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Die Wissenschaftsjournalisten

Öffentlichkeit im Internet

Ausgabe I / 2011

DAS MAGAZIN DER WISSENSCHAFTS-PRESSEKONFERENZ e.V.

Getrennte Welten Blogs fordern die Massenmedien beim Arsen Bakterium GFAJ-1 heraus

Anstoß

Web 2.0

These

Debattenkarten versprechen mehr Übersicht ResearchGate vernetzt 900.000 Forscher Ohne Embargos weniger gefakte News!?


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Die außerirdische Mikrobe GFAJ-1 EDITORIAL

Es war keine der ganz großen Geschichten. Jedenfalls keine, an die sich weithin wahrgenommene Diskussionen angeschlossen hätten über die Auswüchse einer auf kurzfristige Resonanz in der Öffentlichkeit zielende Wissenschaftskommunikation. Das mutmaßlich Arsen fressende Bakterium GFAJ-1 wird manchem schon kein Begriff mehr sein. Anfang Dezember 2010 beschäftigte es nur einen kurzen Moment lang die Wissenschaftsredakteure dieser Welt und fiel danach dem Vergessen anheim. Reißerisch hatte die NASA vor der Präsentation des Befundes am 2. Dezember 2010 und seiner Publikation in Science online die Neugier der Presse geweckt. Eine „astrobiologische Entdeckung“ wurde angekündigt, eine, die Einfluss haben werde auf unsere Vorstellungen von außerirdischem Leben. Darauf nahm dieses Bakterium stattdessen keinen Einfluss. Interessant war eher, was sich in zahlreichen Blogs abspielte. Deren Autoren verwandel-

ten dieses Resultat binnen sehr kurzer Zeit in ein äußerst fragwürdiges Stück Wissenschaftsgeschichte, das sich anders als von der NASA angestrebt wahrscheinlich nicht in jenen Kapiteln findet, in denen von herausragenden Entdeckungen die Rede ist. Stattdessen machten sie es zu einem Absatz im Kapitel über gehypte Resultate und die Verantwortung renommierter Wissenschaftsjournale wie Science. Die Blogger stellten die Arsen-Bakterien damit in eine Reihe mit den fragwürdigen Klimavorhersagen eines Mojib Latif, dem Missing Link eines Jörn Hurum oder noch naheliegender – dem Fund einer Mars-Mikrobe auf einem Meteoriten, die 1996 ihren Weg in die Zeitschrift Science fand und von der bislang niemand mit letzter Sicherheit zu sagen weiß, ob es sich dabei tatsächlich um das handelte, was es der NASA zufolge sein sollte. Die Auseinandersetzung um die Aussagekraft der Arsen-Papers ging an den

Massenmedien fast vollständig vorbei. Das ist uns Anlass, den Rummel um die entdeckten Bakterien einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Alexander Stirn gibt in seinem Beitrag Einblicke in die NASA-Pressearbeit, die den Hype anstachelte. Nicole Heißmann hat mit Vincent Kiernan über die Rolle gesprochen, die Embargos spielen, wenn Forschung gehypt wird. Wir beschreiben die Berichterstattung in den Massenmedien, die dieses Resultat gängigen Routinen folgend in ein Faszination weckendes Konsumgut verwandelte. Wir suchen nach Erklärungen für die weit verbreitete Ignoranz bezogen auf das, was sich in Weblogs abspielte. Die Diskussionen dort hat Lars Fischer für uns zusammengefasst und bewertet. Eine der möglichen Erklärungen dafür, dass Blogs praktisch keinen Eingang in die Medienberichterstattung gefunden haben, ist die Marktorientierung des Wissenschaftsjournalismus. Möglicherweise hielt man die schwer


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nachvollziehbaren detaillierten methodischen Einwände gegen dieses Resultat für nicht griffig genug, um sie in eine Berichterstattung einfließen zu lassen, die den wissenschaftlichen Laien im Blick hat. Möglicherweise ist das, was sich in der Blogosphäre abspielte, aber auch einfach an den offline-Medien vorbeigegangen, weil sie über keine geeignete Optik verfügen, um derlei Rauschen tatsächlich wahrzunehmen. Denn dass sie auch die fragwürdigen Umstände der Veröffentlichung von Forschungsresultaten in der Berichterstattung angemessen würdigen können, haben sie zuletzt bei Ida, dem vermeintlichen Missing Link des Norwegers Jörn Hurum gezeigt. Dass dies im aktuellen Fall nicht gelang, dürfte auch der Unübersichtlichkeit geschuldet sein, die immer dann entsteht, wenn sich zahlreiche Blogs einem einzelnen Thema zuwenden und man sich mühselig durch viele Seiten Kommentare lesen muss. Zudem ist es schwierig, die öffentliche Relevanz dieser Blogs verlässlich einzuschätzen, weil meist unklar ist, wie viele Leser sie eigentlich haben. Eine Zahl haben wir gefunden: Der Blog von Rosie Redfield, die einen ausführlichen Review der Arsen-Studie am Samstag, dem 04.12.2010 veröffentlichte, soll binnen einer Woche 90.000 Zugriffe verzeichnet haben. Und das, obwohl diesem Blog davor allenfalls einige Hundert Interessierte folgten. Eine Möglichkeit, solcher Unübersichtlichkeit etwas entgegen zu stellen, beschreibt Ralf Grötker. Er stellt uns Debattenkarten vor, die auf www.fuerundwider.org Übersichtlichkeit in verwirrende Debatten bringen sollen. Wir hoffen wie immer, dass diese Ausgabe Anregungen liefert für das alltägliche Tun. Ich wünsche eine anregende Lektüre. ]

Inhalt Editorial

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Getrennte öffentliche Sphären: Massenmedien berichten über das mutmaßliche Arsen Bakterium, als gäbe es das Internet nicht

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Kritische Blogs: Bloggende Wissenschaftler nehmen das Arsen-Bakterium schneller und effektiver unter die Lupe als die Massenmedien

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Vincent Kiernan im Interview: Ohne Embargos weniger gefakte News

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Kritik: Wo NASA drauf steht, sind noch lange keine News drin!

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Eine Wikipedia der Debatten: Argumentationskarten können beim Diskutieren im Netz helfen

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Ijad Madisch im Interview: Online-Stammtisch für Forscher ResearchGate vernetzt 900.000 Forscher

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Die unheilvolle rosa Salbe: Der WDR scheitert mit der Kündigung von Klaus Martens

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Impressum

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Markus Lehmkuhl

Markus Lehmkuhl ist Projektleiter an der FU Berlin, Arbeitsstelle Wissenschaftsjournalismus, und leitet die WPK-Quarterly Redaktion.


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Getrennte öffentliche Sphären Die offline Medien berichten über das mutmaßlich Arsen fressende Bakterium so, als gäbe es das Internet nicht Von Markus Lehmkuhl Vordergründig war das mutmaßlich Arsen fressende Bakterium eine Geschichte wie viele vor ihr und wahrscheinlich viele danach. Ein Fund, der wegen seiner möglichen Implikationen für unsere Vorstellungen von den Bedingungen des Lebens als bemerkenswert, als faszinierend zu gelten hat. Entsprechend wurde etwa der dpa-Bericht gut gedruckt, er fand sich Anfang Dezember 2010 insbesondere im Vermischten der Regionalzeitungen häufig. Auch die überregionale Qualitätspresse griff das Thema auf. Die gut eingespielten Routinen folgende journalistische Aufbereitung ist aber in diesem Fall beachtenswert. Sie offenbart eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber einer Debatte, die in Weblogs Wogen schlug. In den Berichten der offline-Medien steht, dass ein Bakterium entdeckt wurde, das etwas kann, was die Wissenschaft bisher nicht für möglich hielt. Es verwertet Arsen statt Phosphor. Die besondere Resonanzfähigkeit dieser Nachricht verdankt sich aber weniger diesem Befund an und für sich, sondern eher den Implikationen für die Möglichkeit außerirdischen Lebens. Denn wenn Leben statt auf Phosphor auch auf Arsen gründen kann, dann so wird suggeriert - erweitere sich der Raum beträchtlich, in dem Leben möglich scheint.

Die offline Medien wecken Faszination statt zu politisieren Das in Science publizierte Resultat lässt sich aus diesem Grund vom Journalismus gut nutzen, um verbreitete Nutzungsmotive innerhalb der Rezipientenschaft zu bedienen. Diese wendet sich, Befunden eines europäischen Forschungsprojektes zufolge (www.fu-berlin.de/avsa), wissenschaftlichen Ergebnissen unter

anderem dann zu, wenn sie geeignet sind, ihre eigene Erfahrungswelt zu entgrenzen. Anders ausgedrückt geht es Zuschauern und Lesern von Wissenschaft darum, sich faszinieren zu lassen. Und das trifft eben ganz besonders auf Sachverhalte zu, die weit hinaus gehen über das, was der eigenen Erfahrungswelt zugänglich ist. Es zählen dazu Einblicke in ferne Zeiten oder unermesslich weit entfernte galaktische Räume, in denen sich möglicherweise Lebensformen tummeln, die Arsen verwerten. Der Journalismus und auch die Wissenschaft selbst wissen natürlich um diese Vorlieben des Publikums und tragen ihm entsprechend Rechnung. Zum Beispiel dadurch, dass die Deutungen und Spekulationen der NASAAstrobiologen, allen voran der von der Leiterin der Studie, Felisa Wolfe-Simon, weite Verbreitung finden: Wenn schon auf der Erde so etwas möglich ist, was kann das Leben dann noch? Oder auch durch das Veröffentlichen wolkiger Ankündigungen durch die NASA, das ein Resultat in Aussicht stellt, das unsere Vorstellungen über die Möglichkeiten außerirdischen Lebens beeinflussen dürfte. Will man das, was in den deutschen Zeitungen über diese Studie geschrieben worden ist, knapp zusammenfassen, so kommt man zu dem Schluss, dass nahezu alle die Anklänge an das Extraterrestrische nutzen, um Aufmerksamkeit für diese Studie zu wecken. Freilich gibt es Unterschiede im Grad. Zugleich lässt sich ein Bemühen erkennen, diese Befunde von unabhängigen Dritten bewerten zu lassen. Allerdings bleibt dieses Bemühen beschränkt auf Artikel, die erkennbar von auf Wissenschaft spezialisierten Autoren verfasst wurden. In den Boulevardzeitungen finden sich solche Einordnungen nicht. Viele Regionalzeitungen kürzten die entsprechende Passage im dpa-Bericht raus. Dort, wo sich diese Einordnungen finden, wird die geweckte Faszination im Regelfall

