Haus Auerbach von Walter Gropius mit Adolf Meyer

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Barbara Happe, Martin S. Fischer

Haus Auerbach von

Walter Gropius mit Adolf Meyer




Inhaltsverzeichnis Privathäuser von Gropius von 1919-1924

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Kurze Rezeptionsgeschichte

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Auflösung der Symmetrie | Überwindung der Schwerkraft | Schaffung eines schwebenden Gebäudes

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Der Baukörper

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Harmonie und Proportion

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Haltbar, billig und schön

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Baugeschichte

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Traditionelle und funktionale Raumaufteilung

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Grundriß und Raumdisposition

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Wintergarten

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Flachdach

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Fenster und Türen

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Garten

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Die Farbgestaltung von Alfred Arndt

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Farbgestaltung von Arndt im Kontext des Bauhauses

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Biographische Notizen zu Alfred Arndt

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Gropius und das Ehepaar Auerbach

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Bauherren

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Anna Auerbach

85

Felix Auerbach

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Gesellschaftliches und kulturelles Leben des Ehepaares Auerbach

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Edvard Munch porträtiert Felix Auerbach

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Edvard Munch in Thüringen – die Begegnung mit den Auerbachs

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Freitod

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Kunst für das Haus Auerbach

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Skulptur für das Haus Auerbach von Utz Brocksieper

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Wandteppich von Frank Stella

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Ölbild von Peter Halley

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Fotoarbeiten von Oster+Koezle

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Quellen

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Literaturverzeichnis

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Archivalische Quellen

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Bildnachweis

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Vorwort von Wolfgang Tiefensee Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft

Beschäftigt man sich mit dem Haus Auerbach in Jena und mit dem vorliegenden Buch, das ihm gewidmet ist, so fällt es schwer, die Sachlichkeit zu wahren. Gerade weil Sachlichkeit heute gern als Unterkühltheit missverstanden wird, die sich mit Begeisterung schwer tut. Dennoch mein Bekenntnis: Haus wie Buch haben ebensosehr Begeisterung und Dankbarkeit verdient wie der Architekt des einen und die Autoren des anderen. Dieses Buch ist die dichte Beschreibung eines Hauses und führt als solche tief hinein in die vielschichtige Deutungswelt der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Lassen Sie mich dazu einige wenige Stichworte aufrufen: Abrechnung mit Vorurteilen

Ein hartnäckiges und uninformiertes Vorurteil behauptet, der „Bauhaus-Stil“ erschöpfe sich in kalten weißen Kuben. Dabei ist, und das lernt man wieder in diesem Buch, das Bauhaus schon mal kein bestimmter Stil, sondern eine Haltung gegenüber der Gegenwart, die mit dem entschiedenen Anspruch verbunden ist, diese Gegenwart zu gestalten und sie damit auch erst zu „erfinden“. In dem Auerbach-Haus hat Walter Gropius mit Adolf Meyer einen Lebensraum der heiteren, gelösten Ernsthaftigkeit erfunden, die der Erfahrung des Moments ebenso zuträglich ist wie der Produktivität und Kreativität seiner Nutzer. Die äußere Bauform folgte dabei der inneren Funktionalität und eben keinem vorgegeben Stil. Auch „weiß“ ist der Bau nur auf den ersten und oberflächlichsten Blick. In seinem Inneren entfaltet sich eine durchdachte, fast psychedelische Vielfarbigkeit, die den Betrachter mitnimmt auf eine Zeitreise ins Laboratorium der Neuen Sachlichkeit. Nicht zuletzt dadurch wird das Auerbach-Haus zu einem Monument der Moderne.

Und dies, wie das Buch zeigt, in zweierlei Hinsicht. Auch wenn die Klassische Moderne eine neue ästhetische Welt schuf, so war sie doch nicht aus dem Nichts geschaffen. Die Konzepte und Überlegungen der Bauhäusler mögen mitunter esoterisch wirken, doch zeigen sie auch ihre tiefe Verankerung in ästhetischen und musikalischen Traditionen. Erst hier erschließt sich das Auerbach-Haus vollumfänglich, in seinen Proportionen, in seiner Rhythmik, als gebaute Harmonie. Neben diese revolutionären gestalterischen Konzepte mit ihren traditionellen Bezügen trat die Verwendung neuer Materialien und Bauformen. Das reichte vom Linoleum, das schon länger produziert wurde, aber erst in der Architektur der Zwanziger zu seiner Bestimmung fand, über Torfoleum und JURKOSteine, die als Ersatz gedacht waren, aber Baumaterialien aus eigenem Recht wurden, bis zum Flachdach, das im Haus

Auer­bach erstmals in einem Wohnhaus Anwendung fand. Nicht zuletzt die Verwendung des Flachdachs im Wohnungsbau machte das Neue Bauen in Deutschland insgesamt, aber exemplarisch auch das Haus Auerbach in Jena zu einem Politischen Skandalon.

Dabei legte und legt es zunächst einmal Zeugnis ab von einer Jenaer Gelehrten-Kultur, in der sich um die Jahrhundertwende naturwissenschaftliche Gelehrsamkeit, künstlerische Aufgeschlossenheit und politischer Fortschrittswille vereinten. Anna und Felix Auerbach stehen als Personen selbst exemplarisch für dieses Milieu. Ihr Ende in diesem Haus steht auch für das Ende einer geistig freien Epoche vor den Diktaturen. Selbst in diesem politischen Bereich zeigt sich, wie wenig homogen das Bauhaus war. Walter Gropius blieb politisch verfolgt und musste emigrieren, Alfred Arndt, dem das Haus seine Farben verdankt, wurde zum Mitläufer, der im NaziDeutschland sein Auskommen fand. Es ist kein Zufall, dass auch die DDR-Diktatur dem Bauhaus lange feindlich gegenüber stand. Dass das Jenaer Haus Auerbach auch diese Zeit überstand, darf als ganz besonderer Glücksfall gelten. Aus dieser Verdichtung der Bedeutungen, aus Geschichte und Glücksfall des Hauses Auerbach erwächst eine Humanistische Herausforderung.

Nämlich die Aufgabe, einen Ort zu erhalten – als Baudenkmal, als Denkmal für Anna und Felix Auerbach, für die Kultur und politischen Kämpfe ihrer Zeit, aber auch als Mahnmal für die Kommenden. Ich habe das Haus Auerbach und seine heutigen Bewohner schon vor Jahren, im Rahmen der Image­ kampagne „Das ist Thüringen“, kennenlernen dürfen. Ich war beeindruckt, dass die Annahme dieser Herausforderung nicht in die Musealisierung geführt hat, sondern in die lebendige Nutzung. Vielleicht ist es die größte Bestätigung des Bauhauses, dass eine solche „lebendige Nutzung“ nach fast zehn Jahrzehnten immer noch möglich ist. Ich danke Barbara Happe und Martin S. Fischer für ihre Verdienste um dieses Haus, ich danke ihnen für dieses Buch. Damit bleibt nur noch eins festzustellen: Dieses Haus ist ein aufklärerisches Werk, dieses Buch ist sein Botschafter! Beides will und soll gelesen sein. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei.

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SĂźdansicht



Haus Sommerfeld 1920/21

Haus Otte 1921/22

Privathäuser von Gropius: 1919-1924 Walter Gropius (1883-1969) wurde am 1. April 1919 auf Vorschlag von Henry van de Velde von der provisorischen Regierung in Sachsen-Weimar-Eisenach nach Weimar zum Leiter der „Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für bildende Kunst“ und der von Henry van de Velde gegründeten „Großherzoglichen Sächsischen Kunstgewerbeschule“ berufen. Gropius nannte das neue Gesamtinstitut mit Zustimmung der Regierung „Staatliches Bauhaus in Weimar“ und machte es gemeinsam mit den auf seine Veranlassung hin berufenen Bauhaus-Meistern zu einem der wichtigsten Zentren für die Vereinigung der künstlerischen, handwerklichen und technischen Gestaltung in der Moderne. Das Bauhaus, das eine Synthese aller Gestaltungsbereiche und von rationalen und intuitiven Ansätzen anstrebte, ent­ wickelte sich zu einer von führenden Künstlern geprägten Formbewegung oder wie Gropius selbst es formulierte zu einem „Laboratorium für Gestaltungsforschung“, das alle Lebensbereiche mit einer künstlerischen Gestaltung zu durchdringen suchte.1 Als Visionär war er schon 1919, kurz nach der Gründung des Bauhauses, davon überzeugt, dass das „große Kunstwerk der Gesamtheit, diese Kathedrale der Zukunft bis in die kleinsten Dinge des täglichen Lebens hineinstrahlen“2 werde. Durch die Aufhebung der Trennung von Kunst und Handwerk wurde die Architektur zum Gesamtkunstwerk, in dem sich alle „bildnerischen Tätigkeiten“ vereinigten. Als Architekt erhielt Gropius während seiner Zeit am Weimarer Bauhaus von 1919 bis zum Beginn des Jahres 1925,

