
Weiß ich doch. Aber wenn du mir über die Schulter guckst ...
Sie schauen sich an, lächeln, Hilde löst die Haken, Hans öffnet die Windel.
KÜHN
Noch 10 Minuten.
Hilde erschrickt. Fahrig faltet sie die neue Windel, wickelt Hänschen.
HILDE
Am Anfang war er wirklich winzig, aber jetzt nimmt er zu, jeden Tag ein bisschen. Gottseidank hab ich genug Milch, die arme Liane, weißt du noch, sie kann nicht stillenHans legt den Arm um sie. Sie verstummt, schlägt die Decke über Hänschen zusammen.
Kleiner Zeitsprung. Sie sitzen sich am Tisch, haben sich an den Händen gefasst, sehen sich an. In diesem Moment sind nur sie da, niemand anders.
HANS
Ich hatte solche Angst. Ich dachte, du überstehst das nicht. Aber jetzt, wo du so vor mir sitzt ...
HILDE
Was hatten wir für einen schönen Sommer! Die Äpfel, weißt du noch?
Die großen, grünen?
HANS
Ach Hildchen, meine Hilde ...
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - TAG
LIANE
Nein! Ich will nicht! Das dürft ihr nicht!
Hilde versucht, einen Brief zu schreiben. Aber im Nachbarbett verteidigt Liane verzweifelt ihr Kind gegen Hebamme und Kühn.
HEBAMME
Sie kommt doch zu deiner Mutter.
LIANE
Meine Mutter ist krank und schwach. Gebt sie mir zurück!
HEBAMME
Sei doch froh! Hier drinnen, das ist doch nicht normal für ein Kind.
LIANE
Normal ist, dass sie bei ihrer Mama bleibt. Bei mir. Nicht woanders.
KÜHN
Muss sie sich dran gewöhnen.
LIANE
Warum sind Sie so gemein zu mir? (zur Hebamme) Bitte! Wenigstens heute! Nur heute Nacht noch.
KÜHN
Hör auf mit dem Theater oder ich fessel dich ans Bett!
Hilde lässt Papier und Stift fallen und zieht sich das Kissen über den Kopf, aber Lianes Jammern dringt immer noch zu ihr durch. Erst nach und nach wird es weniger und geht über in einen Singsang. Liane, die gebürtige Russin ist, spricht Gebete auf Russisch. Hilde steht auf, setzt sich auf ihre Bettkante und streichelt das Mädchen. Liane dreht ihr nassgeweintes Gesicht zu Hilde und küsst Hildes Hand.
HILDE
Du siehst sie bald wieder. Bestimmt.
LIANE
Meinst du?
HILDE
Ganz sicher.
AUSSEN - GEFÄNGNIS/INNENHOF - TAG
Ein kühler Tag. Hinter der Kühn laufen sechs Frauen über den Gefängnishof auf ein schmales, braunes Grasfeld zu. Drei von ihnen tragen Wäschekörbe, die sie längs eines Sonnenfetzens absetzen, der nur hierher fällt. In den Körben liegen eingemummelte Babys. Zwei schlafen, eines weint und muss getröstet werden. Hilde sieht ihr schlafendes Hänschen zärtlich an, dann dreht sie sich um zur Kühn.
HILDE
Darf ich ein bisschen ...
Sie macht eine kreisförmige Geste um anzuzeigen, dass sie ein paar Runden gehen möchte. Die Kühn überblickt den Hof. Da ist nur eine einzelne Gestalt, die einsam ihre Runden dreht und von einer weiteren WÄRTERIN bewacht wird.
KÜHN
Aber keine Gespräche!
Hilde betritt den Hofkreis. Eine andere Mutter (MÖRDERIN) schließt sich an. Hilde schaut intensiv auf den Rücken der Gefangenen vor ihr, bis die den Kopf hebt und einen kurzen Blick nach hinten wagt. Es ist Libs. Sie erkennt Hilde, erschrickt und läuft schnell weiter. Hilde sieht, dass die zweite Wärterin wachsam rüberschaut und so läuft sie stumm hinter Libs her und hinter ihr die Mörderin. Als sie Libs’ Wärterin passieren und kurz im toten Winkel sind, beschleunigt Hilde und wispert fast ohne den Mund zu bewegen:
HILDE
Libs! Hattet ihr schon Prozess?
Libs nickt, ohne sich umzudrehen und fährt sich mit der Hand über den Hals.
HILDE (CONT'D)
Hans auch?
Libs nickt. Hilde zieht es den Boden unter den Füßen weg. Sie taumelt. Die Mörderin hinter ihr fängt sie auf. Libs dreht sich um, hilft Hilde auf.
WÄRTERIN
Ejj! Auseinander!
MÖRDERIN
Ihr is duselig.
LIBS (flüstert eindringlich) Verzeihst du mir? Verzeih mir, Hilde! Bitte, bitte! Ich bin so schwach.
WÄRTERIN
Geh weiter, Schulze-Boysen! Los!
LIBS
Bitte! Lass mich nicht gehen, ohne dass du mir verzeihst- Von hier gehts doch nur noch nach Plötze.
Die Wärterin zögert. Soll sie eingreifen?
HILDE (laut zur Wärterin) Geht schon wieder. (leise zu Libs) Ist schon gut. Du wirst sicher begnadigt.
Sie laufen schweigend. Ihr Atem zieht weiße Fahnen.
INNEN - GEFÄNGNIS/ENTBINDUNGSSTATION - ABEND 53 53
Hänschen schläft und Hilde wartet angespannt. Die Kühn geht an den Betten entlang und verteilt Post. Endlich kommt die Wärterin auch zu ihr. Stumm reicht sie Hilde einen Brief und Hilde greift danach, ängstlich, aber auch erwartungsvoll, vor allem erwartungsvoll, dann erblickt sie den Absender.
HILDE
Das ist ja mein eigener! Mein eigener Brief? Was soll das?
Ihre Stimme überschlägt sich. Die Kühn macht eine unwirsche Geste. Hilde soll nicht so laut sein. Leiser fragt sie:
HILDE (CONT'D)
Warum krieg ich meinen Brief zurück?
Die Kühn besieht das Kuvert, tippt auf den Stempel.
KÜHN
Zensiert. Hast wohl irgendwas geschrieben, was du nicht durftest.
Sie wirft den Brief aufs Bett und zieht weiter. Hilde weiß einen Moment nicht, wohin mit ihrer Verzweiflung. Sie krallt sich ins Laken, presst das Kuvert ans Gesicht und küsst es, küsst seinen Namen auf dem Brief. An Hans Coppi, RSHA PrinzAlbrecht-Straße 8.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/MÜTTERZELLE - TAG
Hilde trägt den kleinen Hans im Wäschekorb. Die Kühn läuft einen Schritt vor ihr. Sie steigen hoch ins oberste Stockwerk des Zellentrakts, laufen einen Gang entlang. Vor einer Zellentür bleibt die Kühn stehen, schließt sie auf.
Hilde stockt. Vor ihr die leere Zelle. Einsamkeit verheißend.
HILDE
Ist noch jemand hier von meinen Freunden?
Die Wärterin zögert, zuckt unwirsch mit den Schultern, dann macht sie eine weite Geste.
KÜHN
Die ganze Station Fünf.
HILDE Wer?
KÜHN
Die anderen eben. Die lauten. (Pause) Du bist anders.
Hilde sieht sie aufmerksam an. Zum ersten Mal bemerkt sie, dass dieses grobe Weib gar nicht so alt ist, wie es scheint. Die Kühn wirft einen Blick übers Geländer in die unteren Etagen, wo eine andere Aufseherin entlangläuft und sich entfernt. Dann zieht sie die Klappe in der Tür der Nachbarzelle auf. Hilde späht hindurch, blinzelt in die Dunkelheit, dann schreit sie auf:
HILDE
Ina! Meine Liebe!
Ina dreht sich in einem eleganten Abendkleid vor einer Handvoll Damen, von denen wir aus Gretes und Hildes Perspektive nur Rücken und Hinterköpfe sehen. Es ist eine kleine, fast private Modenschau, veranstaltet von FRAU HEISE, der Inhaberin des Salons.
FRAU HEISE (näselnd)
Mesdames! Attention! Im Kontrast zum Alltagskleid ist bei unserer Abendgarderobe Glamour angesagt. Das Divenkleid, das Ina hier trägt, ist die perfekte Mischung aus Sexappeal plus Luxus plus Eleganz plus Romantik. Dazu einen PersianerBolero, der nicht nur sportlich elegant ist, sondern auch die Nieren wärmt.
HILDE (OFF)
Und welche ist Zarah Leander? Die mit dem Glockenhut?
GRETE (OFF)
Nee, die mit der Kaltwelle ...
Grete und Hilde spähen aus dem Ankleidezimmer nach draußen in den Salon. Ina dreht sich noch einmal, um dann aus dem Halbkreis heraus zu Hilde und Grete in die Kleiderkammer zu stolzieren.
INA (flüstert)
Die Braun und ihre Entourage bestellen Pelze en masse.
GRETE
Ick würd ja Nerz nehmen. Persianer wär mir zu ordinär. - Päckchen liegt schon in deiner Tasche.
Grete hilft ihr beim Auskleiden.
INA
Verstehst du nicht? Pelze? Im Frühjahr? Die rüsten sich für ihre Siegesfeier auf dem kalten Roten Platz. - Hilde! Die Robe!
GRETE
Na, die wer’n sich wundern!
Hilde greift nach einem schlichten, roten Kleid.
HILDE
Die Brüsseler Adresse und den Code erfährst du 18.00 am Kiosk.
INA
Das doch nicht, das cremefarbene!
HILDE
Entschuldige.
INA
Steht dir, das rote. Kannste haben. Kriegt hier keiner mit.
Grete lacht und stellt Ina elegante, rote Pumps zurecht.
GRETE Hilde? In Rot??
INA
Na, dass sie Hans mal aus der Reserve lockt.
GRETE
Welchen Hans? Coppi? Quatsch! Oder?
HILDE
Phh! Der Stiesel!
INA
Gibs ruhig zu. (zu Grete) Und du halt dich mal n bisschen zurück-
FRAU HEISE (OFF)
Ina? Wo bleiben Sie?
INA
Sofort, Frau Heise! Der Reißverschluss ... (zu Grete) Bist schließlich schon verheiratet.
GRETE
Na, Hilde doch auch. Quasi.
INA
Quasi!
Ina stolziert nach draußen. FRAU HEISE moderiert.
FRAU HEISE
Mesdames! Attention! Ja, da staunen Sie. Die gute, alte Robe. Vorn züchtig hochgeschlossen, aber hinten ... - olala ... Und als kleines Extra der figurbetonte Faltenwurf und das asymmetrische-
Hilde tut interessiert, merkt aber, dass Grete sie mustert.
GRETE
Stimmt dit? Hilde?
Hilde schüttelt den Kopf, ohne Grete anzusehen.
HILDE
Das ist nie im Leben Zarah Leander.
GRETE
Na, sonst schnapp ick ihn mir ...
Hilde wendet sich ab, nimmt das rote Kleid vom Bügel und hält es sich an. Grete guckt.
HILDE
Steht mir das wirklich?
Hilde versucht ungelenk und ahnungslos, am Rande der Badestelle, wo auch schon andere zelten, ihr Zelt aufzubauen.
Da prescht ein Motorrad heran und bremst dicht vor ihr. Hans fährt barfuß, verwegen.
HANS
Mensch, Hilde! Bist ja doch da! Und wo ist Grete?
Hilde verschluckt eine patzige Bemerkung und sagt schlicht:
HILDE
Hatte Fieber.
Hinter ihr kracht das Zelt wieder zusammen.