moderat relativiert. Allerdings gibt es Ausnahmen. Während dpa Experten zu Wort kommen lässt, die insbesondere die weitreichenden Folgerungen der verantwortlichen Wissenschaftlerin Felisa Wolfe-Simon nur ungenügend durch die veröffentlichten Daten gedeckt sehen, hält ein Experte in der Zeit es für „sicher, dass diese Bakterien massiv Arsenate in ihre Moleküle eingebaut haben“. Damit lassen es die allermeisten Zeitungen bewenden. Das faszinierende Ergebnis ist verkündet und ganz grob eingeordnet. Danach herrscht Schweigen. Nur eine sehr kleine Zahl deutschsprachiger Zeitungen greift das Thema danach noch einmal auf.

Die Bakterien werden in ein öffentliches Konsumgut verwandelt und dann vergessen. Damit bleibt die Berichterstattung einem gängigen Muster verhaftet. Sie unterscheidet sich substantiell nicht vom Fund einer neuen Homo Art, der Entdeckung der ältesten figürlichen Darstellung eines Menschen durch den Menschen oder von Berichten darüber, dass Piranhas nicht so gefährlich sind, wie allgemein angenommen. Es ist ein Muster, dass Rezipienten zum Staunen anregt und dass ihnen im besten Fall einen von Bewunderung und Überraschung geleiteten Ausspruch entlockt: Faszinierend! Es ist eine Berichterstattung, die den Mister Spock in uns allen anspricht oder mindestens ansprechen soll. Die mutmaßlich Arsen fressenden Bakterien sind wie viele andere Befunde davor in eine Art öffentliches Konsumgut verwandelt worden, das unmittelbar anschließend dem Vergessen überantwortet wird.


I / 2011 Es spiegelt sich darin die Rückbindung des Journalismus an bestimmte, recht verbreitete Bedürfnisse des Publikums und damit des Marktes, der solche Konsumgüter nachfragt. In dem Bemühen, das Ergebnis von unabhängigen Dritten einordnen und bewerten zu lassen, spiegelt sich die Rückbindung des Journalismus an weithin akzeptierte Handlungsnormen für die berufliche Praxis, die im Fall von wissenschaftlichen Ergebnissen wie diesem implizieren, nicht Faszination zu wecken für etwas, das des Hinsehens gänzlich unwürdig ist. Dieses Bemühen um Einordnung und Kommentierung ist allerdings nicht gleichzusetzen mit der Frage, ob das Resultat „wahr“ oder „unwahr“ ist. Darum geht es bei den Einordnungen allenfalls am Rande. Stattdessen liegt das Schwergewicht der Bewertungen auf den Spekulationen um außerirdisches Leben. Die meisten Experten, die zu Wort kommen, sehen in dem Bakterium eher einen Ausweis für die extreme Anpassungsfähigkeit irdischen Lebens, sie stellen sich also gegen die Deutungsversuche der NASA Astrobiologen, die in dem Bakterium eine Art irdischer Referenz für die Wahrscheinlichkeit außerirdischen Lebens sehen wollen. Diese beiden Orientierungen an Markt und Moral sind konstitutiv für die Identität des Journalismus. Es bietet sich allerdings an, von Fall zu Fall zu überdenken, ob die Art und Weise, wie sich diese beiden Orientierungen in der durch Routinen bestimmten journalistischen Praxis im Einzelfall ausprägen, nicht mindestens ergänzungsbedürftig sind. Es ist ja nicht in Stein gemeißelt, dass man neue wissenschaftliche Resultate nur im Gewande einer mehr oder minder aufregenden Entdeckung an den Mann und die Frau bekommen kann. In diesem konkreten Einzelfall ist sogar zweifelhaft, dass diese thematische Rahmung die eigentlich interessante ist. Anlass für diese Zweifel ist das, was sich vor, aber besonders nach der Publikation des Befundes auf einzelnen Blogs abspielte. Anlass für die Zweifel ist aber auch, dass die Lust auf Faszination selbstverständlich nicht sämtliche Segmente des Publikums in gleicher Weise kennzeichnet. Ausweislich

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WPK-Quarterly der qualitativen Befunde des bereits erwähnten Forschungsprojektes, dass etwa 400 Menschen aus fünf europäischen Ländern über Motive für ihre Zuwendung zu wissenschaftlichen Inhalten hat diskutieren lassen, lässt sich sogar von einer gewissen Polarisierung des Publikums ausgehen, die sich besonders auf die Faszination weckende mediale Rekonstruktion wissenschaftlicher Befunde bezieht. Es gibt die Gruppe derjenigen, die das lieben. Es gibt aber auch diejenigen, die es hassen. Angesichts dessen kann man die Rekonstruktion der Arsen Geschichte eine Art Kompromisslösung nennen, die klar die Züge des common sense trägt, die also den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegelt. Man weckt Faszination und relativiert sie gleichzeitig moderat, ohne in eine wissenschaftliche Kontroverse einsteigen zu müssen, von der sicher angenommen werden muss, dass sie sowohl Journalismus als auch das von Gerhard Maletzke so genannte, „disperse“ Publikum überfordert.

Die methodischen Mängel, die da moniert werden, sind fundamental. Etwa der, dass nicht hinreichend sicher ist, dass Arsen tatsächlich in die DNS eingebaut worden sei. Es sei ebenso möglich, dass es sich um Anhaftungen an der DNS handele, weil die nicht sorgfältig genug gewaschen worden ist. Dieser Vorwurf mutet an, als hätte ein Sozialwissenschaftler einen Zusammenhang zwischen dem Vorkommen von Störchen und der Kinderzahl gefunden, aber vergessen, den Einfluss der Industrialisierung auf beide Variablen zu kontrollieren. Dieser Vorwurf wurde denn auch von Felisa Wolfe-Simon in einem Interview mit Science zurückgewiesen.

© Jodi Switzer Blum

GFAJ-1 = Give Felisa A Job Orientierung am common sense steht für Massenmedien. Die Spezialdiskurse laufen bei diesem Thema im Wesentlichen im Internet, genauer gesagt in einzelnen Weblogs ab, zu der etwa der der kanadischen Wissenschaftlerin Rosie Redfield gehört (http:// rrresearch.blogspot.com/2010/12/ arsenic-associated-bacteria-nasas. html). Verglichen mit den offline Medien zeigt sich in den Blogs ein gänzlich anderer thematischer Fokus. Die Arsen fressenden Bakterien sind nicht Faszinosum, sie sind Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Kontroverse über die Frage, ob es wahr oder unwahr ist, was Felisa Wolfe-Simon ermittelt haben will. Und diese Diskussion wird – wie eigentlich immer bei wissenschaftlichen Kontroversen – bezogen auf die Art und Weise, wie Felisa Wolfe-Simon zu ihrem Hauptergebnis gekommen ist. Im Mittelpunkt der Erörterung in diesem Blog stehen methodische Details, denen ein molekularbiologischer Laie nicht folgen kann.

© Jodi Switzer Blum

Bilder einer vermeintlichen Sensation: Das obere Bild zeigt GFAJ-1 in einem Phosphormedium, das untere zeigt GFAJ-1 in einem Arsenmedium. Deutlich zu erkennen ist, dass sich die Bakterien aufgebläht haben.

Ausgehend von den behaupteten methodischen Mängeln geriet auch das Wissenschaftsmagazin Science in den Fokus der Kritik. Wie ist es möglich, dass ein so renommiertes Wissenschaftsmagazin ein mutmaßlich so schlampiges Paper veröffentlicht? Das Interview des Wissenschaftsmagazins mit der Studienleiterin wirkt in diesem Zusammenhang fast grotesk. Science tut in dem Interview so, als hätte es mit der Qualität des publizierten Aufsatzes


I / 2011 nichts zu tun. Es tut so, als sei lediglich die Studienleiterin Wolfe-Simon unter Rechtfertigungsdruck, nicht aber Science selbst. Dabei ist es vor allem die Zeitschrift, die unter erheblichem Rechtfertigungsdruck steht, weil die herausragende Qualität der in ihr publizierten Befunde so etwas wie die Bedingung für seine Stellung innerhalb des Wissenschaftssystems ist. Denn es geht um nichts anderes als den Vorwurf, die Zeitschrift würde in dem Bestreben, möglichst gute und interessante Forschungsergebnisse zu versammeln, mit Blick auf die Resonanzfähigkeit in der Öffentlichkeit im Zweifel das interessante einem guten Paper vorziehen. Von all dem erscheint fast nichts in den offline-Medien. Nur vier Tageszeitungen verweisen mindestens auf die Debatte in Blogs und rekonstruieren das Thema entweder als wissenschaftliche Kontroverse, oder aber sie legen wie die Süddeutsche Zeitung und partiell auch die FAZ den thematischen Schwerpunkt auf die Bedeutung, die dieser Einzelfall mutmaßlich für die Wissenschaftskommunikation und die internen Steuerungsmechanismen des Wissenschaftsbetriebes hat. Hochrangig publizierte Ergebnisse spielen bekanntlich eine zentrale Rolle für die Vergabe lukrativer Positionen. Nicht umsonst hat Felisa Wolfe-Simon die Bakterien GFAJ-1 genannt, das Acronym soll nach Recherchen der Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich für „Give Felisa A Job“ stehen.

