curt Magazin München #88 // Ganz normal anders

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GANZ NORMAL ANDERS

curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 88 // KÄLTEZEIT 17/18

curt. STADTMAGAZIN MÜNCHEN # 88 // KÄLTEZEIT 2017/18


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Euer Thomas

Und ich hatte schon wieder lauter Fragen im Kopf …

Ich bin also zu dem Mann hin und fragte, wie ich helfen kann. Er suchte nach einer Straße, die ich zufällig sogar kannte und die wirklich versteckt lag. Ich beschrieb ihm den Weg und er bedankte sich. Ich wollte schon weiter, da meinte er: „Und danke, dass Sie kein Aufheben gemacht haben.“ „Kein Thema“, wollte ich ganz cool antworten, da fuhr er schon fort: „Als Frau mit Bart wird man ja doch immer etwas schief angeschaut und da tut es gut, wenn man auch mal normal behandelt wird. Danke nochmal und ciao.“ „Ja, äh, ciao“, sagte ich nur – und dann war sie schon verschwunden.

Ich wollte mir natürlich nichts anmerken lassen. Klar, man weiß ja nicht, woher so was kommt, eine Mutation vielleicht, eventuell tut das sogar weh. Vielleicht war er ja auch vom Film. Jedenfalls wären mir schon viele Fragen eingefallen, so ist es nicht. Wie es so beim Kleidungskauf ist, etwa. „Ich hätte gerne eineinhalb Paar Schuhe bitte“, wäre sicher ein Einstiegssatz, mit dem man das Leben eines Schuhverkäufers kurzfristig aus der Routine herausreißen könnte. Ob Skateboardfahren nicht viel mehr Spaß macht, wenn man sich mit zwei Beinen anschieben kann. Oder ob man beim Beineübereinanderschlagen aus Versehen mal einen Zopf flicht. Ich musste an meinen Kindergartenfreund Werner denken, den wir immer ausgelacht hatten, weil er einen eiförmigen Kopf hatte und so lustig Dialekt sprach. Wenn er dann das Weinen anfing und auf Bairisch geheult hat, haben wir uns immer weggeschmissen vor Lachen. Und weil das hochgradig gemein war und ich mich später immer für dieses Verhalten geschämt habe, war mir klar, dass ich niemals jemanden für sein Anderssein begaffe.

Als ich vor Kurzem in meiner Mittagspause einen Spaziergang machte, kam mir in einer kleinen Straße eine Person entgegen und winkte mich bereits von Weitem herbei. Es war ein Typ mit Schnauzbart, der einen fragenden und ratlosen Gesichtsausdruck hatte. Irgendwas kam mir an ihm komisch vor. Was es genau war, konnte ich auf den ersten Blick gar nicht sagen, aber als ich es beim Näherkommen dann bemerkte, musste ich fast lachen, dass ich es nicht sofort gesehen hatte. Der Mann hatte drei Beine. Und ich meine nicht irgendwie eine Art Behinderung oder als Metapher für einen langen Penis – Dreibein nennt man doch Leute, die zum Beispiel in der Dusche der Sauna ihr Handtuch lösen und jeden durchschnittlich gebauten Mann mit ihrem Organ zu Tode erschrecken. Nein, der Typ hatte einfach drei Beine, mit denen er auf dem Gehweg stand.

VORWORT


# 88 GANZ NORMAL ANDERS

COVERMOTIV: Foto: Lara Freiburger ► lara-freiburger.squarespace.com Titelstory der Ausgabe „Drag is about fun“ von David Eisert

06 Z ufallsgenerator Zurück auf Start – was würdest du anders machen? 08 Drag is about fun! Im Gespräch: Dean DeVille 18 Er, ich und die anderen Fünf subjektive Wahrheiten einer offenen Beziehung 22 Jenseits der Pole Aufbruch in die Post-GenderGesellschaft 28 Unicorns in Tech Netzwerkelnde Einhörner in München 30 Anders wohnen in München 36 Porträt: Das Münchner Start-up Sono Motors und ihr Elektroauto 42 Porträt: HEi 46 Alles Kaktus Zu Gast bei den Münchner Kakteenfreunden 52 #plussizediva – Ode an die Stockwurst mit Koch MaxLuitpold Waldhauser

56 64 68 70 72 74 78 80 84 86 88 94 96 98

I m Gespräch: Matthias Lilienthal DIY – Es geht auch anders Porträt: MUNICH WAREHOUSE Der weinbrandt rät Weinwirtshaus zum Schönfärber Spenden mal anders Die qBON Belegspende Präsentationen Im Gespräch: Bird Berlin Im Gespräch: Olli Nauerz Im Gespräch: Wanda Porträt: Bunte Kuh Festival Im Gespräch: Tommy Krappweis Fakten-Check Winter in München Impressum Hintenraus: K2r



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DER ZUFALLSGENERATOR

ZURÜCK AUF START WAS WÜRDEST DU ANDERS MACHEN? Cher, Aqua, R. Kelly und Co. singen seit jeher von einem Herzenswunsch, den sie doch so gern erfüllt bekämen: Die Time wollen sie backturnen und dabei so vieles anders machen. Hach, könnten sie bloß! Es hätte nur besser kommen können mit ihnen. Aber mal echt: Was wäre wenn ...? Anstatt den eben genannten Perlen 3-Minuten-nochwas in schlimmsten Tonlagen zu lauschen, wollten wir das von echten Münchnern mit ein bisschen mehr Lebenserfahrung wissen.

TEXT UND FOTOS: CARLA SCHWEIZER


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ILSE Ich würde nicht zulassen, dass mein Mann mit 42 Jahren verstirbt.

MARTIN Ich hatte Glück im Leben, alles ist gut gelaufen. Ich würde nichts anders machen.

HENNIK Nichts! Ich bin absolut zufrieden damit, wie es bisher gelaufen ist.

PETER Ich würde einen anderen Beruf wählen. Als Buchdrucker kommt man heute nicht mehr weit!

ANDREAS Man muss mit der Zeit gehen und sich anpassen, daher würde ich heute sicherlich einiges anders machen. Grundsätzlich bin ich aber zufrieden.


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DRAG IS ABOUT FUN TEXT: DAVID EISERT FOTOSTRECKE: LARA FREIBUGER

Schrill, schräg, schwul, vielleicht noch frech, frivol und krawallig. Mit solchen Attributen sehen sich Travestiedarsteller oder Dragqueens häufig konfrontiert. Was gerne vergessen wird: Die hohe Kunst der schauspielerischen Verwandlung in ein anderes Geschlecht ist viele Jahre lang Teil des öffentlichrechtlichen Unterhaltungsprogramms im deutschen Fernsehen gewesen. Auch München hatte seine internationalen SzeneHotspots. In den wilden 70er- und 80er-Jahren mischte sich der ein oder andere Weltstar gerne unter die Feiernden im Old Mrs. Henderson. Das alles ist lange Geschichte. So wie das Glockenbachviertel schon lange nicht mehr die rosa Meile ist, befindet sich auch die Münchner Drag-Szene nur noch in einer kleinen Nische. Es kommt allerdings wieder Bewegung in die Sache und einige junge Männer stehen mit frischen Charakteren in den Startlöchern. Wir trafen uns mit DEAN DEVILLE und sprachen über schöne Dinge und die hohe Kunst, anders anders zu sein.


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Dean, kannst du kurz schildern, was in der Drag-Szene aktuell so los ist? Seit gut zwei Jahren erlebt die Szene in Deutschland einen gewissen Aufschwung. Verantwortlich dafür könnte das amerikanische TV-Format RuPaul’s Drag Race sein, welches seit zwei Jahren auch bei uns zu sehen ist. Das Konzept ist ähnlich dem der Next Top Model Shows. RuPaul gibt hier quasi die Heidi Klum der Dragqueens. Die Künstler müssen sich über mehrere Wochen in den Kategorien Singen, Tanzen, Parodie, Kostüme schneidern, Perücken gestalten beweisen und am Ende wird dann der neue Drag Superstar gekrönt. Für viele junge Schwule war das wohl ein Ansporn, sich wieder zu trauen und in diese Richtung auszuleben. Damit wird die trüb gewordene Subkultur merklich bunter. Wie lief dein Einstieg? Ursprünglich komme ich vom Tanz und Schauspiel. Mit 17 Jahren begann ich eine Schauspielausbildung. Um die zu finanzieren, habe ich in der Gastronomie gearbeitet. Ganz klassisch an der Bar im NY.Club in der Sonnenstraße. Eines schönen Abends hat Ken, der Clubbesitzer, jemanden gesucht, der ein bisschen freaky auf High Heels durch den Club läuft und Süßigkeiten verteilt. Er dachte dabei an die Club Kids aus New York. Zusammen mit dem Valentin, der auch heute noch mein Kollege im Drag-Bereich ist, haben wir dann als Candy Boys angefangen. Der Anfang war wenig modisch und auch in Sachen Make-up waren wir Anfänger. Wir zogen schwarze Klamotten an, hatten riesige Faschingswimpern angeklebt und sind mit einem Spiegeltablett voller Zuckerzeug durch den Club gewatschelt. Auf die ersten Anfragen folgten weitere. Am Ende hatten wir unseren festen Tag als Candy Boys im NY.Club. Was war für dich Ansporn, aus dem Candy Boy die eigenständige Figur Dean zu entwickeln? Egal ob Newcomer oder alter Hase, es ist wichtig, sich seine Neugier und den Spaß zu bewahren. Dein Horizont kann sich nur erweitern, wenn du es selber zulässt. Du musst Bock haben, auch gegen den Strom zu schwimmen, um nicht Gefahr zu laufen, im Einheitsbrei der Fishy Queens unterzugehen. Am Anfang habe ich zum Beispiel nur mit meinen echten Haaren gearbeitet. Das war für viele der Älteren aus der hiesigen Travestieszene ein richtiger Schlag vor den Kopf! ►


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Es war also zunächst nicht deine Absicht, eine Frau perfekt zu imitieren? Richtig. Ich hatte keine Perücke, habe nie einen BH getragen, hatte nie einen Rock an. Meine Definition der Dragqueen war und ist eine andere. Ich bezeichne das als Gender Blending, als das Verwischen von Geschlechterrollen. Und dafür ist mir bei meinen ersten Auftritten ein eisiger Wind ins Gesicht geweht. Ich habe massig negatives Feedback abbekommen. Der Tenor war, dass ich es ja gar nicht kann, eine Frau zu imitieren. Ist ja spannend, dass es in einer Szene, die gerne in Anspruch nimmt, anders und abgefahren zu sein, auch Konventionen gibt. Definitiv, da liegt der Hund begraben. Du sollst, musst vielleicht sogar immer in einen Rahmen passen, egal in welcher Randgruppe du dich befindest. Und wehe du bewegst dich außerhalb dieser Norm. So erlebte ich auch meine Anfänge als Drag. Akzeptanz und Respekt werden von außen erwartet, aber selber tut man sich schwer damit. Klassifizierung und Schubladendenken finden sich leider überall und das hat mich von Anfang an gelangweilt. Wie bist du damit umgegangen? Ich habe mir gedacht, okay, wenn ihr glaubt, ich kann das nicht, dann beweise ich euch das Gegenteil. Deshalb habe ich angefangen, ein klein wenig konventioneller und weiblicher zu werden. Ich habe angefangen, Lidstriche zu malen und mir weiblichere Lippen geschminkt. Damit wurde meine Neugier geweckt und ich wollte schauen, ob ich hier weiterkommen kann. Ich musste erst einmal anfangen, zu experimentieren und zu basteln. Mit Heißklebepistole, schwarzen Leggins, Füllwatte, Luftballons habe ich mir Kopfteile, Oberteile und komplette Kostüme gebaut. Als Autodidakt hab ich mich da irgendwie rein- und durchgekämpft. Was zeichnet die Figur Dean DeVille gegenwärtig aus? Drag is about fun! Spaß und Kreativität stehen an erster Stelle. Und bei Dean soll es keine Klassifizierungen oder Schuladen geben. Sich von Zwängen und Erwartungen zu befreien, darum geht es mir. Ich mache Drag und trage keinen Frauennamen! Dean war zeitweise sehr feminin und das war total okay. Aber jetzt geht es wieder in eine andere Richtung. Mein nächstes Outfit könnte so aussehen: ein s­chwarzes Kleid, keine Brüste oder ausgestopfter Po, ein sehr weibliches Gesicht und ich trage Glatze. Das ist die Edge, die ich brauche. ►


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Hast du neben der Show noch eine weitere Message? Ja, die Welt ist bunt. Im Endeffekt sind wir alle wunderbar, so wie wir sind. Wir können aber nur etwas Besonderes sein, wenn wir uns in unserer Einzigartigkeit akzeptieren und unterstützen. Und das möchte ich vermitteln und auch mit Dean dafür stehen. Die Leute sollen aufhören, sich gegenseitig schlecht zu machen und vor allem sich selber schlecht zu machen. Und man soll bei Travestie eines nicht vergessen: Es ist nur Lipgloss. Wir können alles wieder wegwaschen. Wir können jedes Mal, wenn wir rausgehen bei null anfangen. Wenn wir heute schlecht aussehen, weil wir uns schlecht geschminkt haben, dann ist das bumsegal. Wir können es morgen wieder besser machen. Und wie im Theater so ist es auch bei uns als Mensch privat. Heute ist vielleicht ein schlechter Tag, aber morgen kommt eine neue Chance. Das ist auch Thema meiner Figur. In welche Richtung hast du dein Programm entwickelt? Du machst heute ja mehr, als nur Lollis zu verteilen. Die Showszene hat sich aus München verabschiedet. Gemeinsam mit drei anderen Kollegen arbeiten wir aber daran, der Idee der Show wieder zu mehr Popularität zu verhelfen. Zu viert können wir einen bunten Mix an Unterhaltung anbieten. Einer kann super Stand-up, der nächste macht ein wenig Lip Sync, der nächste konzentriert sich aufs Tanzen. Wir arbeiten daran, ein stimmiges Bühnenprogramm zu gestalten. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Momentan kannst du so etwas nur im Roy bei Mutti & Winnies Frühjahrs- und Weihnachtsshow erleben. Die machen das schon seit über 20 Jahren. Haben andere Städte in diesem Bereich mehr zu bieten? So wie sich unsere schöne Stadt ständig verändert, verändert sich auch die Szene. Im Moment leider in Richtung „immer weniger“. Viele der kleinen Bars, Bühnen und Cabaret-Theater haben geschlossen. Die legendären Sommerfeste von Andy’s Krablergarten mit dem Showprogramm sind Geschichte. In Berlin, Köln oder Hamburg ist die Szene zwar noch größer und wird auch über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen. Aber auch dort hat sich der Markt eher spezialisiert. Die Künstler suchen sich ihre Schwerpunkte. Entweder als DJ oder sie machen nur Lip Sync oder nur Tanz. Dieses ganz große Showthema, das findet man dort auch nicht. Mit ein wenig Stolz darf ich sagen, als Tracy Dash & Dean DeVille haben wir es als Münchner geschafft, auch deutschlandweit wahrgenommen zu werden. ►