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als das Bauhaus nach seiner erzwungenen Selbstauflösung nach Dessau übersiedelte, überraschender Weise nur sehr wenige Bauaufträge. Nach Winfried Nerdinger sind in der Zeit von 1919 -1924/25 insgesamt 15, nach Annemarie Jaeggi 21 Architekturarbeiten bekannt, wovon allerdings nur sieben Projekte realisiert wurden.3 Tatsächlich baut er als Weimarer Bauhaus-Direktor nur 4 Einfamilienhäuser: W 194 Blockhaus Sommerfeld (1920/21), W 21 Haus Stöckle (1921/22), W 23 Haus Otte (1921/22), die sich alle in Berlin befinden5 und eben W 33 das Haus Auerbach. Die Zusammenschau dieser vier Häuser zeigt den radikalen Schritt, den Gropius mit dem Haus Auerbach im Jahre 1924 vollzieht. Das Haus Auerbach ist sein erstes „Bauhaus“. Auch gegenüber den Projekten W 22 Haus Kallenbach (1922) und W 27 Haus Rauth (1922) in Berlin, die bereits deutlich stereometrischer als frühere Häuser von Gropius sind, ein Flachdach haben und eine asymmetrische Gruppierung der einzelnen Baukörper aufweisen, ist das Haus Auerbach klar abgrenzbar. Gleichzeitig ist es eine konsequente, erste Umsetzung des von Gropius erdachten ‚Baukasten im Großen’ (W 30). Das Haus Auerbach weist erstmals im Werk von Gropius alle wesentlichen Merkmale des „Neuen Bauens“ auf. Es ist ein schwebendes, asymmetrisches Gebäude, das sich erst in der Bewegung des Betrachters erschließt. Das kubische Ensemble von sich durchdringenden Baukörpern wurde ökonomisch unter Verwendung neuer Werkstoffe gebaut.


Haus Stรถckle 1921/22

Haus Auerbach 1924


Der Baukörper Das Haus Auerbach besteht aus zwei sich durchdringenden Quadern. Die Grundflächen zweier sich überlappender Querrechtecke, wovon eines dem Wirtschaftsbereich das andere dem Wohnen zugehörig ist, wirken damit formbestimmend auf den Außenbau. Bereits in den Projekten Haus Rauth und der Villa Hausmann (Pyrmont) ist die Durchdringung von zwei Körpern, die eindeutig Wohnen und Wirtschaften zugeordnet sind, zu erkennen, ohne dass sich diese klare Trennung der Nutzungsbereiche dort im Außenbau niederschlägt. Für Jaeggi ist mit dem Haus Auerbach die „Phase des Experimentierens vorbei“ und der Weg vom geschlossenen Block zur Körperdurchdringung sei beschritten und einer endgültigen Form zugeführt.55 Auf der Internationalen Architekturausstellung 1923 in Weimar stellte Gropius den „Baukasten im Großen“ vor. Diese Idee des Baukastens im Großen beruhte darauf, dass typisierte Bauteile zu verschiedenen Haustypen nach dem Prinzip eines Baukastens zusammenmontiert werden konnten. Gropius, den die Frage der Typisierung schon lange beschäftigte, hatte bereits 1911 an seinen Freund und Förderer Karl Ernst Osthaus geschrieben: „Ich habe die Absicht, mit allen möglichen Mitteln meine Ideen von der Industrialisierung von Kleinhäusern durchzusetzen. ... Neuerung liegt namentlich in der Industrialisierung der Zeichnung: ich habe einen AnkerSteinbaukasten von einzelnen Bauteilen, aus dem ich je nach lokalen und individuellen Bedürfnissen mit Hilfe bestehender Ausführungsfirmen Häuser zusammensetzen kann. Von diesem System braucht aber niemand etwas zu wissen.“56 Zur

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gleichen Zeit hatte er auch seine Frau Alma Mahler über seine Idee der Hausbaugesellschaft auf künstlerisch einheitlicher Grundlage brieflich in Kenntnis gesetzt.57 Das Programm für diese Gesellschaft, das er Emil Rathenau vorgelegt hatte, enthält bereits viele Vorstellungen über Typisierung und Serialisierung des Hausbaues. Sein Bestreben galt der im Zuge der Rationalisierung im Bauwesen möglich gewordenen Vereinfachung und Verbilligung des Bauens, wozu u.a. die Verwendung neuer Baustoffe anstelle der bislang gebräuchlichen Naturbaustoffe wie Haustein, Backstein und Holz gehörte. Durch die Präfabrikation einzelner Teile sollte zudem eine erhebliche Zeitersparnis im Bauen erfolgen. Eine erste Form eines Baukastensystems wurde im Hinblick auf die für 1923 geplante Bauhaussiedlung in Weimar erstellt und dort 1923 als farbiges Gipsmodell mit der Bezeichnung „Wabenbau“ gezeigt. Gropius hatte gemeinsam mit Fred Forbat ab Mai 1922 die Vorbereitungen für die Bauhaussiedlung am Horn begonnen. Unter der Leitung von Gropius entwarf Forbat acht „Raumzellen“, die in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden konnten. Die Kernzelle jedes Hauses bildete der zweistöckige Grundkörper G, bestehend aus dem kleinsten Haustyp von drei Zimmern und Küche mit einem zentralen, quadratischen Wohnzimmer, dem in beliebiger Kombination weitere Raumkörper angefügt werden konnten. Das Prinzip dieses „Wabenbaues“, das eine freie Kombination und Addition von Baukörpern möglich machte, bedeutete eine „grosse Variabilität desselben Grundtyps


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Einzel-Raumkörper 1-6, Ausschnitt aus der vorhergehenden Abbildung

durch planmässigen An- und Aufbau angegliederter Raumzellen je nach Kopfzahl und Bedürfniss der Bewohner unter grundsätzlicher Verwendung grader begehbarer Dächer“. Eine Variation dieses seriellen Haustyps mit starrem Grundkörper wird durch die Addition von weiteren Raumkörpern erreicht, wobei die verschiedenen Modellkombinationen vorwiegend symmetrische Kompositionen bilden. Offenbar ging es Gropius darum, für ein Siedlungsmodell ein einheitliches Modul zu schaffen, wie Fred Forbat sich erinnert.58 Außerdem war Gropius der Überzeugung, dass nicht jedes Haus einen anderen Grundriss und eine andere Außenform besitzen müsse, da schon die Bauern- und Bürgerhäuser des 18. Jahrhunderts eine einheitliche, fast uniforme Gestaltung des Grundrisses und der Gesamtanlage aufwiesen.59 Denn das Wohnhaus sei ein „typisches Gruppengebilde“, ein Glied einer größeren Einheit, die nach Einheitlichkeit verlange. Individuelle Lösungen beurteilt er skeptisch als Zeichen der Willkür. Deshalb sei ein anerkannter Typus „immer ein letztes, reifstes Ergebnis aus der Summe von vielen Lösungen“. „Er wird zum formalen Generalnenner einer ganzen Zeit.“ Die Qualität des Typus wird für Gropius sogar zum Gradmesser der Zivilisation, der überdies das gesamte soziale Niveau hebe.60 Alle Einwände gegen eine Typisierung rührten nur aus einem schematischen Umgang und wirtschaftlichen Interessen. Die Befähigung zum Umgang mit typisierten Bauelementen sah Gropius allein in der schöpferischen Begabung des einzelnen Architekten, war es ihm doch daran gelegen, der individuellen

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Gestaltung keine Grenzen aufzuerlegen.61 Das System des rein äußerlichen Anheftens und Ergänzens beim „Wabenbau“, wird durch den „Baukasten im Großen“ dann von Gropius allein weiterentwickelt und einem qualitativ neuen Niveau zugeführt, das nicht mehr dem Ideal des geschlossenen Blocks verpflichtet ist.62. Der „Baukasten im Großen“, der über sechs Raumkörper verfügt, hat als Grund­ element einen leicht abgetreppten zweigeschossigen Quader und als weitere Elemente einstöckige Raumkörper unterschiedlichster Form wie z. B. zwei L-förmige Quader. Der „Baukasten im Großen“ unterscheidet sich vom „Wabenbau“ in der Überwindung der reinen Addition der Volumina hin zu einer räumlichen Durchdringung der Baukörper. Gerade die „Verwebung“ von Raumteilen, von stereometrischen Blöcken als elementaren Körpern ist zu einem Grundanliegen der Architektur von Gropius geworden. Betrachtet man den „Baukasten im Großen“ und vergleicht ihn mit dem Haus Auerbach ist auch eine andere Lesart der Form möglich als die gängige Beschreibung der Durchdringung zweier Kuben. Neben den quaderförmigen „Raumkörpern“ fallen beim Baukasten die L-förmigen „Einzel-Raumkörper“ 2 und 3 auf. Das L-förmige Element 2 findet bei allen 5 abgebildeten „Kombinationen“ Verwendung. Die einfachste Kombination ist die von Raumkörper 1 und 2, wobei im Quader Funktionsräume und im „L“ die Wohnräume zu denken wären. Auch das Haus Auerbach kann mühelos als Kombination eines dreigeschossigen Raumkörpers 1 und eines