HANS
Brauchst du Hilfe?
HILDE
Nein, danke. Geht schon.
Umständlich versucht sie, das Zelt wieder aufzurichten. Möglichst ohne ihn anzusehen. Hans zögert. Selbst unsicher fragt er burschikoser als nötig:
HANS
Weißt aber schon, wies geht?
HILDE
‘türlich. Ist halt nur Gretes Zelt.
Hans macht das Motorrad aus und steigt ab.
HANS
Lass mich mal!
Er drückt ihr eine Leine in die Hand, zieht die Plane straff, rammt die Stangen tiefer in den Boden. Während sie die Heringe einschlagen, schaut Hilde ihm auf die Hände und Hans ihr auf den Po. Als sie fertig sind, stehen sie verlegen voreinander.
HANS (CONT'D)
Äh ... warte ...
Er holt eine Flasche Bier aus dem Gepäckfach und bespritzt das Zeltdach:
HANS (CONT'D)
Ich taufe dich auf den Namen “Gretes Rache”. Hier.
Er hält Hilde die Flasche hin. Zögernd nimmt sie einen kleinen Schluck. Und dann noch einen größeren. Hans nickt.
HANS (CONT'D)
So! Kleine Runde?
Er zeigt auf sein Motorrad. Hilde schüttelt den Kopf.
HILDE
Lieber nicht ...
SCHNITT AUF:
Hildes Gesicht hinter Hans. Er umrundet, so langsam es im Sand der Badestelle möglich ist, eine Gruppe junger Leute, tanzend, badend, palavernd. Darunter Harro, Libs, GÜNTHER, Ina, Heinrich und FRIDEL mit ihrem Baby. Hilde legt vorsichtig die Arme um Hans. Ihr Gesicht ist ganz nah an seinem. Er fährt schneller und umkreist die Gruppe wieder und wieder, bis Hilde die Augen schließt, weil ihr sonst übel wird.
56.a 56.a
AUSSEN - BADESTELLE - ABEND
Hans sitzt auf seinem Handtuch und schaut gespannt zu Hilde hoch, die sich auszieht. Was sich entpuppt, wenn sie das Kleid über den Kopf zieht? Leider hat sie den Badeanzug schon unter. Aber wie sie sich entkleidet, ist über die Maßen zart und anmutig, außer dass ihr die Brille dabei runterfällt. Er hebt sie auf, legt seine daneben, und da liegen sie schon mal nebeneinander, ihre Brillen. Und dann gehen sie ins Wasser, vorbei Günther und Harro, die die strampelnde Libs in den See schleifen, an Heinrich und Ina, die nackt baden. Und Hilde, die natürlich friert, gibt acht, dass sie nicht nass gespritzt wird und trotzdem nicht zu altjüngferlich wirkt. Sie beißt die Zähne zusammen und das kalte Wasser prickelt und schmerzt beinahe auf ihrer Haut. Und sie schwimmen raus, erst vorsichtig, dann immer fröhlicher und Hans spritzt und Hilde traut sich, den Mund mit Wasser voll zu nehmen und Richtung Hans zu spucken, wofür er sie unterstukt.
AUSSEN - BADESTELLE - NACHT 57 57
LIBS
Dat du min Leevsten büst, dat du woll weeßt.
Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heeßt; kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht, segg wo du heeßt.
Das Lagerfeuer ist heruntergebrannt. Hilde sitzt neben Hans und wirft scheue Blicke. Da ist Libs in Marlene- Hosen und Seemannspullover, die betörend schön wirkt, wenn sie singt und Akkordeon spielt. Links neben ihr Harro, schneidig, obwohl er keine Uniform trägt. Von beiden geht trotz aller Lässigkeit etwas Aristokratisches aus. Rechts neben Libs meditiert GÜNTHER im Lotussitz. Heinrich lauscht Harro, der eindringlich auf ihn einredet. Fridel lehnt an Heinrich, ihr Baby schläft. Und Ina tanzt für sich allein neben dem Feuer einen Ausdruckstanz.
HANS
Harro kommt eigentlich aus einer Admirals-Familie und arbeitet im Luftfahrtministerium. Aber der ist ein echter Revolutionär, dem haben die Nazis schon ‘33 die Nieren zerschlagen. Der liest Lenin im Original ... Und Libs, seine Frau, die ist so ... na, bald wirst du kennenlernen-
Hilde mustert ihn. Seine Begeisterung und Wärme rühren sie.
HANS (CONT'D)
Was denn? Was guckstn so?
Hilde stammelt ertappt:
HILDE
Nichts ...
Sie wendet sich verlegen ab, flüstert nach einem Moment:
HILDE (CONT'D)
Ist Libs nicht Harros Frau ...?
Sie schaut zu Libs, die das Akkordeon beiseite gelegt hat und mit Günther knutscht. Hans zuckt mit den Schultern.
HANS
Tja ... freie Menschen ...
Er sieht sie an und lächelt. Hilde schaut zurück, sekundenlang sehen sie sich in die Augen und halten den Atem an und da weiß sie, dass es passiert ist, sie hat sich in ihn verliebt. Erschrocken senkt sie die Augen und nimmt wieder ein wenig Abstand. Sie sitzen nebeneinander, aufs Äußerste angespannt, weil jede Bewegung eine Entscheidung bringen könnte, und Hans räuspert sich und flüstert:
HANS (CONT'D)
Vielleicht sehen wir ne Sternschnuppe?
HILDE
Ich doch nicht.
HANS
Und wenn doch? Was wünschst du dir?
HILDE
Ach ... nur albernes Zeug. Und du? Weltfrieden und Kommunismus?
HANS
Was für albernes Zeug?
HILDE
Na z.B. keine Angst mehr zu haben.
HANS
Angst wovor?
HILDE
Vor allem ... Käfern, Spinnen, den Nazis, meinem Zahnarzt, der Liebe ...
INNEN - ZELT HILDE - NACHT 58 58
Hilde liegt wach in ihrem Zelt. Sie friert, der Boden ist hart, sie hadert mit sich. Sie setzt sich auf.
Hilde kriecht vor Hans’ Zelt, das sich direkt neben ihrem befindet. Sie zögert, dann flüstert sie:
HILDE
Hans! (wartet) Hans!!
Keine Antwort. Sie nestelt am Reißverschluss.
LIBS
Ausgeflogen.
Hilde fährt herum. Da sitzt jemand in der Dunkelheit, zieht an einer Zigarette. Schemenhaft leuchtet Libs’ Gesicht auf.
HILDE
Oh! Hab ... hab ich dich geweckt? Ich ... wollte nur nach einer Taschenlampe fragen.
LIBS
Soso ...
Sie kichert anzüglich.
LIBS (CONT'D)
Sie sind unten am Ufer.
HILDE
Sie?
LIBS
Mit Harro und Heinrich.
HILDE
Da will ich nicht stören.
Hilde will sich zurückziehen.
LIBS
Kannst du ruhig, geh nur, sag schönen Gruß von mir ...
Zögernd und widerwillig setzt sich Hilde in Bewegung, sie spürt Libs’ Blicke in ihrem Rücken. Sie tastet sich unsicher an den anderen Zelten, am heruntergebrannten Feuer vorbei Richtung Wasser. Sie hört leise Stimmen. Im Mondlicht erkennt sie drei Silhouetten am Ufer. Hilde lauscht.
Gesprächsfetzen dringen herüber: Heinrich eingezogen ... von größter Brisanz ... dich ausgewählt ... bist du bereit ... die Frage ist nur ... kriegen wir hin ... besorge dir Schulungsmaterial ... Rest musst du selbst ... Sowjetische Botschaft ...
Hilde stockt. Will sich zurückziehen, da stehen die drei auf und laufen in ihre Richtung. Hilde duckt sich ertappt ins hohe Gras, die Männer schlendern dicht an ihr vorbei.
Hilde tritt verbissen in die Pedale ihres Fahrrads, das immer wieder im Sand des Feldwegs ausschert. Das verflixte Zelt ist ein schlampig geknüllter Haufen Stoff auf ihrem Gepäckträger.
ELLA
Furchtbar siehst du aus, Betty. Warst du wieder krank? Oder machst du dir Sorgen, weil er nicht schreibt? Musst du nicht. Gestern war ich bei Bekannten, die Kontakt zu ihm hatten. Franz gehts gut, er ist gesund, hörst du?! - Die Zwiebeln kannst du da lassen.
Ella verpackt mit fliegenden Händen Lebensmittel aus der Speisekammer. Ihr Redeschwall hat neben dem gewohnten Pathos einen flirrend ängstlichen Ton. Ihre Küche ist nahezu leergeräumt. Ein Tisch, Stühle, ein paar leere Schränke mit offenen Türen und Schubladen. Hilde stellt Kartoffeln und Konserven aus der Speisekammer auf den Tisch, duckt sich dabei immer wieder in den Verschlag und lässt Ella ihr Gesicht nicht sehen.
ELLA (CONT'D)
Irgendwann schreibt er auch wieder. Du kennst ihn ja, so sind sie, die Männer. Sein Vater auch, auf der Bühne großes Drama, aber zu Hause keine Träne zu viel. Weißt du, was der immer gesagt hat ...? (spielt) Ich habe auch Gefühle!
ELLA (CONT'D)
- Und welche, bitteschön? - Na, zum Beispiel Hunger und Durst!
Sie lachen. Hilde stellt den Beutel mit den Lebensmitteln auf den Tisch.
HILDE
Soll ich dir noch helfen, das alles zu deiner Freundin zu bringen?
ELLA
Das wäre furchtbar lieb.
Ella sieht sie offen an. Hilde lächelt gequält.
Betty?
Ja ...?
ELLA (CONT'D)
HILDE
ELLA
Danke! Danke, mein Kind! Für alles!
Ella muss weinen. Hilde umarmt sie fest. Und unglücklich.
AUSSEN/INNEN - HAUSFLUR/WOHNUNG LIBS UND HARRO - TAG 62 62
Libs öffnet die Tür, sie hat die Haare lässig hochgesteckt, einen Bleistift hinterm Ohr und wirft Hilde einen zerstreuten Blick zu.
LIBS
Oh! Mit Ihnen hab ich heut nicht gerechnet, na egal, kommen Sie-
Hilde betritt zögernd hinter Libs den Flur der bürgerlichen Mietwohnung mit Stuck an den Decken und Teppichboden. Ihr Blick streift die Garderobe, an der Harros Offiziersuniform hängt und daneben - ein Pelzmantel!
LIBS (CONT'D)
Ich hab zu tun, also nur Küche und Flur, ja?!
HILDE
Äh, nein ... ich-
LIBS
Ich will nicht gestört werden, ja?!
HILDE
Ich bin doch die Hilde.
LIBS Hilde?
HILDE
Na, neulich beim Zelten ... Ich soll was abholen für Hans, Hans Coppi-
LIBS
Ach Gott! Hilde! Die Taschenlampe!
Libs lacht hell auf. Sie läuft in die Küche und spricht von da aus weiter.
LIBS (CONT'D)
Die Freundin von Hans, ja?
Hilde folgt ihr zögernd.
HILDE
Äh ... nein ...
Libs holt einen Koffer unter dem Schrank hervor und stellt ihn auf den Tisch.
HILDE (CONT'D)
Wir sind nur-
Hilde errötet und greift schnell nach dem Koffer.
LIBS
Achja, die Männer ... Ich kenn das. - Willst du Tee?
HILDE
Nein, danke ich-
LIBS
Hagebutte! Selbst gesammelt und getrocknet. Musst du probieren!
Schon setzt Libs Wasser auf. Hilde seufzt.
LIBS (CONT'D)
Hast noch einen andern, ja?