Kaum eine Zeitung greift die Internetdiskurse auf Bei zwei dieser vier Pressetitel, Tagesspiegel und Neue Zürcher Zeitung, lässt sich aber mit einer gewissen Sicherheit ausschließen, dass die Berichterstattung primär durch das veranlasst wurde, was sich in den Blogs abspielte. Wahrscheinlicher ist, dass ein tags zuvor erschienener Bericht in der New York Times vom 14.12.2010 (Poisoned Debate Encircles a Microbe Study‘s Result) für beide Anlass war, die Arsen-Bakterien nochmals aufzugreifen. Diesmal nicht mehr als ein faszinierendes wissenschaftliches Resultat, sondern als eine giftige wissenschaftliche Kontroverse.

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WPK-Quarterly Weblogs und offline Medien stehen demnach bei diesem Einzelfall weitgehend wie zwei getrennte öffentliche Sphären nebeneinander. Es gibt kaum Berührungspunkte. Das gilt zunächst thematisch. Während es in den Blogs um eine Wissenschaftskontroverse geht, partiell auch noch um die möglicherweise dysfunktionale Selbststeuerung der Wissenschaft, die erfolgreiche Forschungsvermarkter belohnt statt guter Wissenschaftler, spielt das in den offline Medien kaum eine Rolle. Noch gravierender ist der Unterschied bezogen auf das, was eigentlich die Kommunikation veranlasst. Während die Zweifel am Wahrheitsgehalt des wissenschaftlichen Befundes und mutmaßlich auch die Ignoranz der Massenmedien es sind, die die Blogger zum Sprechen bringen, verhält es sich bei den offline Medien genau umgekehrt. Zweifel am Wahrheitsgehalt dieses Befundes veranlassen Massenmedien am ehesten dazu, den Befund gar nicht erst zu vermelden oder möglichst knapp abzufeiern. In diesem Einzelfall lässt sich das ganz gut illustrieren durch die Art und Weise, wie die Süddeutsche Zeitung das Thema am 03.12.2010 nachrichtlich aufbereitet. Sehr klein, als Randnotiz. Ursache sind erkennbar begründete Zweifel an der Aussagekraft des Befundes. Massenmedien, das zeigen entsprechende Analysen immer wieder, können über wissenschaftliche Studien in aller Regel nur dann sprechen, wenn sie erfolgreich waren. Und sie sind außerhalb von Risikodiskursen, die anderen Regeln folgen als die Berichterstattung über Forschungsresultate, von einzelnen Ausnahmen abgesehen nicht in der Lage, wissenschaftliche Kontroversen zu thematisieren. Der italienische Wissenschaftssoziologe Massimiano Bucchi hat das lakonisch damit erklärt, dass „scientific controversy per se tends to confuse both reporter and readers“.

Welches Verhältnis besteht zwischen Weblogs und den offline-Medien? Es spricht deshalb einiges dafür, das Verhältnis zwischen den Massen-

medien und den Weblogs in diesem Fall als komplementär zu bezeichnen. „Komplementarität“, schreibt Christoph Neuberger in seinem Buch „Journalismus im Internet“, „ist erreicht, wenn sich Medientypen in ihrem Leistungsprofil unterscheiden und einander aus der Nutzersicht ergänzen.“ Allerdings dürfte das nur dann gelten, wenn sich Nutzer nicht durch ihre Zeitung verschaukelt fühlen, die ihnen mit Emphase eine faszinierende wissenschaftliche Sensation auf den Frühstückstisch legt, die nach zwei Klicks im Internet als Flim Flam erscheint. In einem solchen Fall ist auch eine Konkurrenzbeziehung denkbar. Hier der leichtverdauliche Flim Flam, dort die umfängliche und angemessene Bewertung. Und es dürfte nur dann gelten, wenn es auch eine Schnittmenge gibt zwischen dem Publikum der Massenmedien und den Lesern von Weblogs. Dafür gibt es in diesem Fall durchaus Indizien. Nach Recherchen der New York Times hat allein der Blog von Rosie Redfield, der üblicherweise über einige hundert Besucher nicht hinauskommt, kurz nach der Veröffentlichung der Arsen Studie in Science um die 90.000 Zugriffe verzeichnet. Das ist zwar noch kein Massenpublikum. Die Zahl müsste aber jedem journalistisch denkenden klar machen, dass da draußen ein Publikum von nicht genau zu beziffernder Größe ist, das selbst vor schwer Verdaulichem nicht zurückzuschrecken scheint, weil es offensichtlich mehr und anderes wissen will über dieses Bakterium, als in den offline Medien geboten wurde.

Weblogs repräsentieren mehr als eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen Die Zahl macht darüber hinaus ein wichtiges Merkmal von Internetangeboten deutlich. Sie können sich bruchlos und ganz plötzlich in ein durchaus massenattraktives Angebot verwandeln. In


I / 2011 diesem Fall sehr wahrscheinlich deshalb, weil die Art der Popularisierung durch die NASA und besonders die konsonante Berichterstattung in Massenmedien in einem bestimmten Segment des Publikums Zweifel gesät hat, denen nachgegangen wird. Die Berichterstattung in Massenmedien über das Thema allein ist aber nicht hinreichend, um den Zuwachs der Nutzerzahlen bei diesem einzelnen Weblog zu erklären. Die Weblogs sind in diesem Fall mehr als bloßer Resonanzraum der Medienberichterstattung. Es ist plausibel anzunehmen, dass es anders als etwa Jürgen Habermas annimmt, im Internet so etwas wie Vermittlungsinstanzen gibt, die von Fall zu Fall der Fragmentierung der Öffentlichkeit „in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen“ etwas entgegensetzen und so von Fall zu Fall durchaus etwas schaffen können, was auch in liberalen Systemen als funktionales Äquivalent für Öffentlichkeitsstrukturen gelten kann. Zu denken ist dabei weniger an eine national begrenzte, politische Öffentlichkeit. Ihr Kennzeichen besteht darin, dass einzelne Akteure mit Blick auf irgendein politisches Thema Positionen

WPK-Quarterly und Argumente in den öffentlichen Diskurs einspeisen, die anschließend zum Bezugspunkt werden für Positionen und Argumente von anderen Akteuren. Im Idealfall führt das dazu, dass sich in der Öffentlichkeit ein Meinungsbild bildet, dass bindend wirkt für politische Entscheidungsträger. Solche Diskurse werden von Massenmedien beherrscht. Deren Selektionsregeln entscheiden über den Zugang zur Öffentlichkeit. Zu denken ist eher an eine internationale Öffentlichkeit, deren Bezugspunkt nicht nationale Regierungen sind. Stattdessen zielen sie auf das Regime global operierender Wissenschaftsverlage. Wie sich gezeigt hat, vermochte diese Öffentlichkeit in diesem Fall durchaus so etwas wie einen Rechtfertigungsdruck auf Science zu entfalten. Angesichts der sich im Internet bildenden öffentlichen Meinung zu dieser Studie kann das Magazin nicht anders, als darauf bezogen zu kommunizieren. Man macht ein Interview mit der Studienleiterin, man kündigt sorgfältige Prüfungen an. Wenn man so will, reagiert Science auf eine öffentlich relevant gewordene Demonstration des substantiierten Zweifels. Um im Bild zu bleiben, wird man sagen dürfen, dass es die offline Medien

7 in diesem Fall versäumt haben, über diese Demonstration zu berichten. Sie haben es versäumt, die Aufmerksamkeit für die Arsen Studie auch dafür zu nutzen, einer größeren Öffentlichkeit Einblicke in das Innenleben des Wissenschaftsbetriebes zu verschaffen. Sie zeigen sich fixiert darauf, der Öffentlichkeit das einzelne Ergebnis und seine wissenschaftliche Bedeutung zu erklären. Sie zeigen sich dem public understanding of science verhaftet statt dem public engagement with science. Von dem Versuch einer Politisierung sehen die offline Medien mit wenigen Ausnahmen ab. Es ist eine empirische Frage, warum das in diesem Fall so war. Diese Frage kann jede Redaktion für sich selbst beantworten. War es eine bewusste Entscheidung, eine notwendige Referenz an die Marktbedingungen? Oder ist die Resonanz in Weblogs auf diesen wissenschaftlichen Befund ein blinder Fleck in der redaktionellen Optik? In einem solchen Fall sollten sich Redaktionen fragen, wie sich Resonanz im Internet in die routinisierten Abläufe der Redaktion integrieren lässt. Das Arsen-Bakterium wird nicht der letzte Fall bleiben, für den das wichtig wird. ]

Blogs als Watchdogs der Wissenschaft Der Arsen Fall zeigt, dass bloggende Wissenschaftler aktuelle Forschungsergebnisse schneller und effektiver unter die Lupe nehmen können als die Massenmedien. Von Lars Fischer Unsere Vorstellungen von der Biologie sollte die Entdeckung verändern, die ein Team um die Mikrobiologin Felisa Wolfe-Simon auf einer Pressekonferenz der NASA am 2. Dezember letzten Jahres präsentierte. Es kam anders. Kaum dass die Meldung in der Welt war, hatten Fachleute sie schon zerrupft - im Internet, vor allem in Blogs, ließen Wissenschaftler kein gutes Haar an der Veröffentlichung. Während in klassischen Medien noch von Außerirdischen die Rede war, fand die kritische Information längst anderswo statt, außerhalb der bewährten Kanäle von Presse und Wissenschaft. Sind die Strukturen der

Wissenschaftsberichterstattung noch zeitgemäß? Angefangen hat alles, als die NASA in einer dürren Notiz für den 2. Dezember 2010 eine Entdeckung ankündigte, die „Auswirkungen auf die Suche nach außerirdischem Leben“ haben werde. Die erste Folge war, dass in den Tagen vor dem Veröffentlichungstermin in Blogs und Foren wilde Vermutungen über die Entdeckung kursierten: ein zweiter, unabhängiger Stammbaum des Lebens auf der Erde? Mikroben auf dem Saturnmond Titan? So weit wucherten die Spekulationen, dass ernsthafte Vertreter des Faches schon den - ohnehin an-

geschlagenen - Ruf ihrer Forschungsrichtung beschädigt sahen. Schon vor der eigentlichen Pressekonferenz zeigte sich so, dass die Weltraumbehörde und die beteiligten Wissenschaftler die Dynamik des Internet schlicht unterschätzt hatten. Dass die Spekulationen unkontrolliert ins Kraut schossen, ignorierten sie ebenso geflissentlich wie die einsetzende Kritik an ihrem eigenen Beitrag dazu - ein Muster, das sich über Wochen fortsetzte. Während mit dem Ablauf des Embargos das öffentliche Ratespiel um die Meldung selbst beendet war, sahen sich die NASA und die Autoren mit einer Welle eben-


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so detaillierter wie böser Verrisse in Fachblogs konfrontiert.

