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Der einsame Mann und das Meer

VON SOPHIE EMILIE BEHA

Wer so gut das Meer beschreiben kann wie Benjamin Britten, der weiss, wie es ist, allein zu sein. Eine steile These. Aber seine Musik weiss, was sie erzählt, und das Meer war Brittens lebenslanges Leitmotiv. Die erste Musik, die er gehört habe, sagte Britten einmal, sei das Rauschen der Wellen gewesen. Im stürmischen November 1913 kommt Britten im englischen Lowestoft zur Welt. Aus seinem Elternhaus sieht er den Sandstrand und wie die Wellen der Nordsee schäumen und spritzen – der Nordsee, die bis zum Ersten Weltkrieg «Deutsches Meer» genannt wurde. Später erinnert er sich an «wilde Stürme», die «oftmals Schiffe an unsere Küste warfen und ganze Strecken der benachbarten Klippen wegrissen».

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Brittens Eltern gehören zur Mittelklasse. Sein Vater ist Zahnarzt und verdient nicht schlecht. Jeden Morgen um elf Uhr soll er eine Whisky-Pause eingelegt haben, um sich von seiner Arbeit zu erholen. Für Musik interessiert er sich nicht sonderlich. Dafür aber Brittens Mutter, eine Sängerin, die ihrem fünfjährigen Sohn den ersten Klavierunterricht gibt. Die beiden spielen oft vierhändig. Auf einem Foto sitzt der siebenjährige Britten am Klavier, vor ihm liegen mindestens fünf verschiedene Musikstücke ausgebreitet. Wagners Siegfried-Idyll kann er aus der Partitur spielen. Ausserdem lernt Britten Bratsche und beginnt mit 14 Jahren mit Kompositionsunterricht bei Frank Bridge, der früh das Potenzial des Jungen erkennt. Seine Mutter sagt ihm voraus, dass er das «vierte B» werde – nach Bach, Beethoven und Brahms.

Mit 16 Jahren schreibt Britten stachelige, beinah atonale Stücke. Seine Wendung hin zum Wiener Expressionismus kann mit der Entfremdung zu tun haben, die er im Internat verspürt hat. Als er die Gresham’s School verlässt, schreibt er eine Elegie für Viola, in der die Bratsche rastlose, nicht-tonale Kreise um das Zentrum C zieht. 1930 bekommt Britten ein Stipendium für das Royal College of Music in London. Daneben bildet er sich mit Radiohören, denn die BBC spielt mit grossem Einsatz die Werke lebender Komponist*innen und Britten lernt die schneidend-schrägen Klänge aus Paris, Wien und Berlin schätzen.

Allmählich baut Britten, «der Sänger letzter Einsamkeiten», sich sein musikalisches Vokabular zusammen. Er schöpft von Vorbildern wie Alban Berg – bei ihm wollte er eigentlich studieren, was seine Eltern aber nicht erlaubten, da Bergs Zwölftonmusik zu «unmoralisch» und «kein guter Einfluss» sei –, Igor Strawinsky oder Gustav Holst, von dem sich Britten die enharmonische Umdeutung abschaut.

Sie teilen sich die Wohnung mit W. H. Auden, Jane und Paul Bowles und dem Lektor George Davis. Auf dem Dachboden wohnt Golo, der Sohn von Thomas Mann. Besuch bekommen sie unter anderem von Salvador Dalí, Leonard Bernstein und der High-Society-Stripperin Gypsy Rose Lee.

Zu Beginn des Jahres 1937 scheiden gleich zwei wichtige Menschen aus Brittens Leben: seine Mutter und sein Freund Peter Burra Britten stürzt in eine tiefe Einsamkeit, das Komponieren fällt ihm schwer. Vom mütterlichen Erbe kauft er sich nur 50 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt vor den Toren von Aldeburgh die Old Mill: ein runder Bau aus dem 18. Jahrhundert, von dem aus er einen wunderbaren Blick hat – auf den Fluss, die Marsch und das Meer.