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Tretet ihr hauptsächlich vor einem schwulen Publikum auf? Ja, sowohl solo oder als Tracy Dash & Dean DeVille werden wir hauptsächlich für schwul-lesbische Veranstaltungen gebucht. Auftritte vor einem hauptsächlich Hetero-Publikum sind sehr selten. Wobei euer Ziel schon ist, ein breites Publikum anzusprechen? Es wäre wünschenswert, wenn dieses Thema irgendwann ein Publikum abseits jeder Sexualität anspricht. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der aktuelle Rahmen in den Clubs der richtige Kontext dafür ist. Wenn man nicht in der Szene ist, dann wird es schwer sein, das alles richtig zu verstehen. Die Frage ist, ob die szenefremden Zuschauer am Ende etwas anderes mitnehmen außer dem Bild, dass da vorne eine Schwuchtel als Frau verkleidet steht und auf wichtig macht. Für ein breites Publikum braucht es ein nachvollziehbares Show- und Cabaret-Konzept. Was können Männer von Frauen lernen? Wahrscheinlich vieles. Ich bin ja trotz allem keine Frau und möchte auch keine sein. Was ich bei vielen Männern vermisse – egal welcher Sexualität –, ist die Entwicklung einer ästhetischen Wahrnehmung. Männer haben ein Problem damit, Dinge schön zu finden. In der Männlichkeit auch weich zu werden, das trauen sich viele Männer nicht. Heute muss jeder den Macho raushängen, egal welcher Sexualität man folgt. Auch mal ein wenig nachgeben zu können, Stärke zu haben und gleichzeitig fragil und weich sein zu dürfen, das gelingt Männern kaum. Wie nimmst du die Veränderung im Glockenbachviertel wahr? Es hat sich prinzipiell viel verändert und das Glockenbachviertel ist sicher nicht mehr das Schwulenviertel. Das Viertel verliert sich selber. Das Internet hat dazu auch seinen Teil beigetragen. Früher ging man in Bars, um Leute kennenzulernen. Heute machst du Dates über eine App aus. Aber ihr selber habt das in der Hand. Oft höre ich, München sei langweilig, in München passiere nix, alles sei doof. Allen Nörglern möchte ich sagen: Die Langeweile kommt ja aus euch heraus. Fangt an, etwas zu verändern, und bringt den Stein ins Rollen. Nur dann wird es anders. ▪


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Er, ich und die anderen FÃœNF SUBJEKTIVE WAHRHEITEN EINER OFFENEN BEZIEHUNG


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Ich habe ihn immer gehasst, weil er so verlässlich kam wie die jährliche Wiesngrippe. Dieser Gedanke, der mir nach rund zwei Jahren In-festenHänden-Sein schon x-Mal durch den Kopf gehuscht ist: Ich würde so gerne mal wieder einen anderen Mann küssen, anfassen und – ja verdammt! – vögeln. Selbst wenn ich über beide Ohren verliebt und echt glücklicher Teil eines Paares war (und aktuell bin). Die Alternativen? Nicht diskutabel. Polygame Beziehungsmodelle fand ich immer fremd. Irgendwie falsch. Diffus pervers. Wie soll das bitte emotional klappen? Geht einer von beiden nicht zwangsläufig irgendwann an Eifersucht zugrunde? Wahrscheinlich würde ich das heute noch denken, wenn ich letztens nicht einem Real-life-Polyamouristen begegnet wäre – einem sympathischen, klugen und feinfühligen Mann, weder beziehungsunfähig noch sonst irgendwie seltsam. Unsere Gespräche über Männer, Frauen und Treue stießen irgendwo in meinem Kopf eine Tür auf, von der ich nicht mal wusste, dass es sie gibt. Mein Freund spürte das nicht nur, er stellte auch die entscheidende Frage: „Willst du es ausprobieren?“

TEXT: EINE CURT-REDAKTEURIN, DIE ANONYM BLEIBEN MÖCHTE ILLUS: TOBI HAMMERBACHER

Unsere Regeln waren schnell formuliert. Die wichtigsten lauten bis heute: Wir fangen nichts mit gemeinsamen Freunden/Bekannten oder Exfreund(inn)en an, unsere gemeinsame Wohnung ist tabu, wir haben beide ein Veto-Recht. Wir sagen Bescheid, wenn wir ein Date haben – mehr Details werden nur erzählt, wenn der oder die andere nachfragt. Außerdem machen wir ab und zu Inventur, fragen uns: Hat einer von uns Fluchttendenzen? Ist unsere Beziehung nach wie vor das Wichtigste in dem ganzen Kunterbunt? Sind wir glücklich? LEKTION 1: Ohne bombenfeste Vertrauensbasis und gemeinsames Herantasten funktioniert es nicht. Sonst kommt irgendwann die Angst – vor dem Vergleich und vor dem Ausrangiertwerden. Am Anfang fühlt es sich megaschräg an, doch nach den ersten paar Dates groovt es sich ein. Ich werde selbstsicherer und entspannter, lerne langsam, es zu genießen. Überhaupt ist die Lernkurve ziemlich steil in den ersten paar Monaten. Wir sind nicht komplett naiv in das ganze Poly-Experiment reingestartet, und doch merke ich auch heute noch immer wieder, wie vieles ich nicht bedacht habe. Zum Beispiel, dass die Männer, mit denen ich mich treffe, ein Recht auf Klarheit haben. Die traditionell monogam-sozialisierte Frau in mir denkt sich: Hä? Warum willst du wissen, wie oft ich mich mit anderen Typen treffe oder ob mein Freund gerade weiß, wo ich bin? Du bist ein Kerl! Kerle wollen Sex, Kerle freuen sich, wenn sie selbigen ohne Verpflichtungen und Commitment bekommen. Von wegen! ►


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LEKTION 2: Auch Männer Mitte dreißig, vor allem die, die schon ein Weilchen solo sind, haben wirklich Angst, verletzt zu werden. Die biologische Uhr tickt eben nicht nur bei den Damen – auch Kerle kommen in eine Nestbauphase. Wünschen sich eine feste Beziehung, Sicherheit, Bestätigung, Planbarkeit. Versteh ich gut. Aber hab ich ja schon. Was ich mir wünsche, sind Wellenlänge, Firlefanz und guter Sex. LEKTION 3: Nicht-monogame Arrangements zwischen zwei Menschen, die sich lieben, katapultieren einen nicht automatisch ins soziale Aus. Die Freunde einweihen oder nicht, das ist auch so eine Grundsatz­ entscheidung. München ist immerhin ein Dorf. Mein Holder wird z. B. immer mal wieder von Freunden auf Tinder gesichtet, was zu diesen verunsicherten „Sag mal, ist bei euch eigentlich alles in Ordnung?“Fragen führt. Ich erzähle es zwei guten Freundinnen, zwei wunderbare, aber recht unterschiedliche Frauen. Das Erstaunliche: Beide reagieren spontan mit „Find ich super, hab ich auch schon mal drüber nachgedacht“. Die dritte Frau, mit der ich darüber spreche, ist meine Mutter. Mich interessiert die Perspektive einer gestandenen Frau, die zwei Mal verheiratet war, zwei Kinder allein großgezogen und nebenbei noch Karriere gemacht hat. Sie seufzt und schaut mich traurig an. „Ach, schade“, meint sie. Wieso schade? „Dann trennt ihr euch ja bald.“ So ganz hat sie ihre etwas ablehnende Haltung zu unserer Entscheidung bis heute nicht abgelegt, aber, und dafür bin ich ihr echt dankbar: Sie versucht, mich zu verstehen. LEKTION 4: Frauen mit Status „offene Beziehung“ haben es sehr viel leichter als Männer in der gleichen Position. 99 Prozent aller Typen reagieren positiv auf mich und meine Gesinnung, online wie offline. Mein Freund dagegen muss seinen Beziehungsstatus elegant verschweigen,

um überhaupt ein Date zu kriegen. Die meisten Frauen vermuten, dass er mich betrügt, weil: Hey! Er ist schließlich ein Kerl und wie die meisten Kerle wahrscheinlich sexuell unersättlich und obendrein ein Arschloch. Das ist wohl die traurige Bilanz nach Jahrtausenden Patriarchat: Frauen, die (zurecht!) Angst davor haben, sexuell und emotional ausgenutzt zu werden. Eine völlig logische Reaktion auf die ganze sexistische Kackscheiße, der XY-Chromosomenträgerinnen nach wie vor ausgeliefert sind. In dem bunten Treiben lerne ich jemanden kennen, der eine Art Wingman für mich wird. Er ist fast zehn Jahre jünger, aber in vielen Dingen Lichtjahre weiter als ich. Er hatte ein paar längere Beziehungen, auch offene, ist sehr direkt und brutal ehrlich – zu sich selbst und zu mir. Das finde ich gleichermaßen unverschämt und inspirierend. Er nimmt und gibt vollkommen selbstverständlich, ist eine wunderbare Mischung aus frech und emphatisch. Und realistisch, was das Ganze sehr easy und


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entspannt macht. Wenn wir uns sehen, fliegen natürlich in erster Linie die Kissen, aber ich schätze auch unsere Gespräche über Gott und die Welt. Kein emotionaler Kater am nächsten Tag, einfach nur ein zufriedenes Grinsen in der Schnauze und ein „Schön war’s! Bis zum nächsten Mal“. Leider begehe ich beim zweiten Treffen mit ihm einen Riesenfehler: Ich döse nach einer wilden Nacht auf seiner Couch ein – ohne meinem Freund Bescheid zu sagen. Wir haben den ersten ernsthaften Zoff, seitdem wir zusammen sind. Als mir klar wird, was ich angerichtet habe, heule ich, habe unfassbare Angst, dass das unser Aus sein könnte. Da wird mir zum ersten Mal wirklich bewusst: Bei einem anderen Mann zu übernachten, ist viel intimer, als mit ihm in die Kiste zu hüpfen. Das bringt mich zu LEKTION 5: Intimität und Sex sind zwei unterschiedliche Größen. Das weiß ich erst, seitdem ich Sex mit einem, den ich liebe, und Sex mit anderen, die ich einfach nur heiß finde, direkt vergleichen kann. Wenn diese curt-Ausgabe erscheint, ist unser Experiment etwa ein Jahr alt. Sind wir heute anders als vor 12 Monaten? Ja! Und nein. Grundlegend verändert haben wir uns nicht, weder als Paar noch als Einzelpersonen. Aber unsere Wahrnehmung voneinander ist eine andere. Unsere Beziehung ist feinkörniger geworden, komplexer. Wir hinterfragen und reflektieren mehr, jeder für sich und auch gemeinsam. Liebe bedeutet für mich jetzt: der für zwei Menschen richtige Kompromiss zwischen Nähe und Sich-Raum-Geben. Dem anderen beim Wachsen den Rücken zu stärken. Scheißegal, ob es um berufliches, sportliches oder sexuelles Neuland geht. So paradox es auch klingt: Je länger unser Arrangement läuft, desto inniger und vertrauter fühlt sich unsere Beziehung an. Und vor allem ist uns klar geworden: Wir sind kugelsicher. ▪


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TEXT: REGINE HADER // FOTOS: CHRISTIAN VOGEL

JENSEITS DER

POLE AUFBRUCH IN DIE POST-GENDER-GESELLSCHAFT


Genderfragen und Transidentitäten sind mittlerweile auch außerhalb des Missy und Libertine Magazine präsent. Die Debatte über die Unterscheidung zwischen dem biologischen und sozialen Geschlecht – Sex und Gender – füttert so manche Kolumne großer deutscher Tageszeitungen. Dabei geht es fast immer um das Dazwischen als drittes Geschlecht. Als ich Julia (23) auf ihrem kleinen Sofa mitten in Schwabing gegenübersitze, stelle ich ihr die Frage: Wie lebt es sich eigentlich, wenn man auf Kategorisierungen komplett verzichtet? Im Sommer hat mir Julia erzählt, dass sie* über eine Transition nachdenkt. Bei unserem heutigen Treffen hat sie eine wichtige Entscheidung getroffen: Transition und Geschlechtsidentität sind erst mal beiseitegelegt. Rückwirkend unterteilt Julia ihre geschlechtliche Identitätsfindung in drei Phasen. Am Anfang steht die Kindergarten- und Grundschulzeit, in der sie das Thema „oft noch gar nicht so im Kopf hatte. Die Geschlechterfrage wird natürlich aktueller, wenn die Sexualität aufkommt“. Im Alter von elf Jahren begann die bewusste Auseinandersetzung mit den Erwartungen der Gesellschaft. In dieser zweiten Phase identifizierte Julia sich durchaus als „weiblich“ und bezeichnete ihre sexuelle Orientierung als „lesbisch“. Den Satz „Du wärst perfekt, wenn du ein Mann wärst“ hat sie damals mehr als einmal gehört. Die Gewissheit, dass „die, die ich mag, mich nicht mögen werden, zumindest nicht so“, wächst und lässt den Wunsch, dem Bild eines Mannes zu entsprechen, immer stärker werden. ►

* IN ABSPRACHE MIT JULIA WIRD IM GESAMTEN TEXT BEI ALLEN AUF SIE BEZOGENEN PERSONALPRONOMEN DIE WEIBLICHE FORM VERWENDET, SOLANGE ES IN DER DEUTSCHEN GRAMMATIK NOCH KEINE PRONOMEN FÜR NON-BINÄRE MENSCHEN GIBT.