Hilde zögert, dann sagt sie schnell:
HILDE
Wir sind wirklich nur befreundet ... Hans und ich.
LIBS
Du Glückliche! Weißt du, Günther und ich ... Günther kennst du doch?
Hilde schüttelt den Kopf.
LIBS (CONT'D)
Na egal, der Günther, der ... (seufzt) Ich mein, Harro gibt mir alle Freiheiten. Günther wohnt hier ... Ich ... wir lieben uns, wir arbeiten zusammen. Und Harro ist nicht mal eifersüchtig. Und Günther auch nicht. Das ist das Schlimmste!
Libs schüttet die Hagebutten in eine gläserne Teekanne.
LIBS (CONT'D)
Immer nur die Politik! Das geht mir so an die Substanz. Guck!
Sie streift den Ärmel hoch und zeigt Hilde ihren Arm, der mit kleinen roten Pusteln übersät ist.
LIBS (CONT'D)
Nesselfieber! Manchmal möcht ich das hier alles hinter mir lassen. Einfach ein Häuschen an der Ostsee, ganz schlicht, weißt du, da mit Harro leben, Gemüse anbauen, Kinder haben ... Verstehst du?
Hilde schluckt, hebt den Kopf und sagt leise:
HILDE
Ich hab ne kranke Mutter, um die ich mich kümmern muss, kein Geld für ein Häuschen an der Ostsee, und sei es noch so schlicht, und Kinder kann ich auch nicht kriegen.
Libs starrt sie verblüfft an, dann lacht sie auf.
LIBS
Touchè.
Sie gießt das heiße Wasser auf.
HILDE
War nicht meine Absicht.
Libs holt feines Teegeschirr mit Rosendekor aus dem Schrank.
LIBS
Hältst du mich auch für eine Salonbolschewikin? Ja?
Hilde zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf.
LIBS (CONT'D)
Ich zeig dir mal, was ich mache. Na komm, los, komm mit!
63
Libs winkt Hilde und geht aus dem Raum. Hilde folgt ihr widerstrebend. Das Teewasser in der Glaskanne färbt sich rot.
INNEN - WOHNUNG LIBS UND HARRO/DUNKELKAMMER - TAG
Rot ist auch das Licht der Dunkelkammer.
63
Im Entwickler schälen sich die Konturen eines Fotos heraus. Hilde starrt darauf, neben ihr Libs. Hildes Stimme ist rau:
HILDE
Woher hast du das?
LIBS
Wir kriegen oft Soldatenpost in die Redaktion mit Fotos von ihren Heldentaten. Hat ne Weile gebraucht, eh ich die begriffen hab. Seitdem fotografier ich sie ab. Als Beweise, verstehst du?!
Sie schweigen. Das Foto ist entwickelt. Es zeigt eine Gruppe nackter Frauen und Mädchen auf einer Wiese, eine von ihnen hochschwanger, andere tragen Kleinkinder. Neben ihnen Landser mit Gewehren. Eine Frau, die ihr Kind auf dem Arm hat, ein großes Kind, viel zu groß, um es auf den Arm zu nehmen. Hinter ihr ein Mann, der auf sie schießt.
Hildes versteinertes Gesicht spiegelt sich im Fenster der UBahn. Ihre Finger krallen sich um den Koffer.
AUSSEN/INNEN - KLEINGARTEN/HAUS HANS - ABEND
Hans reißt die Tür seines Holzhäuschens auf.
HANS
Na, endlich! Komm rein, komm!
Hilde tritt ein. Ihr Blick streift über die Einrichtung. Es gibt einen Tisch mit einem Stuhl, auf dem Boden ein Spirituskocher, ein verbeulter Topf.
HANS (CONT'D)
Was war los? Hat dich jemand verfolgt?
HILDE
Nein ...? Entschuldige. Hab noch Tee getrunken mit Libs und-
Hans schnaubt, schüttelt den Kopf. Er nimmt ihr den Koffer ab und verstaut ihn unter einem Dielenbrett. Heftig stößt er hervor:
HANS
Diese Kurierdienste sind nichts für dich. Konnte Grete das nicht übernehmen? Oder Ina?
Hilde steht da mit hängenden Armen. Dann sagt sie tapfer, aber kläglich:
HILDE
Wie wärs mit “Danke, Hilde”?
HANS
Danke? Wieso? Hilde, du machst das doch nicht für mich oder ... Franz?
Hilde starrt ihn an. Hans tritt an sie heran, will ihre Hände fassen. Hilde weicht zurück und sagt sehr klar:
HILDE
Traust du mir keinen eigenen Willen zu?
Sie sieht ihn herausfordernd an. Hans zögert einen Moment zu lange mit der Antwort. Da greift Hilde ihre Tasche und stürmt raus. Hans zögert, dann läuft er zur Tür, ruft ihr nach:
HANS Hilde!
Aber sie ist schon hinter den Büschen verschwunden.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE
Ein Foto von Hans, der in der Tür des Holzhäuschens lehnt, steht vor ihr. Hilde sitzt am Tisch in ihrer Zelle und schreibt einen Brief. Hans, mein Liebster ... Draußen auf dem Gang quatschen die Wärterinnen. Da rasselt es. Die Kühn steht in der Tür, neben ihr ein Mann in schwarzem Anzug.
KÜHN
Besuch, Coppi.
HILDE Vernehmung?
Hildes Blick geht erschrocken zum Wäschekorb auf dem Bett, in dem Hänschen schläft. Der Mann schüttelt den Kopf. Er ist jung, kaum älter als Hilde, ziemlich gutaussehend. Er trägt eine runde Brille wie Hans, seine Stimme ist weich:
PFARRER POELCHAU
Nein, nein. Mein Name ist Harald Poelchau. Es geht nur um-
KÜHN
Hast du was zu kübeln?
Hilde steht auf, gibt der Wärterin den Toiletteneimer und erhält einen neuen. Die Kühn knallt die Tür zu.
PFARRER POELCHAU
-äh um etwas christlichen Beistand.
Hilde stellt den Eimer ab und bietet dem Pfarrer ihren Stuhl an. Sie selbst setzt sich auf die Bettkante zu Hänschen. Der Pfarrer räuspert sich:
PFARRER POELCHAU (CONT'D)
Ich weiß, dass Sie nicht konfessionell gebunden sind ...
Hilde springt auf.
HILDE
Weihnachtskekse? Sind noch übrig.
Ohne seine Antwort abzuwarten, holt sie die Kekse aus einer Dose in einem kleinen Regal und legt sie auf eine Untertasse mit Rosendekor. Der Pfarrer nimmt einen Keks.
HILDE (CONT'D)
Die Nüsse sind aus unserem Garten. Man muss sie nur im rechten Moment ernten, sonst holt sie der Star.
Der Pfarrer lächelt, seufzt. Hilde springt wieder auf.
HILDE (CONT'D)
Einen Tee? Ich habe aber nur eine Tasse. Macht es Ihnen was aus?
Hilde gießt Tee aus der Thermoskanne in die Emaille-Tasse. Der Pfarrer nickt dankend und nippt. Hilde sieht, dass seine Hände zittern. Sie lässt sich wieder auf der Bettkante nieder. Der Pfarrer schaut auf. Es ist ein tiefer, dunkler Blick, der Hilde bis ins Herz trifft.
PFARRER POELCHAU
Ich soll Ihnen Grüße von Ihrem Mann ausrichten.
Er spricht langsam, jedes Wort hallt nach. Hilde versucht, sich zu fassen. Ihre Stimme klingt erstickt.
HILDE
Ach? Mein Mann. Wie schön. Gerade schreib ich ihm. Manchmal brauchen die Briefe ewig, dann wieder kriegt man 3 auf einmal ...
Bei den letzten Worten laufen ihr Tränen aus den Augen. Sie weiß es längst. Schon bei seinem Eintreten. Der Pfarrer berührt sacht ihren Arm.
PFARRER POELCHAU
Ich war bei ihm.
HILDE
Wann?
PFARRER POELCHAU
Am 22. Dezember schon.
Hilde presst die Hand auf den Mund und wendet sich ab.
PFARRER POELCHAU (CONT'D) So tapfer und gütig, wie er gelebt hat, ist er auch gegangen.
Hilde nickt, sie kann nicht sprechen.
PFARRER POELCHAU (CONT'D)
Er hat mir ein paar Zeilen für Sie mitgegeben.
Er legt einen Zettel auf den Tisch.
HILDE
Können Sie es vorlesen? Sie haben so eine angenehme Stimme.
Der Pfarrer faltet den Zettel auseinander und liest:
PFARRER POELCHAU
Ein fallendes Blatt vom Winde getragen, zeigt uns an, dass die Stunde geschlagendas Erfüllte sanft von uns schreitet, das Unerfüllte bleibt - und leidet!
Hilde lauscht, nickt.
HILDE
Hat er das selbst geschrieben?
PFARRER POELCHAU
Ich glaube ja.
HILDE
Er wollte studieren, wissen Sie. Er hat gern gelesen. Leidenschaftlich.
Sie bricht ab. Der Pfarrer sieht sie an. Hilde flüstert:
HILDE (CONT'D)
War er allein?
PFARRER POELCHAU
Als er hingerichtet wurde? Nein. Herr und Frau Schulze-Boysen gingen zur gleichen Zeit.
HILDE
Libs auch?
PFARRER POELCHAU
Sie hatte wohl bis zum Schluss gehofft, dass man sie verschont. Von Herrn Harro soll ich Sie ausdrücklich grüßen.
HILDE
Waren Sie dabei?
Der Pfarrer nickt bekümmert.
PFARRER POELCHAU
Ich kann sie doch nicht allein lassen in diesem Moment.
SPÄTER:
Hilde kommt zu sich, weil der Kleine jammert. Sie hockt auf dem Zellenboden. Der Zettel des Pfarrers liegt vor ihr. Das Kind weint. Hilde stemmt sich hoch, sie reißt das Baby aus dem Wäschekorb, drückt es an sich.
HILDE
Hänschen, mein Hänschen. Entschuldige!
Sie presst ihr Gesicht an seinen warmen Körper. Dann sagt sie laut zu sich selbst:
HILDE (CONT'D)
Mach schon, Hilde! Baden, wickeln, füttern. Baden, wickeln, füttern. AUSSEN -
Totale. Stille hinter vergitterten Fenstern.
Hilde schreckt hoch vom Rasseln des Schlüssels. Sie schläft auf der schmalen Pritsche, neben ihr der Kleine.
Die Kühn steht in der Zellentür.
KÜHN
Aufstehen, anziehen! Verhandlung.
HILDE
Was? Jetzt?
KÜHN
Sofort. Der Kleine kommt ins Lazarett derweilen.
HILDE
Aber- Er braucht doch Milch. Die Kühn zögert, nickt.
KÜHN
Mach schnell!
Sie lässt die Tür offen und geht weiter zur Nachbarzelle.
KÜHN (CONT'D)
Lautenschläger! Aufstehen, anziehen! Verhandlung.
Hilde setzt die Saugglocke auf ihre Brust auf, pumpt. Es ist unangenehm. Hänschen erwacht und gibt ein gurgelndes Geräusch von sich, eine Art Lachen. Da muss auch Hilde lächeln, sie flüstert:
HILDE
Na, mein kleiner Süßer! Hab keine Angst! Keine Angst!
Hilde drückt Lianes Hand. Das Mädchen zittert, Hilde streichelt sie beruhigend. Dabei ist sie selbst angespannt. Sie sitzen in einer fensterlosen “Grünen Minna”. Ihr gegenüber Ina, deren Kopf auf die Brust gesunken ist, ihre Augen halb geschlossen. Liane sieht Hilde an und flüstert:
LIANE
Beruhigungstabletten?