Im selben Jahr lernt Benjamin Britten den Tenor Peter Pears kennen, die zukünftige Liebe seines Lebens. Aber auch den 18-jährigen Wulff Scherchen, Sohn des Dirigenten Hermann Scherchen, mit dem die Freundschaft am sexuellen Kontakt schrappt. Denn Britten fühlt sich sein Leben lang immer wieder auch zu Teenagern hingezogen. Sein Dichterfreund W. H. Auden, mit dem Britten bereits einige BBC-Projekte realisiert hatte, will ihm mit einem Brief seine Flausen für «brettdünne Jugendliche, d.h. für das Sexfreie und Unschuldige» austreiben.

Im April 1939 reisen Britten und Pears, die sich immer näherstehen, in die USA. Sie wollen sich dort dauerhaft niederlassen, aus mehreren Gründen: Einerseits sind da immer noch Brittens ungeklärt-ambivalente Irrungen und Wirrungen für Wulff Scherchen; andererseits spitzen sich in Europa Faschismus und AppeasementPolitik zu. Nordamerika soll vor all dem Zuflucht bieten. Während am anderen Ende des Atlantiks der Zweite Weltkrieg ausbricht, leben Britten und Pears in New York im February House, einer WG von Avantgarde-Künstler*innen. Sie teilen sich die Wohnung mit W. H. Auden, Jane und Paul Bowles und dem Lektor George Davis. Auf dem Dachboden wohnt Golo, der Sohn von Thomas Mann. Besuch bekommen sie unter anderem von Salvador Dalí, Leonard Bernstein und der High-Society-Stripperin Gypsy Rose Lee. In all dem Trubel kann Britten nicht arbeiten und findet Zuflucht bei den Mayers, deutschen Flüchtlingen. An seinen Schwager schreibt er:

«Hier ist alles irre – irre – irre. […] Mir wird langsam klar, dass ich Engländer bin – & als Komponist habe ich das Gefühl, stärkere Wurzeln nötig zu haben als andere Menschen.»

Im Haus der Mayers auf Long Island vollendet Britten schliesslich im Oktober 1939 seine noch in Suffolk begonnenen Les Illuminations. Die Komposition für hohe Stimme und Streicher basiert auf Gedichten des bisexuellen Arthur Rimbaud. Britten habe sie durch W. H. Auden kennengelernt und sei sofort fasziniert gewesen, erinnert sich Sophie Wyss, die Sängerin der Uraufführung: «Er war so erfüllt von dieser Dichtung, dass er überhaupt nicht mehr aufhören konnte, darüber zu reden.» Diese Vertonung hält Britten für sein bis dahin bestes Werk.

Rimbaud war wie Britten in der Provinz aufgewachsen. Während er seine Gedichte schrieb, hielt er sich mit seinem Kollegen und Geliebten Paul Verlaine in London, Stockholm und der Schweiz auf. Übrigens: Die rauschhafte, selbstzerstörerische Beziehung mit dem zehn Jahre älteren Dichter war Vorlage für ein Theaterstück und einen Spielfilm mit Leonardo di Caprio. Sie eskalierte, als Verlaine, in Gegenwart seiner Mutter, mit einer Pistole auf Rimbaud schoss und dafür zwei Jahre im Gefängnis sass.

Rimbauds Texte sind Malereien in Sprache und in Klängen, gleichzeitig fixiert und dennoch schweben und entschweben sie –so wie Brittens Vertonungen. Vor allem in den Städtebildern: Da führen unendlich verschachtelte Konstruktionen, die sich umeinander winden, ins Nichts, in eine dschungelhafte Mythenwelt, in Palmengärten, Rausch und neuen Lärm. Antike und Gegenwart, Schmutz und grelles Licht begegnen sich in einer Sprache, die ein Rätsel bleibt. Verstehen können sie nur der Dichter und der Komponist: «J’ai seul la clef de cette parade sauvage» – «Ich allein besitze den Schlüssel zu dieser wilden Parade», schreibt Rimbaud, und Britten macht diese Worte zum Motto, indem er sie drei Mal wiederholt.

«Ich allein besitze den Schlüssel zu dieser wilden Parade», schreibt Rimbaud, und Britten macht diese Worte zum Motto, indem er sie drei Mal wiederholt.