Der Wert der Blogosphäre liegt in ihrer Vernetztheit Den Anfang machte die Mikrobiologin Rosie Redfield von der University of British Columbia, die zwei Tage nach der Pressekonferenz in ihrem Blog RRResearch offenkundige methodische Mängel in der Veröffentlichung anprangerte. Weitere bloggende Wissenschaftler gesellten sich dazu, der Chemiker Alexander Bradley aus Harvard zum Beispiel hinterfragte die Stabilität der angeblich gefundenen Arsen-DNA. Ein paar Wochen später verwies Ashutosh Jogalekar von der University of Chapel Hill in seinem Blog „The Curious Wavefunction“ auf eine frische Publikation, die diesen Punkt nachdrücklich deutlich macht: Um siebzehn Größenordnungen sind Phosphatester stabiler als analoge arsenhaltige Moleküle. Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass Wissenschaftsblogger so schnell und präzise kritisieren, wo ein Journalist zunächst nur melden kann. Einerseits natürlich ihre Expertise: Redfield und Bradley sind vom Fach und können die Arbeit ihrer Kollegen aus ihrer Forschungserfahrung heraus direkt beurteilen. Andere Forscher brachten ihre Erfahrung mit der Forschung und - nicht zu unterschätzen - ihren Zugang zur Fachliteratur ein. Sie sind nicht an bestimmte Textformen gebunden, schreiben über Themen ihrer Wahl und vertreten ihre Meinung offensiv. All dies verschafft ihnen einen enormen Zeitvorsprung gegenüber Journalisten, die für eine Rezension auf dem gleichen Niveau tagelang recherchieren müssten. Doch der eigentliche Mehrwert der Blogger liegt in ihrer Vernetzung: Die Beiträge zu Wolfe-Simons Arsen-Paper sind untereinander verlinkt, beziehen sich aufeinander und auf die Diskussion in den Kommentaren und greifen die Reaktionen der beteiligten Akteure direkt wieder auf, so zum Beispiel die Antwort der Erstautorin auf ihrer Webseite. In den Wissenschaftsblogs entwi-

Der Blog der Kanadierin Rosie Redfield RRResearch brachte es kurz nach der Veröffentlichung des Arsen Papers auf 90.000 Zugriffe.

ckelte sich so eine breite, andauernde Debatte mit beträchtlicher fachlicher Tiefe, die sich einer zentralen Moderation und Kontrolle entzog.

Der Umgang mit Kritik in Blogs ist ungewohnt Auf diese Entwicklung reagierten Autoren und NASA zuerst gar nicht und dann patzig: Kritik in Massenmedien sei grundsätzlich nicht wissenschaftlich, und man werde sich nur mit solchen Argumenten auseinandersetzen, die in Fachzeitschriften veröffentlicht seien, erklärten unisono die Erstautorin Felisa Wolfe-Simon und der Pressesprecher der NASA. Dafür ernteten sie, nicht zuletzt angesichts der geballten Fachkompetenz hinter den Angriffen aus dem Netz, Hohn und Spott und weitere beißende Kritik. Die inhaltliche Erwiderung, zu der sich die Autoren erst zwei Wochen nach der

Pressekonferenz durchringen konnten, zerpflückte Redfield wiederum in einem ausführlichen Beitrag. Über Fachzeitschriften geführt, hätte allein dieser Teil der Debatte Monate, wenn nicht Jahre gedauert. Der Fall illustriert, wie drastisch das Internet die Wissenschaft verändert. Dadurch werden auch die Mechanismen des klassischen Wissenschaftsjournalismus in Frage gestellt. Auf nahezu allen großen Medienportalen und am nächsten Tag auch in vielen Zeitungen konnte man pünktlich zum Ablaufen des Embargos nur die Meldung selbst lesen, die andernorts bereits heftig kritisiert wurde. Dass Wissenschaftler Forschungsergebnisse auseinandernehmen, ist für sich genommen nicht ungewöhnlich. Neu ist, dass die Debatte über die Fachkreise hinaus in die Öffentlichkeit gelangte, und zwar in Echtzeit. Wo Forscher früher auf Konferenzen, in Messageboards oder an der Instituts-Kaffeemaschine informell diskutierten, konnte nun jeder mitlesen und mitmachen.


I / 2011 Dabei handelt es sich, um ein verbreitetes Missverständnis auszuräumen, nicht um eine wie auch immer geartete Gegenöffentlichkeit. Wogegen sollte sie sich auch stellen? Gegen die Wissenschaft, die dergleichen unter sich schon immer getan hat und nun ein neues Medium nutzt? Gegen die Journalisten? Der umfassendste Angriff auf die Veröffentlichung kam fünf Tage später vom Journalisten Carl Zimmer, der als Reaktion auf Redfields Artikel eine Reihe von ausgewiesenen Fachleuten nach ihrer Meinung fragte - und die allesamt die Schlussfolgerungen der Wissenschaftsblogger bestätigten, bis hin zu der Feststellung, das Paper hätte so gar nicht veröffentlicht werden dürfen. Der korrekte Begriff für das, was in den Blogs passierte, ist Öffentlichkeit.

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Diskussionen in Weblogs sind eine Herausforderung für den Wissenschaftsjournalismus Das gefällt nicht jedem. Widerstand kam von vielen Wissenschaftlern, von denen nicht wenige die alten Strukturen mit ihrem gemächlichen und vor allem kontrollierten Publikationssystem bewahren möchten. Wie tief der Schock sitzt, demonstriert ein weiteres Scharmützel vier Monate später. In einem Review des Arsen-Papers ignorierten die Autoren die Online-Diskussion mit

der Begründung, die Kommentare dort seien überwiegend anonym gewesen. Auf die akademischen Credentials der Online-Kritiker angesprochen, zogen sie sich auf die ebenfalls unwahre Behauptung zurück, nur redaktionell geprüfte Literatur sei überhaupt zitierfähig. Auch Wissenschaftsjournalisten fordert die neue Situation heraus, aber die wichtigste Lehre aus der Affäre ist, dass ihre Arbeit keineswegs überflüssig wird, im Gegenteil. Ohne den interessierten Journalisten hätte die Kritik von Redfield und Kollegen niemals eine so breite Öffentlichkeit gefunden. Man darf nicht vergessen: Auch wenn die Inhalte von Wissenschaftsblogs öffentlich sind, ist ihre Leserschaft vergleichsweise klein. Nicht mehr als ein paar hundert Leute werden Professor Redfields Beiträge regelmäßig lesen. Trotzdem ging ihr Verriss der NASA-Meldung um die Welt, nachdem die Empfehlungsmaschine Internet die Debatte in einzelne Redaktionen gespült hatte. Schon seit Jahren diskutieren und kritisieren Wissenschaftler Veröffentlichungen im Internet, doch nun haben Journalisten Zugang zu diesen Debatten. Es lässt sich nicht leugnen, dass Blogger dem Wissenschaftsjournalismus einige seiner bisherigen Alleinstellungsmerkmale nehmen. Verloren ist vor allem das, was Journalisten bisher als Öffentlichkeit verstanden haben: der exklusive Zugang zum Publikum über die Massenmedien. Auch was die Sachkenntnis angeht, hat die Blogosphäre als Ganzes einen uneinholbaren Vorsprung. Irgendwo gibt es immer einen, der etwas davon versteht, spätestens in den Kommentaren - auch dies ein Pfund, mit dem viele Blogs wuchern können. Warum es klassische Medienwebseiten nicht schaffen, ihre Kommentarsektionen auf einem halbwegs angemessenen Niveau zu halten, bleibt ein Rätsel.

Das Problem der Weblogs ist ihre Unübersichtlichkeit

Auch Journalisten beteiligten sich an der Kritik. Knapp eine Woche nach der Veröffentlichung macht Carl Zimmer in einem Blog Druck auf Science.