Einzel-Raumkörper des Hauses Auerbach

zweigeschossigen Raumkörpers 2 aufgefasst werden. Eine bezogen auf den Raumkörper 1 vorgenommene Verkürzung beider Schenkel des „L“ am Raumkörper 2 und Durchdringung der Grundrisse sorgten für eine spannungsreichere Beziehung beider Körper. Unterstützt wird diese Interpretation durch zwei weitere L-förmige Elemente am Haus Auerbach. Das südliche Element bildet zusammen mit dem Wintergarten, der ursprünglich als Terrasse geplant war, ebenso ein L wie die nordöstliche Umfassungsmauer, die essentieller Bestandteil der gesamten Anlage ist. Der Wintergarten wird in dieser Interpretation also nicht als dritter kubischer Raumkörper verstanden. Damit kann die gesamte Komposition als zentraler Quader mit umgebenden L-Strukturen aufgefasst werden. In dieser Lesart wird das Haus Auerbach unbedingt ein Vorläufer des Direktorenhauses von Gropius in Dessau, das ja besonders durch das L-förmige Obergeschoss bestimmt wird. Zwangsläufig kann sich bei der Konstruktion des Hauses Auerbach keine Symmetrie von Vorder- und Rückseite ergeben. Eine klassische Portikussituation stellt dagegen der leicht eingeschnittene, fensterarme Eingangsbereich dar; ein betont mittiger Eingang findet sich auch bei früheren Häusern von Gropius z.B. dem Haus Otte in Berlin. Beim Haus Auerbach hat Gropius erstmals ein Flachdach im privaten Wohnungsbau realisiert. Gropius, der ein erklärter Anhänger des Flachdaches war, hatte 1926 in der „Bauwelt“ eine „Internationale Umfrage über die technische Durchführ-

barkeit horizontal abgedeckter Dächer und Balkone“ durchgeführt, deren Ergebnisse er im selben Jahr in der Bauwelt zusammenfasste. Seine fünf Fragen betrafen vor allem den Stand der Technik und die verschiedenen Ausführungsarten, Lösungen für die Ableitung des Wassers sowie die Wärmeisolierung.63 Seine Auswertung der Umfrage ergab vor allem Vorzüge gegenüber dem traditionellen Steildach nämlich eine bessere Ausnutzung des Raumes, die Reduzierung der Brandgefahr gegenüber hölzernen Dachstühlen, eine „Benutzbarkeit der Dachflächen zu Zwecken der Bewohnung (Dachgärten, Wäschetrocknung). Letzteres war im Haus Auerbach der Fall, wo eine abmontierbare hölzerne Vorrichtung für die Befestigung von Wäscheleinen existierte. Schließlich sah er eine bessere An- und Aufbaumöglichkeit des kubischen Baukörpers, keine Windangriffsfläche und daher eine geringere Reparaturbedürftigkeit. „die erfolgreichen erfahrungen, die in den letzten 20 jahren mit der konstruktion begehbarer und nicht begehbarer horizontaldächer gemacht wurden, geben mir die Überzeugung, daß der technisch fortgeschrittene mensch sich in der zukunft ausschließlich des horizontalen daches bedienen wird. ... die anwendung begehbarer, mit pflanzen bestandener dachgärten ist ein wirksames mittel, die natur in die steinwüste der großstadt einzubeziehen. die städte der zukunft werden mit ihren gärten auf terrassen und dächern – vom luftweg aus gesehen – den eindruck eines großen gartens geben.“64

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BAUGESCHICHTE Das 1924 von Walter Gropius mit Adolf Meyer erbaute Wohnhaus für das Ehepaar Anna und Felix Auerbach liegt am Fuße eines Südhanges, den sog. Sonnenbergen im Westen der Stadt Jena. Das Westviertel ist seit seiner Bebauung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bevorzugtes Wohngebiet des gehobenen Bürgertums wie Professoren oder Selbständigen, das von Bürgerhäusern und Villen im vorwiegend historistischen Stil geprägt ist. Am 15. April 1924 reichte Adolf Meyer in Vertretung („i.V.“) von Walter Gropius, der Alleininhaber des Architekturbüros war, die Baugenehmigung bei der Baupolizei ein. Bereits am 23. April beschloss die Bauberatungsstelle „nach empfangenem Vortrag und gepflogener Beratung“ „Der Entwurf passt nicht in das Stadtbild hinein. Da jedoch die Stellung des Gebäudes eine solche ist, dass es in Zukunft im Stadtbild nicht störend wirkt, so wird von einer Beanstandung abgesehen.“102 Nur zwei Stimmen wandten sich gegen den Baubescheid der Bauberatungsstelle. Ganz ausdrücklich hatte sich der Bauunternehmer Carl Gretscher gegen die Genehmigung verwahrt, der im Übrigen wenige Jahre später am Bau des Hauses Zuckerkandl von Walter Gropius in Jena dann aber mitbeteiligt war.103 Selbst der Oberbürgermeister Alexander Elsner, welcher der modernen Architektur im Stadtbild Jenas sehr zugetan war, zeigte gegenüber der Architektur von Gropius eine gewisse Zurückhaltung. „Ebenso selbstverständlich ist es aber auch, daß in einer Stadt, in der die Zweckform der Bauten schon seit langem in so eindringlicher Weise in Erscheinung trat, die modernen Bestrebungen an Sachlichkeit im Hausbau Verständnis fanden. Muß hier auch vermieden werden, daß das Wohnhaus mit flachem Dach in den Landhausvierteln am Berghang als Fremdkörper in Erscheinung trat, so liegt doch keine Veranlassung vor, diese Bauweise mit ihrem verfeinerten Empfinden für gegenseitige Massenwirkungen zu unterbinden.“104 Der Baubescheid erfolgte am 12. Mai, woraufhin umgehend mit den Bauarbeiten begonnen wurde, so dass am 30. Juli die Abnahme des Rohbaues und bereits am 31. Oktober die Schlussabnahme erfolgte.105 Die Ausführung wurde von der „Bauhütte Jena und Umgebung Soziale Baugesellschaft m.b.H.“ übernommen. Einem Brief von Felix Auerbach vom 3.6.1925 ist zu entnehmen, welche Personen auch am Bau beteiligt waren. „Sehr geehrter Herr! Infolge Ihrer Karte habe ich meine Belege nochmals durchgesehen und festgestellt, daß ich in vierzehn Posten an sechs verschiedene Empfänger (Sturtzkopf, Arndt, Volger, Neuffert, Necker, Gropius) zusammen 1705 M. bezahlt habe“.106 Bernhard Sturtzkopf war Student am Bauhaus und wurde ab 1924/25 in das private Architekturbüro von Gropius integriert, er hat auch die Bauakte gezeichnet.107 Hans Volger

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war vom Wintersemester 1923 bis zum Wintersemester 1929 am Bauhaus, er nahm am Vorkurs von Itten teil und lernte von 1923 bis 1925 in der Werkstatt für Wandmalerei, wo er im Wintersemester 1925 seine Gesellenprüfung ablegte.108 Ernst Neufert, der die Bauleitung hatte, war seit 1919 im Atelier Gropius tätig und avancierte 1924 zum technischen Bürochef und nach dem Weggang von Adolf Meyer zum Büroleiter.109 Wilhelm Necker war vom 1.7.1924 bis zum 31.10.1925 Syndikus des Bauhauses.110 Das Haus Auerbach wurde auf einem 1203 qm großen Grundstück (Gemarkung Jena, Flur 16, Flurstücke 109 und 110) errichtet, das zwei Baugrundstücke umfasste und dessen südliche Hälfte sich bis zur heutigen Humboldtstraße erstreckt. Die Humboldtstraße, die heutige Bundesstraße (B7) nach Weimar, wurde erst in den 1930er Jahren zur Hauptverbindungsstraße zwischen Jena und Weimar ausgebaut. Der nördliche Grundstücksverlauf wird von der Schaefferstraße, einer schmalen Fahrstraße, die auf diesem Teilstück nur einseitig bebaut ist, begrenzt. Der Baukörper ist drei Meter von der nördlichen Grundstücksgrenze zurückgesetzt. Die Baubeschreibung von Walter Gropius ist denkbar knappgehalten: „Baubeschreibung zum Neubau eines „Wohnhauses für Herrn Professor Dr. Felix Auerbach, Jena. Das Haus liegt auf dem Grundstück Nr. 5428 und 5433 der Flur Jena an der Schefferstrasse. Der baupolizeiliche Abstand von der Schefferstrasse ist gewahrt. Der Eingang von der Schefferstrasse aus. Das Haus wird als Wohnhaus in massiver, solider Bauweise errichtet. Die Zwischengeschossdecken und das Dach sind gleichfalls massiv (Berrahohlsteindecken). Die Fassaden erhalten einen glatten Verputz, die Dachflächen werden mit Ruberoid abgedeckt. Das Haus erhält eine Zentralheizung.“111 Der Bauantrag und die Bauzeichnungen sind jeweils mit Adolf Meyer i. V. neben dem Stempel „Architekturbüro Walter Gropius Staatl. Bauhaus Weimar“ dessen alleiniger Inhaber Gropius war, unterschrieben. Dies wirft die oft gestellte Frage nach der Autorenschaft von Gropius und Meyer auch hier am Haus Auerbach auf. Nach dem Wiedereintritt von Meyer in das Büro von Gropius als Mitarbeiter und Atelierleiter im März 1919, hatte Meyer offenbar die gleichberechtigte namentliche Nennung bei gemeinsamen Werken zur Vorbedingung für eine weitere Zusammenarbeit gemacht.112 Es steht aus verschiedenen Gründen außer Zweifel, dass Meyer einen entscheidenden Einfluss auf die Entwurfs- und Formfindungsprozesse hatte. Allein die Tatsache, dass Meyer langjähriger Mitarbeiter von Gropius war, ist natürlich Indiz genug für seine gestalterische und kreative Mitarbeit. Überdies ist bekannt, dass Gropius außerstande war, die einfachsten Zeichnungen zu erstellen und hierfür schon als Architekturstudent einen


