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In die Ferne hinaus

VON USAMA AL SHAHMANI

«Was macht das Exil mit deinem arabischen Gefäss?», fragte mich ein alter Freund, als ich ihn, fünfundzwanzig Jahre nach meiner Flucht, in Bagdad wiedersah.

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Ich gab ihm keine Antwort, weil ich nicht wusste, wie ich seine Frage hätte beantworten können. Es gelang mir nicht, die im Halse steckenden Wörter herauszubringen. Ich hätte ihm erzählen sollen, wie die Exil- und die Muttersprache in zwei parallelen, geraden Linien verlaufen, und wie diese Linien sich niemals kreuzen oder treffen, wie eine Sprache von der anderen lernt und nach einer Gelegenheit sucht, sich ihr anzunähern. Nach zwanzig Jahren im Exil weiss ich, was ich tun muss, wenn die Muttersprachen-Linie kürzer wird. Ich lernte, dem Flüstern meiner Muttersprache zu lauschen und dem Dröhnen des Krieges den Rücken zu kehren. Und ich lernte im Exil die Suche nach den Synonymen vieler Wörter, die ich nur auf Arabisch kannte.

Vor ein paar Wochen kam ich wieder auf die Frage zurück, ich schrieb sie auf ein Blatt Papier und legte sie auf den Schreibtisch in meiner Wohnung in Frauenfeld. Und anstatt sie zu beantworten, schrieb ich meinem alten Freund ein Gedicht.

In die Ferne hinaus

Erinnerst du dich noch, / als der Krieg ausbrach, / du und ich sassen auf dem Boden, / der Teppich im Himmel von Bagdad wurde zerrissen, / der Wind schlug, / er trug sein Gewebe fort, / eine Rakete fiel auf die alte Holzbrücke / über dem Tigris, / sie brach ihre Rippen ab, / die Sprache zitterte, / viele Wörter versteckten sich, / ein paar Verben, Nomen und Ideen warfen / sich in den Fluss, / König Gilgamesch ging aus dem Museum / in den Garten, / barfuss stand er vor dem grossen Kastanienbaum, / hob seinen Kopf in den Himmel, / vergeblich suchte er das zerrissene Gewebe, / Vögel flogen aus dem Baum auf, / Gilgamesch schrie laut, / sein Schrei trat in die Küchen, Schlafzimmer, / Schulhäuser, / die kleinen Kammern von Bagdads Volkstheater, / wo die Schauspieler ihre Kleider wechselten, / in alte Gassen, / wo Bücher auf der Strasse zum Kauf / ausgestellt wurden, / Gebärsäle im grossen Spital am Fluss, / wo du und ich zur Welt kamen, / auch in Ateliers drang sein Schrei ein, / in sogenannte Allah-Häuser, und in die Kunststrasse, / in der Gemälde verkauft wurden, / deren Künstler und Künstlerinnen anonym blieben, / wie du und ich, mein Freund. / Dann fror dieser Schrei ein, / abrupt wurde er zu dünnem Glas, / das in all diesen Räumen zersplitterte, / mischte sich in den Sand, / näherte sich dem Tigris und versuchte, die Spuren / der Verben, Nomen und der Ideen zu verfolgen.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Seit 2021 ist er Literaturkritiker beim Literaturclub des Schweizer Fernsehens SRF. Sein erster Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch wurde mehrfach ausgezeichnet und war u.a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Seither sind die Romane Im Fallen lernt die Feder fliegen und Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt erschienen. Usama Al Shahmani lebt in Frauenfeld.

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