Martin Rauch: Gebaute Erde

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Die Öffnung in der Wand Ein Haus aus Lehm funktioniert dann am besten, wenn es geschlossene Flächen aufweist. Massive Mauern mit wenigen, möglichst kleinen Öffnungen entsprechen dem Wesen des Materials und den Druckkräften, die in seinen Konstruktionen wirken. Für traditionelle Lehmbauten entstand eine Formensprache anhand dieser Eigenschaften: Die Mauern sind dick, die Öffnungen sparsam gesetzt – darin gleicht der Lehmbau anderen Massivbauten. Anstelle eines einzelnen großen Fensters gibt es mehrere schmale Öffnungen, weil die Wandstücke dazwischen die Kräfte besser ableiten können. Jede Öffnung im Mauerwerk schwächt die Tragfähigkeit des Lehmbaus und ist mit mehr Planung, Ungewissheit und Arbeit verbunden. Über Jahrhunderte wurden Lehmbauten so gebaut: in Stampflehmbauten kommen diese Prinzipien mit ihren einfachen Details zum Einsatz.

Als Sturzelemente im traditionellen Lehmbau dienen Holzbalken, die

in die Wand mit eingestampft sind. Lehm ist mit 6 – 7 % Gleichgewichtsfeuchte trockener als Holz (9 %). Deshalb ist das Holz im Lehm gut konserviert (siehe Material, S. 116). Da die historische Lehmbauten in Europa verputzt sind, ist dieser Aufbau nicht sichtbar. Wenn der Stampflehm jedoch auf Sicht gefertigt ist – was heute der Schönheit und Haptik wegen zumeist der Fall ist –, erweist sich diese Aufgabe als bedeutend anspruchsvoller. Viel Erfahrung im Umgang mit dem Material ist nötig, um bis in die Details ansprechend zu arbeiten.

Bei kleineren Öffnungen kann es in der Verantwortung des Facharbei-

ters liegen, die Konstruktion nach den anerkannten Regeln auszuführen. Der erfahrene Lehmbauer bemaßt ebenso die Bewehrung. Dabei fußt die Dimension der Armierung auf dem Augenmaß; es gibt dafür keine Normen und Berechnungsgrundlagen (siehe Normen, S. 124). Bei den größeren Öffnungen hingegen genügt diese erfahrungsbasierte Tragwerksplanung nicht mehr und das Tragverhalten des Sturzes muss berechnet werden. Dann ergänzen Sturzelemente aus armiertem Trasskalkmörtel oder aus Stahlbeton die Konstruktion.

Gerade den Öffnungen liegt ein hoher planerischer und konstruktiver

Aufwand zugrunde. Mit Stampflehm zu entwerfen, heißt die Öffnungen intelligent zu setzen und sich in der Konstruktion auf das Material einzulassen. Sind die Wände geschlossen, vollendet die kalkulierte Erosion ihre Oberflächen (siehe Material, S.116 und Abschnitt Kalkulierte Erosion, S. 70). Jede Öffnung unterbricht diesen Prozess, ist mit Turbulenzen verbunden, und an den Tropfkanten auf der Unterseite der Stürze ist der Lehm verstärkt der Erosion ausgesetzt. Dieser ungewollte und bei falscher Ausführung unkontrollierte Abtrag lässt sich aber durch richtige Detailarbeit verhindern.

Lehmbauten haben ihre Erscheinung geändert: anstelle geschlossener,

nur mit wenigen kleinen Fenstern versehener Fassaden sind heute große, liegende Fensteröffnungen in den Wänden möglich. Wie kann man solche Öffnungen in Stampflehm konstruieren und ausbilden? Wie wird man dem archaischen, massiven Baumaterial trotz der veränderten Formensprache gerecht? Wie kann der Stampflehm sein traditionelles Kleid ablegen?

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