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Gedanken einer Psychiaterin

Aus psychiatrischer Sicht ist das entscheidende Element, das Einsamkeit vom Alleinsein trennt, Verbundenheit.

VON KAMILA EXNER

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Als ich angefragt wurde, ein paar Gedanken basierend auf dem Erfahrungsschatz meiner psychiatrischen Sprechstunde zum Thema «Allein» zu formulieren, musste ich erst mal einen Augenblick finden, in dem ich tatsächlich alleine war. Als Mutter eines 2,5-jährigen Sohnes ist Alleinsein ein Sehnsuchtsort geworden. Letztlich wurde ich in einem ruhigen Nachtdienst fündig und nutze nun die Gunst der Stunde.

Es drängt sich die Frage auf, was, aber auch wer, allein ist? Allein ist erst mal jede*r ohne Gesellschaft, also eine nüchterne Beschreibung einer Tatsache. Und doch löst dieser Begriff bei den meisten viel aus, was wohl an der naheliegenden Assoziation mit «einsam» liegt. Aber ist «allein» nicht auch ein Ausdruck von Souveränität und Selbstständigkeit, und folglich auch ein Zustand von Unabhängigkeit und Freiheit? Oft bestimmt die Haltung zu etwas die innere Erlebniswelt und bleibt darum für die Beobachtenden verborgen. So müssen sich Menschen, die zwar alleine sind, nicht unbedingt einsam fühlen, und umgekehrt können Menschen in Gesellschaft einsam sein. Sicherlich spielt die Freiwilligkeit des Alleinseins eine wichtige Rolle bei der subjektiven Bewertung dieses Umstandes. Hat sich eine Person von etwas Belastendem oder Einengendem befreit, wird das Alleinsein zum Zeugnis der Selbstwirksamkeit hin zur Unabhängigkeit. Ist der Zustand jedoch die Folge eines Verlustes, bedarf es an dieser Stelle keiner weiteren Erklärung, dass der Mensch dann mit Schmerzen konfrontiert ist.

Aus psychiatrischer Sicht ist das entscheidende Element, das Einsamkeit vom Alleinsein trennt, Verbundenheit. Spürt eine Person Verbundenheit zum Gegenüber, zur Familie, zu einer Interessensgruppe, zu einer Lebenstätigkeit, zur Welt im Allgemeinen oder zu was auch immer, ist das ein bewährtes Mittel gegen Einsamkeit. Verbundenheit gibt Sicherheit und Zugehörigkeit und verleiht so der Bedeutungslosigkeit des einzelnen Lebens eine Rolle im Gefüge des grossen Ganzen. Dann können auch Aspekte der Emanzipation und Selbstbestimmung im Alleinsein erlebt werden.

Wenn Menschen in meiner psychiatrischen Sprechstunde an Einsamkeit, zum Beispiel im Rahmen einer depressiven Episode, leiden, versuche ich, durch eine Intensiv ierung des Erlebens einen Bezug zur Welt aufzubauen. Hierbei hilft das sinnliche Erleben. Durch ein Anhören der Sinne gelingt es, eine Wechselwirkung zur Umwelt herzustellen und nicht länger nur Beobachter*in des eigenen Lebens zu sein. So sind auch Tätigkeiten, die die Sinnlichkeit erhöhen, verbindend mit dem, was die Sinne stimuliert. Dies macht sich, meiner Meinung nach, die Kunst in all ihren Erscheinungsformen zunutze und die Musik in einem ganz besonderen Masse. Dass Musik verbindet und Gemeinschaft erzeugt, ist oft gehört, steht jedoch im Kontext der Verbundenheit in einem besonderen Lichte. Verbunden sind ja nicht nur die Musiker*innen im gemeinsamen Musikschaffen, sondern auch die Zuhörenden, wenn sie sich von dem blossen Beobachten des Geschehens auf der Bühne lösen und auf die emotionale Wirkung der Musik einlassen und somit auf einer anderen Ebene partizipieren. Wie immer verstehen wir das Selbsterlebte am besten, und ich berufe mich bei diesem Beispiel auf meine ganz persönliche Erfahrung. Musik war schon sehr früh ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Mit vier Jahren berührte ich bereits in musikalischer Absicht Klaviertasten, und als ich mit acht Jahren das erste Mal an einer Chorprobe teilnahm, wollte ich diese Erfahrung nicht mehr missen. Und wie häufig ich auch das Glück hatte, instrumental in Ensembles zu musizieren, kommt für mich nichts an das gemeinsame Singen heran. Die Stimme als Instrument ist so viel intimer und gibt so viel vom Selbst preis. Dies in die Gruppe einzubringen, sich zu zeigen, angenommen zu werden, so wie man auch die anderen annimmt, um daraus einen gemeinsamen Klang zu entwickeln, ist nicht nur verbindend, sondern auch erhebend. Sage ich erhebend, meine ich auch eine Art der Verbundenheit, vielleicht zu etwas Überindividuellem, etwas über der Vergänglichkeit der Dinge Stehendem.

Menschen beschreiben mir, dass durch erlebte Einsamkeit die Frage nach Bedeutung und Sinn ihres Lebens aufkommt, welche es, nüchtern betrachtet, in meinen Augen gegenüber dem einzelnen Leben nicht gibt. Diese Erkenntnis hat jedoch nichts Bedrückendes. Bei Störungsbildern wie Panikattacken und diversen Ängsten hat sie sogar einen grossen therapeutischen Nutzen, da es die Tragweite der eigenen Handlung relativier t. Alles scheint weniger schlimm, wenn man selbst nicht so bedeutsam ist. Es ist eine menschliche Fähigkeit, den Dingen eine Bedeutung beizumessen. Wir bestimmen, was sinnvoll ist und zu was man vielleicht eine gesunde Gleichgültigkeit entwickeln möchte. Führt man diesen Gedanken weiter, geht es im Leben um das Anreichern mit subjektiv bedeutsamen Dingen, um somit die eigene Zufriedenheit zu mehren. Das eigene Glück ist nicht bedeutsam für jemand anderen, und doch begegnen wir unserem Gegenüber anders, wenn wir selbst zufrieden sind und nicht mit einer leeren inneren Schale Zufriedenheit sammeln gehen. Es ist bekannt, dass nicht die Qualität der Emotion Zufriedenheit beeinflusst, sondern die persönliche Klarheit über diese. Man kann also auch mit unangenehmen Emotionen, solange man sich im Klaren über ihre Entstehung und Berechtigung ist, zufrieden sein. Durch Klarheit lassen sich Situationen wieder gestalten. In der Gestaltung liegt Selbstwirksamkeit, also die Fähigkeit, Einfluss auf sein Leben auszuüben und die Verantwortung für die eigene Zufriedenheit zu tragen.

Lebt man diese Selbstwirksamkeit aus, mehrt man Zufriedenheit und nährt Verbundenheit und ist folglich weniger einsam. Doch vor dieser Aufgabe steht jede*r ganz allein. •

Kamila Exner ist als Psychiaterin in Zürich tätig und der Musik seit Kindheitstagen in vielfältiger Weise verbunden.