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WIE POLITISCH IST NON-BINÄR? Heute verortet Julia sich in der dritten Phase. Sie betrachtet das Thema „auf einer viel abstrakteren Ebene und kann hinter die Bilder der Geschlechter schauen“. An ihrer Sprache wird deutlich, dass es ihr nicht nur um ihre persönliche Situation geht. Immer wieder sprechen wir über Verbindungen zwischen Kapitalismus, Geschlechternormen und der Anerkennung von Beziehungsmodellen; über Feminismus und die Konstruktion und Unterdrückung von Weiblichkeit in verschiedenen Gesellschaften. Bei ihr gehen feministische Theorie und biografische Erfahrung Hand in Hand. Mal wieder kommt die Sprache auf Judith Butlers Theorie von „Doing Gender“, also von Geschlecht als Performance – ein Dauerbrenner in kritischen Artikeln über Geschlecht und Differenz. Julia ist Judith Butler, die zuletzt durch politisch problematische Äußerungen zum Nahostkonflikt in die Kritik geraten ist, jedoch nicht uneingeschränkt positiv gegenüber eingestellt. Sie räumt ihr einen großen Einfluss auf die aktuellen Gender Studies ein, findet Paula-Irene Villa aber viel zugänglicher. Die Gendertheoretikerin und Soziologin betont, dass die Anerkennung der sexuellen Identität durch andere grundlegend für die Selbstzuschreibung ist. Sie liest den Körper als Statussymbol und Inszenierung von Geschlechtsidentität. Neben diesen theoretischen Analysen beschäftigt sich meine Gesprächspartnerin aber auch mit persönlichen Erfahrungsberichten aus der queeren Szene. Sie ist sich also der gesellschaftlichen Funktion und Funktionalisierung von Geschlecht durchaus bewusst, wenn sie sagt: „Diese Binarität habe ich überwunden.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Für mich persönlich.“

Dieser letzte Zusatz stimmt mich ein wenig traurig. Denn obwohl Julia für sich selbst an einem versöhnlichen Punkt angekommen ist, macht mir dieser Satz klar, dass wir noch einen langen Weg in die Post-GenderGesellschaft vor uns haben. DIE MACHT DES SYSTEMS „Im falschen Körper geboren sein“, ist ein Narrativ, das ihre persönliche Erfahrung nicht beschreiben kann. Es inszeniert Unsicherheiten und uneindeutige Geschlechteridentitäten nicht als Produkt von gesellschaftlichem Druck, sondern schreibt sie den Folgen einer falschen körperlichen Ausprägung und damit letztlich wieder der einzelnen Person selbst zu. Julia respektiert Menschen, die sich mit einem Geschlecht identifizieren, hat bei Konzerten, Partys und Vorträgen mitgewirkt, um die Hormonbehandlung eines Freundes zu finanzieren. Sie selbst möchte dieses Identitätsangebot aber nicht annehmen. Sie will sich weder als weiblich oder männlich noch als dazwischen identifizieren. Non-binary ist ein Begriff, der verschiedenste Konzepte von Geschlechtsidentität umfasst: Allesamt passen sie jedoch nicht in das „Entweder-oder“, das konventioneller Männlichkeit und Weiblichkeit zugrunde liegt. Julia vertritt die Ansicht, dass Geschlecht keine zwingende fixe Kategorie des Denkens sein muss. Für ihre Identität soll Geschlecht nicht bestimmend sein, wodurch sie außerhalb der Transidentität liegt, die häufig als „dazwischen“ bezeichnet wird. Die ach so ironische Tania Witte witzelt in ihrem Artikel für die Zeit „Non-binary: Willkommen im Mainstream“


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AKZEPTIERE DICH! DIE WELT DER BEFEHLE übrigens fröhlich über den „Trend für die coolen Kids“, die gerne mal die „akademische Welle surfen“. Bedroht die Absage an die Macht der Geschlechter eure Identität oder habt ihr Angst vor dem Ende eurer gut geklickten Gender-Artikel? Das binäre System modelliert Männlichkeit und Weiblichkeit als diametrale Pole. Einmal etabliert, können diese leicht zu Idealen erhoben werden. Was abweicht, ist Mangel; was sich nicht einordnen lässt, ein Problem. Dieser Mechanismus wirkt nicht nur in den kurzen Phasen, in denen Julia wieder über eine Transition nachdenkt. Sie betrifft auch Menschen, die sich eindeutig als Männer oder Frauen bezeichnen. Warum sonst jubelt mir am S-Bahnhof Laim täglich eine Frau mit Waage in der Hand und Maßband um den Hals von einer Plakatwand zu? Die Grundlage dieser Rückfälle in den Zweifel ist doch immer die eigene körperliche, psychische oder intellektuelle Ausstattung, die scheinbar nicht richtig, nicht wünschenswert, nicht den Erwartungen entsprechend ist. Haben vielleicht deshalb nicht nur Befehle zur Selbstakzeptanz, sondern auch Selbstoptimierungsangebote aktuell Hochkonjunktur?

Der Zwang, mit sich selbst im Reinen zu sein, auch wenn der gesellschaftliche Druck auf einem lastet, ist noch problematischer als die Forderung, den Idealen zu entsprechen. Sie kehrt die Ursachenbeziehung um und deutet die gesellschaftliche Ablehnung als Folge eines gestörten Verhältnisses zu sich selbst. Tatsächlich aber verändert die Selbstwahrnehmung die gesellschaftliche Norm nicht. In Wahrheit funktioniert es andersherum: Die Ablehnung durch die Gesellschaft lässt ein problematisches Verhältnis zu sich selbst überhaupt erst entstehen. Bei meiner Recherche erfahre ich, dass eine vom Psychologen attestierte Krankheit namens „Geschlechtsidentitätsstörung“ Voraussetzung für eine Transition ist. Bei den aufwendigen Prozeduren und ihren Nebenwirkungen stellt sich die Frage, vor welcher Form von Leichtsinnigkeit die Krankenkassen an dieser Stelle Angst haben. Julia erzählt mir, wie ihr Elternhaus, das Kafe Marat und die „Kiste“ in Schwabing Orte darstellen, an denen die Identifikation mit dem Geschlecht für kurze Zeit ausgeknipst ist. Dort wird sie nicht von der Toilette – dieser Ikone der Genderdebatte – verwiesen. Ich würde mich freuen, wenn es mehr Orte dieser Art in München gäbe. Vielleicht würde dann auch weniger darüber gejammert werden, dass wir nicht in Berlin sind. ▪


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UNICORNS IN TECH NETZWERKELNDE EINHÖRNER IN MÜNCHEN


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OBACHT! Der Laie kann beim Anblick des Logos der internationalen Tech-Community schnell einen Bestimmungsfehler begehen. Die Abbildung zeigt kein Nashorn, sondern ein Individuum der Gattung Einhorn, dessen Horn sich nur viel weiter oben befindet als bei seinen Artgenossen. Dort sitzt es aber perfekt, schließlich geht es den TechEinhörnern vor allem auch um Toleranz und Vielfalt.

TEXT: HENRIKE HEGNER UND RONIT WOLF

DIE POPULATION DER TECH-EINHÖRNER IN MÜNCHEN Die Tech-Einhörner haben einen beeindruckenden Stammbaum. Gründungsvater ist nämlich der Unternehmer Stuart B. Cameron, der sich dafür einsetzt, dass Einhörner auf dem harten Pflaster der Wirtschaft nicht unter die Räder kommen. Er rief in Berlin das erste Zusammentreffen von technikaffinen LGBTI und straight allies zusammen, damit sich diese vernetzen können. LGBTI ist ein Kürzel für Lesbian Gay Bisexual Intersexed and Transgendered – die sogenannte queere Community – und straight allies meint heterosexuelle Personen, die sich dieser Gemeinschaft der Homo Sapiens emotional verbunden fühlen. Wer dann noch ein irgendwie geartetes Interesse an Technik und dem Austausch mit Gleichgesinnten hegt, der findet bei Unicorns in Tech seine perfekte ökonomische Nische – auch im Münchner Großstadtdschungel. Denn da organisieren André Eckert und Silvia Bormüller seit 2017 die Unicornsin-Tech-Abende. Ehrenamtlich. Das sieht so aus: Es gibt Vorträge zu Tech/Design-Themen, Speed Networking, also non-amoröses Speed Dating, Speed Pitches und gemeinsame Nahrungsaufnahme. Eine artenreiche Gruppe: Gut 2.500 Tech-Einhörner haben sich bisher formiert, vom Designer über den Programmierer und Gamer bis hin zum Sextoy-Unternehmer. BRAUCHT DAS EINHORN NOCH ARTENSCHUTZ? Bereits 2001 konnten Spitzenpolitiker sich outen. Müssen 2017 dann noch Ressourcen für so was aufgewandt werden? Ja. Unbedingt! Da sind sich beide Münchner Organisatoren einig. Natürlich wird auch das größte Dorf der Welt immer toleranter gegenüber buntem Leben. Trotzdem gibt es noch vielfältige Formen der Ausgrenzung und Verdrängung aus klassischen Lebensräumen wie dem Glockenbachviertel durch schnöselige Schokoladenläden. Fixe Institutionen wie die Unicorns-in-Tech-Events sichern somit das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Einhörner. TECH-EINHÖRNER FÖRDERN ARTENVIELFALT Letztendlich geht es darum, Menschen einen Raum zu schaffen, in dem jeder so frei sein kann, wie er ist. Was zählt? Wissen, Ideen, Kompetenzen und nicht, mit wem man Sex hat oder ob man Brüste hat oder, oder, oder. So entstehen zukunftsträchtige Symbiosen und Paarungen. Angesichts fortschreitender Individualisierung und Globalisierung des menschlichen Lebensraums ist das bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung. Denn strikte Monokulturen kommen irgendwann immer böse aus dem Gleichgewicht. Querschläger und Artenvielfalt braucht es eben, damit das Leben weiter fröhlich seinen Lauf nehmen kann. Und da macht es auch Sinn, ein Einhorn mit arg verrutschtem Horn zum Aushängeschild zu machen. ▪


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ANDERS WOHNEN IN MÜNCHEN

TEXT UND ILLUS: CHRISTINA RISINGER

Wohnen in München bietet wenig Platz für kreative Freiräume. Investoren erzielen mit standardisierten Wohnungen hohe Renditen und Apartments sind so heiß umkämpft, dass viele nehmen, was sie kriegen können. Und doch gibt es sie, die Münchner, die anders leben. Die Nischen gefunden oder selbst tolle Ideen entwickelt haben, wie man dem Mietpreis-Irrsinn, der Isolierung und der Eintönigkeit auf dem traditionellen Wohnungsmarkt entkommen kann.


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Insbesondere der Austausch von Know-how und Inspiration mit den anderen Bewohnern bringt die Entrepreneure im eigenen Projekt weit voran. Ob es um technische Fragen geht oder ein schnelles gemeinsames Brainstorming für einen neuen Produktnamen nötig ist: Hier wird sich gegenseitig geholfen. Nicht alle Bewohner stehen am selben Punkt ihres Projekts. Bei den einen wurde nur die grobe Idee der Verselbstständigung gefasst, bei anderen ist das Produkt schon auf dem Markt. Auch die Fachrichtungen der Bewohner sind sehr verschieden. Darauf wurde beim Bewerbungsprozess geachtet, damit immer neue Ideen ins Haus kommen. HYPERSPACE Eine Einfamilienhaussiedlung in Ramersdorf-Perlach, direkt am Ostpark. Zwischen großen Gärten und inmitten einer guten Nahversorgung leben hier 17 junge, kreative Gründer, die sich unter einem Dach ihre Co-Working Offices und Wohnungen eingerichtet haben. In einer solchen Start-up-Wohngemeinschaft zu leben, hat viele Vorteile, erklären mir Julia und Marc in ihrer Küche. Sie genießen das Wohnen in einer großen Gemeinschaft, in der vieles geteilt werden kann und immer jemand da ist, mit dem man sich unterhalten oder etwas unternehmen kann.

Bei so viel Vielfalt geht es in Deutschlands erster Start-up-WG oft wild zu. Mal wird das Wohnzimmer zum YouTube-Studio oder der Garten zum Drehort für ein Tanzvideo. Es kann auch vorkommen, dass die Wohnzimmerwand nach einem Brainstorming vor lauter Post-its nicht mehr zu sehen ist. Kreative Vibes im ganzen Haus. Bei ca. 500 m² Fläche verteilen sich die Mitbewohner allerdings gut. Und da jeder sein eigenes Zimmer hat, kann er oder sie immer selbst zwischen Gemeinschaft und Rückzug entscheiden. Die jungen Gründer sehen Co-Living und Co-Working als einen wichtigen Schritt für eine Gesellschaft, die sich mitten in der Digitalisierung befindet. Sie sehen viel Potenzial in dieser neuen Art des Wohnens und hoffen auf mehr Projekte dieser Art.


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MICRO COMPACT HOME Bett, Bad, Küche, Esszimmer, jede Menge Stauraum und guter Anschluss an die U-Bahn – und das für nur 150 Euro Miete im Monat. Klingt fantastisch! Der Haken: Das alles befindet sich auf nur grob 7 m², oder besser gesagt: auf 18,8 m³. Corinna lebt in einem kompakten Würfel an der Studentenstadt, in einem micro compact home. Ein kleines Dorf mit sieben solcher Würfel steht seit November 2005 auf einer Wiese hinter dem Studentenwohnheim. Die Regelmietzeit beträgt ein halbes Jahr und die Bewerbung steht allen Münchner Studierenden offen. Die Kuben mit jeweils 2,66 m Kantenlänge bieten minimalen, aber trotzdem wertvollen Wohnraum in einer Stadt, in der nur jeder 12. Studierende Platz im einem Studentenwohnheim findet. Corinna zeigt mir ihr kleines Reich. Mit viel Improvisation und Kreativität hat sie den engen Würfel personalisiert. Für etwas mehr Licht im Innenraum hängt eine Lichterkette über ihrem Bett. Bad und Küche

erstrecken sich über die gesamte Raumhöhe. Um am Tisch sitzen zu können, kniet sie sich unter das Bett und lässt die Füße in einer Bodenöffnung verschwinden. Um ins Bett zu gelangen, muss sie hochklettern. Ein Mini-WC steht an der Wand neben der Küche. Mithilfe einer Schiebewand kann sie diesen kleinen Bereich abgrenzen und dort auch gleich duschen. „Das ist eher etwas für kleinere Menschen“, sagt Corinna. „Und zunehmen bräuchte ich auch nicht.“ Und doch genießt sie ihre eigene kleine Wohnung, mit allem ausgestattet, was man so braucht. So praktisch Stauflächen und der wandelbare Raum gedacht sind und so viele Preise die micro compact homes auch schon gewonnen haben, es findet sich der ein oder andere Designfehler. Beim Einklappen des Bettes beispielsweise kann die Matratze leicht durch einen Spalt aus dem gekippten Fenster rutschen. Außerdem merkt die Studentin an: „Nach ein paar Tagen fällt einem die Decke schon auf den Kopf.“ Doch als Wochenendheimfahrerin erträgt sie das. Und rechnet man alle Vor- und Nachteile zusammen, so überwiegt für sie der erstaunliche Mietpreis. ►


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KISTLERHOFSTRASSE Katarina wohnt in einem Studentenwohnheim an der U-Bahn-Station Machtlfinger Straße. Sie hat ihr eigenes Zimmer mit Bad und teilt sich die Küche mit anderen Studierenden auf ihrem Flur. „Eigentlich ist es ein ganz normales Wohnheim“, sagt sie. Doch etwas unterscheidet die Unterkunft in der Kistlerhofstraße doch davon: denn auch 61 minderjährige und junge Geflüchtete leben in dieser Hausgemeinschaft. Ziel des Integrationsprojekts ist es, Geflüchteten eine verlässliche Umgebung zu bieten und sie schnell in den Austausch mit anderen jungen Menschen zu bringen.