HILDE
Hoffentlich wacht sie zur Verhandlung wieder auf.
Liane gluckst. DIE ÄLTERE WÄRTERIN, die sie begleitet, räuspert sich. Das Fahrzeug stoppt. Die hintere Tür wird aufgerissen. Plötzliche Helligkeit. Zwei Männer mit Handschellen werden hereingeschoben, ihnen folgen zwei Bewacher. Liane schreit:
LIANE
Fritz! Du! Fritz! Mein Liebster!
FRITZ legt die Arme mit den Handschellen über Liane, sie bedeckt sein Gesicht mit Küssen. Hilde sieht ihnen mit Wehmut und ehrlicher Freude für Liane zu. Ina kichert im Halbschlaf.
Der andere Mann setzt sich neben Hilde. Sie sieht ihn an, blinzelt und erkennt ihn erst auf den zweiten Blick, verstört und ausgemergelt wie er ist. Ein freudiger Schreck.
HILDE
Ach Gott! Heinz! Heinrich!
HEINRICH
Wer ... ? Du? Hilde?
Hilde schaut Heinrich offen an, ein vertrautes Gesicht. Heinrich erwidert ihren Blick forschend, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie flüstern:
HEINRICH (CONT'D)
Ich hab dich nicht erkannt ...
HILDE
Bin ich so anders?
Heinrich nickt.
HILDE (CONT'D)
Durch das Kind vielleicht ...?
Heinrich lächelt, nickt, stupst sie mit der Schulter an.
HEINRICH
Wie heißt er denn?
HILDE
Hans. Er heißt Hans.
Über Heinrichs Gesicht läuft ein Zucken, eine unkontrollierte Regung. Er holt tief Luft, will etwas sagen, aber ihm fehlen die Worte. Hilde legt ihm sacht die Hand aufs Bein. Sie schweigen. Hilde schluckt, dann traut sie es sich:
HILDE (CONT'D)
Darf ich dich um was bitten?
Heinrich nickt. Hilde wirft einen Blick zur Wärterin, die demonstrativ wegschaut.
HILDE (CONT'D)
Könntest du mich in den Arm nehmen? So wie Fritz?
Heinrich legt die Arme mit den Handschellen um Hilde. Sie lehnt sich an ihn, schließt die Augen und versinkt einen Moment in der Berührung.
INNEN - GERICHT/FLUR - TAG 70 70
Die Gefangenen laufen je zu zweit die Treppe hoch. Auf den Absätzen stehen links und rechts Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr.
Ina ist inzwischen erwacht und wird ihrer Aufregung nicht Herr. Hastig flüstert sie mit Liane, die neben ihr läuft.
INA
Nichts zugeben, Schnurr-Murr. Nur ans Protokoll halten. Sonst drehen sie dir noch den leersten Schmus im Mund rum.
Sie tippt Hilde an, die vor ihr geht.
INA (CONT'D)
Hast du auch gehört, dass Libs noch lebt? Ist ja auch weitläufig mit Göring versippt. Geht doch nichts über ne handfeste Korruption, oder? Bändeweise hat die ausgepackt-
HILDE
Sie ist tot.
WÄRTERIN
Ruhe!
Ina schweigt kurz, dann fährt sie noch leiser fort:
INA
Na, immerhin. Dann ist sie jetzt wohl ne Heldin. So wie dein Hans und die anderen Pappnasen, die uns da reingeritten haben mit ihrem Leichtsinn und ihrer Eitelkeit.
LIANE
Ina! Hör auf!
HILDE
Hans war nie leichtsinnig.
Sie kommen ins oberste Stockwerk in einen Flur, der zum Gerichtssaal führt. Auch hier stehen Posten. An der Tür des Saales hängt ein Schild “Geheime Verhandlung”. Die Wärterin kommandiert:
WÄRTERIN
Mit Abstand aufstellen!
Die Gefangenen stellen sich mit je zwei Meter Abstand auf. Ein Aufseher löst die Fesseln der Männer. Ina dreht sich zu Hilde, in ihren Augen glitzern Angst und ein Schuss Wahnsinn.
INA
Und woher wussten die, dass ich Alberts Uniform hatte? Die haben nicht mal gesucht. Sind sofort aufs Versteck zu. Hast du das ausgeplaudert?
Hilde schüttelt den Kopf.
INA (CONT'D)
Dann kanns nur Hans gewesen sein.
HILDE
Er wurde gefoltert.
INA
Tss. Und nu isser tot. Du auch bald. Wir alle. Dein Kind ne Waise. Und wofür??
Hilde starrt Ina an. Und es scheint möglich, dass sie, die Zarte, die nie jemand hat schlagen können, die Hand gegen Ina erheben könnte. Da geht die Wärterin dazwischen.
WÄRTERIN
Haltet endlich die Klappe, sonst-
Ina und Hilde verstummen. Stehen angespannt nebeneinander. Hilde atmet tief ein, legt die Hände auf den Bauch, als suche sie die Kraftquelle in ihrem zarten Körper.
ROEDER (OFF)
... unter dem Einfluss ihres Mannes eignete sie sich dessen Gedankengut an und wurde wie er überzeugte Kommunistin.
Hilde hält den Kopf gesenkt, während das Plädoyer des STAATSANWALTES ROEDER auf sie niedergeht. Ihr bisschen Hoffnung stirbt in diesem Moment.
ROEDER (OFF)
Sie half bei der Vervielfältigung und Verbreitung von Flugblättern und Hetzschriften, die sie auf Wachsmatrizen tippte oder wie anlässlich der Ausstellung “Das Sowjetparadies” gemeinsam mit ihrem Mann im Wedding und Moabit an Fassaden klebte. Des weiteren hörte die Angeklagte die deutschsprachige Propaganda-Sendung Heimatpost des Moskauer Rundfunks ab. Sie schrieb Briefe an die Familien deutscher Soldaten, dass diese sich angeblich wohlbehalten in russischer Gefangenschaft befinden. Mitte August 1942 nahm sie den russischen Spion und Fallschirmspringer Albert Hößler bei sich auf und transportierte Sendegerät und Uniform des Agenten.
(MORE)
ROEDER (OFF) (CONT'D)
Sie duldete und förderte die Sendeversuche ihres Mannes an den sowjetischen Geheimdienst. In Hinblick auf ihre umfangreichen staatsfeindlichen Tätigkeiten kann das Tun der Angeklagten nicht mehr nur als Beihilfe gewertet werden.
Hilde hebt den Kopf. An der Schmalseite des feierlichen Saals thront an einem halbrunden Tisch das Gericht, bestehend aus zwei Generälen, einem Admiral und zwei Offizieren in imposanten, ordensbehängten Uniformen. Rechts erhöht
STAATSANWALT ROEDER, mit dem Gesicht eines Beamten und dem Eifer des Fanatikers, unter ihm ein Habichtskopf im Talar, der Verteidiger. Sonst ist der Saal leer, nur Henze hockt nahe der Tür und macht Notizen.
SENATSPRÄSIDENT DR. KRAELL
Herr Verteidiger?
Der Verteidiger zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf.
VERTEIDIGER Gibt nichts Entlastendes.
Der Senatspräsident kräuselt die Stirn. Im Vergleich zum Staatsanwalt wirkt er nahezu väterlich.
SENATSPRÄSIDENT DR. KRAELL Frau Coppi, Ihr letztes Wort?
Verblüfft über seine sanfte Stimme sieht Hilde ihn an. Was soll sie jetzt noch sagen? Zu wem? Ihre Lippen öffnen und schließen sich wieder. Sie zuckt mit den Schultern.
SENATSPRÄSIDENT DR. KRAELL (CONT'D)
Sie sind nicht vorbestraft, Ihre Arbeitgeber loben Sie, Sie haben ein Kind. Warum also haben Sie die illegale Tätigkeit ihres Mannes unterstützt und nicht angezeigt?
HILDE (leise, schlicht) Weil ich meinen Mann liebe.
INNEN - GRÜNE MINNA - ABEND 72 72
Die Grüne Minna fährt zurück. Alle schweigen erschöpft.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/ZELLE HILDE - NACHT 73 73
Hilde, Ina, Liane und die Kalfaktorin folgen nacheinander der Kühn über die eisernen Treppen und Stege, weg von den Stimmen und Geräuschen der Wärterinnen und Häftlinge der anderen Stockwerke hinein in die Stille ihres Verlieses.
Ein rotes Bändchen wird an Hildes Tür gehämmert. An den Türen daneben hängen dieselben Bänder. Eine ganze Reihe.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/ZELLE HILDE - NACHT 74 74
KÜHN
So, Lautenschläger rüber. Berkowitz auf die TK-Seite.
Hilde sieht die Kühn fragend an, die rasselnd Inas Zelle aufschließt. Sie wirkt noch unwirscher als sonst.
KÜHN (CONT'D) Todeskandidaten.
Während Ina und Liane ihre Zellen tauschen, geht die Kühn mit Hilde weiter bis vor deren Zellentür und schließt sie auf.
KÜHN (CONT'D) Rein. Den Kleinen bring ich später.
Hilde betritt ihre Zelle. Sie setzt sich aufs Bett. Sie zittert am ganzen Körper.
KÜHN (CONT'D) Fieber?
Hilde schüttelt den Kopf.
KÜHN (CONT'D) Licht bleibt an über Nacht.
Hilde sieht sie an.
KÜHN (CONT'D) Vorschrift. Dass du nicht-
Sie macht eine Geste des Erhängens.
HILDE Ich?
Hilde schüttelt müde den Kopf. Die Kühn sieht sie prüfend an. Sie geht raus. Hilde starrt auf die graue Wand. Sie umarmt sich selbst, hält sich die schlotternden Glieder fest. Da geht das Licht aus. Und die Dunkelheit umfängt sie wie eine Decke. Hilde schluchzt.
AUSSEN - STRASSE VOR GEFÄNGNIS - MORGEN 75 75
Hilde gießt aus einer Thermoskanne ein dampfendes Gebräu in eine Emaille-Tasse und reicht sie Hans. Sie selbst trinkt aus dem Deckel der Kanne. Hans nippt.
HANS Muckefuck?
HILDE
Ja ...?
Hans schweigt, nippt. Die beiden lehnen mit deutlichem Abstand zueinander an Hans’ Motorrad mit dem Beiwagen und spähen zum Gefängnis, das groß und wuchtig vor ihnen liegt. Dort regt sich nichts.
HANS
Scheinen noch nicht da zu sein.
HILDE
Wer?
Hans schaut sie an wie ein dummes Kind.
HANS
Na, die Gestapo. Noch nie von Schutzhaft gehört?
HILDE
Ich bin doch nicht blöd.
Hans nickt herablassend und doziert trotzdem:
HANS
Die können jeden Moment um die Ecke biegen. Die stehen quasi über dem Gesetz. Auch wenn du formal ein rechtskräftiges Urteil hast und ordentlich entlassen wirst, dürfen die dich trotzdem in Schutzhaft nehmen, also einsacken und zack, ab nach Oranienburg oder in Gretes Fall Ravensbrück. Und da können sie dich einfach totschlagen.
Hilde sieht ihn an, ein bisschen ärgerlich noch, aber auch beeindruckt von seinem flüssigen Vortrag. Er nimmt die Brille ab und reibt seine Augen und für einen Moment blinzelt er mit Maulwurfsaugen so wehrlos und liebebedürftig, dass sie ihn glatt umarmen möchte. Er schaut auf, nippt vom Muckefuck.
HANS (CONT'D)
Hast du Zucker dabei?
Hilde schüttelt bedauernd den Kopf. Sie zögert, dann traut sie sich zu fragen:
HILDE
Du warst selbst in Schutzhaft, oder?