Was aber die neue Form der Öffentlichkeit, die sich in Blogs und anderen Kanälen des Internets zusammenfindet, vor allem anderen auszeichnet,


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ist ihre Vielfalt. Nicht nur Wissenschaftler haben mitgeredet, über Wissenschaft bloggen auch Journalisten, Hobby-Enthusiasten und ausgemachte Spinner. Die große Bandbreite an Expertise und Perspektiven bietet ein enormes Potential für kritische Information über Wissenschaft. Das hat sich in der Diskussion um die ArsenBakterien exemplarisch gezeigt. Etwas Vergleichbares können Journalisten nicht leisten. Diese Vielfalt bedeutet aber auch, dass die neue Öffentlichkeit droht, sich selbst zu viel zu werden und sich im Gewirr der nicht immer fundierten Einzelmeinungen zu verlieren. Die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs bilden derzeit noch eine überschaubare Gruppe, die nach innen einen Mindeststandard an Qualität sicherstellt, doch schon der internationalen Forscherblogs sind so viele, dass selbst Aggregatoren und intensive Verlinkung keinen Überblick mehr gewähren. Hier sind Blogs nach wie vor auf Recherchekompetenz und Reichweite klassischer Medien angewiesen, auch das hat die Arsen-Affäre gezeigt. Wo die exklusive Position als Mittler zwischen dem Wissenschaftsbetrieb und der Allgemeinheit wegfällt, schlüpfen Journalisten in die Rolle des Lotsen durch die Informationsflut. Das ist zum größten Teil noch Zukunftsmusik - die wenigsten Entdeckungen werden heute ein so breites Echo hervorrufen, wie es der NASA mit dem Reizwort „Außerirdische“ gelungen ist. Es wäre aber naiv zu glauben, dass derartige Debatten die Ausnahme bleiben. Gerade bei den spannendsten Entwicklungen in der Wissenschaft dürften Blog-Diskussionen nach dem Muster des Arsen-Papers – so viel kann man wohl vorhersagen, ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen - in Zukunft der Normalfall sein. ]

Lars Fischer ist Redakteur bei spektrum direkt und zuständig für die scilogs, eine Plattform von deutschsprachigen Wissenschaftsblogs.

„Ohne Embargos hätten wir weniger Fake-News“ Am 29. November 2010 lud die NASA ein zu einer Pressekonferenz, die große Wellen schlagen sollte: Eine „astrobiologische Entdeckung“ wurde angekündigt, mit Folgen für „die Suche nach Hinweisen auf außerirdisches Leben“. Sofort schossen in Blogs und Medien Gerüchte über Funde von extraterrestrischen Lebewesen, gar von „Aliens“, ins Kraut. Eigentlich hatten NASA-Forscher nur eine äußerst irdische, mutmaßlich Arsen verdauende Bakterienart aus einem kalifornischen Salzsee gefischt. Und viele Journalisten wussten das auch schon vor der PK. Sie durften es aber nicht sagen, denn die NASA-Veranstaltung bezog sich auf ein Science-Paper, das bis zum 2. Dezember einer Sperrfrist unterlag. So nahm einer der größten Forschungs-Hypes des Jahres 2010 seinen Lauf. Das WPK-Quarterly sprach darüber mit Vincent Kiernan, Experte für Wissenschaftskommunikation an der Georgetown University in Washington D.C. und bekannter Kritiker von Embargos im Wissenschaftsjournalismus. Herr Kiernan, wie erklären Sie sich die wilde Gerüchteküche vor der NASAPressekonferenz? Wenn es um „außerirdisches Leben“ geht, ist das öffentliche Interesse ohnehin schon groß, erst recht das von Journalisten, die die Öffentlichkeit bedienen und dabei immer härter um die Augen und Ohren ihrer Nutzer kämpfen müssen.

In diesem Fall war den Journalisten auch noch eine Sperrfrist verordnet worden, denn die NASA-Einladung bezog sich auf Ergebnisse aus einem Science-Artikel, über den noch niemand berichten durfte. So etwas führt zu einem klassischen Konflikt verschiedener Agenden: Journalisten wollen eine Info immer so schnell wie möglich bekommen, um sofort User auf ihre Blogs oder die Websites ihrer Medien zu ziehen. Der etablierte Wissenschaftsbetrieb hingegen möchte seine Forschungsergebnisse maßvoll und gut planbar verbreiten.

Verärgert waren in diesem Fall aber wohl auch die, die bereits Bescheid wussten, aber keine Details über die Arsen-Bakterien berichten durften... Eine Sperrfrist bringt Journalisten in ein Dilemma: Sie wissen von etwas, aber sie haben zugestimmt, solche In-

fos bis zum Embargozeitpunkt zurückzuhalten. Das widerspricht völlig dem Wesen journalistischer Arbeit und dem Informationsauftrag der Medien.

Wie hat dieses journalistische Dilemma die Berichterstattung über die Arsen-Bakterien beeinflusst? Es hat sicherlich zu vorschnellen Medienberichten geführt, die ungenau und überzogen waren. Ironischerweise ist das übrigens der Grund, weshalb Embargo-Befürworter sagen: Gut, dass es Sperrfristen gibt, denn dann kann keiner schnell etwas hinausblasen, weil alle zunächst die gleiche Zeit haben, die Fakten zu checken. Ich finde das zu hypothetisch. Wissenschaftsjournalismus wird wie jeder Journalismus von Menschen gemacht und ist deswegen immer anfällig für Fehler und Übertreibungen – ob mit oder ohne Embargo.

Warum spielen Journalisten dieses Spiel überhaupt mit? Journalisten stimmen EmbargoRegeln zu, weil sie glauben, dass sie dadurch bessere Nachrichten produzieren: Wenn sie sich darauf einlassen und abwarten, bekommen sie als Gegenleistung umfassende Hintergrundinformationen und können daraus eine bessere Story, Website oder ein besseres Blog machen.


I / 2011 Und die Nachteile? Zeit ist im Journalismus Geld – und wer wartet, zahlt den Preis, dass er seine Leser, Zuschauer oder Hörer nicht so umfassend informiert hat, wie er gekonnt hätte. Außerdem überblickt man nie, was die Kollegen bei anderen Medien machen: Vielleicht warte ich brav und die nächste Website platzt mit der News schon heraus. Dann verliere ich User an diese Seite. In unserer hoch vernetzten Internetwelt wächst dieses Risiko immer mehr: dass man als Trottel dasteht, wenn man wartet.

Menschen nicht unnötig zu alarmieren. Man befürchtet, dass Menschen einen Nachrichten-Artikel lesen und dann auf eigene Faust ihre Medikamente absetzen oder ihr Verhalten so ändern, dass es ihnen schadet. Ein Embargo, so wird argumentiert, mildere das ab, weil der Medizinjournalismus dadurch in geordnete Bahnen gelenkt werde. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Aber dieses Argument trifft auch definitiv nicht zu auf das meiste,

Was halten Forscher eigentlich von solchen Sperrfristen? Seltsam, ich glaube, das hat Wissenschaftler noch nie jemand ernsthaft gefragt. Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt... Die gängige Meinung dazu lautet bisher: Wissenschaftler mögen Embargos, weil sie bequem sind für Leitmedien wie die New York Times, das Wallstreet Journal oder Associated Press. Forscher glauben, wenn ein großes Medium wie die Times über ihre Erkenntnisse berichtet, werden andere Forscher darauf aufmerksam und zitieren wiederum ihre Forschung – was einem langfristig Stellen und Mittel verschafft. Es gibt sogar Belege, dass das stimmen könnte. Aber letztlich geht es hier um reinen Eigennutz und nicht um das öffentliche Interesse an und Verständnis für Wissenschaft.

Was wäre passiert, wenn die Zeitschrift Science ihr Embargo schnell aufgehoben hätte, als die ersten Gerüchte über Aliens kursierten? Sicher hätte es auch dann einen regelrechten Ausbruch von Berichterstattung gegeben – guter wie schlechter. Aber so läuft es eben in den Nachrichten: Präsident Obama hält eine Rede, und manche Berichte darüber sind gut, andere unterirdisch. Ich persönlich denke, wissenschaftliche Journals sollten sich dieser Realität einfach anpassen.

Sehen Sie auch Argumente, die für ein Embargo sprechen? Medizinische Fachzeitschriften berufen sich darauf, dass GesundheitsNachrichten erst die Ärzte und danach die Patienten erreichen sollten, um die

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WPK-Quarterly

Vincent Kiernan gehört zu einigen wenigen, die das Embargo-System der Zeitschriften öffentlich kritisieren. Er plädiert für seine Abschaffung.

was in Wissenschaftsjournalen wie Science oder Nature veröffentlicht wird – etwa auf das Paper über die Arsen-Bakterien.

Könnte man das Embargo-System verbessern oder sollte man es abschaffen? Wenn es in unserem vernetzten Internet-Universum kaum möglich ist, wissenschaftliche Informationen und Journalisten durch Embargos zu kontrollieren, sollte man aufhören, das zu versuchen. Diese Schlacht kann man nur verlieren. Ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, das bestehende Embargo-System zu verbessern und meine daher, man sollte sich ganz davon verabschieden. Fachjournale sollten das lassen, und Journalisten sollten da nicht mitspielen. Es gibt ja schon Institutionen, die keine Embargos mehr auf ihre Publikationen setzen, die American Geophysical Union zum Beispiel.

Welchen Effekt hätte eine Wissenschaft ohne Sperrfristen auf den Wissenschaftsjournalismus? Viele Wissenschaftsnachrichten würden sicher nicht mehr in den Medien auftauchen. Eine Menge Themen schaffen es ja nur deshalb in die Öffentlichkeit, weil das Embargo bei Journalisten ein falsches Gefühl von Neuigkeitswert weckt. Man weiß, dass freitags immer irgendwer über irgendetwas aus Science berichtet – also macht man das auch –, egal, ob das Thema wirklich berichtenswert ist oder nicht. Ich glaube, ohne Embargo verschwindet eine Menge zweitklassiger Wissenschaftsnachrichten, mit denen Journalisten ihre Zeit verschwenden, und das ist gut. Reporter sollten sich besser mit Dingen im Wissenschaftsbetrieb befassen, die schief laufen, mit Betrug etwa oder Fehlinterpretation von Daten. Aber dafür haben sie gar keine Zeit, wenn sie ständig den ganzen Sperrfrist-Meldungen hinterher laufen. Ohne Embargos hätten wir weniger Fake-News und mehr relevante Wissenschaftsnachrichten. ]

Mit Vincent Kiernan sprach Nicole Heißmann

Vincent Kiernan ist Vizedekan an der Georgetown‘s School of Continuing Studies in Washington D.C., wo er sich mit Wissenschaftskommunikation und den Beziehungen zwischen Medien und Wissenschaftsbetrieb befasst. 20 Jahre berichtete er als Journalist über Wissenschaft, Medizin und Technik: für den New Scientist, Space News oder den Washingtoner Chronicle of Higher Education. Im Jahr 2006 erschien sein Buch „Embargoed Science“, in dem er sich kritisch mit der gängigen Sperrfristpraxis wissenschaftlicher Institutionen auseinandersetzt.