Dadurch können Integrationsbarrieren wie die Sprache schnell abgebaut werden. Gleichzeitig erhalten die Studierenden die Möglichkeit, ihre interkulturelle Kompetenz zu verbessern und direkt im Haus zu arbeiten: als Nachhilfelehrer, Pförtner oder Pädagogen. Katarina studiert an der LMU Deutsch als Fremdsprache. Vergangenes Jahr stieß sie im Internet auf das Projekt, begeisterte sich für das Konzept und bewarb sich auf ein Apartment. Nun wohnt und arbeitet sie im Wohnprojekt Kistlerhofstraße. Ihr gefällt, dass das Wohnheim kleiner und familiärer ist als zum Beispiel die Studentenstadt, wo sie zuvor lebte. Der Anschluss an die Innenstadt ist ebenfalls sehr gut und die Möglichkeit, direkt im Wohnheim zu arbeiten, für die Studierenden praktisch. Zudem sind alle Bewohner sehr aufgeschlossen und lernen dort ganz nebenbei andere, spannende Kulturen kennen. „Da Studierende und Geflüchtete aus rechtlichen Gründen auf verschiedenen Fluren leben müssen und ein geplanter Gemeinschaftsraum noch nicht fertig ist, müssen alle Bewohner selbst aktiv werden, um Kontakt herzustellen“, sagt Katarina. Es werden Kochabende und Ausflüge organisiert und man besucht sich gegenseitig in den Stockwerksküchen. So entsteht Gemeinschaft und alle profitieren von den neuen Kontakten. ▪


Gestaltung: HOCH 3 . Münchena | Grafik: explain it GmbH

Die beiden Apps für München!

MVG Fahrinfo München l HandyTicket l Routenplanung l Standortbestimmung

MVG more l Die App für das Miet- radsystem MVG Rad l Münchens CarSharer l E-Ladesäulen


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Muss ich dieses Auto gießen?

DAS MÜNCHNER START-UP SONO MOTORS UND IHR ELEKTROAUTO SION


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Das Elektroauto Sion gedeiht wie eine Pflanze: Es fährt mit Energie aus Sonnenlicht und besteht zum Teil aus Moos. Auch Hersteller Sono Motors unterscheidet sich gewaltig von anderen Autobauern. Die Chefs sind alle erst Mitte 20.

TEXT: JULIA MAEHNER FOTOS: CHRISTIAN VOGEL, SONO MOTORS

Grellgrün und korallenartig scheint es unter dem Armaturenbrett des Autos hervor. Anfassen kann man es nicht, das alienartige Gewächs ist hinter einer Glasscheibe verpackt. Es ist Moos und fungiert als Luftfilter des Elektroautos Sion. Dasselbe Moosgewächs hängt an der Wand des Konferenzraums von Sono Motors, einem Münchner Start-up. Den Raum im Münchner Technologiezentrum MTZ durchflutet die spätherbstliche Abendsonne genauso wie den Luftfilter des Autos. Mit einem Unterschied: Das Moos hier lässt sich anfassen. Ganz schön … schwammig.


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„Damals haben wir uns wirklich ganz profan gesagt: ,Wir bauen jetzt ein Elektroauto.‘ “


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Es ist Mitte Oktober, für das Team von Sono Motors fühlt es sich allerdings an wie in der Weihnachtsbäckerei kurz vor Heiligabend: All hands on deck, alle müssen zupacken. Denn Sion ist gerade auf seiner ersten Testfahrt. Von München aus visiert das Team um die Gründer JONA CHRISTIANS, LAURIN HAHN und NAVINA PERNSTEINER die großen Städte Deutschlands sowie ausgewählte Ziele im Ausland an. Klein Sion wird ausgeführt – für Jona Christians eine immer noch surreale Vorstellung. Dass Sono Motors im Jahr 2017 eine Firma mit 25 Mitarbeitern ist, hätte sich der junge CEO vor fünf Jahren nicht denken trauen. „Das ist uns gar nicht in den Sinn gekommen. Damals haben wir uns wirklich ganz profan gesagt: ,Wir bauen jetzt ein Elektroauto.‘ Nach der Schule haben wir es dann in Handarbeit selber gebaut und selber verschweißt.“ Ja, nach der Schule. Christians und seine Mitgründer sind alle Baujahr ’93. Das Projekt begannen Christians und sein Kumpel Laurin Hahn noch als Schüler. Für viele undenkbar: Die Autorin etwa verzweifelte mit 18, 19 hauptsächlich daran, dass Oasis sich getrennt hatten. Christians und Hahn jedoch diskutierten am Telefon über die Verschwendung von Erdöl. Andere Ressourcen müssten her. Die offensichtlichste Verwendung von Öl ist Treibstoff – also packten die beiden dieses Problem an. In der Garage von Jonas Eltern – später in einer Werkstatt – bauten die Jungs an dem, was einmal Sion werden sollte. An die Serienentwicklung dachten sie damals noch nicht einmal. Dafür hagelte es Kritik: „Ihr denkt viel zu klein!“, sei einer der meistgehörten Sätze gewesen, erinnert sich Christians.

Erst beim Bierchen in Laurins WG mit seiner Mitbewohnerin Navina wurde Sion geboren. Dieser erzählten die Jungs von ihrem Projekt. „Sie war eine der Personen, die uns den Kopf gewaschen hat. Sie meinte: ,Ihr braucht einen Namen, ihr braucht ein Logo, ihr braucht ein Auftreten!‘“ Damals wussten noch nicht einmal die Eltern der Jungs Bescheid. Mit Navinas Input bekam das Kind einen Namen und ein Gesicht. Ein Jahr später startete Sono Motors in die Crowdfunding-Kampagne. Das Ziel von 180.000 Euro überschoss das Solarauto ums Vielfache – fast 550.000 Euro nahm Sono Motors schlussendlich ein. „Darauf baut ganz Sono Motors auf“, erklärt Christians. Obwohl es schon über ein Jahr her ist, scheint er es immer noch nicht ganz glauben zu können. „Überall sind Leute auf uns zugekommen und haben gesagt: ,Darauf haben wir gewartet. Endlich setzt es mal jemand um, ich vertraue euch.‘ Es war unglaublich für uns zu sehen, was passiert, wenn diese Community zusammenkommt.“ Dabei ist Sion nicht das erste seiner Art. Alleine Wikipedia gibt eine Liste von bestimmt 100 mehr oder minder skurrilen Gefährten preis. Doch es ist eines der ersten alltagstauglichen Pkws, eine Familienkutsche, die Sono Motors da gebaut hat. Und das zu einem Preis von 16.000 Euro. Die Batterie muss zwar, wie bei E-Autos oft üblich, geleased werden, dennoch bleibt der Wagen im Vergleich erschwinglich. Das ist auch dem Geschäftsmodell der Firma zu verdanken. „Wir machen kein neues Fass auf, wo es nicht sein muss“, erklärt Christians bestimmt. „Ein Seitenspiegel muss nicht neu konzipiert werden, weil die Designer entschieden haben, dass wir bestimmte Linien einhalten müssen. Wir nehmen die Designs, die bereits vorhanden sind.“ Das spart nicht nur Kosten, sondern auch Zeit. Sono Motors bedient sich bei Zulieferern und verlässt sich auf deren Know-how. ►


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Am Schluss tragen viele verschiedene Komponenten zu Sion bei – wie Musiker auf einem Album. Nur dass am Schluss in den Credits nicht „Musiker A: Gitarre“ und „Musiker B: Trompete“, sondern „Zulieferer A: Scheibenwaschanlage“ und „Zulieferer B: Getriebe“ stehen wird. Aber Sion ist nicht nur eine Patchworkdecke aus Zuliefererparts, auch eigens entwickelte Teile stecken im Solarauto. Die Kernfeatures neben dem Luftfilter aus Moos sind: Carsharing, Ridesharing und Powersharing. Jeder Sion könnte theoretisch als Auto für Firmen wie DriveNow, Car2Go und Co. fungieren. Denn ein Auto stünde laut Christians die meiste Zeit eh nur herum. Da könne man es doch effizienter nutzen und zum Sharing freigeben. Unter der Haube des Solarmobils steckt zudem eine bidirektionale Batterie. Sion kann also auch Strom abgeben, nimmt ihn nicht nur auf. Als Urlaubsauto beim Campen eröffnen sich so also ganz neue Möglichkeiten. Noch ist das Auto Zukunftsmusik. Zwar verkünden Christians, Hahn und Pernsteiner auf ihrer Website verschmitzt grinsend und sichtlich stolz: „Vor einem Jahr versprachen wir euch: Wir bauen ein Auto, das mit Solarenergie fährt. Jetzt ist es fertig.“ Doch bis Sion in Serie gehen kann, ist es noch ein weiter Weg. Testfahrer wollen befragt, Zulieferer ausgesucht und die finalen Designs erstellt werden. Danach folgen weitere Tests – Crash und anderweitig. Erst dann kann Sion auf allen vier Rädern landen.

„Der Trend wird immer mehr dahin gehen, dass ich ein Fahrzeug nicht mehr besitze, sondern alle Autos auf der Straße mitbenutzen kann.“

Für Sono Motors bedeutet das: eine etwas ungewisse Zukunft und viel Arbeit. Schließlich kann der Markt nicht von heute auf morgen umgekrempelt werden. „Wir können keine 40 Millionen Solarautos hinschmeißen und sagen: Die müssen jetzt genutzt werden.“ Deswegen auch erst einmal die Ausrichtung auf den Privatmarkt. Mit einem Blick in die ferne Zukunft meint Christians aber: „Der Trend wird immer mehr dahin gehen, dass ich ein Fahrzeug nicht mehr besitze, sondern alle Autos auf der Straße mitbenutzen kann.“ Der Meinung ist nicht nur das Team von Sono Motors, sondern auch 1.686 Menschen auf Indiegogo, die über eine halbe Millionen Euro zusammengetragen haben. Das scheint jetzt zwar wenig zu sein – doch Moos kann schließlich überall wachsen, wenn es genug Nahrung bekommt. ▪

► sonomotors.com



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HEi ARTGERECHTEN MÖBELHALTUNG

HAUS DER EIGENARBEIT


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TEXT: JULIA SCHÖPP // ILLU/ARTWORK: SVEN OPPEL

Das Dilemma mit der artgerechten Möbelhaltung hat ein Ende. Zu Hause bevorzugt es Julia eher individuell: Anders möchte sie wohnen, gerne mit alten, selbst aufgemöbelten Möbeln. Gar nicht so einfach – wenn sie nicht durch Zufall im Haus der Eigenarbeit gelandet wäre.

Wer kennt sie nicht? Die Pärchen um die 30, denen das beliebte schwedische Möbelhaus einfach nicht mehr nachhaltig und schon gar nicht mehr individuell genug produziert. In München scheint es sie zuhauf zu geben. Sätze wie „Ich will nichts mehr bei IKEA kaufen“ oder besser noch „Wir möchten nichts mehr bei IKEA kaufen“ höre ich nur allzu häufig. Dabei kommt es oft genug vor, dass genau so ein befreundetes Pärchen die Verabredung zum Spaziergang über den Hofflohmarkt kurzfristig abbläst, um sich doch ganz spontan in die Untiefen des blaugelben Riesen zu begeben. Ja, die Münchner Hofflohmärkte sind ein bezaubernder Zeitvertreib, allerdings gleichen sie doch oft eher einer Altkleidersammlung. Wenn man nicht gerade ein Baby ist oder eins hat, ist der Großteil der feilgebotenen Ware zu alt und zu abgetragen. Zugegeben: Witzig ist es schon, sich die Leute hinter dem Flohmarkttisch vorzustellen, wie sie in diesen überaus stylischen Erzeugnissen der 80er und 90er mit auftoupierten Haaren zu Disko tanzen. Ein kurzweiliger Zeitvertreib. Was ich aber eigentlich suche, finde ich nur noch selten: alte Möbel. Schwere Kommoden aus der Gründerzeit zum Beispiel sind nur noch vereinzelt zu finden, und wenn, dann sind sie unfassbar teuer oder beschädigt. Wer aber das Glück hat, eines dieser Schmuckstücke zu ergattern, macht am besten gleich Nägel mit Köpfen. ►


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Solche alten Möbel sind nachhaltig, individuell und garantiert nicht in Massen produziert. Auch wenn sich bei einem Möbelstück – anders als bei Hühnern – die Frage nach der artgerechten Haltung nicht stellt, ist der Aspekt der Lebensdauer nicht ganz unerheblich. Zwischen den günstigen und schnell abgelebten Pressspanplatten aus Studentenzeiten schafft ein Möbelstück mit Geschichte eine gesunde Diversifizierung im eigenen Wohnzimmer. Da kommen wir der artgerechten Möbelhaltung doch schon etwas näher. Interior Design ist in, Do It Yourself noch viel mehr. Tausende von Bloggern veröffentlichen noch viel mehr Posts und Pins darüber, wie man heute sein Zuhause konzipiert. Der ein oder andere wohnt vielleicht noch, aber die meisten leben ja bereits. Und zwar in den Zwei-Komma-fünfZimmern der Münchner Mietwohnung im dritten Stock – wohlgemerkt ohne Aufzug. Wir nehmen Abstand von den billigen Billys und Holgars, die beim Aufbauen meist zu wenige oder zu viele Teile zum Vorschein bringen – das schien mir noch nie so recht natürlich zu sein. Aber welche Alternativen haben wir? Teure Designermöbel? Na, vielleicht in 10 Jahren. Andere Möbelhäuser? Puh, nicht mein Geschmack. Online-Shops? Ja, schon probiert. Aber wenn tatsächlich jemand ein Regal aus UK nach München verfrachtet, scheint mir das doch recht aufwendig und schlecht für die Umwelt. Selbermachen mit DIY-Videos oder Anleitungen aus dem

Netz? Wie soll das überhaupt gehen, wie stellen die sich das vor? Ich kann doch nicht mit dem Fahrrad zum Baumarkt fahren, mir jede Menge unbehandeltes Holz kaufen, auf den Gepäckträger montieren und nach Hause transportieren. Ich kann es auch nicht in den dritten Stock hieven oder mein Schlafzimmer zur Werkstatt umwandeln. Selbst wenn, woher bekomme ich eine Stichsäge, ein Schleifgerät, eine Fräse oder auch einfach nur Unterstützung bei der Auswahl der richtigen Nut für mein neues Projekt? Wenn ich mir schon ein Möbelstück selbst baue, dann möchte ich doch nicht einfach nur alles zusammenkleben. Außerdem könnte dieses Unterfangen ganz schön laut werden. Selbst wenn die Nachbarn Nachwuchs bekommen haben, der mich jede Nacht unsanft vom Schlaf befreit, ist es doch etwas zu viel des Guten, drei Tage lang mit der kleinen elektrischen Schleifmaschine aus Papas Garage Schubladen abzuschmirgeln. Vom Staub in der Bude mal ganz abgesehen. Also nein oder, besser gesagt, so nicht. Wie es immer so kommt ... Ganz unverhofft bin ich unlängst in der Nähe des Ostbahnhofs zufällig in einem Hinterhof gelandet. Nein, es war kein Flohmarkt, aber ich habe mich trotzdem getraut. Ich bin einfach den bunten Lampions gefolgt. Kaum stand ich vor der Tür, wurde sie schon von innen geöffnet und ein nettes Gesicht blickte mir entgegen. Dieses nette Gesicht gehörte, wie ich kurz darauf erfahren habe, Stocki und er bat mich sogleich hinein: ins HEi, dem Haus der Eigenarbeit. Nach ein paar Schritten stand ich mitten in einer Holzwerkstatt. Es war vormittags und deshalb ruhig, nur ein junger Mann mit Dreads säuberte und überprüfte im hinteren Raum eine große Maschine. Es gibt viele Werkstatt-Bereiche, berichtete mir Stocki. Man kann hier praktisch alles machen, frei nach dem Motto „Selber machen, was man will“.