HANS (nickt, knapp)
In Oranienburg ...
Er sieht sie offen an, und trotz der Beiläufigkeit sieht sie, dass ihm Schlimmes widerfahren sein muss. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm, ein kurzer Druck, dann macht er sich los.
HANS (CONT'D)
Ist sie das?
Grete tritt aus der Pforte, ein Bündel über der Schulter. Sie strahlt, als sie Hilde und Hans erblickt. Hans lässt das Motorrad an. Hilde hopst in den Beiwagen, ein Bein hängt noch raus, als Hans schon anfährt. Er schüttet den Kaffee aus und wirft ihr die Tasse in den Schoß, dann prescht er los, fährt dicht vor Grete auf.
GRETE
Mensch, Hildekind!
HILDE
Das ist Hans, Hans Coppi, ein Genosse ...
GRETE
Ach? Der mit der Eisdiele?
Grete strahlt Hans an, wirft Hilde ihr Bündel zu, schwingt sich wie selbstverständlich auf den Sozius und umfasst Hans.
AUSSEN - LANDSTRASSE - TAG
Hildes Gesicht im Fahrtwind. Die viel zu große Motorradkappe hängt ihr über den ängstlich zusammengekniffenen Augen. Mit einer Hand hält sie sich den Mantel zu, die andere umklammert Gretes Bündel. Grete jubelt. Hilde schaut hoch zu ihr, wie sie Hans umfasst und den Kopf auf seinen Rücken gelegt hat.
AUSSEN - BADESTELLE - TAG
76.a 76.a
Grete und Hans rennen nackt ins Wasser. Grete kreischt. Die Kälte. Sie lässt sich auf den Rücken fallen, strampelt und winkt Hilde. Sie soll auch reinkommen. Hilde schüttelt den Kopf. Sie hockt fröstelnd am Ufer, die Arme um die Knie geschlungen. Sie hört das Kreischen, Lachen, Planschen der beiden und hält ein trauriges Lächeln fest.
INNEN - EISLADEN - TAG
Hans kommt mit einem Tablett voller Eisbecher.
HANS
So, nächste Runde! Wer wollte alles noch? Harro? Heinz? Ina? Grete, du, zur Feier des Tages?
Harro schüttelt den Kopf und führt seinen angefangenen Satz fort.
HARRO
Danke- ... müssen wir zu anderen Widerstandskreisen Fühlung aufnehmen und unsere Aktionen effizienter aufziehen-
Hilde sitzt neben Grete in der Ecke einer winzigen Eisdiele. Mit dabei sind Heinrich und Ina. Sie diskutieren ruppig, fallen sich ins Wort. Hilde schaut sich unsicher um. Wie die anderen hält auch sie ein aufgeschlagenes Buch in den Händen.
INA
Genau! Klebezettel statt Plakate, Spuckies-
HARRO
Aber-
HEINRICH
Keine Druckerei! Zu gefährlich-
INA
Stellen wir den Leim halt selber her. Einschmieren, trocknen, und-
Sie holt einen Werbezettel für den “Salon Heise” aus ihrer Tasche, auf den sie eine Hitlerfratze gemalt hat. Sie spuckt ihn an und pappt ihn auf den Tisch.
HARRO
Im Ernst? Sind wir hier im Kindergarten? Außerdem passt da gar nichts rauf-
HANS
Hilde, was ist mit dir? Noch Eis?
HILDE
Äh, nein danke. Davon krieg ich immer Bauchweh ...
Hans nickt, als hätte er nichts anderes erwartet, quetscht sich neben sie, zugleich in die Diskussion einsteigend.
HANS
Müssen wir halt kurz und knapp sein, z.B. Krieg ist kulturlos und grausam, jeder deutsche Soldat hat das Recht zu desertieren-
HARRO
Zu pazifistisch!
GRETE
Und zu lang.
Die Türglocke schellt. Alle verstummen. Eine rundliche Frau mit dem Abzeichen der NS-Frauenschaft tritt ein.
FRAU
Heil Hitler.
Harro grüßt stramm zurück. Ansonsten wird in der Runde irgendwas zwischen “Drei Liter” und “Heilkräuter” gemurmelt. Ina versucht, die Postkarte vom Tisch abzuziehen, aber die klebt. Schnell schiebt sie ihr Buch drüber. Die Frau erspäht Hans und fragt freundlich, aber mit einem gewissen Unterton:
FRAU (CONT'D) Ach, Hans! Wieder da?
HANS
Schon ne Weile, Frau Lampert. Wie kann ich Ihnen denn helfen?
FRAU
Eigentlich wollte ich nur unseren Aufruf für die Mütterschulungen vorbeibringen ...
Sie tritt an den Tisch heran und legt eine Zettel hin. Dabei sieht sie neugierig in die Runde.
FRAU (CONT'D) Literaturzirkel, ja?
HANS
Man muss sich ja bilden ...
FRAU
Richtig. Was lest ihr denn Schönes?
Sie greift nach Inas Buch. Hans hebt schnell sein eigenes hoch.
FRAU (CONT'D) “Irrungen, Wirrungen”! Herrlich!
GRETE
Naja, n bisschen kitschig.
FRAU
Was? Wo seid ihr denn gerade?
Sie fixiert Grete, die sich eben noch in ihrer Frechheit sonnte, aber nun im Buch eine vorzeigbare Passage sucht.
GRETE
Ähm ... also grade ...
Verlegenheit auch in der Runde. Niemand hat sich wirklich mit dem Buch beschäftigt. Da sagt Hilde leise:
HILDE
Im Ruderboot.
FRAU
Ach, noch ganz am Anfang?
HILDE
Nein, die Liebesszene im 11. Kapitel, Hankels Ablage.
FRAU
Wie schön! Das ist doch romantisch, oder nicht?!
HILDE
Ich finde es eher melancholisch.
Die Frau fasst Hilde wohlwollend ins Auge.
FRAU
Mögen Sie nicht mal bei uns lesen? Bisschen Kultur täte uns gut.
MUTTER COPPI
Und, Frau Lampert? Erdbeer, Schoko oder Vanille?
Mutter Coppi tritt, sich die Hände abtrocknend aus der Küche, mit tiefer Stimme und beeindruckender Präsenz.
FRAU
Ach bitte von jedem eine Kugel.
Die Frau nickt Hilde zu und wendet sich Mutter Coppi zu. Alle anderen starren Hilde an, die errötet. Harro sagt leise:
HARRO
Danke ... ähm ...?
HANS
Hilde.
INNEN - EISLADEN - ABEND 78 78
MUTTER COPPI
Mutig, Mädchen.
Mutter Coppi nimmt die leeren Eisbecher entgegen, die Hilde auf einem Tablett bei ihr abstellt und wäscht sie aus.
HILDE
Wer? Ich?
Hilde greift wie selbstverständlich nach einem Geschirrtuch. Die Eisdiele hat sich geleert, im Hintergrund verabschieden sich die letzten der Runde.
MUTTER COPPI
Na, du schreibst doch auch immer die Flugis ab? Hans hat schon viel von dir erzählt. Hilde, nicht?
HILDE
Kann halt niemand anders Maschineschreiben ...
Hans tritt mit ein paar leeren Gläsern hinzu.
HANS
Du müsstest sie sehen, Mutti. Ihre Hände sind wie Vögelchen.
Die ungewohnte Zärtlichkeit in seiner Stimme lässt Hilde aufhorchen. Auch Mutter Coppi lächelt. Grete platzt in diesen Moment.
GRETE
Hans? Bringste mich nach Hause?
Hans zögert. Er sieht Hilde an.
HANS
Und du?
Hilde stammelt verlegen:
HILDE
Äh ... ich wohne Frankfurter Allee
GRETE
Janz andere Route.
HANS
Wir können ja erst dich bringen und dann Hilde ...?
GRETE
Quer durch die Stadt und wieder zurück? Naja ...
HILDE
Vielleicht gibts ne Abkürzung?
GRETE
Da bist du schneller mit der U-Bahn ...
HILDE
Die fällt doch dauernd aus.
GRETE
Ach! Wirklich?
HILDE
Na, ich fahr doch jeden Tag.
GRETE
Tja ... War mir in der letzten Zeit nich möglich.
HANS
Naja, dann machen wirs nächstes Mal umgedreht, ja?
INNEN - ZIMMER HILDE UND MUTTER - NACHT 79 79
Hilde drückt heftig Creme aus einer Tube, verreibt sie in den Händen und massiert der Mutter die Waden. Die Mama jault. Hilde schaut erschrocken auf.
MUTTER
Bisschen sanfter, Hildelein ... Ja danke, so ists gut.
Hilde massiert und schweigt. Die Mutter streicht ihr über den Kopf.
MUTTER (CONT'D)
Hast du dich amüsiert mit deinen Freunden?
Hilde zuckt mit den Schultern. Schweigen.
MUTTER (CONT'D)
Gibts was Neues von Franz?
HILDE (schüttelt den Kopf)
Außer, dass er gut in Kopenhagen gelandet ist ...
Die Mutter seufzt.
MUTTER
Ach, Hildelein! Pass bloß auf. Sonst drehst du dich eines Tages um und bist 50 und alles ist vorbei.
HILDE
Ich werd nicht 50.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG - TAG 80 80
Hilde geht mit Hänschen auf dem Arm den Gang entlang. Sie läuft ruhig, aufrecht, flüstert ihrem Kind leise Liebkosungen ins Ohr. Die Kühn schaut sie einen Moment länger als gewöhnlich von der Seite an.
INNEN - GEFÄNGNIS/BESUCHERZELLE - TAG
Die Kühn kippt einen Korb auf dem Tisch aus. Strampler für Hänschen, Seife, Sachen für Hilde, Briefpapier, eine Matratze fürs Kinderbett ... Während die Wärterin alles durchsucht und aus den schön verpackten Geschenken ein unordentlicher Haufen wird, beobachtet Hilde über den Tisch hinweg angespannt ihre Mutter, die den kleinen Hans im Arm hat und mit ihm schäkert.
MUTTER
Gott, bist du süß! Deinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
HILDE
Aber die Augen hat er von mir ...
MUTTER
Sag mal, hat sich Hans über den Sauerbraten gefreut? Ich hab so lange nichts von ihm gehört.
HILDE
Ach, Sauerbraten, sein Leibgericht!
Ein Kamm fällt klirrend auf den Tisch. Die Mutter schaut zur Kühn, die eine halb entschuldigende Geste macht.
MUTTER
Na, weil er doch immer Hunger hat.
HILDE
Nach dem Rezept von Oma?
MUTTER
Du glaubst nicht, wie ich nach dem Fleisch rumgerannt bin. Marken hab ich gesammelt. - Ach, Kind! Wann kommst du endlich raus? Jeden Tag spazier ich die Barnimstraße lang und hoffe-
Tränen steigen ihr in die Augen. Sie sieht Hilde bittend an.
HILDE
Wir dürfen nicht drüber reden, Mutti ...
Die Mutter schaut zu Hilde und unsicher zur Wärterin, die so tut, als habe sie nichts gehört. Sie flüstert:
MUTTER
Und dein Prozess?
HILDE
Mutti! Bitte!
Die Kühn räuspert sich. Die Mutter schluckt. Ängstlich forscht sie in Hildes Gesicht. Ihre Stimme bebt:
MUTTER
Gefällt dir die Matratze?
HILDE
Ganz toll. Da wird Hänschen wie im siebten Himmel schlafen ... Hast du die Strümpfe selbst gestrickt?
MUTTER
Ich hab leider keine weiße Wolle-
Die Mutter bricht ab, verbeißt sich die Tränen.
HILDE
Hast du was von Tante Ella gehört?