Nicole Heißmann arbeitet als Redakteurin beim Stern in Hamburg.


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Raumschiff Nasa Die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa macht viel, und noch viel lieber redet sie darüber. Dabei wird immer öfter deutlich: Wo Nasa drauf steht, müssen noch lange keine News drin sein. Von Alexander Stirn Jeder wartete auf das versprochene Spektakel, auf den hellen Lichtblitz und den aufgewirbelten Mondstaub – ganz so wie in den bunten Animationen, mit denen die US-Weltraumbehörde Nasa zuvor die Öffentlichkeit heiß gemacht hatte. Erstmals wollten die Amerikaner eine ausgebrannte Raketenstufe gezielt auf dem Mond abstürzen lassen und dabei große Mengen Eis und Staub in die Höhe schleudern. Doch als das Ungetüm schließlich einschlug, war auf den Live-Bildern nichts zu sehen. Überhaupt nichts. Die Forscher des kleinen NasaAblegers im Silicon Valley, der für die Mission verantwortlich war, störte all das nicht. In der anschließenden Pressekonferenz sprachen sie von einem „perfekten Flug“, von „sehr interessanten Ergebnissen“, von einem „wahrlich historischen Tag für die Nasa“. Nicht nur die Journalisten, die das Treiben vor Ort und übers Internet verfolgten, schüttelten die Köpfe. Das war im Oktober 2009. Geändert hat sich seitdem wenig. Nach wie vor zeigt die Episode, woran die Pressearbeit der amerikanischen Raumfahrtbehörde krankt: an überzogenen Erwartungen, strukturellen Schwächen und einem allzu großen Hang zur Selbstdarstellung. Vier – meist hausgemachte – Probleme machen der Nasa dabei besonders zu schaffen: Die Struktur: Eine Pressearbeit „der Nasa“ gibt es nicht. Die Raumfahrtagentur ist ein äußerst heterogener Haufen. Da ist zum einen die Zentrale in Washington, sie agiert professionell und ist gut ausgestattet. Da sind aber auch mehr als ein Dutzend übers Land verteilte Forschungs- und Raumfahrtzentren. Dort wird die eigentliche Arbeit gemacht, und dort schwankt die Qualität der Pressestellen beträchtlich.

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WPK-Quarterly Überall gleich stark ausgeprägt ist allerdings das Konkurrenzdenken: Vor allem die kleineren Zentren drängen, wenn sie einmal einen vermeintlichen Durchbruch in der Forschung vermelden können, mit Nachdruck an die Öffentlichkeit. Das hat zur Folge, dass mittlerweile jedes größere „Science“Paper eines Nasa-Forschers Anlass für eine Presse- oder Telefonkonferenz irgendeiner Nasa-Einrichtung ist. Fast schon reflexartig schließen viele Journalisten daraus, dass das Thema wichtig sein muss. Die Menschen: Mehr als 23.000 Männer und Frauen stehen derzeit in Diensten der amerikanischen Raumfahrtagentur, viele weitere arbeiten mit ihr zusammen. Sie forschen, halten Vorträge, reden mit der Presse. Manche drängen sich dabei bewusst in den Vordergrund, andere drücken sich unpräzise aus oder sind einfach unerfahren im Umgang mit Journalisten. In den Medien werden aus solchen individuellen Äußerungen gerne Positionen „der Nasa“ – besonders, wenn sie Sensationen versprechen. Entsprechend groß ist anschließend die Aufregung. Das war so, als der Harvard-Astronom Dimitar Sasselov vergangenen Juli auf einer Konferenz davon sprach, das Nasa-Teleskop „Kepler“ habe bereits „mehr als 100 erdähnliche Planeten“ in fernen Sonnensystemen entdeckt – ohne klar zu machen, dass es sich dabei nur um Planetenkandidaten handelte. Und das war so, als der NasaIngenieur Richard Hoover vor wenigen Wochen im „Journal of Cosmology“ über den (äußerst fragwürdigen) Fund außerirdischer Bakterien in Meteoriten spekulierte. In beiden Fällen konnte die Presseabteilung in der Nasa-Zentrale nur reagieren – und sie reagierte so, wie man es von einer großen Behörde erwartet: viel zu langsam, mit mehreren Tagen Verzögerung. Das Weltall: Von Raketenstarts und Späßchen auf der Internationalen Raumstation einmal abgesehen, spielen sich die wirklich interessanten Nasa-Aktivitäten in den Tiefen des Alls ab. Es gibt weder gute Bilder noch schnelle Ergebnisse. Journalisten wollen aber genau das. Die Nasa versucht, mit Animationen und knallbunten Zeichnungen dagegen zu halten. Die damit geschürten Erwartungen sind meist genau so groß

wie die Enttäuschung, wenn schließlich die echten Aufnahmen eintrudeln, verschwommen und schwarzweiß. Halbwegs wichtige Ereignisse, wie zuletzt die Ankunft der ersten Raumsonde am Merkur, verkauft die Nasa zudem gerne als Events – mit Moderatoren, Einspielern und Expertenrunden. Die Übertragungen bedienen letztlich den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und niemand ist wirklich zufrieden. Das Internet: Geradezu virtuos spielt die Nasa auf der Klaviatur der sozialen Medien. Knapp 50 Twitter-Accounts vermelden, was in den Zentren und auf den Missionen gerade vor sich geht. Zwei Dutzend Astronauten twittern drauf los, teilweise sogar direkt aus dem All. Hinzu kommen 40 Facebook-Seiten und 20 Kanäle bei Youtube. Rund um die Uhr überträgt zudem Nasa-TV bewegte Bilder aus der Raumfahrtagentur – zu empfangen über Satellit und übers Internet. Die Öffentlichkeitsarbeit hat sich dadurch grundlegend verändert. Längst sind Medienvertreter – wie auch bei allen anderen Raumfahrtagenturen – nur noch ein kleiner Teil der Zielgruppe: Twitterer werden zu Shuttle-Starts eingeladen, Besucher der Website dürfen hinter die Kulissen der Agentur blicken. Ganz bewusst versucht die Nasa-PR, mithilfe des Internets den einstigen Flaschenhals des Journalismus zu umgehen – wer will es ihr auch verdenken. Selbst die Einladungen zu Pressekonferenzen werden mittlerweile für jeden sichtbar über Twitter verbreitet. Dass einige Blogger die Ankündigungen (ganz besonders, wenn darin von einer „astrobiologischen Entdeckung“ und von „außerirdischem Leben“ die Rede ist) falsch verstehen könnten und so den Nasa-Themen unverdiente Aufmerksamkeit verschaffen, nimmt die Agentur dabei offenbar gerne in Kauf. ]

Alexander Stirn ist freier Wissenschaftsjournalist in München.


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WPK-Quarterly

Eine Wikipedia der Debatten Argumentationskarten können beim Diskutieren im Netz helfen unterstützt von neuen journalistischen Formaten. Das Themengebiet: partizipatorische Technik- und Politikfolgenabschätzung Von Ralf Grötker Wie bereitet man Tintenfisch im Schnellkochtopf zu? Was ist zu tun, wenn der an den neuen Computer angeschlossene Drucker nur noch Murks wie „?¤€8?÷¿“ ausgibt? Via Google wird sich sicherlich in einem OnlineForum Rat finden. Aber was ist mit anderen Fragen, etwa: Wie gefährlich ist die Konzentration von Bisphenol-A in Babysaugern? Was weiß man wirklich darüber, wann Vulkanasche für Flugzeugtriebwerke gefährlich wird? Haben Spekulanten auf dem Finanzmarkt die Währungskrise in der EU tatsächlich mit angeheizt, oder waren sie bloß Überbringer schlechter Nachrichten? Die ehrliche Antwort auf viele solcher Fragen lautet: Wir wissen es nicht. Und nicht wissen, das heißt oft: Vorhandene Informationen können nicht genutzt werden, weil sie nicht ausreichend gebündelt sind. Selbst Experten haben zuweilen Mühe, auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Umso mehr gilt dies für die breite Öffentlichkeit. Bislang haben Internet-gestützte Kommunikationsformate wenig geleistet, um diese Situation zu verbessern. Wer erst 20 und mehr Seiten Kommentare lesen muss, um sich einen Überblick zu verschaffen, der verzichtet oft darauf, sich an einer Debatte zu beteiligen – oder schreibt, was ihm in den Sinn kommt, ohne Rücksicht darauf, ob dies vielleicht schon Thema war. Dem entsprechend gering ist meist der Informationswert solcher Kommentarlisten. Empirische Studien zum Niveau der Diskursqualität im Internet dokumentieren weitere Fehlfunktionen. „Gut organisierte und größere Akteure“ dominieren „gegenüber informellen und eher ressourcenschwachen Akteuren“, hält das vom WZB im Auftrag des Bundestages 2004 erstellte Gutachten „Die Besonderheiten netzbasierter politischer Kommunikation am Beispiel des Genfood-Diskurses“ fest. Ein britischer Politikberater und ein australischer Ex-Minister sind seit einigen Jahren damit beschäftigt, ein neu-

es Verfahren internet-basierter Kommunikation zu entwickeln, welches die Lage verbessern soll: die nichtkommerzielle Online-Debatten-Plattform „Debategraph“.