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GrundriSS und Raumdisposition Im Erdgeschoss liegen die drei Hauptwohnräume Speise-, Musik- und Herrenzimmer, wobei die beiden erstgenannten nur durch eine Schiebeglastür voneinander zu trennen sind. Die herausnehmbaren Scheiben der Drei-Felder-Fenster zwischen Wintergarten und Esszimmer und die aufklappbaren Fenster im Wintergarten ermöglichen nicht nur eine optimale Lüftung, sondern lassen die drei Räume zu einer großflächigen, weitläufigen Einheit verschmelzen. Die horizontale und vertikale Dreigliedrigkeit aller Fensterelemente in diesen drei Räumen erzeugt einen gleichförmigen Rhythmus, der selbst in der Dreiteiligkeit des Einbauregales wiederkehrt. Über drei Stufen ist das ehemalige Herrenzimmer, das ebenfalls mit ei-

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nem eingebauten Wandregal ausgestattet ist, mit den tiefer liegenden Wohnräumen verbunden. Abweichend von der Bauantragsplanung wurden einige kleine Veränderungen in der Anlage der Nebenräume vorgenommen. Sie betreffen im Erdgeschoss den Windfang, der ursprünglich fast die gesamte Breite der Anrichte mit einnahm und den Vorraum vor der Toilette, der zunächst als direkter Zugang vom Vestibül zum Keller dienen sollte und keine Verbindung mit dem WC besaß. Ein Stahlbetonunterzug unter der Mittelwand ist das tragende Element im Innenraum. Für das Pfeilermauerwerk unter dem Unterzug wurden Jurkoplatten mit größerer Dichte verwen-




Fenster und Türen Bis auf die Stahlkonstruktion im Wintergarten sind alle Fenster im Haus aus Holz. Bei den Fensterkonstruktionen wurde große Sorgfalt auf die unterschiedlichen Nutzungsanforderungen in den einzelnen Räumen gelegt. Insgesamt wurde bestmöglich vermieden, dass die Fenster nach innen aufschlagen. Gropius hat sich für fünf verschiedene Flügeltypen entschieden: Kippschiebe-, Wendeflügel-, Schwingflügel-, Kippflügel und Klappflügelfenster.132 Er verwendet aber nicht die meist gebräuchlichen Drehflügelfenster. Im Musik- und im Herrenzimmer sind Kippschiebefenster mit einem Seilzugmechanismus und Gegengewicht eingebaut. Während die obere Reihe der Drei- bzw. Zweifeldfenster herausnehmbar ist, erlaubt ein Federmechanismus, die Flügel der Kippschiebefenster einzeln nach innen umzulegen und zum Reinigen in waagerechter Stellung zu halten.133 Die Küche, das Bad und die Waschküche, also die Fenster der Ostseite im nördlichen Kubus waren ursprünglich mit Schwingflügelfenstern ausgestattet, da sie sich gut für die Lüftung eignen (s. S. 31). Im Badezimmer war die untere Hälfte als Sichtschutz mit Milchglas versehen.134 Die Fenster dieser drei Stockwerke wurden, da sie bei der Sanierung 1995 nicht mehr im Originalzustand vorhanden waren, als Drehflügelverbundfenster erneuert. Bemerkenswert ist, dass die Brüstungshöhe in der Küche bei 157 cm liegt und im Bad sowie in der Waschküche bei 80 cm. Die ungewöhnliche und unpraktische Brüstungshöhe in der Küche ist ein Zugeständnis an die Fassadengestaltung, um durchgehende Sturzhöhen und regelmäßige Abstände zwischen den Stockwerken zu erzielen. So hat auch das Fenster an der Westseite des Arbeitszimmers eine Brüstungshöhe von immerhin 151 cm. Kippflügelfenster finden sich in kleinen Räumen und Abstellkammern wie in der Speisekammer, im begehbaren Schrank des Schlafzimmers, im Vestibül, auf der Süd- und Westseite im Dachboden und in den Kellerräumen. Die zwei Fenster im Schlafzimmer waren 1995 nicht mehr im Originalzustand erhalten und wurden zusammen mit der Balkontür als Verbundund Kastenfenster erneuert. Die große Diele im Obergeschoss war mit drei Wendeflügelfenstern, einer technischen Neuerung der damaligen Zeit ausgestattet. Ihr Drehpunkt liegt bei einem Drittel so, dass die Flügel beim Öffnen überwiegend nach außen aufschlagen.135 Diese Fenster mussten wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes 1995 durch Wendeflügel mit Verbundsystem erneuert werden. In den zwei Fremdenzimmern und der Mädchenkammer befinden sich heute noch die bauzeitlichen Wendeflügel, die bereits vor etlichen Jahrzehnten mit einem zusätzlichen inneren Kasten versehen wurden.

Als Beschläge wurden an Fenstern und an den Türen nicht die sogenannte Gropiusklinke von 1922 verwendet136, sondern seinerzeit gebräuchliche Griffe aus schwarzem Horn und vermutlich Rosenholz. Die Türschilder sind aus Duroplast. Die Sohlbänke und die Brüstung des Terrassenumganges sind sämtlich mit Zinkblech belegt und zwar so, dass die Fenstergruppen außen immer zusammengefasst wurden. Die Türen haben im Erdgeschoss eine einheitliche und konventionelle Höhe von 215 cm und im ersten Stock von 190 cm137. Während die Türblätter im Erdgeschoss glatt sind, werden sie im Obergeschoss durch mit als dreifach querrechteckigen Kassetten unterteilt.

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Entwurf für den Wohngarten, Kopie des verloren gegangenen Originals

Ausschnitt aus dem Entwurf für den Wohngarten

Umzeichnung des Entwurfes von Michaela Kümritz, 1998

in ihm dürfen keine Liebhabereien an ungewöhnlichen Dingen Aufnahme finden, also keine Exoten, die man andernorts mühsam überwintert und hier, weil aus dem Rahmen tretend, den Passanten heranlocken. Obst und Beeren – Gemüse halte ich überhaupt für ausgeschlossen – sollten auch nicht im Vorgarten gehalten werden, das gehört alles in den Garten hinterm Haus resp. in den Garten der Gartenkolonie.“144 Der davor befindliche Zaun sollte mit Vitis berankt sei, ein wohl eher die klaren Formen der Architektur störendes Element. Als ein mit der Architektur konkurrierendes Pflanzenelement sind auch die Berankungen im gesamten Sockelbereich anzusehen. Das Kernstück des südlichen Gartenareals am Haus Auerbach bildet – wie bei anderen Gartenentwürfen der Moderne – eine Rasenfläche, die von umlaufenden Staudenbeeten in jahreszeitlicher Abfolge, einem dazwischenliegenden U-förmigen Weg und Grenzbepflanzungen begleitet wird. Die Rasenfläche als immer wieder genannter Kern des modernen Wohngartens soll Ruhe und Weiträumigkeit ausstrahlen und den Gartenraum möglichst frei von ornamentalen Prunkelementen halten.145 Der äußere Abschluss des Gartens wird westlich von Beerensträuchern, Obstbäumen und östlich von einer Hainbuchen- bzw. Thuja-Hecke gebildet. „Doppelarmige Gordons“ (gemeint sind sicherlich Kordons, eine spalierartige Zuchtform von Obstgehölzen) säumen den Weg nach innen zur Rasenfläche. Eine Trockenmauer riegelt die große Rasenfläche gegen das höher liegende Grundstück ab und spart einen freien, zum Sitzen geeigneten Platz vor dem Wintergarten aus. Ein Götterbaum (Ailanthus) in der südwestlichen Ecke des Grundstückes beschattet den unter einer Pergola liegenden Sitzplatz. Von einer Bank im östlichen Gartenteil blickt man entlang der Wegachse auf die davorliegenden Rosenbeete. Die horizontale Grünflächengliederung schafft analog zum modernen Haus einfache und ruhige Rasenflächen wie auch beim Privatgarten der Villa von Ernst May in Frankfurt am Main.146 Der natürliche Wuchs der Pflanzen allerdings in Form rechteckig gefasster Staudenbeete soll eine Kontrastwirkung zur formalen Architektur des Hauses bilden. Die freie und zwanglose Anordnung der Pflanzen, die wie die Beerensträucher und Obstbäume auch einen Nutzeffekt besitzen, lassen eine gewisse Spannung zu den klaren Baukörpern zu. „Solche Baukörper verlangen konsequenterweise auch eine ebensolche Fortsetzung und Ergänzung durch die Pflanze. Wie vielseitig sind hier die Möglichkeiten, die dem Gartengestalter gegeben sind! Wie viel reizvolle Schönheitswerte kann er aus dem harmonischen Wechselspiel von Blumen und Rasenflächen, von frei wachsenden und streng in Form geschnittenen Gehölzen, von der Vertikalen des Einzelbaumes, der kubischen Masse der Baumgruppen und der Horizontalen der Rasenfläche schöpfen“, schreibt Otto Derreth 1929.147 Dieser Gartenplan wird von Ulrich Müller dem seinerzeit in Weimar tätigen Bauhaus – Gartengestalter Heinz Wichmann