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Das HEi ist eine offene Werkstatt, in der alles zu finden ist, was das DIY-Herz begehrt. Zusätzlich werden auch Kurse angeboten. Und es ist immer jemand da, der Hilfestellung gibt, der Ahnung hat. So kann DIY funktionieren, denke ich mir. So stehen die Chancen gut, dass mein Projekt auch etwas wird, worüber ich mich freuen kann. Es gibt also verschiedene Werkstätten und auch das nötige Zubehör: Holz, Metall, Keramik, Papier, Schmuck, Polster, Textil. Und mit HEi-Tech ist zudem die Elektronik dabei. Das HEi wird zu 50 Prozent von Spenden finanziert und ist mittlerweile seit 30 Jahren ein Ort, an dem sich jeder ausprobieren kann. Es bietet Raum für eigene Projekte und ein Miteinander. Wer möchte schon alleine in der umfunktionierten SchlafzimmerWerkstatt arbeiten und basteln? Ich jedenfalls freue mich über Gesellschaft und Gleichgesinnte mit einer kleinen Vision und Spaß an der Sache. Seitdem ich ins HEi gestolpert bin, zerbreche ich mir den Kopf, mit welchem Projekt ich starten könnte. Und noch etwas kommt mir in den Sinn: Das nächste befreundetete Paar, das sich Gedanken darüber macht, einen ganzen Samstag beim schwedischen Möbelriesen zu verplempern, bekommt von mir einen HEi-Gutschein zu Weihnachten geschenkt. Da sollen sie sich mal schön was selber basteln. Das Teil muss dann auch nicht irgendwann auf den Sperrmüll gebracht oder bei ebay Kleinanzeigen verkloppt werden – es wird zur Familie gehören. ▪

► hei-muenchen.de


ALLES KAKTUS


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Zu Gast bei den Münchner Kakteenfreunden

TEXT UND FOTOS: LINDA MAIER

Hobbys gibt es viele – Vereine auch. Wobei letztere etwas aus der Mode gekommen sind, seit man im Internet so viele virtuelle Freunde hat und jederzeit „tacken“ (Jugendwort: Nachrichten verschicken, während man auf dem Klo sitzt. Eine Mischung aus Texten und Kacken) kann. Schade eigentlich, denn Vereine sind etwas Tolles. Genau wie Kakteen.

Wie gut, dass es den Verein der Münchner Kakteenfreunde gibt! Im Jahr 1903 gegründet, blickt dieser Verein heute bereits auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. Den Anfang machten ein paar Münchner beim Stammtisch, die sich über ihre Beobachtungen und Erfahrungen in Bezug auf die dornigen Pflänzchen austauschten. Ja, richtig gelesen: Kakteen haben – wenn man es botanisch genau nimmt – Dornen, keine Stacheln. Rosen dagegen haben Stacheln. Doch genug der Verwirrung. Der Großteil der schriftlichen Unterlagen dieser Zeit ist, wie so vieles andere, leider später dem Krieg zum Opfer gefallen. Aber im September 1905 war in der Monatsschrift für Kakteenkunde, dem damaligen Magazin der Deutschen Kakteengesellschaft (DKG) mit Sitz in Berlin, zu lesen, dass sich „in München eine Vereinigung von Kakteenfreunden gebildet habe“. Die offizielle Eintragung des Vereins ins Register des Amtsgerichts München erfolgte am 12. Februar 1906 unter dem Namen „Verein von Cacteenfreunden, eingetragener Verein, Sitz München“. Zu dieser Zeit gab es etwa 19 Mitglieder. Um das in Relation zu setzen: Die damalige Einwohnerzahl der Stadt betrug etwa eine halbe Million Menschen. ►


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damit sozusagen zu den eigenen Wurzeln zurück. Eine Rechtsform strebte die neu zusammengewürfelte Gruppe erst wieder im April 1997 an. Die Eintragung erfolgte unter dem bis heute geltenden Namen „Münchner Kakteenfreunde e. V“. Aktuell gibt es 62 Mitglieder – etwa 30 sind regelmäßig bei den Treffen dabei. Der Verein selbst ist Mitglied einer Reihe anderer KakteenVereinigungen sowie beim Förderverein „Freunde des Botanischen Garten München“.

Vor München schlossen sich bereits Vereine aus Münster, Stuttgart und Gera dem Berliner Stammverein DKG an. Doch München war unleugbar bei den frühen Trendsettern dabei. Der Vereinsname wurde in den nächsten Jahrzehnten ab und an geändert, die Leidenschaft für Kakteen blieb. Bis 1953, als der Verein wegen „Wegfall sämtlicher Mitglieder“ von Amts wegen gelöscht wurde. Doch schon 1949, wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, hatten sich erneut Kakteenfreunde im zerstörten München zusammengefunden. Nur der Verein war offenbar in Vergessenheit geraten. Man verstand sich als „Ortsgruppe München der DKG“ und kehrte

Doch wie erwischt einen eigentlich dieses Hobby? Sepp, der von 2007 bis 2017 erster Vorstand der Kakteenfreunde war, erzählt, seine Frau habe ihm einmal zum Vatertag eine bepflanzte Schale mit Kakteen geschenkt. Das war 1978. Während er mir das sagt, stehen wir in seinem ca. 20 Quadratmeter großen, ans Haus angebauten Gewächshaus inmitten von Kakteen. Wie viele es genau sind, weiß er nicht – aber es müssten ungefähr 20 Gattungen bzw. 300 verschiedene Arten vertreten sein. Ob seine Frau sein Hobby teilt, frage ich. „Nein“, lacht Sepp. Auch einen Lieblingskaktus hat er nicht. „Obwohl, vielleicht Astrophytum“, sagt er und schaut zu ein paar prächtig gewachsenen, alten Kakteen dieser Gattung hinüber. „Bis auf Cereen mag

ich eigentlich alle, doch die werden einfach irgendwann zu groß.“ Einer von seinen Cereen, die das Dach seines Gewächshauses erreichten, wächst inzwischen munter im Botanischen Garten weiter. Diese Art wird bis zu 15 Meter hoch. Bei den Kakteenfreunden ist Sepp seit 1982. Ein paar andere Mitglieder und er waren seither schon sieben Mal zusammen in Mexiko, um bestimmte Kakteen in ihrer Heimat zu besuchen bzw. um der mysteriösen Spur des Echinocereus madrensis Patoni nachzugehen. Dieser Kaktus, der zwar in der Literatur auftaucht, aber sich vor Ort leider hartnäckig als unauffindbar herausstellt, hatte es den


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Reisenden besonders angetan. Eine Beschreibung von E. madrensis wurde 1910 durch den in Mexiko ruhmreichen Biologen Patoni publiziert. Gesehen hat den Kaktus seitdem keiner – doch davon ließen sich Sepp und drei Freunde nicht entmutigen. Auf zwei VW-Busse verteilt und irgendwo in der Gegend von Canatlán entdeckten sie 1998 dann wirklich etwas. „Halt einmal, was wächst denn da oben?“, rief Sepp. Es war ein bis dahin unbekannter Kaktus aus dem Echinocereusadustus-Komplex. Doch als sie ihren Fund den Freunden im anderen Fahrzeug mitteilen wollten, stellte sich heraus, dass auch diese nur ein paar Meter weiter fündig geworden waren. Wer den neuen Kaktus zuerst gesehen hatte und somit Namensgeber werden sollte, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Als Kompromiss einigte man sich auf Echinocereus „canatlanensis“, dem Fundort wegen. Offiziell wurde daraus später Echinocereus adustus ssp. Roemerianus. Doch 2002 kam es noch besser: Im gleichen Gebiet entdeckten

Sepp und ein Freund winzige Mammilarien – Mammilaria ist eine Pflanzengattung aus der Familie der Kakteengewächse – und dann stolperte Sepps Kamerad auch noch über eine rein weiß blühende Pflanze aus dem E.-adustus-Komplex. Das macht in Summe drei sensationelle Neufunde – auch wenn der ursprünglich gesuchte E. madrensis weiterhin unsichtbar blieb. Auch ich habe gemeinsam mit den Kakteenfreunden etwas Großartiges herausgefunden. Im zarten Alter von vier Jahren war ich einmal mit meiner Mutter bei einem Kakteenzüchter zu Besuch und total begeistert – eine meiner

frühesten Erinnerungen überhaupt. Da stellt sich heraus: Es war Sepp! Die Kakteen, die er mir damals geschenkt hat, wachsen auch heute noch bei mir und durch meinen Besuch beim Verein habe ich endlich den lange verloren geglaubten Kontakt wiedergefunden. Wahrscheinlich hat mich schon damals der „Kakteen-Virus“ gepackt oder ich bin einfach anders. Jedenfalls freue ich mich auch heute noch mehr über einen Kaktus als über Rosen. Die Sammlung auf meinem Fensterbrett hat über die Jahre reichlich zugelegt. Schön wäre es, wenn auch der Verein wieder Zuwachs bekommen würde. Wer mehr über Kakteen erfahren will, Pflanzen tauschen möchte oder einfach mal bei einem der Vorträge reinschnuppern will, ist jederzeit herzlich willkommen! Die Kakteenfreunde treffen sich einmal im Monat zum Stammtisch mit wechselnden Vorträgen. Jedes Jahr im Frühling veranstalten sie zudem eine große Pflanzenbörse. ▪ Alle Infos zum Verein und den Terminen gibt es unter ► muenchner-kakteenfreunde.de


Nein. Unsere weltweiten Proteste rücken die Gefahren des Klimawandels ins Bewusstsein der Menschen. Diesen und viele andere Erfolge verdanken wir der dauerhaften Unterstützung unserer Fördermitglieder. Machen auch Sie mit unter www.greenpeace.de

(c) Greenpeace / Ex-Press / Wuertenberg

Freaks?


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a v i d e z i s s u l #p STOCKWURST „FRÜHSHOPPEN-STYLE“ MIT FERMENTIERTEM RADIESERL


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ÜBER SLOW FOOD UND DAS REVIVAL EINER DRALLEN SCHÖNHEIT

TEXT UND FOTOS: TIM BRÜGMANN

„Fuck the Weißwurst!“ Das könnten die ersten Gedanken sein, die einen aufrütteln, wenn man diese eine von seinem Metzger als vergessene Spezialität angepriesene Gaumenfreude zum ersten Mal probiert … Doch Obacht! Die nächsten Zeilen könnten für zugroaste Traditions-Puristen und „Weißbier nur aus dem Weißbierglas!“-Pedanten das Abendland locker zum Einsturz bringen. „Die Stockwurst ist so gut wie erledigt“, bedauerte Gerhard Polt einmal und sollte Recht behalten. Dabei gilt die Stockwurst doch als Vorfahre der Weißwurst, stammt von der französischen Boudin Blanc ab und gelangte dank Napoleon einst auf unsere Teller. Nur kennen tut sie heute niemand mehr. Dabei unterscheidet sich die dralle „G’schmackige“ von der Weißwurst hinsichtlich ihrer aus-

ladenden Rundungen und ihres besonderen Geschmacks. Ihr kräftigstes Merkmal aber ist der Rindfleisch-Anteil, wodurch sie herzhafter, deftiger und intensiver schmeckt. Mit etwa fünf Prozent weniger Fett und Muskat statt Petersilie brilliert sie schließlich als rustikale Konkurrenz zur edlen Weißen. Ihren Namen hat sie von „gstockert“, was so viel wie „gedrungen“ bedeutet. „Bold and curvy“ also und für viele Gaumen der beliebten Frühshoppen-Zutat weit überlegen. Zuzeln? Gott sei Dank unmöglich! Der robuste Charakter lädt zu Kombinationen ein, die bei der Weißwurst undenkbar wären. Doch wem haben wir das Revival dieser verschollenen Spezialität eigentlich zu verdanken?

Schon seit 1986 engagiert sich die im Piemont in Italien gegründete Vereinigung „Slow Food“ für den Schutz traditioneller und nachhaltiger Qualitätslebensmittel, für den Erhalt von Anbau- und Verarbeitungsmethoden und der biologischen Vielfalt von Kultur- und Wildpflanzen. Denn die Vielfalt der regionalen Tierrassen, Pflanzensorten und Lebensmittel garantiert die Vielfalt auf dem Teller. Und so setzt sich der Verein mit seinem Münchner Convivium, sprich der hier ansässigen Mitglieder, für den Erhalt unserer blassen Diva ein. „Slow Food“ ist also auch für die gehobene Gastronomie ein brandheißes Thema. Zu diesem Zweck wagten wir mit dem jungen Münchner Koch Max-Luitpold Waldhauser, der derzeit im Atlantik Fisch und zuvor im Emiko für Gaumenfreuden sorgte, eine Annäherung an eine vergessene Grande Dame – die Stockwurst. ►


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Max-Luitpold, wie stehst du zu Slow Food und Lebensmitteln wie der Stockwurst, die wir allmählich wiederentdecken? Ich finde es nicht nur für uns Köche irrsinnig spannend, dass all diese in Vergessenheit geratenen Produkte wieder auftauchen, sondern auch für die breite Masse. Man denke nur an die vielen Heilkräuter, die die Leute im Garten haben, es aber vielleicht gar nicht wissen. Oder die vielen Bauerntier-Arten bis hin zu Pflanzen, die wir heute gar nicht mehr kennen. Meine Großtante spaziert beispielsweise durch ihr Gemüsebeet und kann mir zu jedem Wildkraut, zu jeder Beere und zu jeder Sorte Blüten mindestens fünf Dinge aufzählen. Natürlich weiß sie auch am besten, wie sie diese in der Küche oder im Alltag anwenden kann. Gerade dieses Wissen ist in der Küche Gold wert! Immer mehr vegetarische und vegane Optionen finden ihren Weg auf die Speisekarten, sind aber bewusste Ernährungsentscheidungen. Wie steht es um die Küche von heute und etwaige Trends? Ich finde es sensationell, was sich da in den letzten Jahren getan hat. Trotzdem dürften sich mehr Restaurants trauen, andere Alternativen als immer nur den gratinierten Ziegenkäse mit

roter Bete oder Gartensalat mit Avocado anzubieten. Eben weil Regionalität und Saisonalität so große Themen sind, könnte man mit Gemüse weitaus mehr anstellen. Warum nicht ein Stück Sellerie oder eine Karotte genauso behutsam behandeln wie ein Stück Fleisch oder Fisch? Die Küche ist ja voller Reglements und wir kochen für gewöhnlich sehr nah am Rezept. Du bist aber sehr intuitiv an den Teller herangegangen. Wie wichtig ist Intuition für dich beim Kochen? Intuition steht für mich im gleichen Kontext wie Kreativität. Klar habe ich als Koch ein gewisses Grundverständnis, was ich wie kombinieren kann, aber am Ende gilt vor allem: Erlaubt ist, was schmeckt. Wenn ich das Gefühl habe: „Hey, warum versuch ich heute nicht mal, diese zwei Produkte auf einen Teller zu bringen?“ und am Ende ist das Ganze auch noch ein Erfolg, lag ich mit meiner Intuition gar nicht so verkehrt.