Debategraph macht Debatten übersichtlich. Bei der Partizipation hapert es aber Debategraph visualisiert Streitthemen mit Hilfe von Argumentations-Karten. Die von den Teilnehmern der Plattform angefertigten Karten verschaffen Klarheit darüber, welche Argumente bereits in die Diskussion eingebracht und wie ausführlich diese besprochen wurden. So werden Informationen gebündelt. Außerdem vermeidet diese Darstellung, dass eine Diskussion durch die einseitige Betonung einer bestimmten Position Schlagseite bekommt. Da die Karten angelegt sind wie ein sich immer weiter verzweigender Baum, bleiben die großen Linien auch dann sichtbar, wenn einige Argumentationsstränge stärker ausgearbeitet sind. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass Gruppen von bis zu einigen hundert Teilnehmern in der Lage sind, gemeinsam über ein Argumentations-Visualisierungs-Programm, wie Debategraph es anbietet, zu kommunizieren. Dabei haben die Gruppen Arbeitsaufgaben effizienter bewältigen können als mit Hilfe von Wikis oder Foren. Auf den Seiten des Debategraph finden sich mittlerweile viele Dutzend von Argumentations- beziehungsweise Debattenkarten zu Themen wie künstliche Intelligenz und Klimawandel, zu kommunalen Neubauplänen im australischen Stirling City, zur Zukunft der Institution Ehe und darüber, wie man auf Kinderfragen zu Weihnachtsmann und Christkind antwortet. So weit, so gut. Nur mit der

erstrebten Partizipation hapert es bislang: Die meisten der Debatten-Karten sind von einer kleinen Gruppe immer derselben Autoren angelegt worden. Im Spätsommer 2009 besuchte der Verfasser dieses Beitrags den Debategraph-Mitbegründer David Price in Bristol, um mit ihm für einen Beitrag in dem Wirtschaftsmagazin brand eins ein Interview zu führen. Während des Gespräches kam die Idee auf: Wie wäre es, wenn man Debategraph mit journalistischer und moderativer Begleitung auf die Sprünge helfen würde? Von dem Traum einer ‚Wikipedia der Debatten‘ würde sich ein solches Vorhaben wegen des damit verbundenen redaktionellen Aufwandes zwar wieder entfernen. Dafür aber bestünde die Chance, die neuen Techniken der kollaborativen Debatten-Visualisierung endlich einmal einem größeren Kreis von Nutzern zugänglich zu machen. Mittlerweile hat diese Idee Form angenommen: mit der von einigen Mitgliedern des Journalistenbüros „Schnittstelle“ gegründeten Internetseite FuerundWider.org. FürundWider bettet Argumentationskarten, die mit Debate-graph und ähnlichen SoftwareSystemen erzeugt werden, in eine thematisch gestaltete Webseite ein. Kommentare, Meinungsbeiträge und Zwischen-Bilanzierungen ergänzen die auf der Seite dargestellen Argumentationskarten. Ein Moderator hat die Aufgabe, Teilnehmer gezielt auf bestimmte Fragen anzusprechen und eingehende Beiträge in die Argumentationskarte einzubauen. Ein Rechercheur ist damit beschäftigt, über die von den Teilnehmern eingereichten Beiträge hinaus Evidenzen zusammen zu tragen, welche Argumente in der Debatte stützen oder widerlegen. Thematisch konzentriert sich FürundWider auf aktuelle gesellschaftliche Fragen, zu deren Beantwortung ein wissenschaftlicher Hintergrund hilfreich ist. Im vergangenen November startete ein erster Pilot. Das Thema: „Synthetische


I / 2011 Biologie“ (www.synbio.fuerundwider.org). Das Projekt wurde von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech als Debattenpate finanziell unterstützt. Ein weiteres Projekt, welches seit diesem März läuft, befasst sich mit der Diskussion um eine gesetzliche Neuregelung von Sterbehilfe und ärztlich assistiertem Suizid in Deutschland (www.sterbehilfe.fuerundwider.org). Debattenpate ist die Heinrich Böll Stiftung. Redaktionell ist das Projekt dennoch unabhängig. Eine Jury bestehend aus der Philosophin Petra Gehring (TU Darmstadt), dem Gesundheitssoziologen Stefan Dreßke (Univ. Kassel), dem Palliativmediziner Christof Müller-Busch (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V.), dem Verfassungsrechtler Ulf Kämpfer (Richter am Amtsgericht Kiel), dem Strafrechtler Henning Rosenau (Univ. Augsburg) sowie Walter Schaffartzik, Ärztlicher Leiter des Unfallkrankenhaus Berlin, bürgt für die ausgewogene Darstellung der verschiedenen Standpunkte. Als hilfreich erweist es sich, dass das Thema Sterbehilfe in Deutschland gerade wieder hochaktuell ist. Auch gibt es im Parlament Überlegungen, die 2009 durch den Bundestag verabschiedete Gesetzesregelung zu den Patientenverfügungen durch eine Klarstellung im Strafgesetzbuch noch einmal zu bestärken. Aus diesem Grund veranstaltete auch die Heinrich-BöllStiftung gemeinsam mit der Humanistischen Union am 14. April in Berlin eine Tagung mit dem Titel „Die Freiheit zu sterben“. Ergebnisse der Diskussi-

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WPK-Quarterly on auf FürundWider wurden auf der Tagung präsentiert und werden auch in dem geplanten Dokumentionsband veröffentlicht. Vor dem Start des Projekts hat die Redaktion von FürundWider die in den letzten Jahren veröffentlichten Berichte und Stellungnahmen zum Thema Sterbehilfe zusammengetragen. Auf der Grundlage dieses Materials wurden die hauptsächlichen Kontroversen bereits in Form von Argumentationskarten dargestellt. Dazu zählten zum Beispiel die immer wieder diskutierte Frage, inwiefern die aktuelle Situation tatsächlich Rechtsunsicherheiten vor allem für Mediziner birgt oder die Bedenken hinsichtlich eines „Dammbruches“ , der als Folge einer liberaleren Praxis befürchtet wird. In einem zweiten Schritt ist FürundWider an Strafrechtler, Mediziner, Ethiker, Gesundheitsforscher und Vertreter von Bürgerrechts- und Hospizvereinigungen herangetreten und hat diese gebeten, strittige Punkte herauszuarbeiten. Geben die Ergebnisse von empirischen Studien aus den Niederlanden, wo die aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt ist, Anlass, die Gefahr eines Dammbruches zu relativieren? Wie soll Sterbehilfe für solche Personengruppen geregelt werden, die nicht mehr entscheidungsfähig sind: Wachkomapatienten, Demente, Behinderte oder Kinder? Wie kann beurteilt werden, ob eine Patientenverfügung wirklich den Willen des Patienten wiedergibt? Und: Würden mehr Gesetze helfen, die oftmals empfundene Rechtsunsicherheit zu reduzieren – oder würden Ärzte

und Pfleger, aber auch Patienten, nicht noch mehr verunsichert? Die Antworten auf diese Fragen und auf andere Fragen sind in der Argumentationskarte dokumentiert. Das Rollenmodell, an welchem sich Synbio.FürundWider orientiert, ist weniger das eines Internet-Forums, sondern vielmehr das eines organisierten Stakeholder Dialoges. Ein gutes Beispiel dafür ist die in den 90er Jahren vom WZB organisierte partizipative Technikfolgenabschätzung zu gentechnisch auf Schädlingsresistenz hin optimierten Nutzpflanzen. Auch damals kamen übrigens Argumentationskarten zum Einsatz – wenn auch nur auf dem Papier. Online-Verfahren haben den Vorteil, dass solche Karten von einem relativ großen und vor allem offenen Kreis von Interessierten gemeinsam erstellt und bearbeitet werden können, ohne dass zu diesem Zweck kostspielige und für alle Beteiligten aufwändige Konferenzen einberufen werden müssen. Die bisherigen Erfahrungen mit unserem Projekt stimmen uns zuversichtlich, dass diese Rechnung aufgehen wird. ]

Dr. Ralf Grötker ist freier Wissenschaftsjournalist u.a. für brand eins und Technology Review.

© David Ausserhofer

Online-Stammtisch für Forscher Ob es nun das Phasendiagramm für interagierende Bosonen oder der Pilzkörper des DrosophilaGehirns ist – Wissenschaftler arbeiten immer spezialisierter, so dass oft nur eine Handvoll Gleichgesinnter existiert, die Laborprobleme nachvollziehen oder gar Lösungsvorschläge machen könnten. Das Online-Netzwerk ResearchGate, das Ende letzten Jahres sein Hauptquartier von Boston nach Berlin verlegte, bringt über die Welt verstreute Forscher und Experten zusammen – und kann deshalb eine interessante Recherchequelle für Wissenschaftsjournalisten sein. Ein Gespräch mit dem Gründer und Geschäftsführer Ijad Madisch (30). Was war der Anlass für die Gründung von ResearchGate? Ich habe in Boston mit einem Stipendium am Massachusetts General Hospital (bzw. der Harvard Medical School)

ein paar Jahre in der Radiologie geforscht. Ende 2007 ergaben sich einige Fragen und ich konnte niemanden finden, der mir hätte helfen können. Ich diskutierte dieses Problem mit meinem

Forscherkollegen Sören Hofmayer, der zu diesem Zeitpunkt in Hannover war. Dabei sind wir auf die Idee gekommen, Forschern und Wissenschaftlern eine Internet-Plattform zu bieten, auf der sie


I / 2011 sich besser vernetzen und Ideen oder Probleme mit Kollegen weltweit diskutieren können. So war die Idee von ResearchGate geboren.

Facebook, MySpace, StudiVZ - warum denn noch ein SocialMedia-Network? Was ist bei ResearchGate anders? ResearchGate ist kein weiteres generisches soziales Netzwerk, sondern auf die Bedürfnisse von Forschern zugeschnitten. Forschungsrelevante Inhalte werden mit interaktiven Elementen kombiniert. Beispielsweise in Form des integrierten Publikationsindexes, der das Selbst-Archivieren für die Autoren wesentlich erleichtert, aber auch ganz neue Möglichkeiten bietet, interessante und relevante Literatur zu entdecken. Darüber hinaus bietet die Plattform Unterstützung, damit Gruppen gemeinsam an Dokumenten arbeiten oder kleine Projekte besser organisieren können.