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DIE FARBGESTALTUNG VON ALFRED ARNDT Das Haus Auerbach erhielt 1924 einen farbigen Innenanstrich nach einem Entwurf von Alfred Arndt, der anlässlich der Restaurierung des Hauses in den Jahren 1994/95 entdeckt und umfangreich befundet wurde.152 Mit der Rekonstruktion der bauzeitlichen Farben, die vermutlich schon seit Mitte der 1930er Jahre mit Tapeten überdeckt wurden, wird nun die Verbindung von Architektur und Farbe am Bauhaus an einem frühen Beispiel dokumentiert. Kurz nach der Entdeckung der Farbe im Haus Auerbach wurden in weiteren Bauhäusern im Zuge der Restaurierungsarbeiten farbige Innenanstriche wie beispielsweise in den Meisterhäusern in Dessau153, im Haus Zuckerkandl in Jena154 oder dem Haus am Horn in Weimar155 sowie in weiteren Häusern von Gropius in Berlin nachgewiesen. Nur beim Haus Auerbach ist die authentische Farbgebung der Bauzeit und ihre Übereinstimmung mit dem Entwurf von Arndt verlässlich bis ins Detail befundet worden. Angesichts der großen Komplexität der Farbigkeit bot einzig der Entwurf von Arndt als Vorlage die nötige Sicherheit für die detailgetreue Befundung des Farbenreichtums an allen farbtragenden Flächen durch die Restauratorengemeinschaft Bruhm und Serfling (Jena). Zur Bauzeit wurde auf freskal aufgebrachter Kalkgrundierung

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gestrichen. Bei der Wiederherstellung der ursprünglichen Farbigkeit wurden wegen der Haltbarkeit und Lichtechtheit Innenraum-Silikatfarben der Fa. KEIM GmbH verwendet. Dabei wurden sowohl vom Hersteller nach Farbnummern angelieferte Farben als auch Nachmischungen von Hand verwendet. In Zusammenarbeit zwischen Restauratoren, Malerfachbetrieb, Hersteller und Bauherren wurde unter Berücksichtigung aller Forschungs- und Untersuchungsergebnisse eine verloren gegangene Authenzität wieder erlebbar gemacht. Morgan Ridler weist in ihrer hervorragenden Dissertation allerdings zurecht daraufhin, dass durch die andere Materialität der Farben der ursprüngliche Eindruck nicht vollständig wieder erzeugt werden kann.156 In der einschlägigen Literatur war man bis zur Veröffentlichung der Restaurierung ausnahmslos davon ausgegangen, dass der Entwurf von Arndt nicht ausgeführt worden sei. Während der Farbentwurf von Arndt im Werkverzeichnis Gropius von Probst und Schädlich157 nicht erwähnt und in demjenigen von Nerdinger158 nur ausschnittsweise und kommentarlos abgebildet wird, betonen andere Autoren explizit, dass er nicht realisiert worden sei. Wolsdorff vom Bauhaus-Archiv in Berlin schließt beispielsweise seine Beschreibung des Arndt-


Farbbefundungen durch die Restauratorengemeinschaft Bruhm und Serfling

schen Entwurfes mit der Feststellung: „Der Entwurf wurde nicht ausgeführt.“159 Etwas vorsichtiger formuliert Winkler: „Die Ausführung der Farbstudie von A. Arndt ist nicht nachweisbar.“160 Jaeggi mutmaßt, dass die Malerarbeiten im Hause Auerbach von der Werkstätte des Bauhauses ausgeführt worden seien. „Über das gestalterische Konzept ist allerdings nichts bekannt. Zwar existiert ein Entwurf des Schülers Alfred Arndt, doch wurde sein Vorschlag nicht umgesetzt.“161 Damit konnte das Klischee von der weißen Monochromie des Bauhauses zurechtgerückt und vor allem auch die Auffassung von Gropius über das Verhältnis von Architektur und Farbe differenzierter beurteilt werden. Bereits Herrel korrigierte in seinem Überblick über die seit dem Anfang der 1980er Jahre durchgeführten Rekonstruktionen ursprünglicher Farbigkeit von Bauten der Moderne das Vorurteil von der „Weißen Moderne“, indem er u.a. feststellte, dass allein zwischen 1925 und 1930 in Deutschland über 1 Million Bauten farbig gestrichen oder verputzt gewesen seien.162 Ebenso war durch die Restaurierung eine Ablehnung oder zumindest Zurückhaltung gegenüber der Farbe in der Architektur, die man Gropius immer wieder nachsagte und ihn damit fälschlicherweise zum Verfechter weißer Architektur sti-

lisierte, eindeutig zu korrigieren.163 Seine Skepsis gegenüber der Farbe bezog sich vor allem auf den Außenbereich und im Besonderen auf den Putz. Denn in seinem 1919 postulierten „Bau der Zukunft“ sollte alles in einer Gestalt sein „Architektur und Malerei und Plastik“. Der Vergleich mit anderen Befunden zur farblichen Gestaltung von Innenräumen am Bauhaus wie etwa den Meisterhäusern in Dessau oder dem von Oskar Schlemmer mit farbigen Fresken versehenen Hause Rabe in Zwenkau bei Leipzig macht deutlich, wie vielfältig das Spektrum der farblichen Gestaltungen am Bauhaus selbst war, was angesichts der Individualität der künstlerischen Autoritäten wie Klee, Kandinsky oder Feininger und ihrer kreativen Bestrebungen auch nicht anders zu erwarten ist. Die Vielfalt der farblichen Gestaltungsmittel zeigt auch, dass der Einsatz von Farbe in der Architektur ein intuitiv-kreativer Akt war, bei dem nicht eine homogene und stringente Farbtheorie des Bauhauses im künstlerischen Prozess didaktisch umgesetzt oder angewandt wurde. Alfred Arndt (1898-1976) entwarf 1924 im Auftrage von Walter Gropius den Plan für die farbige Gestaltung der Innenräume des Hauses Auerbach. In seinen Aufzeichnungen, die er 1968 anlässlich der großen Bauhaus-Ausstellung in Stuttgart

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Musik- und Speisezimmer nach Norden



Diele im Erdgeschoss nach Westen


Diele im Obergeschoss nach Westen


Farbgestaltung von Arndt im Kontext des Bauhauses Alfred Arndt, der als Bauhäusler neben Hinnerk Scheper und Oskar Schlemmer wohl die meisten Farbgestaltungen von Wohnräumen entwarf, hat mit der Polychromie der Innenräume des Hauses Auerbach einen eigenen Weg innerhalb der Wandmalerei des Bauhauses beschritten. Dies betrifft sowohl die Farbwahl als auch das Verhältnis von Farbe und Raum. Seine Farbwahl beruhte auf der Kombination heller und zarter Pastelltöne, die nicht die Kontrastlehre des Bauhauses umsetzte, welche auf der Vorstellung einer komplexen Harmonie von Farben beruhte. Nur selten benutzte er gesättigte Farben, um die Lichtverhältnisse in dunklen Räumen und Durchgängen zu akzentuieren. Sein Umgang mit der Farbe ist weder der rein tektonischen noch der dekorativ-bildnerischen Wandmalerei zuzuordnen, zumal er jeden Raum individuell behandelt. Er versucht, die Eigenart der Räume formal wie farblich auszudrücken und gibt jedem Raum seine besondere Farbgestaltung. Diese wählt er nach dessen spezifischen Eigenschaften wie z.B. Größen- und Lichtverhältnisse und der jeweiligen Nutzung, die auch eine spezifische farbliche Atmosphäre verlangen kann. Wandfriese, Rahmungen, farbig abgesetzte Fußleisten und raumgliedernde Farbbänder sowie mittig platzierte und asymmetrische Deckenspiegel sind wiederkehrende, persönliche Stilmittel. Die farbliche Vereinheitlichung von Teilen des Decken- und Wandbereiches ist ein originelles Gestaltungsprinzip, womit er sich von vielen anderen Architekten der Moderne wie etwa Le Corbusier unterscheidet, der ja einen „camouflage architectural“, eine optische Auflösung der plastischen Form durch den Farbwechsel an den Kanten des prismatischen Körpers forderte.191 Für Le Corbusier schafft die Polychromie Räume, „sie scheidet das Wesentliche vom schmückenden Beiwerk. Die Polychromie ist ein ebenso mächtiges Mittel der Architektur wie Grundriss und Querschnitt. Mehr noch als das: die Polychromie ist Bestandteil des Grundrisses und des Querschnittes.“192 Seine Raumfarben halten aber insofern an der Plastizität des Raumes fest, als er mit den Farben natürliche Materialwerte suggeriert, welche die räumliche Illusion verstärken. Beschreibt man den Charakter der von Arndt verwendeten Farben anhand des Farbsystems ‚Natural Colour Systems‘193, einem ca. 1300 Farben mit 40 Bunttönen und Grauskalen umfassenden Farbatlas, so ergibt sich folgendes Bild. Die großen Flächen an den Wänden und im Deckenbereich in den Wohnräumen zeichnen sich bis auf wenige Ausnahmen durch eine große Helligkeit aus. Der Weißanteil der Farben liegt an den Wandpartien fast immer bei Werten zwischen 70%-80%, der Schwarzanteil bewegt sich zwischen 5% -20% und der Buntanteil liegt in der Regel nicht über 20%. Lediglich im er­ sten Fremdenzimmer haben die ockersandfarbenen Wände