Internationale Größen wie Alex Atala, David Chang, aber auch René Redzepi und sein umstrittenes Restaurant noma ringen mir viel Respekt ab. Vor ungefähr fünf Jahren galt Magnus Nilsson mit damals 27 Jahren zu den aufregendsten Köchen der Welt. Du hast selbst schon Stationen in Neuseeland und gehobenen Häusern hier in München hinter dir. Hast du selbst den Anspruch nach „mehr“? Diesen Anspruch, mehr zu wollen, sollte jeder von uns haben. Ich könnte meinen Beruf gar nicht ausüben, ohne eine größere Idee hinter dem Ganzen zu sehen. Klar kann keiner von uns das Rad neu erfinden, dennoch liegt es an uns, es immer wieder zum Drehen zu bringen. Ich möchte nicht der Beste sein, kann ich nicht und ist auch nicht mein Anspruch. Aber ich kann ganz unbescheiden sagen, dass ich mit dem, was ich tue und wie ich es tue, einzigartig sein möchte. (lacht) Du bietest ja selbst Kochevents an, bei denen du gehobene Gastronomie direkt in die Wohnzimmer bringst, was ich schon einmal für sehr einzigartig halte. Diese kleinen Kochevents sollen den Leuten zeigen, wie schön es ist, gute Produkte anders verpackt zu genießen. Ich kaufe alles auf dem


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Markt und die Lebensmittel stammen fast alle aus der Region und schmecken sensationell. Die meisten Leute haben kaum noch Zeit, zusammen am Tisch zu sitzen und mit der Familie oder Freunden einen schönen Abend zu verbringen. Ich will ihnen zeigen, dass feine Küche nicht stocksteif sein muss, sondern Spaß macht und herausfordernd sein kann. Und wo macht essen mit guten Freunden mehr Spaß als in den eigenen vier Wänden? Küchenchefs, soviel ist sicher, sind ein eigenwilliger Schlag. Kocht man, um von der Kunst zu leben? Oder um andere zu ernähren, gar zu erfreuen? Gewiss sind es Experimentatoren wie Max-Luitpold und die Großen in den nomas und elBullis dieser Welt, dank derer sich in puncto Ernährung und Gastronomie etwas bewegt. Aber auch wir können direkt vor der eigenen Haustüre anfangen, bewusst zu genießen, Dinge zu wagen und im Namen von Slow Food alte Schätze wie die Stockwurst zu bergen. ▪

GEBRATENE STOCKWURST MIT GLASIERTEM ROSENKOHL AUF KARTOFFELPÜREE AN PREISELBEERJUS UND GERÖSTETEM AMARANT

► slowfood-muenchen.de ► maxluitpold.wordpress.com


Wenn die Münchner mich so sehr lieben, wie ich sie liebe, dann wird alles gut.

IM GESPRÄCH MIT MATTHIAS LILIENTHAL INTENDANT DER MÜNCHNER KAMMERSPIELE


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TEXT: CLAUDIA PICHLER FOTOS: LORRAINE HELLWIG


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Gibt es ein besonderes Motto, unter dem Ihre dritte Spielzeit in München steht? Für die dritte Spielzeit gibt es eine thematische Setzung. Die plakatieren wir jetzt nicht groß, aber der innere Zusammenhalt von diesem Spielplan ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema Populismus. Das fängt an bei Jack Kerouac „On the Road“, also ein Roman, auf den sich der aufkeimende 68er-Protest, die Musik-Szene der 60er-Jahre und die Revolte gestützt haben. In diesem Moment jetzt, mit Trump und AfD und den ganzen rechtsnationalistischen und faschistoiden Bewegungen, ist diese Dekade auch an ein bestimmtes Ende gekommen. Das, was wir jetzt erleben, ist ja eigentlich eine rechte Revolte. Weiter im Spielplan geht es mit Lion Feuchtwanger „Exil“, also der letzte Teil seiner „Wartesaal“-Trilogie, der eng auch mit der Stadt München verbunden ist. Und dann geht es weiter mit dem Revolutionsstück von Bertolt Brecht „Trommeln in der Nacht“. Wenn man versucht, es abstrakter zu fassen, was ist das für eine Auffassung von Theater? Ich begreife Theater als ein Labor für das Ausprobieren zukünftiger urbaner Lebensformen. Ah ja. (lacht) Das verstört dich jetzt? Das muss sich erst mal setzen. Nein, also da ist natürlich eine Differenz zu einem Teil vom Publikum da. Wenn man die Hälfte unserer Zuschauer fragen würde, wozu Theater da ist, dann sagen die: Theater ist dazu da, mich zu unterhalten oder den bürgerlichen Bildungskanon neu zu deuten. Gleichzeitig gibt es aber städtisch und staatlich subventionierte Theater und die Subventionen bekommt man ja dafür, dass man nicht alle Wünsche der Zuschauer erfüllt, sondern Inhalte oder Ästhetiken einer Zukunft zu beschreiben versucht.

Inwieweit aber beeinflusst uns Kritik? Mit Kritik sind Theaterleute sehr trainiert. Es gibt so eine interne Faustregel, die heißt: Ein Drittel von dem, was man macht, wird gut, ein Drittel wird mittel, ein Drittel wird scheiße. Und da ist Einstecken von Kritik eine Normalität vom ersten Berufstag an. Gibt es dennoch Unterschiede? Ja, natürlich, bei ästhetischen Fragen. Wenn Sie Theater machen, dann gibt es drei verschiedene Säulen. Die eine ist: Was denken die Beschäftigten des Hauses zu dem, was hier passiert? Eine zweite ist: Was denkt die Kritik dazu? Und eine dritte Säule ist: Was denken die Menschen der Stadt dazu? Das mit den Menschen im Haus, das geht hier ganz gut; das mit der Kritik überregional geht auch ganz gut. Mit der Kritik in München ist es manchmal schwierig. Und mit dem Publikum gibt es halt so eine Veränderung im Publikum. Ein Teil der Abonnenten hat Reißaus genommen und uns gelingt es, die Hälfte dieser Verluste an der Abendkasse wieder wettzumachen. Es gibt aber auch eine deutliche Verjüngung des Publikums. Ich glaube, dass das Gefühl, im Theater zu sitzen, ein anderes ist. Ist es vielleicht eine natürliche und notwendige Sache, wenn man neu an ein Haus kommt, dass man einen Teil der Leute nicht mehr bedienen kann? Das ist so ein Teil von Normalität. Wobei ich das Gefühl habe, dass vor fünf bis zehn Jahren eine Art von neuer Zeit angebrochen ist, weil die alten Schemata von rechts und links so nicht mehr funktionieren. Man kann ja auch sagen, dass die Scheidelinie politischerseits heutzutage eher ist, wer welches Verhältnis zur Globalisierung hat. Wobei es auf der anderen Seite auch – außer man ist bei der AfD – relativ kompliziert ist, gegen die Globalisierung zu sein. Und genauso würde ich sagen, ein eher im linken Spektrum ►


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Theater ist dazu da, mich zu unterhalten oder den bĂźrgerlichen Bildungskanon neu zu deuten.


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angesiedelter Intendant kommt in eine aufgeschlossene, aber auch ein bisschen konservative Stadt und dann spielt sich so ein Prozess ab. Ich glaube, dass diese Schemata nicht mehr gelten. Und ich glaube auch, dass so ein Projekt wie die Kammerspiele in der dritten Spielzeit auch auf Messers Schneide steht. Die Frage ist: Stellt sich im Laufe der dritten Spielzeit eine andere Akzeptanz durch die Besucher oder durch die Meinung in der Stadt her? Wie frei ist man von ökonomischen Zwängen? Doch, sind wir weitgehend. Aber es wird doch immer gemessen an der Auslastung? Das ist weniger eine ökonomische Frage, sondern eine Frage der Geduld der Kulturreferenten und der Stadtverordnetenversammlung. Kann man das ausblenden oder beeinflusst das Ihre Arbeit? Na klar beeinflusst das. Natürlich wünschen sich alle TheatermacherInnen einen vollen Zuschauerraum. Und natürlich wünschen wir uns auch eine positive Reaktion. Und in dem Moment, in dem eine Reaktion negativ ist, überprüft man bestimmte Dinge, die man tut. Es gibt aber auch Arbeiten, auf denen man umso mehr beharrt. Ivan Nagel war mal Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele und der hat den schönen Satz gesagt: Der Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ist Penetranz. Ich kann mich z. B. erinnern: Als 18-Jähriger habe ich eine Retrospektive von Pina Bausch gesehen und da war die Platzausnutzungsqoute, würde ich mal sagen, bei 18 Prozent. Anfänge von Pina Bausch, Anfänge von William Forsythe waren durch totales Zuschauerdesinteresse geprägt. Da ist dann immer die Frage: Hat man die Arroganz, an das, was man tut, zu glauben, und sieht man darin einen Aufbruch oder muss man gegenüber einem Publikum nachjustieren?


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Über die Schaubühne und Peter Stein habe ich Theater dann als so eine Art Gegenwelt empfunden.

Wenn die Kammerspiele kritisiert werden, hört man meist, auf Schauspieltheater werde weniger Wert gelegt als auf Performances. Was genau ist also der Unterschied? Der eigentliche Begriff von Performance kommt ja aus der Bildenden Kunst und ist ganz stark mit Body Art verbunden. Das sind zum Beispiel die frühen Arbeiten von Marina Abramović. Eine klassische Performance ist dieses Video, in dem der Mann von Marina sie eine halbe Stunde hintereinander ohrfeigt. Es geht um die Grenzen der Belastbarkeit. Das ist jetzt etwas, wovon ich ausgehen würde, dass man das im Stadttheater nicht dreißig Mal im Repertoire zeigt. Das ist aber der eigentliche Begriff von Performance. Schauspiel hat etwas mit einer Rolle, mit einer Narration, mit einem geschriebenen Dramentext zu tun. Das Schauspielerhafte im reinen Sinn oder das Performerhafte im reinen Sinn kommt in der künstlerischen Realität fast nie vor. Du hast eigentlich immer bestimme Arten von Mischformen. Wir hatten mit einem Text von Labiche „Trüffel Trüffel Trüffel“ Premiere. Und da haben die Kritiken geschrieben, das sei Schauspielertheater. Habt ihr das schon gesehen? Nein, noch nicht. Wie müssen wir uns das vorstellen? Die ganze Anordnung ist, dass die Schauspieler in einer Reihe stehen und sich mehr oder minder die gesamte Inszenierung über nicht wirklich von ihrem Platz bewegen. Und die Rollen sind wild durcheinander besetzt, also Männer spielen Frauen, Frauen spielen Männer. Und diese ästhetisch sehr strenge Form erlaubt es den Schauspielern dann, extrem komödiantisch zu spielen. Aber es gibt nicht das, was ein Schauspieler unter Rollen versteht, und keine Requisiten und die Inszenierung interessiert sich eigentlich auch nicht für den Grundvorgang des Stücks. Also der Grundvorgang des Stücks ist eine klassische Heiratsanbahnung. Und die Inszenierung schafft so was


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wie eine Erinnerung an ein Genre. Die Heiratsanbahnung gibt es ja heute auch noch. Die heißt dann heute Zwangsehe im migrantischen Milieu, wenn du so willst. Es ist interessant, dass das als Schauspielertheater empfunden wird, weil es mit komödiantischen Mitteln arbeitet. Aber viele andere Essentials von Schauspielertheater sind an diesem Abend überhaupt nicht vorhanden. Und umgekehrt, wenn man so eine Arbeit wie „Point of no Return“ von Yael Ronen nimmt. Das hab ich gesehen, das Stück über den Münchner Amoklauf. Da wurde die Inszenierung erarbeitet über das Erleben von Schauspielern. Also, was haben die erlebt an dem Abend des Münchner Amoklaufs? Was passierte da in den Kammerspielen? Und dann werden da immer wieder Übersteigerungen gefunden. Das schräge Bühnenbild in der Anfangssituation, in der von diesem Abend erzählt wird – gleichzeitig verhalten sich alle so, als ob sie sich abseilen würden in einem steilen Hang in den Alpen. Und dadurch werden so Situationen übersetzt. Die Schauspieler machen ihre eigene Biografie zum Material der Aufführung, spielen dann aber trotzdem totale Kunstfiguren. Ich würde sagen, dass diese Einteilung in Performance und Schauspiel einfach Quatsch ist, was die Arbeit an den Theatern anbetrifft. Am Volkstheater und am Resi und an den Kammerspielen sind das letztendlich längst alles Mischformen. War der Weg ans Theater Ihnen schon immer klar? Total spießig und dämlich und doof. Nein, eher bemerkenswert, wenn man genau weiß, was man will. Ich bin in Westberlin groß geworden und Westberlin war in der Abgeschottetheit eine recht provinzielle Gesellschaft in den 60er- und 70er-Jahren. War ganz angenehm, weil es die ganzen Wehrdienstflüchtlinge gab. Und damals war die Schaubühne so ein extrem wichtiges Theater. Und über die Schaubühne und Peter Stein habe ich Theater dann als so eine Art Gegenwelt empfunden. Und darüber habe ich dann beschlossen, dass ich das auch machen möchte. Und wie gefällt Ihnen München? München ist ja kein langweiliges Angebot, München ist ja Bayern und nicht Deutschland (lacht). München ist eine total angenehme Stadt, in der man gut leben kann. Und wenn die Münchner mich so sehr lieben, wie ich sie liebe, dann wird alles gut. ▪


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TEXT: LEA HERMANN

ILLUS: LENI BURGER

ES GEHT AUCH ANDERS Lass dich nicht von den Versprechungen der Werbung verführen. Neuer, besser, schöner, toller. Das meiste von dem überteuerten Mist brauchst du eh nicht. Stell dein Zeug lieber selber her. Das macht nicht nur Spaß, sondern schont zugleich Geldbeutel und Umwelt. In drei DIYs zeigt euch curt, wie das geht.


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ZAHNPASTA

Schon mal die Inhaltsstoffe durchgelesen, die hinten auf der ZahnpastaPackung stehen? Triphosphate, Tetrapotassium Pyrophosphate und Propylene Glycol lassen sich da finden. Klingt nach Chemie. Und nach etwas, das man nicht unbedingt im Mund haben möchte. Aber keine Sorge: Mit ein paar wenigen Zutaten kannst du dir deine eigene Zahnpasta zusammenmischen. FÜR EINE KLEINE MENGE BRAUCHST DU: ► 1 EL vom Wundermittel Kokosöl ► 1 Messerspitze Natron ► 1 TL Kurkuma ► 10 Tropfen Pfefferminzöl Die Zutaten verrührst du am besten in einem kleinen verschließbaren Glas, das du auch zur Aufbewahrung hernehmen kannst. Das war’s auch schon! Und keine Angst: Das Kokosöl wird durch das Verrühren weicher und verbindet sich mit den anderen Zutaten. Daher wirkt es so gut: Kokosöl hat eine antibakterielle Wirkung und ist der ideale Schutz gegen Karies. Natron und Kurkuma sorgen für weiße Beißerchen. Noch dazu gilt Kurkuma als entzündungshemmend. Davon profitiert das Zahnfleisch. Und das Pfefferminzöl gibt dem Ganzen einen guten Geschmack. Obacht: Die selbst gemachte Zahnpasta kann wegen des KurkumaPulvers die Borsten deiner Zahnbürste verfärben!