Schon in der Fanfare erklingt der Schlüsselsatz das erste Mal, eindringlich und ganz zum Schluss auch mit Zurückhaltung. Kurz danach ist man in Villes mitten hineingeworfen in hektische Streicherphrasen und ruhelose Rhythmen, die laut Britten «einen sehr guten Eindruck des chaotischen modernen Stadtlebens» vermitteln. Phrase dient als träumerisches Zwischenspiel, das in Antique übergeht, einen einfachen, aber verführerischen Tanz, den Britten Wulff Scherchen widmete – möglicherweise war er der «anmutige Sohn des Pan».

Danach folgt das etwas an Strawinsky erinnernde Royauté mit seinen neobarocken Marschpassagen und grell-satirischen Akkorden. In Marine wogen im Hintergrund volksliedhafte Rhythmen und epische Streichergirlanden. Being Beauteous ist gespickt mit erotischen und sexuellen Konnotationen; ihnen einen eindeutigen Ausdruck zuzuschreiben würde den Text vergröbern und veröden lassen. Er kann als Masturbationsszene verstanden werden, doch weder Rimbaud noch Britten lassen sich darauf festnageln. Viel eher zeigt Britten die Zwischenräume dieser Zeilen. Trunkene Streicherflächen flirren in schwebsamen Sphären, schmiegen sich an die Gesangsstimme, taumeln nieder und schrauben sich in höchste Höhen hinauf. Das sinnlich-verzauberte Spektakel hat Britten Peter Pears gewidmet.

Parade beschreibt Britten gegenüber Sophie Wyss als «ein Bild der Unterwelt: Es sollte so gesungen werden, dass es gruselig, böse, schmutzig (Entschuldigung!) und wirklich verzweifelt klingt». Und mit dem nostalgisch-wehmütigen Départ, das sterbend (morendo)vorgetragen werden soll, verabschiedete sich zumindest Rimbaud von diesem alten Leben. «Genug gesehen. Genug gehabt. Genug erkannt.» Mit seinen knapp zwanzig Jahren legte er die Feder für immer zur Seite und begann als Weltenbummler ein neues Leben.

Nach drei Jahren im Exil ziehen seine Wurzeln Britten wieder zurück an die englische Küste. Peter Pears kommt mit, ist allerdings viel unterwegs und verfolgt seine Sängerkarriere. (Les Illuminations werden erst berühmt, als er sie in sein Repertoire aufnimmt.) Britten bleibt zuhause am Meer. Die beiden schreiben sich Briefe, und wenn Britten seine Zeilen mit «XOXXXOX» signiert, ist das tausendmal intimer als in jeder Folge von Gossip Girl. Was aus heutiger Perspektive schnell in den Hintergrund rücken mag: Benjamin Britten konnte seine Homosexualität nie öffentlich ausleben – so wie alle seine Zeitgenoss*innen. Das macht natürlich einsam und schlägt sich auch in seinen Werken wie Peter Grimes, Death in Venice oder Billy Budd nieder. In Grossbritannien wurde Homosexualität noch später als anderswo entkriminalisiert – erst 2003 wurde die berüchtigte «Clause 28» abgeschafft, die Gemeinden, Schulen und Kommunalbehörden die «Förderung von Homosexualität» untersagte.

«Es war eine schwierige und einsame Zeit. Er war ein Mann, der mit der Welt im Zwiespalt war», beschrieb ihn Leonard Bernstein. «Wenn man Brittens Musik hört, wenn man sie wirklich hört und nicht nur oberflächlich betrachtet, wird einem etwas sehr Dunkles bewusst – es gibt Zahnräder, die knirschen und nicht ganz ineinandergreifen. Sie verursachen einen grossen Schmerz.»

Sophie Emilie Beha ist multimediale Musikjournalistin. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Sender. Daneben schreibt sie regelmässig für die taz, verschiedene Fachzeitschriften und Online-Magazine. Auf Bühnen sowie vor der Kamera moderiert sie Festivals, Konzerteinführungen, Podcasts und Podiumsdiskussionen. Zudem ist sie Dramaturgin für das Sänger*innenkollektiv PHØNIX16 in Berlin und Mitglied im experimentellen Vokalensemble Γλωσσα

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