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einen Buntanteil von 30% und im zweiten Fremdenzimmer erreichen die kräftigen Orangetöne einen Buntanteil von 40%. Dies führt zu einer lichten und heiteren Farbwirkung, die dem gesamten Hause eine sehr beschwingte Note verleiht. Vergleicht man seine Farben etwa mit denjenigen, die Le Corbusier bei den Salubra-Tapeten verwandt hat, so zeigt sich, dass die Farben von Le Corbusier einen wesentlich höheren Buntheitsgrad aufweisen, d.h. intensiver sind. Der große Helligkeitswert und geringe Sättigungsgrad der Farben hat zur Folge, dass die aneinandergrenzen Farbtöne fast immer die gleichen Nuancen besitzen und es kaum HellDunkel-Kontraste gibt. Der Arndtsche Farbenklang beruht auf der Kombination gleicher Helligkeitswerte oder der Zusammenstellung unterschiedlicher Nuancen eines Farbtones wie z.B. im Herrenzimmer. Durch den ähnlichen Tonwert werden die Farben aneinandergebunden. Arndt setzt kräftigere Farbtöne im Wand- und Deckenbereich nur in den Dielen ein. Der dunkelblaue fensterlose Durchgang zu den Fremdenzimmern im Obergeschoss und das abgesenkte Entrée vor dem Schlafzimmer erzeugen mit den angrenzenden Wandpartien in hellem Beigegelb und zartem Altrosa einen der wenigen Hell-Dunkel-Kontraste im gesamten Hause. Gleichzeitig wird durch die niedrigen dunklen Durchgänge der Effekt erzeugt, dass sich die dann öffnenden Zimmer höher und großräumiger erscheinen. Auffallend ist auch, dass Arndt keine reinen Grundfarben verwendet und auch nie mit Komplementärkontrasten arbeitet. Die Sanftheit des pastosen Farbklanges, der sich mit der Architektur zu verbinden sucht, wurde von den Puristen in der De Stijl -Gruppe als Sentimentalität abgelehnt.194 Interessanterweise deckt sich diese Idee, Räume durch die Farbigkeit in Beziehung treten zu lassen und miteinander zu verbinden mit dem, was Ise Gropius über das Haus Gropius in Dessau festgehalten hat. Ihr erschien die Farbigkeit in den anderen Meisterhäusern als zu bunt und sie empfand dadurch die einzelnen Räume farblich zu sehr voneinander separiert. Möglicherweise unter Anspielung auf die lebhafte Farbgebung des Hauses von Kandinsky, wo jeder Raum wie ein „architektonisches Individuum“ war195 und unter dem Eindruck der anderen Meisterhäuser, schreibt Ise Gropius: „meiner vorstellung nach müsste ein ganzes haus oder eine ganze etage irgendwie unter einen gedanken gebracht werden. es ist nicht nötig, dass jeder raum so unglaublich anders ist! es kommt mir dann doch sofort die fatale erinnerung der früheren häuser, in denen man im einen zimmer die grüne, im anderen die rote, im dritten die gelbe tapete hatte! ... ich glaube, man sollte sie (die Farbigkeit) sehr viel vorsichtiger behandeln und weniger mit anstrich, der doch letzten endes nur ein behelf ist, als vielmehr mit der farbigkeit des materials selbst arbeiten“.196


Für Gropius war die Farbe ein Mittel zur Betonung der räumlichen Organisation, die aber „gleichzeitig starke variation in die wirkung an sich gleicher räume“ bringe.197 Und genau dies, nämlich die Betonung der räumlichen Organisation und Struktur hatte Arndt mit der Farbgestaltung im Haus Auerbach realisiert. Gropius, der eine Synthese aller Künste am Bau anstrebte, hielt die Einheitlichkeit eines Werkes dann für verwirklicht, wenn die selbständige Leistung eines jeden Künstlers oder Handwerkers am gemeinsamen Werk erhalten bliebe, und gleichzeitig das formale Thema durch Wiederholung der Grundeinheit und ihres Maßverhältnisses in allen seinen Teilen bewältigt werde.198 Basierend auf dieser Einheitsgrundlage von Ton, Farbe und Form wurde eine praktische Harmonisierungslehre erteilt. Denn der „Mensch, der bildet und baut, muss eine besondere Gestaltungssprache erlernen, um seine Vorstellungen sichtbarmachen zu können. Ihre Sprachmittel sind Elemente der Formen und Farben und deren Aufbaugesetze.“199 Während seiner Zeit am Bauhaus hat Arndt als erste wandmalerische Arbeit zusammen mit Joseph Maltan die Ausmalung der Innenräume im Haus am Horn in Weimar verantwortlich durchgeführt.200 Im Haus am Horn, dessen farbige Raumfassungen 1999 im Zuge einer kompletten Restaurierung des Hauses umfassend befundet wurden, hat Arndt seinerzeit die Farbfassung direkt vor Ort entwickelt, was auch die zahlreichen Probeanstriche erkennen lassen. Diese Vorgehensweise findet sich mehrfach bei Arndt.201 Berühmt sind seine Farbpläne für die Außengestaltung der Doppelhäuser der Bauhausmeister in Dessau. Unmittelbar nach dem Haus Auerbach entwarf Arndt 1925 einen Farbplan für die in den 1920er Jahren erbaute Neorenaissance-Villa der Familie Hergt in Mellingen, einem kleinen Ort nahe Weimar.202 Dieser Entwurf zeigt in der Farbwahl und den raumgliedernden Elementen deutliche Übereinstimmungen mit dem Entwurf des Hauses Auerbach beispielsweise in den asymmetrischen Elementen, mittig angebrachten Deckenspiegeln oder farblich abgesetzten Friesen.203 So finden sich hier die dunkle Rahmung von Türen und die farbliche Akzentuierung von eher dunklen Durchgängen wieder. Das Herrenschlafzimmer im Haus Hergt ist in ähnlichen Blautönen gehalten wie das Schlafzimmer im Haus Auerbach, und im Herrenzimmer für den Tag wurden ähnliche Farbkombinationen wie in einem der Fremdenzimmer im Haus Auerbach verwendet. Der Entwurf für die Villa Hergt ist der letzte erhaltene Farbentwurf, den Arndt für die Gestaltung von Innenräumen angefertigt hat.204 Arndt hat sich im Unterschied zu seinen berühmten Zeitgenossen am Bauhaus und anderen Exponenten der Moderne nie theoretisch oder programmatisch über seine Farbkonzeptionen geäußert, so dass wir diese allein aus seinem Werk erschließen können. Nur bei der Farbgebung der Kindertagesräume in der Landesheilanstalt in Roda (Thüringen) hat er seine Intentionen erklärt. In den Räumen für die Kinder ver-

suchte er nicht ein bestimmtes ästhetisches Gestaltungskonzept zu verwirklichen, sondern er wollte vor allen Dingen die Phantasie der Kinder anregen und verhindern, dass sie sich in den Räumen langweilten. Die Farben sollten daher die Wahrnehmungswelt der Kinder stimulieren und ihre Gefühlslage positiv beeinflussen. „bisher wurden decken und wände in kinderzimmern und kindersälen der horte und erziehungshäuser durchweg monoton hell (weiß) angestrichen. unten herum lief ein ölfarbensockel, an den wänden im oberen teil schablonierten die maler den bekannten kinderfries. tiere, blumen und kinder, die sich soundsovielmal wiederholten, dass das kind wohl auf den er­ sten blick freude daran hatte, nach stunden jedoch schon alles ganz genau kannte und nicht mehr daran interessiert war. langeweile trat ein, denn kinder und tiere bewegten sich nicht, sie blieben tot und regten die phantasie der kindlichen seele nicht im geringsten an; im gegenteil, diese art von ausmalung wirkte lähmend. dem alten entgegensetzt, versuchte ich eine lebendigere und abwechslungsreichere lösung zu finden. ich gelangte zu einer farbigen aufteilung, welche durch die räumlichen verhältnisse – fenster, türen, kaminvorbau, heizkörper usw. – gegeben war. die farbskala gelb-rot-blau habe ich so gewählt, dass sie den raum lustig und freundlich macht, so dass sich das kind wohlfühlt und in heitere stimmung gebracht wird. durch die nichtfarben weiß-schwarz-grau wird die farbigkeit einerseits verstärkt, andererseits die buntwirkung vermieden.“ 205 Es ist nicht bekannt ob Arndt nach seinem Weggang vom Bauhaus die Fassaden oder die Innenräume der von ihm selbst entworfenen Häuser wie etwa beim Haus Bauer in Probstzella farbig fasste. Spätestens nach dem er Jena im Jahre 1948 verließ, dürfte die Polychromie von Innenräumen wie bei anderen Bauhäuslern keine Rolle mehr in seiner Architektur gespielt haben.206 Der unterschiedliche Umgang mit farbigen Innenanstrichen bei Arndt und den anderen Bauhausmeistern führt auch zur Frage, ob ihnen Farbe „eine psychologische Angelegenheit“ (Albers) war. Itten, der ab 1919 den Vorkurs und vorübergehend auch die Werkstatt für Wandmalerei leitete, legte großen Wert auf die psychologische Wirkung der Farben, die er selbst anhand von Versuchen getestet hatte.207 Er war der Überzeugung, dass den Farben Strahlungskräfte innewohnen, die auf den Menschen in positiver oder negativer Art einwirken; dass der Farbe und der farblichen Gestaltung eine „sinnlich-sittliche Wirkung“ innewohne, wurde durch die Farblehre von Goethe und die ersten Erkenntnisse der Farbpsychologie um 1800 experimentell untersucht und ist seither wissenschaftlich anerkannt.208 Da Arndt bei Itten den Grundkurs absolviert hatte, war er mit diesem intentionalen Umgang mit Farben vertraut. Im Bauhaus-Archiv findet sich im Bestand von Alfred Arndt auch ein Aufsatz eines unbekannten Autors „Farbe im Raum: Altmeister Goethes Untersuchungen“.209 Auch Kandinsky war der Überzeugung, dass

