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Blümchen allein zu Berg

VON THOMAS KOBEL

Pflanzen, könnte man meinen, sind nie allein: Sie stehen im regen Austausch mit anderen Pflanzen und Tieren. Sie sind eingebunden in ein komplexes Ökosystem. Ein Geben und Nehmen, ein austarierter Tanz. Doch manche tanzen aus der Reihe: Auch in der Pflanzenwelt gibt es Einzelkämpfer*innen, die sich ganz alleine durchschlagen. Davon profitieren auch andere: Sogenannte Pionierpflanzen bereiten für Nachfolger*innen im wahrsten Sinn des Wortes das Terrain. Rund um Davos gibt es einige dieser faszinierenden Pionierinnen zu entdecken. Und dank dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) ist auch die Forschung dazu in Davos beheimatet.

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Aus Christian Rixen sprudelt es nur so heraus. Der Forscher am SLF in Davos ist alpiner Pflanzenökologe und befasst sich von Berufs wegen mit Pflanzen bis auf die höchsten Berggipfel hinauf. Dass der Beruf für ihn auch Berufung ist, wird schnell klar: Rixen ist kaum zu bremsen, als er auf Pflanzen angesprochen wird, die sich alleine durchschlagen. Seit rund zwanzig Jahren forscht er zur hochalpinen Flora und gehört laut seinem Vorgesetzten «weltweit zu den erfahrensten Wissenschaftlern in diesem Themenbereich».

Wahnsinnig zäh und doch empfindlich

Eine der Lieblingspflanzen von Christian Rixen ist das Alpen-Leinkraut – ein wahres Bijou: Die Blüten sind von leuchtendem Lila und kräftigem Orangerot und strahlen einem aus den kargen Kalkböden, auf denen es wächst, regelrecht entgegen. Es ist eine der ersten Pflanzen, die ein hochalpines Geröllfeld besiedeln kann. «Ich habe mir aus Spass mal eines in den eigenen Garten gepflanzt», erzählt der Forscher. «Im ersten Jahr ist es ganz wunderbar gediehen und hat sogar Ausläufer gemacht. Im zweiten Jahr war es nur noch ganz mickrig, und im dritten Jahr ist es komplett verschwunden.»

Das ist erwartbar für Pflanzen, die darauf spezialisiert sind, unter unwirtlichen Bedingungen überleben zu können. Sie brauchen sehr wenig zum Überleben. Doch sobald die Bedingungen freundlicher werden, werden sie von anderen Pflanzen verdrängt. «Es gibt halt viel Konkurrenz in der Natur», sagt Rixen. Schneller wachsende Pflanzen nehmen dem Alpen-Leinkraut das Licht weg, oder machen ihm im Wurzelwerk Wasser und Nährstoffe streitig.

Einsiedelei als Überlebensstrategie

Weit oben, an Hängen mit Gesteinsschutt und Geröll, geht es dem Alpen-Leinkraut gut. Es braucht fast nichts, um sich einnisten zu können – das ist sozusagen seine Superkraft. «Wenn Steine zerbrechen, entstehen ganz kleine Sandkörnchen – das ist der erste Schritt», erzählt Rixen. «Dort können seine Wurzeln reinwachsen und an Mineralstoffe gelangen.» Auch mit Bewegungen im Untergrund, wenn die Steine ins Rutschen geraten, kann das Alpen-Leinkraut gut umgehen. Und es muss keine Konkurrenz fürchten, weil andere Pflanzen unter diesen kargen Bedingungen nicht überleben können. Das Alleinsein ist also gewissermassen eine Überlebensstrategie für das Alpen-Leinkraut und andere sogenannte Pionierpflanzen. So werden Pflanzen bezeichnet, die als erste einen Lebensraum besiedeln und folglich zumindest am Anfang allein sind.

Marstaugliche Überlebenskünstler*innen

Eine besonders faszinierende Art der Extreme sind Schneealgen. Sie zeigen sich, wenn sich im Frühling eine rötliche Schicht auf alpinen Schneeoberflächen bildet. Die roten Pigmente schützen die Sporen der Schneealgen vor zu starker UV-Strahlung. Wie gelangen sie auf den Schnee?

Das Alleinsein ist also gewissermassen eine Überlebensstrategie für das Alpen-Leinkraut und andere sogenannte Pionierpflanzen.

Sie beginnen unter der Schneedecke zu keimen, wenn im Frühling das erste Schmelzwasser den Boden erreicht. Einzelne grüne Algenzellen schwimmen dann mit Hilfe zweier Geisseln an die Oberfläche. «Wie das physikalisch überhaupt möglich ist, hat die Wissenschaft bis jetzt noch nicht herausgefunden», erklärt Christian Rixen. Auch sonst scheint es sich um eine regelrechte Wunderpflanze zu handeln: Die Algen überleben Temperaturen von minus 196 Grad und überdauern ausgetrocknet bis zu 25 Jahre, um dann wieder zu neuem Leben zu erwachen. Das hat sogar das Interesse von Marsforschenden geweckt: Die Schneealgen dürften auch auf dem roten Planeten überlebensfähig sein.