MUTTER
Ist wohl verreist ... Arbeit und Erholung.
Sie sehen sich in die Augen. Schweigen. Dann wendet sich die Mutter an die Kühn:
MUTTER (CONT'D)
Wieso dürfen wir nicht ...? Ich will doch nur wissen ... Sie ist doch mein einziges Kind!
Die Kühn sieht sie an, senkt den Blick, nuschelt brüchig:
KÜHN
Ist gegen die Vorschrift ...
Hilde erkennt die Chance, nimmt allen Mut zusammen, beugt sich über den Tisch und gibt ihrer Mutter einen Kuss. Dann sagt sie schlicht:
HILDE
Mutti ... es tut mir leid. Ich bin zum Tode verurteilt.
Die Mutter schaut sie an. Sekundenlang. Sie glaubt es nicht. Sie glaubt es einfach nicht. Sie schaut zur Kühn, zurück zu Hilde. Dann stürzen ihr die Tränen aus den Augen.
HILDE (CONT'D)
Mutti, bitte! Hänschen ... der ist jetzt das Wichtigste, du musst dich um ihn kümmern ... Mutti!
Hildes hilflose Worte verhallen. Die Mutter schluchzt so heftig, dass die Kühn ihr den Kleinen abnimmt, der auch zu weinen begonnen hat. Sie übergibt ihn an Hilde.
KÜHN
Beruhigen Sie sich! Ihre Tochter kann ein Gnadengesuch schreiben.
(MORE)
KÜHN (CONT'D)
Hören Sie? (zu Hilde) Wieso hast du das nicht längst gemacht?
HILDE
Das hat doch keinen Sinn.
KÜHN
Natürlich. Ich kenne viele.
Die Mutter schluchzt.
MUTTER Hilde! Bitte!
KÜHN
Der Führer wird ein Einsehen haben. Sie ist doch im Kern ein wertvolles Mitglied unserer Volksgemeinschaft, so wie sie mit dem Kind umgeht.
Die Mutter heftet ihre Augen auf Hilde, die tief durchatmet.
MUTTER Hildelein!
HILDE
Ist gut. Ja, ist gut. Ich machs.
Jetzt kann auch sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mutter und Tochter fassen sich an den Händen. Die Kühn verschränkt die Arme über der Brust.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - ABEND
KÜHN
Wie schreibst du befürworte? Zusammen?
HILDE Klein und zusammen.
Die Kühn sitzt an Hildes Tisch und schreibt langsam, ungelenk einen Satz unter Hildes Gnadengesuch. Sie studiert den Text noch einmal, nickt zufrieden und steht auf.
KÜHN
Die vom Wachpersonal wollen auch noch unterschreiben. (zögert) Die Leiterin hat das noch schöner formuliert ...
Hilde schaut sie an. Behutsam holt die Kühn ein Papier aus der Tasche und faltet es auseinander, liest stockend:
KÜHN (CONT'D)
Die zum Tode verurteilte Hilde Coppi zeigt eine tadellose Haltung und erweist sich stets als zuverlässig. Sie wurde dazu bestimmt, die Wöchnerinnen im Anstaltslazarett zu versorgen, was sie mit viel Liebe und Sorgfalt tut. Ihr Kind, das zunächst zu Besorgnissen Anlass gab, entwickelt sich jetzt unter ihrer liebevollen Pflege erfreulich. C. trägt ihre Strafe unter Aufbietung aller Willenskraft um des Kindes halber sehr tapfer und ohne mit den Mitgefangenen darüber zu reden. Sofern die Urteilsgründe dem nicht entgegenstehen, möchte ich das Gnadengesuch befürwortend weiterreichen. Gezeichnet Pfahl, Regierungsrätin.
Triumphierend schaut sie auf. Hilde lächelt, nickt dankbar.
HILDE
Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, Frau Kühn?
KÜHN
Kühn. (zögert) Anneliese. (rau) Wo ist deine Arbeit?
Hilde gibt ihr einen Stapel Uniformjacken, der von der Kühn kritisch beäugt wird. Sie schüttelt den Kopf.
KÜHN (CONT'D) Hausarbeit ist nicht so deins, hm?
Brüsk wendet sie sich ab. Die Tür kracht hinter ihr zu. Hilde, die sich an ihre Schroffheit schon gewöhnt hat, erschrickt nicht mehr. Sie beugt sich zu Hänschen herab, der in seinem Korb liegt und versucht, ein selbstgebasteltes Mobile zu greifen.
HILDE
Vielleicht haben wir ja Glück, du und ich? Hm? Ach, ich hab sowieso schon Glück. So ein Glück mit dir. Und du wirst auch Glück haben. Mein Hans im Glück.
Hänschen gelingt es, das Mobile zu fassen. Er kräht begeistert. Hilde küsst ihn. Hebt ihn hoch, wirbelt ihn rum.
HILDE (CONT'D)
Du hast es geschafft. Bravo! Bravo!
INNEN - GEFÄNGNIS/BADERAUM - TAG 83 83
Ina und Liane fassen nach einander. Ihre Badewannen stehen so dicht beieinander, dass sie sich mit ausgestreckten Armen berühren können. Ihre Hände verschlingen sich, sie sehen sich in die Augen und flüstern unhörbar. Hilde sieht es von ihrer Wanne aus. Sie taucht bis zur Nasenspitze unter, schließt die Augen und lässt sich vom warmen Wasser streicheln.
OMITTED 84 84
INNEN - ZIMMER HILDE UND MUTTER - MORGEN 85 85
Hilde kriecht am frühen Morgen zu ihrer Mutter ins Doppelbett und legt wie ein Kind die Arme um sie. Die Mutter erwacht. Murmelt schlaftrunken:
MUTTER
Hildelein ... was ...? Weinst du?
Hilde schüttelt den Kopf, schnieft und schmiegt sich an die Mutter, die sich jetzt ein bisschen aufrichtet.
MUTTER (CONT'D)
Ist was mit Franz?
Hilde nickt.
HILDE
Er ist ... weg. Heute morgen ...
Die Mutter streichelt sie.
HILDE (CONT'D)
Ganz früh, dass er die Fähre noch erwischt.
MUTTER
Dänemark?
Hilde nickt. Die Mutter seufzt, drückt sie fest an sich.
MUTTER (CONT'D)
Ach Hildelein, du siehst ihn irgendwann wieder ...
Hilde schüttelt den Kopf.
MUTTER (CONT'D)
Oder du besuchst ihn später ... Der Krieg wird schnell vorbei sein ...
Hilde kuschelt sich an die Mutter und weint. Die Mutter wiegt sie, summt leise.
HILDE
Ich könnte ja dänische Staatsbürgerin werden und ihn heiraten ...?
Die Mutter wiegt und summt und geht nicht darauf ein.
HILDE (CONT'D)
Dann emigrieren wir in die Sowjetunion ...
Hilde sieht die Mutter an.
HILDE (CONT'D)
Oder wir fahren einfach in einem Kutter rüber nach Schweden ...
MUTTER
In einem Kutter?
Die Mutter schüttelt den Kopf.
HILDE
Mutti ... Ich hol dich doch nach. Ich lass dich nicht im Stich ...
MUTTER
Um mich gehts doch nicht, Hildelein. Guck mal, der Franz ist ein hübscher Bursche und wer weiß, ob das gut geht, einer wie er - und du, allein in der Fremde ...
HILDE
Mama!
Hilde schluchzt. Die Mutter nimmt sie wieder fest in den Arm, wiegt sie und murmelt ihr Mantra.
MUTTER
Ach, mein Kind! So ist das Leben, einer kommt, einer geht ... Glück ist was für Leute, die es sich leisten können ...
DR. MINNIGERODE (OFF) (brüllt)
Hilde!
Hilde rappelt sich hoch.
Noch im Laufen bindet sie sich den Gürtel des Kittels um, wischt sich die Tränen ab und betritt die Praxis am Ende des Flurs.
DR. MINNIGERODE, ein vierschrötiger Zahnarzt, steht mitten im Raum und streckt die Hände in die Luft. Hilde eilt herein, greift nach den Gummihandschuhen und streift sie ihm über.
HILDE
Schönen guten Morgen, Herr Doktor.
Der Doktor knurrt nur.
DR. MINNIGERODE
Müller. Sechser-Extraktion.
Hilde beugt sich über den PATIENTEN, einen Mann in SS-Uniform und sagt beruhigend:
HILDE
Beißen Sie einfach die Zähne zusammen und machen Sie den Mund auf. Dann gehts ganz schnell.
PATIENT
Schlimmer als die Ostfront wirds schon nicht werden.
Hilde legt ihm den Absauger verkehrt in den Mund, es spritzt.
DR. MINNIGERODE
Na, nicht bei der Sache heute?
Hilde macht das Gerät aus, lässt es ablaufen, schaltet es wieder ein, jetzt läuft es richtig.
HILDE
Entschuldigung ... Spritze?
DR. MINNIGERODE
Für die Ruine? Ne!
HILDE
Aber-
Der Patient lacht optimistisch und tätschelt Hildes Hand.
DR. MINNIGERODE
Genau! Zeigen Sie der Schwester Hilde mal, was ein echter deutscher Kerl ist!
Damit beginnt er, den Zahn zu ziehen. Und während der Patient nun doch jammert, deklamiert Minnigerode immer lauter:
DR. MINNIGERODE (CONT'D)
Ja, selbst die alte Liebe rostet, man weiß nicht, was die Butter kostet, denn einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele, und unter Toben und Gesaus
(MORE)
DR. MINNIGERODE (CONT'D)
reift der Entschluss: Er muß heraus!
AUSSEN - BOOTSHAUS - TAG 87 87
Das Bootshaus an einem kalten Frühlingstag.
Hilde läuft darauf zu. Sie atmet tief ein und klopft einen Code an die Tür. Dreimal kurz, Pause, zweimal, Pause, dreimal lang. Sie wartet. Nichts. Erleichtert will sie kehrt machen, da hört sie Schritte, Flüstern. Die Tür wird einen Spalt geöffnet.
HILDE
Hans ...?
Hans mustert und erkennt sie. Ein kleiner, freudiger Schreck zieht über sein Gesicht. Er hüstelt, nimmt sich zurück.
HANS
Ähm ... Hilde, richtig? Was gibts?
Hilde rafft ihr Selbstbewusstsein zusammen und sagt piepsig:
HILDE
Ich soll schöne Grüße von Franz sagen und euch die Fotos geben. Er musste ganz schnell weg.
Sie holt ein Päckchen aus der Tasche und gibt es Hans.
HANS
Fotos ...?
HILDE
Novemberprogrom. Er hat heimlich fotografiert-
HANS
Danke ... äh ... Hilde, ich bin grade beschäftigt-
Da drängelt sich Ina neben ihn. Sie hat einen Fleck Druckerschwärze im Gesicht.
INA
Hildchen!
Jetzt kommt auch noch Heinrich dazu.
HEINRICH
Hilde?! Gottseidank! Du, kommst genau richtig ...
INA
Hast du Zeit? Kannst du uns helfen?
HANS
Moment mal! Konspiration?!
INA
Ach komm, das ist doch Hilde!
HEINRICH
Die Freundin von Franz.
INNEN - BOOTSHAUS - TAG 88 88
INA
Sie kann 10-Finger-System!
Sie betreten das Bootshaus, wo im Zentrum ein Ruderboot aufgebockt ist. Hans taxiert Hilde.
HANS
Traust du dir zu, uns zu helfen?
Hilde zuckt mit den Schultern. Ein bisschen trotzig sagt sie:
HILDE
Für Franz hab ich auch schon illegale Schriften abgetippt.