WPK-Quarterly Wie werden unsachliche Kommentare und endlose und unübersichtliche Diskussionen mit immer gleichen Argumenten auf ResearchGate verhindert? Das wird kontrolliert und verhindert durch die Community selbst. Wir geben der Community Tools, um sich selbst zu regulieren. Natürlich haben wir auch gewisse automatische Möglichkeiten, um Spam zu verhindern, aber die Grundidee ist, dass die Community das selber in die Hand nimmt.

Wie können Wissenschaftsjournalisten von ResearchGate profitieren? Unsere Kernzielgruppe sind natürlich aktive Forscher und Wissenschaftler; perspektivisch soll die Plattform aber natürlich auch alle anderen wesentlichen Akteure der „Scientific Community“ einbinden – und dazu gehören natürlich auch Wissenschaftsjournalisten. Insofern können auch Wissenschaftsjournalisten Mitglied bei ResearchGate werden, aber besondere Funktionalitäten für Journalisten bietet unsere Plattform nicht an.

sphäre und der Datenschutz – hier hat natürlich jeder Nutzer die Möglichkeit, selber zu bestimmen, wer welche Daten einsehen kann und wer nicht.

Verdient ResearchGate bereits Geld? Derzeit finanzieren wir unsere Tätigkeiten vor allem durch RisikokapitalInvestoren wie Benchmark Capital, die sich auch an Twitter und eBay beteiligt haben, und Accel Partners, die als eine der ersten in Facebook investierten. Einige erste Umsatzquellen haben wir bereits erschlossen, beispielsweise Stellenanzeigen. Und wir bieten Forschungsorganisationen oder Firmen nicht-öffentliche ResearchGate-Netzwerke an, mit denen Forschergruppen intern kommunizieren können. Wichtig ist uns dabei aber immer, dass diese Einnahmequellen nicht im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Nutzer stehen.

Was ist der Mehrwert der geschlossenen ResearchGate-Netzwerke, die zum Beispiel die Max-Planck-Gesellschaft nutzt und bezahlt?

Wissen ist das Kapital von Forschern. Warum sollten Wissenschaftler also mit anderen, potentiell konkurrierenden Forschern Wissen austauschen? Das ist schon richtig, wir Forscher sind eher skeptisch und sehr vorsichtig, was das Teilen von sensiblen Informationen angeht. Aber ich kann – wie viele meiner Forscherkollegen – genauso eindeutig sagen, dass effiziente und erfolgreiche Forschung nur mit Hilfe anderer Forscher möglich ist. Forscher haben eigentlich schon immer „genetzwerkt“. Wer sonst soll zum Beispiel meine Bioinformatikanalyse machen? Wir als Forscher können de facto nicht jede erdenkliche Technik beherrschen. Wir brauchen andere Forscher, die uns helfen, was wiederum durch ein soziales Netzwerk abgebildet und erleichtert werden kann.

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Das von Ijad Madisch gegründete ResearchGate nutzen bislang 900.000 Wissenschaftler.

Wer nutzt ResearchGate? Inzwischen haben wir über 900.000 Benutzer, vor allem aus den Biowissenschaften, Medizin und Computer Science, gefolgt von Chemie und Physik. In erster Linie sind das aktive Forscher und Wissenschaftler (PhD-Studenten und Postdocs) sowohl aus dem akademischen Umfeld, als auch aus „Corporate Research“. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 30 Jahren. Bislang sind es vor allem Amerikaner, Deutsche und Briten, die ResearchGate nutzen, aber auch immer mehr Inder und Chinesen stoßen dazu.

Wie geht ResearchGate mit Anonymität bzw. Internetidentität um? Wenn jemand auf ResearchGate einen seriösen Beitrag leisten will, dann wird von der Community schon erwartet, dass diese Person ihre Identität preisgibt. Insbesondere wenn die bisherigen Forschungen und Veröffentlichungen die eigene Reputation und Glaubwürdigkeit stärken, macht es natürlich auch Sinn. Ein anderes Thema ist die Privat-

Ein integriertes oder an ResearchGate angeschlossenes „privates“ Netzwerk bietet den Vorteil, dass institutsinterne Daten nur den berechtigten Nutzern zur Verfügung gestellt werden, jeder Nutzer aber gleichzeitig die Möglichkeit hat, sich über die eigene Institution hinaus auch mit anderen Kollegen weltweit zu vernetzen. ]

Mit Ijad Madisch sprach Sascha Karberg

www.researchgate.net

Sascha Karberg ist freier Wissenschaftsjournalist und lebt in Berlin.


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Der Fall Martens Der WDR scheiterte in erster Instanz mit der fristlosen Kündigung von Klaus Martens, der den im Herbst ausgestrahlten Film „Heilung unerwünscht“ drehte. In dem Film, den das WPK-Quarterly in seiner Frühjahrsausgabe 2010 als „modernes Volksmärchen“ bezeichnete und jeder Szene auf den Grund ging (www.wpk.org/quarterly/index.php), wird die Geschichte einer rosa Salbe erzählt, deren Markteinführung von Pharmafirmen angeblich verhindert wurde, obwohl sie sich als wirksam erwies gegen die Volkskrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte. Der Sender legte Berufung gegen das Urteil ein. Von Markus Lehmkuhl Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Den Autoren einer Dokumentation, der dem Sender viel Ärger einbrachte und an seiner Reputation kratzte, Klaus Martens, wird der öffentlich-rechtliche Riese nicht so einfach los. Der Autor klagte erfolgreich gegen die am 19.05.2010 durch den WDR ausgesprochene außerordentliche fristlose Kündigung seines Arbeitsvertrages vor dem Arbeitsgericht Köln. Der Film erzählt die Geschichte einer rosa Salbe, die von einem Medizinstudenten aus dem Vitamin B 12 und Avocadoöl gerührt wurde, um damit seine damalige Freundin zu behandeln. Sie erwies sich als wirksam, heißt es. Der Film suggerierte: Pharmakonzerne wollen diese Salbe nicht, sie wollen keine Heilung von annähernd 6 Millionen Kranken. Die 6. Kammer des Arbeitsgerichtes Köln bewertete die vom WDR vorgebrachten Vorwürfe an Klaus Martens für nicht ausreichend, um eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Der Sender hatte seinem Autoren vorgeworfen, sich in die Marketing-Aktivitäten um die Einführung der Salbe Regividerm bzw. Mavena habe einbinden lassen. Dies ergebe sich aus dem email-Verkehr zwischen Martens und der Patentinhaberin der Salbe, der Remscheider Firma Regeneratio Pharma GmbH. Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass Martens bereits 2008 von der geplanten Markteinführung der Salbe Kenntnis hatte. Demnach wusste Martens also zum Zeitpunkt der Ausstrahlung des Filmes und auch bei seinem Auftritt in der Sendung „Hart aber Fair“, dass die Markteinführung unmittelbar bevorstand – und damit die Grundaussage seines Filmes nicht mehr zutraf. Darüber hinaus warf der WDR seinem Autoren vor, Aussagen nicht auf-

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WPK-Quarterly

genommen zu haben, die die Wirksamkeit der Salbe kritisch beurteilt hätten. O-Töne seien kurz vor den kritischen Äußerungen geschnitten worden. Außerdem nenne der Film keine Gründe für das Ausscheiden des Erfinders der Salbe, Karsten Klingelhöller, aus seiner damaligen Firma. Er werde vor allem als Opfer der Pharmaindustrie dargestellt. Darin sah das Gericht ebenfalls keinen Grund für eine fristlose Kündigung. Die sechste Kammer führte aus, dass die Mängel des Filmes nicht allein dem Autoren Klaus Martens zugerechnet werden könnten. Immerhin sei der Film vom vom Chef der Sendereihe „Die Story“ abgenommen worden, so dass die beklagten Mängel auf die Redaktion zurückverweisen, nicht nur auf den Autoren des Films. Gegen diesen Film wurden mehrere Programmbeschwerden eingereicht. Einer davon gab der Rundfunkrat am 19.05.2010, am selben Tag, an dem der WDR die fristlose Kündigung aussprach, mit großer Mehrheit statt. Zur Begründung hieß es, die Dokumentation verletze die Grundsätze der journalistischen Fairness. In dem Film werde eine schwierige medizinische Situation sehr vereinfacht und einseitig dargestellt. Es handelte sich seit dem Jahr 2003 um die erste von 14 Programmbeschwerden, der stattgegeben wurde. Dem ebenfalls erhobenen Vorwurf der Schleichwerbung wurde dagegen nicht stattgegeben. Diesen Vorwurf sah der Rundfunkrat nicht ausreichend belegt. Die Urteilsbegründung findet sich unter www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/ koeln/arbg_koeln/j2011/6_ Ca_4641_10urteil20110120.html. ]

Impressum Redaktion Markus Lehmkuhl (V.i.s.d.P.), Antje Findeklee, Volker Stollorz, Claudia Ruby, Nicole Heißmann und Christian Eßer

Autoren Markus Lehmkuhl, Lars Fischer, Nicole Heißmann, Alexander Stirn, Ralf Grötker und Sascha Karberg

Bildnachweis S. 14, R. Grötker © David Ausserhofer S. 1 und 5, © Jodi Switzer Blum

Layout, Design und Titelbild Katja Lösche, www.gestaltika.de

Adresse WPK-Quarterly Wissenschafts-Pressekonferenz e.V. Ahrstraße 45 D-53175 Bonn

Telefon & Fax Tel ++49 (0)228 - 95 79 840 Fax ++49 (0)228 - 95 79 841

E-Mail & Web wpk@wpk.org, www.wpk.org


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