Den Boden für andere bereiten

Die Algen stehen am Anfang der Nahrungskette in der Schneedecke. Bakterien, Einzeller und Pilze ernähren sich von diesen winzigen pflanzlichen Lebewesen und dienen dann wiederum als Nahrung für etwas grössere Tiere wie etwa den Gletscherfloh.

Das Beispiel zeigt: Die solistischen Pflanzen sind in ein grösseres Ganzes eingebunden, indem sie für andere Pflanzen den Boden bereiten – im wahrsten Sinn des Wortes. «Eine Pionierpflanze wie das Alpen-Leinkraut erzeugt Humus. Durch Wurzelausscheidungen und abgestorbene Pflanzenteile entsteht organische Substanz, die anderen Pflanzen als Lebensgrundlage dienen kann», erklärt Christian Rixen. Sie legen damit den Grundstein für eine ganze Abfolge von Folgepflanzen, die sogenannte Sukzession beginnt.

Opfern sich Pionierpflanzen also quasi auf im Sinne einer höheren Sache? Das ist dem Wissenschaftler Rixen dann doch etwas zu blumig. «Pflanzen sind nicht in dem Sinne nett oder selbstlos, das sind menschenzentrierte Kategorien. Das ist einfach ihre Nische, in der sie überleben können, wo es anderen zu garstig ist. Aber natürlich hat in einem komplexen Ökosystem jede Pflanze eine Funktion in einem grösseren Ganzen.» Genau deshalb sei es auch so wertvoll, die Biodiversität zu erhalten.

Völlig frei und doch verbunden

Der Blick ins Pflanzenreich zeigt: Alleinsein kann eine clevere Überlebensstrategie sein. Und «allein» bedeutet noch lange nicht egoistisch oder eigenbrötlerisch: Wer es auch unter schwierigen Bedingungen allein aushält, kann sich einerseits besser und freier entfalten und andererseits den Weg für andere bereiten – und gerade dadurch eingewoben sein in ein grösseres Ganzes.

Vom Rasen zur höchstgelegenen Blütenpflanze

Die Schwarzhorn-Wanderung startet auf einer Höhe von 2330 Metern. «Beim Startpunkt finden wir noch einen geschlossenen alpinen Rasen vor», erklärt Christian Rixen. «Dieser wird dann gegen oben hin immer lückenhafter.» Unwirtliche Geröllhalden nehmen nach und nach überhand. Unterwegs lassen sich verschiedene interessante Pflanzen erspähen.

Auf offenen Rasen und Schuttfeldern findet sich beispielsweise die pinke Kalk-Polsternelke. Sie bildet dichte, moosartige Polster und blüht im Juli und August. «Das fluffige Polster fängt Nährstoffe auf und sorgt für etwas wärmere Temperaturen. Das verbessert die Lebensbedingungen auch für andere Pflanzen», erklärt Rixen. Das Polster kann über einen Quadratmeter gross werden – bis es so weit ist, dauert es mehrere hundert Jahre.

Rekordhalter und Gipfelpanorama

Mit etwas Glück erspäht man etwas weiter oben einen Gletscher-Hahnenfuss. Dieser wächst ausschliesslich auf sauren Böden in grosser Höhe. Seine Widerstandskraft ist beeindruckend: Er wurde auf Höhen von über 4000 Metern gesichtet und war damit lange die höchstgelegene alpine Blütenpflanze. Möglich ist dies, weil der Hahnenfuss Sonnenlicht viel effizienter in Energie umwandelt als eine Talpflanze. Nur der Gegenblättrige Steinbrech klettert noch höher: Auf dem Dom in den Walliser Alpen wurde ein Exemplar auf 4500 Metern Höhe entdeckt.

Auch nach dem Alpen-Leinkraut sollte man Ausschau halten. Und dann lohnt es sich, den Blick – so faszinierend die Pflanzen auch sind – ab und zu vom Boden zu lösen: Das 360-Grad-Panorama auf dem Gipfel ist absolut atemberaubend.

Wandertipp: Schwarzhorn

Wer sich auf die Spuren der alpinen Pflanzenwelt begeben möchte, kann dies im Sommer zum Beispiel auf dem FlüelaSchwarzhorn-Weg tun (Route 972 der Schweizer Wanderwege, Karte unter schweizmobil.ch oder in der Gästeberatung an der Talstrasse 41 in Davos). Mit dem Postauto bis zur Haltestelle «Susch, Abzweigung Schwarzhorn» (direkt nach dem Flüelapass). Von dort ist der Weg auf den Gipfel ausgeschildert. Gutes Schuhwerk ist empfehlenswert, in schattigen Abschnitten sind bis in die Sommermonate Schneefelder möglich. Es sind gut 800 Höhenmeter zu bewältigen. Zurück geht es auf dem gleichen Weg. Wanderzeit knapp vier Stunden.

Thomas Kobel (37) ist freischaffender Wissenschaftsjournalist und Moderator. Er ist sommers wie winters gern in den Bergen unterwegs und leidenschaftlicher Laiensänger.