HANS
Hm, hm ... Illegale Schriften?
Er dehnt die Worte ironisch. Hilde hebt den Kopf.
HILDE
Und mit Wachsmatrizen kenn ich mich auch aus.
HANS
Wie kommst du auf Wachsmatrizen?
Hilde lacht und zeigt auf die Druckerschwärze an Inas Kinn.
HILDE
Mit den Folien ist es ein einziges Gekleckse, wenn man nicht aufpasst.
Hans nickt und gibt den anderen ein Zeichen. Sie heben das Boot von den Böcken, darunter steht ein Tischchen mit Schreibmaschine und Matrizendrucker. Mehrere zerknüllte Blätter Papier sowie die Matrizenfolien liegen herum.
INA
Guck, hier ist alles verschmiert und hier kaum durchgedrückt. Dabei hab ich mir solche Mühe gegeben.
Heinrich stellt ihr einen Bierkasten als Hocker zurecht. Hilde setzt sich an den Tisch.
HILDE
Ja, bei den runden Buchstaben muss man eben vorsichtiger anschlagen und bei den breiten kräftig.
Sorgfältig spannt sie Papier und Folie in die Maschine.
HANS
Das ist unsere letzte Folie.
HILDE
Und der Text?
Hans tippt auf seinen Kopf. Hilde nickt und setzt sich zum Diktat bereit. Ina und Heinrich reinigen inzwischen den Drucker.
HANS
Krieg dem Kriege.
Hilde schaut erschrocken auf.
HILDE
Tucholsky?
Hilde schluckt. Der Text ist schön und lebensgefährlich.
HANS
Na, kalte Füße?
HILDE
Willst du das in Versalien?
HANS
Muss alles auf eine Seite passen.
Hilde nickt und beginnt zu tippen.
HANS (CONT'D)
Sie lagen vier Jahre im Schützengraben. Zeit, große Zeit! Ausrufezeichen.
Hans verschränkt die Arme und schaut Hilde beim Schreiben zu. Seine Präsenz macht sie nervös, aber sie versucht, sich das nicht anmerken zu lassen.
HANS (OFF) (CONT'D) Sie froren und waren verlaust und haben daheim eine Frau und zwei kleine Knaben, weit, weit –! Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt. Und keiner, der aufzubegehren wagt. Monat um Monat, Jahr um Jahr …
INNEN - U-BAHN - NACHT 89 89
LAUTSPRECHER
Nächste Station: Frankfurter Allee.
Hilde hält ihre Tasche auf dem Schoß. Links neben ihr sitzt eine Witwe in schwarzer Tracht, Menschen stehen dicht gedrängt vor ihr. Die U-Bahn hält. Hilde steht auf. Auf ihrem Platz bleibt ein Flugblatt liegen. Die Witwe entdeckt es. Schnell setzt sie sich drauf.
AUSSEN - STRASSE MIT MAUER - NACHT 90 90
Hilde läuft an der Mauer entlang, die mit Propaganda und Werbung beklebt ist. Beiläufig zerkratzt sie mit einem soliden Schlüsselring die hässlichen Plakate - Der ewige Jude, Jugend dient, Wir siegen mit dem Führer. Da hört sie ein Geräusch über sich. Ein Flugzeug. Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut zum Himmel.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/ZELLE HILDE - NACHT 91 91
Sirenen gellen. Bomben pfeifen. Durch den Spalt des angekippten Fensters sieht man die “Tannenbäume” am Nachthimmel. Einmal kracht es unerträglich. Hilde wiegt den weinenden Kleinen und singt laut gegen ihre Angst an. “Hänschen Klein”. Mit schrillem Pfeifen naht die nächste Bombe. Hilde bleibt der Ton in der Kehle stecken, sie duckt sich, presst Hänschen an sich, der ihre Todesangst spürt und verstummt. Die Detonation ist betäubend. Putz rieselt von der Decke. Hilde richtet sich auf, als die Tür geöffnet wird.
KÜHN
Alles in Ordnung, Coppi?
Sie lässt die Tür offen. Hilde hört Stimmen und tritt raus in den Zellengang. Plötzlich ist sie umringt von etwa 20 Frauen, die durcheinander schwatzen, sich umarmen, küssen.
KÜHN (CONT'D) Ruhe! Benehmt euch wie Menschen!
Hilde versucht, sich im spärlich beleuchteten Gang zu orientieren, wer ist hier wer, da wird sie von Ina umarmt.
INA
Hildchen, ist das nicht schön? Wir zusammen? Die gehören alle zu uns.
HILDE
Zu uns?
INA
Rote Kapelle. So haben die uns genannt. Warum auch immer ... Du bist nicht böse mit mir, oder?!
Im Hintergrund detoniert wieder eine Bombe, aber die kann ihr nichts anhaben. Hilde mustert staunend die Gefährtinnen. Da sind Liane und Oda, aber auch Elfriede, Greta, Cato, EvaMaria, Rose, Ursula, die sie noch nicht kennt ... Alle vom Kerker gezeichnet, aber was für kluge, schöne Gesichter.
KÜHN
Los, los! Während dem Alarm dürft ihr zusammen auf Zelle. Dass ihr nich durchdreht.
- GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - NACHT 92 92
INNEN
Ina stolziert in Hildes Zelle auf und ab und improvisiert eine Modenschau, indem sie ihren Drillich auf- und zuknöpft, schürzt und schlingt und Frau Heise karikierend näselt:
INA
Mesdames! Attention! Der neueste Schrei der Haftcouture ist dieses figurbetonte Hauskleid aus feinstem Hanf. Schlicht und mit einem Hauch Rafinesse durch die asymmetrische Knöpfung. Der Rock in eleganter ALinie, das Oberteil verziert durch eine attraktive Ziffer in Trendfarbe Schlammgelb ...
Hilde und Liane sitzen auf dem Bett. Liane hält das schlafende Hänschen im Arm und summt ein Lied.
Unvermittelt detoniert eine Bombe in der Nachbarschaft. Alle verstummen. Am Nachthimmel ein Feuerschein. Liane juchzt auf:
LIANE
Na, wenn das kein besserer Tod ist!
HILDE
Tod ist Tod.
Ina kauert sich hinter Liane und massiert ihr den Rücken. Hilde steht auf und macht Kniebeuge.
INA
Die Amerikaner sollen auf Sizilien sein?
LIANE
Und Kursk? Habt ihr von Kursk gehört?
INA
Du hast doch ein Gnadengesuch gestellt, kleine Katze?
Liane nickt und zuckt resigniert mit den Schultern.
HILDE
In Moabit soll eine ausgebrochen sein. Hats durchs Gitter geschafft.
Alle schweigen und geben sich einen Moment dem Bild hin.
LIANE
Meine Tochter ... Endlich meine Tochter in den Arm nehmen ...
INA
Ein Sommerkleid anziehen.
LIANE
Ist doch noch saukalt.
INA
Egal. Und du? Hilde?
Hilde lächelt. Hoffnung krallt sich in ihr Herz. Eine irre Sehnsucht nach Leben überfällt sie.
HILDE
Tanzen ... Tanzen!
Ein Baby lacht, giggelt, lallt, fröhlich und ansteckend.
AUSSEN - GEFÄNGNIS/INNENHOF - TAG 93 93
Hänschen strahlt mit aufgerissenen Augen auf seine Mutter hinab, wenn sie ihn hochstemmt, dabei so tut, als ob sie ihn werfe, und sich mit ihm dreht.
HILDE
Genug, Hänschen. Ich kann nicht mehr.
Außer Atem setzt sich Hilde ins Gras, legt ihr Kind neben sich und schaut es verliebt an.
HILDE (CONT'D)
Kommt ein Mann die Treppe rauf, poch, poch, poch, klingelingeling, Guten Tag Herr Nasenmann!
Sie spaziert mit den Fingern über seinen Bauch hoch zum Kopf und zupft ihn sanft an der Nase.
HILDE (CONT'D) Du!
Hilde stupst ihn auf den Bauch.
KÜHN (OFF)
Coppi!!
Hänschen zuckt zusammen und verzieht das Gesicht. Hilde beruhigt ihn.
HILDE
Ist nur die Anneliese, keine Angst. Sie dreht sich um. Die Wärterin steht an der Tür und winkt.
MÖRDERIN
Wir ham doch noch ne Stunde?
KÜHN
Coppi! Hierher!
Hilde zuckt mit den Schultern. Sie hebt den strampelnden Jungen hoch und legt ihn in den Wäschekorb. Die anderen Mütter sehen ihr nach. Hilde geht gemächlich auf die Kühn zu. Je näher sie kommt, umso schneller wird sie. Die Kühn hat einen seltsam verstörten Ausdruck im sonst unzugänglichen Gesicht.
KÜHN (CONT'D)
Gib mir den Korb!
Hilde händigt ihr schweigend den Korb aus. Die Kühn hält ihr einen amtlichen Brief hin. Hilde schluckt, greift danach. Sie liest das Papier. Erstarrt.
KÜHN (CONT'D)
Du stehst ganz unten.
Hilde starrt blicklos auf das Dokument. Die Kühn mustert sie verbittert und schnaubt.
KÜHN (CONT'D)
Er hätte ein Einsehen haben können, der Führer. Wenigstens bei dir.
Hilde kann nur ein Wort hervorpressen:
HILDE Wann?
Die Kühn zögert. Ist wieder mal gegen die Vorschrift.
KÜHN
Du solltest die Sachen für den Kleinen noch heut Nacht packen.
Hilde nickt mechanisch.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - NACHT/MORGEN
94
Hilde sitzt an ihrem Tisch und schreibt in ein Schulheft. Die Taschenlampe funzelt über ihre Zeilen. Jetzt beginnt eine Amsel zu singen. Hilde hebt den Kopf. Amsel ist gleich Abschied. Sie schreibt emsig weiter.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - MORGEN 95 95
Hilde stillt Hänschen. Noch einmal völlig versunken.
INNEN - GEFÄNGNIS/ZELLE HILDE - TAG 96 96
Hilde schiebt das Heft zwischen die Kindersachen. Die Kühn ignoriert es, obwohl sie es kontrollieren müsste. Obenauf legt Hilde das Mobile und das Foto von Hans, darunter die Taschenlampe. Sie hebt Hänschen hoch, küsst ihn, sieht ihn innig an.
HILDE
Vergiss mich nicht. Und werde glücklich. Unbedingt. Fröhlich und glücklich.
Sie legt ihn der Wärterin in den Arm.
HILDE (CONT'D)
Bitte übergeben Sie ihn nur meiner Mutter. Niemand anders. Dass er nicht ins Kinderheim kommt.
Die Wärterin nickt. Hilde zögert. Die Kühn wartet.
HILDE (CONT'D)
Die Schwiegermama soll unbedingt Deckel für die Regentonnen anschaffen, dass Hänschen nicht reinfällt. Richten Sie das aus?
KÜHN
Ja. Alles?
Hilde nickt. Die Kräfte verlassen sie. Sie dreht sich um.
HILDE
Bitte gehen Sie.
Die Kühn nickt, stapft nach draußen und zieht die Tür ungewohnt sacht hinter sich zu.
INNEN - GEFÄNGNIS/GANG/ZELLE HILDE - MORGEN 97 97
Auf dem Gang verharrt sie einen Moment. Von drinnen aus der Zelle hört sie einen tiefen, fast tierischen Schrei. Sie wartet. Jetzt ist es still. Sie geht den Gang entlang. Den Korb im einen, das Kind im anderen Arm. Sie schaut Hänschen an, der fröhlich vor sich hinlallt. Ei-ei-ei. Da lächelt sie.
AUSSEN - GEFÄNGNIS - TAG
Bei strahlendem Sonnenschein verlassen 13 Frauen das Gefängnis, darunter Hilde und Liane.
