Wozu brauchen wir Utopien? VON INA KUHN
Die Frage nach dem guten Leben ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Vorstellungen von dem, wie es noch und dazu noch besser sein könnte, sind seit jeher Gegenstand von weitererzählten Geschichten, ritualbegleitenden Liedern oder vorstellungstiftenden Gemälden, die unseren Alltag begleiten und verschönern. Der Utopie, einer aufs Gute und Gelingende zugespitzten Form von Vorstellungen eines anderen Lebens, kommt dabei eine besondere Rolle zu: Sie begleitet den Alltag nicht bloss, sie überschreitet ihn. Sie ist dem, was ist, immer einen guten Schritt voraus. Sie zeigt nicht bloss an, wie es anders, sondern gar unwahrscheinlich gut sein
könnte – und gibt damit immer auch einen verlässlichen Hinweis darauf, was im Hier und Jetzt als verbesserungswürdig erscheint; an was es der Gegenwart mangelt. Die Kritikpunkte, welche Vorstellungen eines besserartigen Lebens unweigerlich innewohnen, sind oft so individuell wie die Menschen, die sie formulieren. Stellt die Frage, wie das Leben anders aussehen könnte, nicht immer auch die Frage, wer ich selbst anderes in diesem Leben sein könnte? Ideen davon, was ein gelungenes Leben ausmacht, sind – wenn auch medial und kollektiv beeinflusst und informiert – also eher individuell als universell. Zunächst sind sie gesellschafts- und kulturspezifisch. Was Gesellschaften – etwa in ihren Gesetzestexten – als Voraussetzungen und Bedingungen 15