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HOMEMADESPÜLMITTEL

Eine Küche ohne das bekannte Spülmittel in Plastikflaschen? Auch das geht. Die im herkömmlichen Spüli enthaltenen Tenside machen das Geschirr zwar sauber, haben aber einen Haken: Tenside bestehen aus Erdöl. Gewinnung und Abtransport dieses Öls schaden der Umwelt. FÜR DIE PLASTIKFREIE, UMWELTSCHONENDE UND HAUTVERTRÄGLICHE ALTERNATIVE BRAUCHST DU: ► 1 Behälter (für 500–750 ml) ► 25 g Aleppo-Seife ► 10–15 Tropfen ätherisches Öl nach Wahl ► 1 TL Natron ► 500 ml Wasser Zunächst kommt der etwas mühsame Part: Rasple 25 g von der AleppoSeife ab (Info zwischendurch: Raspelst du das ganze Seifenstück ab, dauert das circa fünf bis sieben Minuten). Bring das Wasser zum Kochen und gib die geraspelte Seife hinein. Anschließend mischst du Natron und das ätherische Öl hinzu. Nimm den Topf vom Herd, lass alles auskühlen und fülle die Flüssigkeit in deinen Behälter um. Schüttle das Gefäß ab und zu, damit die Mischung nicht fest wird. Von der Konsistenz her ist das Spülmittel Marke Eigenbau nicht mit normalem Spüli vergleichbar, aber es macht genauso sauber und hinterlässt keinen Fettfilm auf dem Geschirr. Obacht: Das selber gemachte Spüli schäumt nicht!


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WUNDERWAFFE KAFFEE Zugegeben, das ist nicht wirklich ein DIY. Aber ein cleverer Life-Hack, der den tagtäglichen Kampf mit dem Haushalt erträglicher macht. Und dafür brauchst du nur eine einzige Zutat: nämlich Kaffeesatz. Bei einem verschmutzten Backblech mit eklig festgebrannten Essensresten wirkt das belebende Pulver wie Scheuermilch. Gib einfach etwas davon auf das Backblech und verreibe es mit einem feuchten Lappen. Schnell löst sich alles Festgebrannte und Verkrustete. Das klappt übrigens auch bei einem Grillrost. Danach kannst du das Backblech oder den Grillrost ganz normal abspülen. Am besten mit dem selbst gemachten Spülmittel. Obacht: Dieser Trick funktioniert zwar auch mit Salz, aber wenn du Kaffeesatz nimmst, schenkst du dem braunen Pulver quasi noch ein zweites Leben und bist ganz nachhaltig.


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FAIR-WEAR MIT AMORE MUNICH WAREHOUSE


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TEXT: ANNIKA WAGNER // FOTOS: PAUL AMBRUSCH

In einer kalten Londoner Nacht appelliert die britische Rapperin Kate Tempest mit ihrem Werk „Let them eat Chaos“ an das verlorene Europa „to wake up and love more“. Eine Nadel in einem Haufen kleiner und großer Rebellionen, die alle denselben Schrei wie Kate Tempest loslassen, der stets in einem einzigen Wort mündet: Liebe. Love. Liefde. L’amour. Oder eben Amore. Das Münchner Klamottenlabel MUNICH WAREHOUSE ist eine weitere Nadel, die mit dem, was sie produzieren, eine Message formulieren. Wer MUNICH WAREHOUSE trägt, zieht ein Lebensgefühl, eine Lebenseinstellung über. Ende 2014 von drei Kreativ-Schaffenden gegründet, bedruckt das Label Fair-Wear-Klamotten in kleinen Auflagen und hat sich in Musik- und Kunstkreisen zu einem Codewort entwickelt. Das Logo – vier senkrechte Striche, ein diagonaler, darum ein Herz – als Zeichen für Zusammenhalt junger Stürmer und Dränger. Ende 2017, drei Jahre später. Michael Dreilich, Mario Radetzky und Paul Ambrusch stehen um Mitternacht in einem leeren Club und machen Fotos in modischen Pullovern. Auf einem steht in Versalien gedruckt das Wort Amore, den Buchstaben O ersetzt das Logo. Mit diesen Fotos – ohne Lächeln, ohne Schnickschnack – leitet MUNICH WAREHOUSE nach Vorbild von „Younger Us“ die Initiative „Mehr als ein Pullover“ ein. Jeder, der sich dazu entscheidet, einen Amore-Pullover zu kaufen, spendet einen zweiten an einen Obdachlosen in München. Zur Erklärung braucht es nicht mehr als das abgedruckte Zitat von Schriftsteller Charles Bukowski auf der Rückseite des Pullovers: „You begin saving the world by saving one person at a time: All else is grandiose romanticism or politics.“ MUNICH WAREHOUSE ist das Gegenteil eines profitorientierten Mode(l)-Labels. Eines, das ohne Hashtags und Pressekontakt lebt. Dahinter stehen drei Menschen, die jedes Paket, das verschickt wird, selbst zusammenschnüren und zur Post fahren. Kleine Auflagen, zu einem kleinen Preis, bis das Regal in der Müllerstraße leer ist und der Kreislauf wieder von vorne beginnt. Jedes Produkt, jedes Bild, das in die Welt ausgewildert wird, soll beim Empfänger ein gutes Gefühl hinterlassen, ihn abholen. So wie er ist. Ob im Penthouse, im Club, am Herd oder auf der Straße. MUNICH WAREHOUSE bedeutet, „Fuck you“ sagen zu dürfen, zu rebellieren und zusammenzuhalten. Man muss wie Kate Tempest kein Politiker sein, um etwas gesagt zu haben. Der Unterschied besteht darin, nicht still zu stehen. Etwas zu tun, im Kleinen. Eine Nadel zu sein, denn daraus und aus Worten können Lauffeuer entstehen.

► munichwarehouse.com


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DER

T BRAND

RÄT

WEIN

TEXT UND FOTO: CHRISTOPH BRANDT


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HURRA, HURRA, DER WEINHEILIGE IST WIEDER DA! Die ins Auge stechende Weinnase Thomas „Gigerl“ Hertlein ist hiesigen Vinophilen als bunter Hund bekannt. Sei es durch seine zwei ehemaligen Münchner Kultkneipen Last Supper und Blaue Donau. Oder durch die sich stets wandelnde und nicht unbedingt für die breite Masse ausgelegte Probenreihe Weinwerkstadt. Oder durch kurzweilige YouTube-Filmchen, in denen Hertlein als titulierter „Weinheiliger“ klare Kante zeigt und frei Schnauze seine Jünger zum Rebensaft bekehrt. Gegen Ende November erfolgt nun der nächste Streich: das Weinwirtshaus zum Schönfärber. Wer sich wie der weinbrandt gelegentlich an einem zwar ungezwungenen, dennoch gediegenem Glaserl Weißen außer Haus erfreut, sucht mitunter die Nadel im Heuhaufen. Schließlich geht in unserer feschen Stadt ein solches Unterfangen im Restaurant selten ohne geschlecktes Chichi und affektiertes Buhei einher. Deshalb ist der weinbrandt völlig d’accord, wenn der abgeklärte und ständig authentisch gebliebene Niederbayer Hertlein ihm eines seiner Gebote verkündet: „Der beste Bordeaux schmeckt bescheiden, wenn man ihn mit Arschlöchern trinkt.“ Die Inspiration zur Namensfindung für die unkonventionelle Vino-Wirtschaft stammt vom Doktor aus Monaco Franze. Wobei per Definition ein Schönfärber etwas Schlechtes eher beschönigt. Gigerl hat es aber keineswegs nötig, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, denn was er anfasst, wird zu flüssigem Gold. Für sein Leben gern kokettiert Hertlein mit Stilbrüchen. Mit seiner lustig-lässigen Art und immensem Weinwissen schafft er es spielend, den Spagat zwischen gehobenem Restaurant und spaßiger Atmosphäre zu schlagen. Das finale Gastro-Konzept wurde selbst Buddy weinbrandt vor der Eröffnung nur fragmentarisch verraten. Es wird jedoch unweigerlich für die ein oder andere positive Überraschung sorgen. Zusätzlich zum Mittagstisch im lichtdurchfluteten Innenraum mit 45 Plätzen gibt es eine Terrasse für fast 30 (sonnen-)hungrige Gäste. Bis auf die äußerst fair kalkulierten Weine wird das Augenmerk auf regionale Produkte gerichtet; mit der aus der Blauen Donau üblichen bravourösen Back-to-the-roots-Küche. Im Hintergrund laufen weiterhin alternative Vinylscheiben von Joy Division bis Ween. Neu dagegen ist der glasweise Ausschank von Weingranaten, den das Coravin-System ermöglicht. Für diejenigen, die sich im Schönfärber nicht zu Pinot-Noir-Freaks konvertieren lassen, hält Gigerl Augustiner aus dem Steinkrug oder süffige Gin Tonics parat. Ob all dieser Verheißungen stimmt der weinbrandt ein spontanes Stoßgebet an: Gigerl unser, dein Wille geschehe, dein Chardonnay komme, sowohl aus Burgund als auch aus der Neuen Welt. Unseren täglichen Tropfen gib uns heute, denn dein ist die Weinseligkeit. Amen! DER WEINBRANDT RÄT: Weinwirtshaus zum Schönfärber, Kazmairstraße 28 // Infos und Reservierungen ► thomas.hertlein@weinwerkstadt.de


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SPENDEN MAL ANDERS DIE qBON BELEGSPENDE

WORUM GEHT ES? Gutes tun – und das gleich doppelt und vor allem lokal! Gründer Thomas Hiemer will durch seine App nicht nur das Spenden vereinfachen, sondern auch dem Einzelhandel helfen. qBON ist ein Konzept zur Förderung der Region: Unternehmen spenden bei jedem Einkauf einen Teil des Umsatzes für gemeinnützige Zwecke. An welchen Verein, welche Körperschaft oder welches Projekt das Geld gehen soll, bestimmt der Käufer. WIE IST DER STAND DER DINGE? Aktuell sucht qBON vor allem noch nach Partnern aus dem Einzelhandel in und um München, um in eine erste Testphase starten zu können. Interessierte Händler können sich ganz einfach auf der Website registrieren. Aktuell laufen zudem Verhandlungen mit dem Handelsverband Bayern und den Bayerischen Werbegemeinschaften, von denen man sich Unterstützung und Partner erhofft. WIE FUNKTIONIERT ES? Nach dem Einkauf bei einem teilnehmenden Unternehmen findet man einen QR-Code auf dem Kassenbeleg oder man kann ein Kärtchen mit dem gedruckten QR-Code von qBON mitnehmen. Anschließend wird der Code mit der qBON-App auf dem Smartphone gescannt. In der App wird dann der PLZ-Bereich definiert, in dem man spenden will. Es wird eine Liste an ausgewählten steuer­ begünstigten Organisationen angezeigt, die Spenden über die App empfangen können.

TEXT: STEPHIE SCHERR

WER MACHT MIT? Teilnehmende Unternehmer haben einen brombeerfarbenen Aufkleber mit dem typischen QR-Code-Tüten-Logo und dem Slogan „Sie senden – wir spenden“ im Eingangsbereich. Alle teilnehmen­den Unternehmen sind auf qbon.org gelistet.


MÜNCHEN in der

Villa Flora

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TonHalle • Grafingerstr. 6 • 81671 München 17 - 23 Uhr • Eintritt: 3 Euro Hansastraße 4 · München Einlass 17 Uhr · Eintritt: 3 Euro

www.nachtkonsum.com


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#curtpräsentiert

WIR VERLOSEN FREIKARTEN FÜR JEDES DER AUFGEFÜHRTEN KONZERTE! ALLE GEWINNSPIELE FINDET IHR VIER WOCHEN VOR DEM JEWEILIGEN KONZERT AUF CURT.DE/MUENCHEN

KONZERTE

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TEXTE: MIRJAM KARASEK, MELANIE CASTILLO

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KLANGSTOF | MILLA „Klang“ = norwegisch „Echo“ und „Stof“ = holländisch „Staub“. Der Sound aus Norwegen klingt genau so: nach verhallt-melancholischem Echostaub-Pop, der euch zum Tanzen und Träumen bringt – mystisch-geheimnisvoll, episch und faszinierend. FÜNF STERNE DELUXE | BACKSTAGE „Moin Bumm Tschack!“ Nach 17 Jahren dürfen wir zum neuen Studio-Album „Flash“ wieder glücklich und unisono mit dem Kopf nicken. Die Hamburger Hip-Hop-Legenden legen mit noch mehr Style, Genie und Wahnsinn nach. Oh, wie gut das schmeckt! Hmm!


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MILKY CHANCE | MUFFATHALLE Ausverkauft! Was sonst? Der Song „Stolen Dance“ katapultierte vom Internet in die ganze Welt. Das DIY-Duo aus Kassel füllte aus dem Stand die Konzertsäle. Jetzt legen sie nach: mit neuem Player „Blossom“ und altbekannter Lässigkeit. MARTIN KOHLSTEDT | TECHNIKUM Bei dem Weimarer Pianisten Martin Kohlstedt ist alles möglich. Er improvisiert gerne zwischen rasenden Klavierschlägen und reißenden Synthieflächen, reagiert aufs Publikum, baut Stücke um. Eines ist gewiss: Sein neues Album „Strom“ ist dabei.

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NORDIC GIANTS | KRANHALLE Instrumenaler Postrock und großes Kino gehen bei dem britischen Duo Loki und Rôka Skuld Hand in Hand. Ihr neuester Wurf „Amplify Human Vibration“ verspricht erneut Live-Konzerte de luxe: „a cinematic, musical & live tour concept all in one!“

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KIM JANSSEN | KRANHALLE Über 450 Konzerte hat Kim Janssen mit seiner Band in den vergangenen vier Jahren runtergerissen. Solo geht es nun schillernd weiter: mit gehauchten Balladen und großen PopMomenten. Wen das kalt lässt, der hat keine Gefühle.

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MIGHTY OAKS | MUFFATHALLE Das klingt nach Freiheit, Abenteuer und Liebe: Die Globetrotter aus Berlin sind heftig kreativ und auf der Bühne noch dazu die Wucht. Hand-made Indie-Folk mit schönen Mandolinen und noch schönerem Harmoniegesang. Jetzt: die „Higher Place Tour“.