Ein junger Maurer bessert die Stufen aus und sieht, wie sie mit gefesselten Händen nacheinander vorsichtig die Treppe herabsteigen. Er erschrickt. Hilde, die letzte, lächelt ihn mütterlich an, er sieht Hans ein bisschen ähnlich. Dann steigt sie in die wartende “Grüne Minna”. Die ältere Wärterin steigt hinzu und schließt die Tür.
INNEN - GEFÄNGNIS PLÖTZENSEE/TODESZELLE - TAG
Ein paar Holzpantinen klappern auf den kahlen Zellenboden. Hilde steigt hinein. Statt der grauen Anstaltskleidung trägt sie nun eine Art Sack. Ein ALTER SCHUSTER, der hier seinen Dienst versieht, schiebt sie an den Schultern auf den Schemel. Er steht hinter ihr. Plötzlich spürt sie den kalten Stahl der Schere im Nacken. Sie erschauert. Auf dem Sack in Höhe ihrer Brüste bilden sich große feuchte Flecken. Noch ein letztes Mal Milch. Der Schuster drückt ihren Kopf nach vorn und schneidet die Haare im Nacken noch kürzer. Er nickt. Er rafft ihre Anstaltskleidung und die Schuhe zusammen und geht. Hilde bleibt sitzen. Den Kopf fast auf der Brust starrt sie auf die unförmigen Pantinen. Wieder geht die Zellentür und eine sanfte Stimme sagt:
PFARRER POELCHAU
Frau Coppi?
Hilde hebt den Kopf. Der Pfarrer betritt die kleine, halbdunkle Zelle.
HILDE
Herr Pfarrer ...
Sie spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen und wischt sie mit dem Handrücken der gefesselten Hände fort.
PFARRER POELCHAU
Weinen Sie ruhig.
Hilde schüttelt den Kopf und lächelt wieder.
HILDE
Nur, weil ich so an Hans denken musste, als ich Sie gesehen hab.
Schockiert sieht er die feuchten Flecken auf ihrem Kleid und donnert mit einer Stimme, die man ihm nicht zugetraut hätte:
PFARRER POELCHAU
Herr Schmidt! Herr Schmidt!
Der Schuster kommt zurückgeschlurft.
PFARRER POELCHAU (CONT'D) Wir brauchen einen neuen Kittel!
Der Mann nickt devot und wieselt davon. Pfarrer Poelchau zieht sich den zweiten Schemel zurecht und setzt sich Hilde gegenüber. Sie sieht ihn an. Ihr Atem geht flach und hastig, ihre Stimme flattert.
HILDE
Was tun Sie normalerweise in Situationen wie dieser?
PFARRER POELCHAU
Normalerweise? Beten oder ... mit Arvid Harnack habe ich Goethe gelesen, mit Herrn Schulze-Boysen über die Zukunft Deutschlands diskutiert und mit Ihrem Mann, na das wissen Sie ja ... Und Sie? Was wollen Sie, Hilde?
HILDE
Ich? Was ich will?
Hilde schweigt einen Moment und schaut verloren auf die gefesselten Hände in ihrem Schoß.
PFARRER POELCHAU
Kennen Sie ein Gebet?
Hilde zuckt mit den Schultern.
HILDE
Ja, aus Kindertagen ...
Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir; wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein ...
PFARRER POELCHAU
So reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Sie schweigen. Hilde hebt den Kopf und sagt fest:
HILDE
Ich würde gern noch meiner Mutter schreiben, aber-
Sie schüttelt den Kopf, hebt die gefesselten Hände.
PFARRER POELCHAU
Sie können mir diktieren.
Hilde sieht ihn an, überlegt, nickt. Der Pfarrer holt Papier und Stift raus. Hilde atmet tief ein und beginnt stockend:
HILDE
Mutti, meine geliebte Mutti, ich muss nun gehen. Das Schwerste, die Trennung von meinem Hänschen, hab ich schon hinter mir. Wie glücklich hat er mich gemacht! Ich weiß, dir will das Herz jetzt brechen, aber nimm es fest, ganz fest in deine Hände. Das schaffst du, nicht wahr, Mutti? Als Kind, wenn ich immer so lange wach lag neben dir, wünschte ich mir innig, vor Dir sterben zu dürfen. Später kam ein zweiter Herzenswunsch dazu: Ich wollte ein Kind zur Welt bringen.
Sie verstummt, weil der Schuster zurückkommt. Ärgerlich über die Unterbrechung erhebt sich der Pfarrer, dreht sich zur Zellenwand um. Der Schuster nimmt Hilde die Fesseln ab. Sie wendet sich von ihm ab, während sie den Kittel wechselt.
HILDE (CONT'D)
Siehst Du, diese beiden Wünsche haben sich erfüllt. Ich gehe nun zu meinem großen Hans. Der kleine Hans hat - so hoffe ich - das Beste von uns mitbekommen. Und wenn Du ihn an Dein Herz drückst, ist Dein Kind immer bei Dir.
Sie hält dem Schuster die Hände hin, der sie wortlos und ohne erkennbare Emotion fesselt und aus der Zelle klappert.
HILDE (CONT'D)
Meine gute einzige Mutter und mein kleines Hänschen, all meine Liebe ist immer ständig um Euch. Bleibt tapfer, wie ich es auch sein will. In Liebe, Eure Hilde.
Sie verstummt erschöpft und sieht dem Pfarrer zu, wie er die letzten Worte notiert. Er schaut auf, nickt ihr zu.
PFARRER POELCHAU Überbring ich persönlich.
Sie lächelt ein bisschen. Sie sitzen sich gegenüber, schweigen, Hilde atmet schwer.
HILDE
Wie läuft es ab?
PFARRER POELCHAU Schnell.
HILDE
Wann bin ich dran?
PFARRER POELCHAU
Um 19.24 Uhr, also in der Mitte.
HILDE
Das ist besser als am Anfang oder Ende, nicht?
Der Pfarrer nickt.
HILDE (CONT'D)
Ich hatte immer Angst, wissen Sie.
PFARRER POELCHAU Wer? Sie?
Der Pfarrer schüttelt ungläubig den Kopf.
INNEN - BOOTSHAUS - TAG
Eine Kapelle schuftet. Das Hochzeitspaar Heinrich und Fridel tanzt dicht gedrängt zwischen anderen Tänzern. Das Brautkleid kaschiert minder erfolgreich, dass die Braut hochschwanger ist. Das kleine Bootshaus ist zur Tanzdiele geworden und bebt und schwitzt und dampft. Hilde presst sich an die Wand, so nah kommen ihr die Tanzpaare. Sie trägt ein hochgeschlossenes Kleid, was sie etwas altjüngferlich wirken lässt, und hält ein eingefrorenes Lächeln fest. Die schöne Ina streift sie im Vorbeitanzen.
INA
Na los! Tanzen! Nicht rumstehen!
Sie gestikuliert in Richtung eines Jungen paar Meter entfernt. Hans. Definitiv jünger als sie. Auch ein Nichttänzer, schlaksig, lang und blond. Hilde riskiert einen Augenaufschlag und erschrickt, als sie sein Blick trifft. Die grüblerischen Augen hinter den runden Brillengläsern senken sich tief in ihr Herz. Sie sehen sich sekundenlang an, bis Hilde es schafft, sich loszureißen. Aus den Augenwinkeln erfasst sie, wie er seine Brille zurechtrückt, sich von der Wand abdrückt und auf sie zukommt. Schnell bückt sie sich und nestelt an ihren Schuhen. Sie wird natürlich nicht mit ihm tanzen. Sie muss nur eine freundliche Entschuldigung finden. Ein paar Füße in braunen Arbeitsschuhen kommen in ihr Blickfeld. Sie schaut auf.
Im Abendlicht laufen hintereinander 13 Frauen über den Hof, alle mit kurzen Haaren, in Sack und mit Holzpantinen.
Liane geht vor Hilde. Sie stolpert, findet das Gleichgewicht wieder, bleibt stehen und weint. Hilde ist hinter ihr. Halblaut sagt sie:
HILDE
Na komm, nur noch paar Meter.
Liane schluchzt, läuft weiter.
Vor der Hinrichtungsbaracke bleiben sie stehen. Die erste Frau betritt die Baracke. Sie warten. Liane hört auf zu schluchzen. Es ist still. Kaum ein Laut dringt durch die Mauern. Nur einmal hört man etwas wie ein Poltern. Dann wird die Tür geöffnet. Die Nächste tritt ein.
Liane dreht sich noch einmal zu Hilde um. Dann geht sie durch die schwere Tür.
Hildes versteinertes Gesicht. Dann öffnet sich die Tür auch für sie. INNEN - HINRICHTUNGSBARACKE
Hilde betritt einen kleinen, fensterlosen Raum, der in der Mitte durch einen schwarzen Vorhang geteilt wird. Eine Tür führt zu einem weiteren Raum, in den die Leichen gebracht werden. Hilde tritt vor einen Tisch an der Querseite, an dem Roeder sitzt, neben ihm der Amtsarzt und ein weiterer Richter. Der Henker, seine Gehilfen und Pfarrer Poelchau stehen neben dem Tisch. Hilde sieht Roeder an, sie zittert.
ROEDER
Hilde Coppi, geboren 13.5.1909 in Berlin. Sie sind zum Tode verurteilt wegen Hochverrats in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen.
Roeder reicht das Urteil an den zweiten Richter weiter, der nickt.
ROEDER (CONT'D)
Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!
Der Henker reißt knirschend den Vorhang auf. Dahinter wird im elektrischen Licht die Guillotine sichtbar. Der Boden ist feucht, an der Wand hängt ein Schlauch, mit dem er gereinigt wird. In der Ecke liegt eine Holzpantine. Die Gehilfen packen Hilde, deren Beine versagen, blitzschnell an den Armen und schieben sie an ein hochgeklapptes, ausgekehltes Brett, das vor dem Fallbeil steht. Hilde reißt den Kopf noch einmal zu Poelchau herum. Dann klappt das Brett Richtung Fallbeil.
INNEN - BOOTSHAUS - TAG 103 103
Hilde und Hans tanzen. Mit etwas Abstand. Sehr züchtig. Und dabei sehen sie sich an. Hildes ernstes, verspanntes Gesicht taut langsam auf. Und auch Hans’ Blick wird weicher.
Er tritt ihr auf die Füße, sie muss das Riemchen ihrer Schuhe wieder richten, wobei er sie festhält und sich wortreich entschuldigt. Sie winkt ab, lacht, sie tanzen weiter. Etwas lockerer.
Allmählich wird die Musik leiser, werden die Tanzenden langsamer, bis das Bild einfriert, der Ton verstummt. Nun hören wir Hans Coppis verhaltene, nachdenkliche Stimme:
HANS JUN. (OFF)
Meine Mutter wurde am 5. August 1943 hingerichtet. Ich wuchs bei meinen Großeltern auf. Nun bin ich bald 80 Jahre alt und immer wieder im Laufe meines Lebens hab ich die Briefe meiner Eltern gelesen, mir ihre Fotos angeschaut ... Aber da bleibt ein Punkt, an den ich nie rankomme, eine ferne Leere ... Einmal erhielt ich Post aus dem Rheinland. Da schrieb mir eine Frau, ihre Familie sei damals von meiner Mutter benachrichtigt worden, dass ihr Vater noch lebe. Sie bedankte sich. Als ich hingegen in Moskauer Archiven die Funksprüche meines Vaters nachlesen wollte, stellte sich raus, dass nur ein einziger angekommen war. 1000 Grüße allen Freunden. Die Reichweite, wissen Sie ...
ENDE