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Zeitgenössische Photographie des Musikzimmers. Das Bild an der rechten Wand zeigt die Familie Heß. Das linke Bild ist eine Kopie des Concerto musicale nach einem Gemälde von Giorgione oder nach anderer Zuschreibung Tizian. Abgebildet sind ein Cembalist, ein Sänger und ein Viola da Gamba Spieler. Es war eines der Lieblingsbilder von Gustav Mahler.

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BAUHERREN Nach den Bauherren Felix und Anna Auerbach wird das Haus auch heute noch Villa oder Haus Auerbach genannt, wenngleich Gropius den Begriff der Villa nie ins Spiel brachte, sondern es in der Baubeschreibung schlicht als „Wohnhaus“ bezeichnete.257 Ihre Ansprüche an das Haus lassen sich aus den Biographien und ihren Lebensumständen rekonstruieren. Sie führten ein großzügiges gesellschaftliches Leben, das sich im weitläufigen, öffentlichen Bereich im Erdgeschoss abspielte, welches mit einer Anrichte vor dem Speisezimmer und einem Musikzimmer ausgestattet war, während sich die Fremdenzimmer im Obergeschoss befanden. Beide liebten die Musik, veranstalteten Hausmusikabende und Felix Auerbach „dilettierte auf hohem Niveau“258, was durchaus anerkennend gemeint war, da man seinerzeit unter Dilettieren die leidenschaftliche Ausübung etwa der Musik ohne eine berufliche Ausbildung oder deren Ausübung zum Broterwerb verstand. Für ihre Bilder, darunter das MunchPorträt von Felix Auerbach, waren von Beginn Bildleisten an den Wänden vorgesehen. Seine wissenschaftliche Arbeit vollzog sich hingegen in einem durch eine Doppeltür fast hermetisch abgeschlossenen ‚Herrenzimmer‘. Gropius, für den Bauen die Gestaltung von Lebensvorgängen bedeutete, legte Wert auf eine klare Festlegung der Einzelfunktionen im Gesamtorganismus: „der organismus eines hauses ergibt sich aus dem ablauf der vorgänge, die sich in ihm abspielen.“259 Über die Inneneinrichtung des Hauses ist, bis auf das, was auf einer historischen Photographie vom ehemaligen Musikzimmer erkennbar ist, leider nichts bekannt. Das Ehepaar Auerbach hatte die Möbel wohl aus der vorherigen Wohnung mitgebracht und sie besaßen keine speziell für das Haus angefertigten Möbel von den Bauhauswerkstätten. Anna Auerbach

Anna Auerbach, geb. Silbergleit, begegnet uns auf unterschiedliche Weise in der Jenaer und Thüringer Geschichte: mit ihrem vielseitigen Engagement im öffentlichen Leben, das sich auf das Erlangen der Gleichberechtigung der Frauen richtete, ihrem Eintreten für die moderne zeitgenössische Kunst im Jenaer Kunstverein und ihrer späten Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Partei. Erstmals erschlossene archivalische Quellen aus dem Universitäts- und dem Stadtarchiv in Jena, dem Helene-Lange-Archiv in Berlin, dem Nachlass von Elisabeth Förster-Nietzsche im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, dem Nachlass ihres Mannes Felix in der Staatsbibliothek Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staats-und Universitätsbibliothek Hamburg und dem Leo Baeck Institute in New York haben es erlaubt, eine bedeutende Persönlichkeit Jenas wieder hervortreten zu lassen.260

Über die familiäre Herkunft von Anna Auerbach und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sind wir über die von ihr verfasste Chronik der Familie Silbergleit, die sie ihrer Mutter 1905 zum 70. Geburtstag schenkte, gut unterrichtet. Aus dem humorvoll und mit leichter Hand geschriebenen Text können wir entnehmen, dass Anna Silbergleit am 22.12.1861 als vierte von fünf Töchtern in Breslau geboren wurde. Ihr Vater hatte in Breslau, nachdem er sein Speditionsgeschäft aufgegeben hatte, eine Großeisenhandlung mit internationalen Handelsbeziehungen aufgebaut. Anna wuchs in einem bürgerlich-jüdischen Milieu in Breslau auf, dem bei aller „gewollten Einfachheit“ die Vorzüge eines kaufmännisch, wohlhabenden Lebensstils anhafteten. Sie schwärmt von den großen Festen, die für die auswärtigen Geschäftsfreunde des Vaters veranstaltet wurden und von der gepflegten Küche, mit der sie groß wurde. „Die Wichtigkeit, mit der die fremden Sprachen, besonders das Französische, behandelt wurden, – eine französische Bonne oder Erzieherin gehörte notwendig zum Haushalt –, die schon erwähnte Vorliebe für die italienische Oper und manches andere gab der Physiognomie unseres Hauses einen Stich ins Internationale“.261 Hierzu zählte auch, dass zur „Erlernung und zum Gebrauch“ der englischen Sprache zeitweilig eine Amerikanerin als Erzieherin zum Hause gehörte.262 Durch den engen Kontakt der jüdischen Familien in Breslau untereinander kannte Anna Felix Auerbach bereits seit ihrem sechsten Lebensjahr. Ihre Lebenswege kreuzten sich erstmals in der Sommerfrische 1868. „So ist dieser Sommer für Felix und mich zu einem unseren Kindheitsstrassen gemeinsamen Meilenstein geworden, um den sich viele hübsche Erinnerungen tummeln.“263 Gelegentlich spielten sie wohl auch als Nachbarkinder gemeinsam in einem Garten in Breslau, den mehrere Familien für ihre Kinder als Spielplatz gemietet hatten. 1881 traf sie dann als Zwanzigjährige bei einer ausgedehnten, über zweimonatigen Italienreise, einer Nachkur für ihren operierten Vater, erneut auf Felix Auerbach, um dann im besten „Stadium der Wiederanknüpfung“264 über den Wagnerkultus die Beziehung zu ihm zu festigen. „Ihn umwallte wie ein Talar der Ruf unerhörter Gelehrsamkeit. Die Wissenschaft, die er zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte, die Physik, war in ihrem gelehrten Betriebe etwas, das selbst unsere erleuchtetsten Köpfe nur mit heiliger Scheu erfüllt hatte. Ausserdem aber schien es unmöglich, im Gespräch etwas anzutippen, worüber er nicht mindestens in den Grundsätzen orientiert gewesen wäre. ‚Frag nur den Dr. Auerbach, der weiß alles und noch ein bissel mehr’ hieß es bei entsprechenden Gelegenheiten unter uns Mädeln’.“265

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und weitergedacht hat, ist bisher nicht bekannt. Auf Bildinterpretationen gestützte und angenommene Bezüge zwischen Auerbachs Raum-Zeit-Theorie und Klees Auffassung eines fließenden Raumes335 werden kritisch gesehen und es wird darauf verwiesen, dass auch Ulrich Müller, der zwei Diagramme von Auerbach und Klee gegenüberstellt, einräumt, dass „die Diagramme (von Klee und Auerbach) in inhaltlicher Hinsicht so gut wie keine Berührungspunkte aufweisen.“336 Die Beziehung von Auerbach und Kandinsky untersuchen zwei Kunsthistoriker.337 Im Jahr 1914 veröffentlichte Auerbach „Die graphische Darstellung.“338 Diese ist für ihn eine analytische und praktische Methode. So wie die Sprache „in der mathematischen Formelsprache ... ihren Höhepunkt erreicht“ hat, die Naturgeschichte und die bildende Kunst für alle räumlichen Dinge die „Erzeugung von Bildern“ habe, fragt sich der Vertreter der „exakten Wissenschaft“, ob die graphische Darstellung nicht dazu dienen könnte „Nichträumliches, also Zeitliches und ferner alles, was sich auf Temperatur und Elektrizität, auf Helligkeit und Farbe, auf stoffliche und geistige Quantität und Qualität und auf hunderterlei anderes bezieht, unter dem Bilde des Räumlichen zu erfassen und zeichnerisch darzustellen?“ Die Selbstverständlichkeit, mit der wir heute beispielsweise Kurvendiagramme lesen, bestätigt seine Prognose: „Eine äußerlich anspruchslose Kunst, denn sie führt dem Auge nichts vor als Linien und Linienscharen und immer wieder Linien, zuweilen auch Flächen und äußersten Falles räumliche, modellartige Figuren. Aber für den, der diese Sprache zu lesen versteht, ist sie auf ihre Weise beredter und reicher als alle anderen; auf knappem Raume erzählt sie unglaublich viel; denn man kann diese Schrift sozusagen von vorn und hinten, von oben und unten, analytisch und synthetisch lesen;

Auerbach

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und jedesmal erhält man dieselbe Erkenntnis in einer neuen Form, einem neuen Zusammenhang, einer neuen Genese, und das ist ja schließlich immer wieder eine neue Erkenntnis. Kein Wunder, daß die graphische Darstellung, deren frühere Vernachlässigung eben nur durch die drückende Tyrannis des abstrakten Denkgeschmacks erklärbar wird, in neuerer und neuester Zeit einen wahren Triumphzug durch alle Gebiete wissenschaftlicher Forschung unternommen hat, von den exakten Naturwissenschaften und den statistisch-volkswirtschaftlichen Disziplinen ausgehend und nach und nach auch sprödes und sprödestes Terrain erobernd, bis sie zuletzt auch im Herzen der Psychologie und Philosophie angelangt ist.“ „Spuren des Auerbach’schen Plädoyers“ finden sich in Wassily Kandinskys Schrift „Punkt und Linie zu Fläche“ von 1926.339 Während der Physiker sich Gedanken über die Anschaulichkeit von Wissenschaft macht, geht es Kandinsky um das Objektive von Kunst oder das berechenbare Bild und interessanter Weise geht es beiden vorzugsweise um Linien. „In dem heutigen Suchen nach abstrakten Verhältnissen spielt die Zahl eine besonders große Rolle. Jede Zahlformel ist wie ein eisiger Berggipfel kühl und als höchste Regelmäßigkeit wie ein Marmorblock fest. Sie ist kalt und fest, wie jede Notwendigkeit.“340 Insbesondere die Abb. 7, S. 173 („Deformation einer Stromkurve durch Induktanz und Kapazität“) des Buches „Physik in graphischen Darstellungen“ von 1912 von Auerbach hat Berühmtheit erlangt, denn sie wird durch doppelte Spiegelung bei Kandinsky zur „Reformation einer Stromkurve aus Physik in graphischen Darstellungen von Felix Auerbach, Verlag Teubner“.341 Nach Ansicht von Ulrich Müller „reformierte der Maler die Kurve und opferte den dargestellten physikalischen Sachverhalt dem Reiz des ästhetischen Scheins.“342

Kandinsky


Felix und Anna Auerbach (2. und 3. von links) im Kreis von Bekannten

Gesellschaftliches und kulturelles Leben des Ehepaares Auerbach Das Verhältnis der Familie Silbergleit und später auch des Ehepaares Auerbach zur Religion war distanziert. Anna überliefert uns dazu in ihrer Familienchronik: „Waren wir auch in unserer Generation eigentlich reif gewesen, aus dem beengenden Verbande unserer religiösen und sozialen Gemeinschaft herauszutreten, so fehlte doch viel dazu, dass wir es uns unbedingt und übermächtig stark gewünscht hätten. Von jeder innerlichen Zugehörigkeit zum Glauben unserer Väter – wie zu jedem andern auch – waren wir allerdings gründlich losgelöst. Da war reine Schwefelsäure draufgegossen worden. Denn wenn auch von der Duldung, die man jeder echten Frömmigkeit schuldig sei, manchmal die Rede war, so galt ja doch als ausgemacht, dass jeder trotz ausreichender Bildung religiös gläubige ein Esel oder ein Heuchler sein müsse.“343 Dies äußerte sich auch in ihrer distanzierten Haltung gegenüber der israelitischen Religionsgemeinschaft in Jena. Da sie die Gemeinschaft bei keiner ihrer Vorhaben unterstützte und

sich auch nicht einem Gesuch um Gestattung einer Kultusgemeinde an das Staatsministerium anschlossen , wurden sie von dieser als „Widerstrebende“ bezeichnet.344 Die jüdische Religionsgemeinschaft in Jena besaß insgesamt keine große Akzeptanz bei den Intellektuellen, weshalb sie sich alsbald wieder auflöste. Das Leben der Auerbachs in Jena war im Besonderen durch ihr Wirken im kulturellen Leben der Stadt und ihr Engagement für die zeitgenössische, moderne Kunst geprägt und sie zählten zu dem Kreis von Intellektuellen, welcher das Kulturleben in Jena nachhaltig beeinflusst hat.345 Sie waren unter den Gründungsmitgliedern des Jenaer Kunstvereines im Jahre 1903 und gehörten der von 1904-1912 existierenden Gesellschaft der Kunstfreunde von Weimar und Jena an. Diese war vor allem als Stifter und Auftraggeber des Bildes von Ferdinand Hodler „Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg 1813“ für das im Jahre 1908 erbaute Universi-

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„Jena Schäfferstr. 9 Haus Auerbach x dort hängt die männliche Halbfigur auf rotem Grunde, sehr gut beleuchtet“

Edvard Munch porträtiert Felix Auerbach Als am 24. Januar 2018 das Van Gogh Museum in Amsterdam erstmals das Porträt von Felix Auerbach, das Edvard Munch 1906 gemalt hatte, der Öffentlichkeit präsentierte, wurde über dieses Ereignis in vielen Sprachen weltweit berichtet darunter auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.375 Es gilt als eines der besten Porträts von Munch aus dieser Schaffensperiode, aber anders als diejenigen von Friedrich Nietzsche und von dessen Schwester oder das von Harry Graf Kessler, die im „kollektiven Bildgedächtnis verankert sind“ (A. Platthaus), war dieses Porträt bislang nur eine kurze Zeit der Öffentlichkeit in New York zugänglich und seit es am 14. Mai 1980 bei

Sotheby’s in New York versteigert worden war376, war es wie verschwunden. Wir wissen, dass das Porträt im Hause Auerbach im Musikzimmer an der Südwand neben der Fensterfront hing, denn Felix Auerbach hatte auf einer Postkarte an Munch diesem diese Stelle bezeichnet.377. Und es hat heute noch seinen schwarzen Jugendstilrahmen mit goldenem Wellenrand, an den sich Ruth Kisch-Arndt, die Nichte 2. Grades von Anna Auerbach, erinnerte. Sie war es auch, die das Munchporträt aus dem Erbe der Auerbachs kaufte und an ihren Sohn Arnold Kisch vererbte.

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Skulptur fĂźr Haus Auerbach, 2003, H 265 cm, B 250 cm, T 280 cm, 20 mm Flachstahl, rot lackiert

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Kunst für das Haus Auerbach Durch unsere Freundschaft mit Künstlern entstanden vier Kunstobjekte, die eigens für das Haus und ihren Garten geschaffen wurden. „Skulptur für das Haus Auerbach“ von Utz Brocksieper

Nachdem im Jahr 2003 im Rahmen der neuen Gartengestaltung nach Entwurf des Gartenarchitekten Michael Dane der untere Grundstücksrand zur Humboldtstraße hin mit einer Mauer aus thüringischem Schiefer gefasst worden war, entstand die Idee, eine mit der etwa 40 Tonnen schweren Mauer korrespondierende Skulptur aufzustellen. Der Einsatz von Cortenstahl in der Gartengestaltung führte zur Idee einer Stahlskulptur. Durch die Vermittlung der Galerie Michael Schlieper in Hagen lernten die Autoren den Bildhauer Utz Brocksieper kennen. Brocksieper hatte insofern eine persönliche Beziehung zum Bauhaus, als sein Vater Heinrich Brocksieper (1898-1968 Ha-

gen/Westfalen) ein Bauhausschüler der ersten Stunde war und ihn entsprechend geprägt hatte. Hieraus entwickelte sich für Utz Brocksieper eine hohe Affinität zum Haus Auerbach.445 Utz Brocksieper entwarf die Skulptur bei einem längeren Arbeitsaufenthalt mit seiner Frau im Haus Auerbach. Dabei entstand vor Ort das Größenmodell der Skulptur im Maßstab 1:1, das im Jahre 2003 konkretisiert und realisiert wurde. Produziert wurde die Skulptur von der Stahlbaufirma Strauß in Dresden, die diese auch vor Ort aufstellte. Laut Utz Brocksieper entwickelt sich die Skulptur aus der Grundform einer dreiseitigen Pyramide – die Seitenflächen entfalten sich – reduzieren sich strahlenförmig – es entstehen drei zusammenhängende Keilformen, die dynamisch auf das Haus Auerbach hin- und von dort wieder zurückweisen. Die roten Keilformen symbolisieren die Aktivitäten, Kräfte und Spannungen, die von diesem Haus ausgehen und von außen dorthin zurückgeführt werden.

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