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WINTERFEST 2018 | MUFFATWERK Musik und Party en masse – so wie wir den Winter im Muffatwerk kennen und lieben. Dieses Jahr live on Stage: Ni Sala, Yungblud, Twin Tone Trigger, Adulescens, Bruckner und Seda … Nicht zur vergessen die HipHop-Edition mit Bbou, T-Ser und Beta.

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WOLF ALICE | AMPERE Visions of a Life“ nennt sich das Zweitwerk des Londoner Vierers. Seine Visionen des Lebens sind ganz klar im ehrlichen Alternative-Rock zu Hause. Zwischen dominanten Gitarren und der zarten Stimme von Sängerin Ellie Rowsell – dem Mädchen unter den Wölfen. KAKKMADDAFAKKA | MUFFATHALLE Ein Konzert der Rhythmusgruppe aus Bergen ist wie ein belebendes Bad in prickelndem Sekt: fröhlich sprudelnde Popsongs, die Glücksmomente freisetzen. Da möchte man beseelt durchtanzen, ja, muss es sogar. That’s „All I Want to Hear“!


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KETTCAR | TONHALLE Nach vier Jahren kreativer Auszeit sind die Hamburger Deutschrock-Poeten wieder mittendrin: mit neuem Player „Ich vs. Wir“, gewohnt kraftvollen und ausdrucksstarken Texten und eindeutiger politischer Haltung. Die Oper ist noch nicht zu Ende. Und das ist gut so!

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FJØRT | STROM Die Aachener haben mit dem neuen Album einen weiteren Schritt in der Entwicklung getan und ihren brachial verschachtelten Sound um diverse experimentelle Finessen erweitert. Die Kompositionen zielen dabei weiterhin direkt zwischen die Augen. #posthardcore

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THE WOODEN SKY | MILLA Bei den Kanadiern schimmert mal etwas Psychedelika durch, mal gepfleger Folk und auch ein wenig Blues. Der Fokus liegt aber abgesehen von ein paar Streicher-Balladen musikalisch dennoch auf verzerrten E-Gitarren und experimenteller Art-Rock-Attitüde.

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IRON & WINE | MUFFATHALLE Hach, möchte man seufzen, wie unendlich schön. Sam Beams samtige Stimme bohrt sich ganz tief in die Seele, findet unsere Emotionen in verborgensten Winkeln. Nicht anders die Songs von „Beast Epic“: lyrisches Folk-Storytelling vom Allerfeinsten.

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TORPUS & THE ART DIRECTORS | AMPERE Bodenständig und naturverbunden: Auch wenn sie in Hamburg leben, lieben diese Jungs das Weite und Ruhige, das Unverkrampfte, ohne viel Brimborium. Kurzum: grundehrlichen traditionellen Folk. Bei der Musik muss man sich einfach wohlfühlen.

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SON LUX | AMPERE In Sachen Kreativität und Dynamik macht Bandbegründer Ryan Lott keine halben Sachen. Aus Folk-, Elektro- und TripHop-Schnipseln braut das Trio einen wohlschmeckenden Energydrink, der euch in neue Sphären katapultiert. Wohl bekomm‘s!

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WHOMADEWHO | THEATERFABRIK Das Trio aus Kopenhagen reißt auch 2018 musikalische Mauern ein. „Through The Walls“ betitelten sie ihre neueste umtriebige Klangodyssee querbeet durch Electro, Indie, Pop und Disco. Und live kommt das Sound-Kaleidoskop noch besser.

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ALVVAYS | AMPERE Als „Indie-Pop Wonder“ rühmte der Rolling Stone das selbstbetitelte Debüt des kanadischen Quartetts. Mit „Antisocialites“ folgt nun die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte. Lieblichverträumter Indie-Pop mit einem wuchtigen Klecks Punk.

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BRIAN FALLON & THE HOWLING WEATHER | THEATERFABRIK Mr. Gaslight Anthem macht sein eigenes Ding: mit neu gegründeter Band und altbekanntem Mix aus Country, Folk, klassischem Rock ’n’ Roll und dem Wums von Hardcore und Punk. Mit an Bord: Singer/Songwriter Dave Hause.

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DILLON | TECHNIKUM Im November erblickte Dillons Nachwuchs „Kind“ das Licht der Musikwelt. Ein ungewohnt helles Album, ohne je in seichten Pop abzudriften. Die einnehmende Stimme, weises Charisma und drängendes Klavierspiel bleiben, wie wir sie kennen.

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KAT FRANKIE | AMPERE Die australische Musikerin, die seit 2004 in Berlin ansässig ist, klampft nicht nur traurig an der Gitarre, sondern beherrscht eine weitaus größere Klaviatur, als ihr Debüt verriet. Auf ihrem im Februar erscheinenden Album „Bad Behaviour“ sucht dunkelbunter Pop seinesgleichen.

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FRANZ FERDINAND | TONHALLE Die Indie-Rocker aus Glasgow tun das, was sie schon immer tun: Irgendwas mit Britpop plus Einflüssen aus dem Post-Punk der späten 1970er und dem New Wave der frühen 1980er. Mit ihrem frisch gebackenen neuen Album „Always Ascending“ sind sie wieder auf Tour!

RADIO


Bird Berlin ist wahrlich ein schräger Vogel. Ein funkelnder Wirbelwind mit knallbunten Leggings, der – das Brusthaar in Herzform getrimmt – mit jeder Menge Glitzer im Pelz wie in Trance über die Bühne tänzelt, taumelt, schwebt und sein Publikum mit seiner Präsenz, quietschig-bunten Discobeats und „gigantischen Gefühlsräuschen“ bezaubert. Während sich Birdi alias BERND PFLAUM auf der Bühne als glitzernde Rampensau präsentiert, überrascht er beim Interview-Quickie mit seiner ruhigen, bescheidenen und beinah schüchternen Art. Beim Karaoke-Duett zu „Bohemian Rhapsody“ schwindet die Befangenheit jedoch und am Abend auf der Bühne ist er wieder ganz der wilde Vogel, den seine Fans seit zwölf Jahren feiern. Wir trafen die fränkische Discokugel in München und blieben am Ende mit Glitzer im Haar und Herzerl in den Augen zurück.

BIRD BERLIN

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Ich war ein großer Fan. Aber der ist ja auch schon gestorben. Freddie Mercury wird es aber immer sein. Deine Message an … … die Alten? Mehr auf die Jungen hören. … die Jungen? Mehr auf die Alten hören! (lacht) … die Welt? Macht mehr Liebe! Ein Freak ist … unglaublich süß. Was inspiriert dich? Die Liebe zur Musik, die Freude an Wendungen, kitschigen Klängen und deren Scheitern ... Im Grunde inspiriert mich alles, was um mich herum ist: alles Hässliche, Negative inspiriert mich dazu, es zu verwandeln und schöner zu machen; und alles, was schön ist, will ich mitnehmen! Wovor hast du Angst? Vor dummen Menschen. Was gibt dir Kraft? Eine schöne Auswahl an Pfannkuchen mit unterschiedlichen Marmeladen. Artig vs. anders? Ich würd das „vs.“ streichen: Ich bin sowohl artig als auch anders. Oder anders als artig. Hit und Shit 2017? Hit: das Engagement von Leuten unterschiedlichster Couleur, die sich gegen Rechts wenden. Shit: wie gierig die Medien auf Schlagzeilen sind. Was kommt als Nächstes? Ich spiele mit dem Gedanken, zur Bundestagswahl anzutreten, hab mich aber noch nicht so recht getraut. Einerseits wollte ich gern den Weg über „Die Piraten“ oder „Die Partei“ gehen und das Ganze eher in satirischem Kontext stattfinden lassen. Es gab auch Überlegungen, bei einigen Gruppierungen in Nürnberg mit einzusteigen. Auf jeden Fall will ich in den Bundestag oder ins Bellevue. Ich möchte Dinge verbessern! Wer Bird Berlin live erleben will, kann das am 22. Dezember 2017 am „Basement Again! Again! Again!“-Festival in Hersbruck tun. Danach müssen sich alle Fans ein wenig gedulden: Nach einem kleinen Stopp in Hamburg fliegt der kuschelige Glitzerbär nämlich für vier Konzerte nach Japan. Die Wartezeit bis zur Wiederkehr versüßt das aktuelle Album „Mach die Augen nur 1 x zu, wenn du mich küsst“. Mehr Infos und aktuelle Tourdaten ► facebook.com/birdberlin

Und jetzt? Ich hab grad gar keine Helden mehr. Alle Helden tot? Alle tot. Früher war Joe Cocker so was wie mein Held.

Geburt von Bird Berlin? Ich bin 35 Jahre alt und mache Musik, seit ich denken kann. Seit 12 Jahren steh ich nun als Bird Berlin auf der Bühne. Bird und Bernd vermischen sich inzwischen ein bisschen. Was war vor Bird? Ich hab Heilerziehungspfleger gelernt und mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Danach hab ich zwei, drei Semester Theater- und Medienwissenschaft sowie Soziologie und Politikwissenschaft studiert. Seit ca. 4 Jahren bin ich hauptberuflich Birdi: Ich schreibe Bücher und Gedichte, eine Kolumne im curt Nürnberg, veranstalte Lesungen, spiele ein bisschen Theater, mach Musik … Bei welchem Song wünschst du dir, er wäre von dir? „I can’t get no satisfaction.“ Wenn ich das geschrieben hätt’ – wär schon ziemlich cool! Wenn du ein Groupie wärst: Girl, Boy oder Band? Ich wär gern Girlboyband -Groupie. Ich bin für alle da. Dein schönster Auftritt bisher? Auf der „Fusion“ vor 1 ½ Jahren. Als ich auf die Bühne kam, skandierten 1.000 Leute „Birdi, Birdi“. Das war zauberhaft – da musste ich mich schnell nackig machen! Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht. Das war sehr ekstatisch. Glitzer vs. Glamour? Glitzer. Obwohl ich langsam auf Pailletten umsteige, weil der Glitzer bei mir zu Hause einfach überall ist. Neulich hatte ich sogar welchen auf der Butter. Held deiner Kindheit? Abba.

TEXT UND FOTO: PETRA KIRZENBERGER

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OLLI NAUERZ, seinerzeit Punk-Aktivist, bewegte einiges in der Münchner Szene und tut es bis heute. Ob als Sänger seiner Band „Einstürzende Musikantenstadl“, Filmemacher („Mia san dageng! Punk in München“) oder Herausgeber der antikommerziellen Zeitschrift „Gaudiblatt“: Er weiß, wovon er spricht. Und ein super Typ ist er noch dazu. Er erzählt uns, wie es sich als Punk im geleckten München so lebt, was die hiesige Szene ausmacht, worin sie sich von jenen anderer Städte unterscheidet, was früher war, heute ist und morgen kommt. ▼

TEXT: CARLA SCHWEIZER // FOTOS: LARA FREIBURGER

Minga Pank / des is dei Schdod / du bisd ned Schdaad: ois foisch und faad!

MINGA PANK curt 81


► gaudiblatt.de ► einstuerzende-musikantenstadl.de

Das Schöne am frühen, am ursprünglichen Punk sei gewesen, dass jeder sich ausprobieren konnte. Man musste nicht jahrelang ein Instrument spielen, um sich auf die Bühne zu wagen – ohnehin war ein cooler Bandname meist wichtiger als das Beherrschen einer Gitarre oder eine gute Stimme. Und eben das war für Olli das Besondere, der Zauber des Punk, den es heute wieder auf den Boden zurückzuholen gelte. Sicher, ab und an schielt er schon neidisch auf den freigeistigen Charme anderer Städte wie Lissabon, Athen oder Barcelona. Die Multikulti- und Subkultur habe ihn begeistert und erkennen lassen, was in München fehlt. Auch Berlin-Friedrichshain nennt Olli ein „Paradies.“ Oft wurde er gefragt, was ihn hier halte, warum er’s nicht tue wie so viele und ebenfalls gen Hauptstadt ziehe. Einige Freunde waren im Lauf der Zeit dorthin abgewandert – um früher oder später zurückzukeh-ren. Die Bewohner der dort besetzten Häuser waren keine Berliner, sondern Zugereiste, die sich dort „ins gemachte Nest“ gesetzt hatten. Olli war das zuwider. Und so blieb er. Und das ist ein großes Glück für das sonst so kleinbürgerliche München. ▪

nennt es einen „Kaugummibegriff“ und lässt sich für die Antwort auf meine Frage, was Punk für ihn denn nun ausmache, erstaunlich viel Zeit. „Es ist für mich eine Haltung, eine Einstellung.“ Heute möchte er seinen Freigeist wahren, sich nicht beschränken lassen. Für Olli ist es weder leicht noch überhaupt nötig zu definieren, wer bzw. was „Punk“ ist. Eine unreflektierte Anti-Haltung jedenfalls nicht. Stattdessen plädiert er für einen positiven Ansatz, der die Frage nach dem „Wofür bist du?“ verfolgt – nicht wogegen.

Über Punk allein möchte Olli sich heute nicht mehr definieren. Hip-Hop und Rap findet er gerade spannend, ist insgesamt sehr vielseitig interessiert. Mit dem Wort als solchem tut er sich schwer,

Die ersten Münchner Punks ließen sich 1977 an einer Hand abzählen, doch ab 1980 wuchs die Szene rapide. Allen voran Schwabing entwickelte sich zur politischen wie künstlerischen Keimzelle und hatte schon in den 60er-Jahren (u. a. getrieben von der 68er-Studentenrevolte) für Aufsehen gesorgt. Bald jedoch wurde der Stadtteil gentrifiziert und als der Punk schließlich in München angekommen war, herrschten hier bereits Schickeria und Kommerz. Auch das heute so unscheinbare Milbertshofen galt als linke Hochburg. Im anarchistischen Zentrum „Milb“ traf sich die „Arbeitersache München“ und was unter dem Titel „Freizeit 81“ begann, wurde schnell zu einer knapp 100 Personen starken Bewegung, geleitet von radikal-politischer Haltung.

Olli ist fasziniert von der spannenden Stadtgeschichte Münchens. Schwabing hat um 1900, ähnlich wie Paris, die großen Künstler dieser Welt geradezu magisch angezogen. Auch war München immer schon politisch und bot entsprechenden Nährboden, war u. a. Schauplatz der Räterevolution 1918/19 und barg 1962 die „Schwabinger Krawalle“ mit etwa 30.000 Aktivisten. Der Englische Garten galt als einer der ersten öffentlichen Orte überhaupt, an dem das Nacktsein gestattet war. „Leben und leben lassen“ prägte lange Zeit das Gesellschaftsbild dieses antimilitärischen Epizentrums.

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Minga Pank – boarische Hoamat Minga Pank – griabige Arwad Minga Pank – so schee sauwa Minga Pank – ois in Oadnung

Minga Pank – nix wia Liang! Minga Pank – de woin di fabiang Minga Pank – du soisd ois glaam Minga Pank – wos de dia song

ois foisch und faad!

Minga Pank des is dei Schdod du bisd ned schdaad:

EINSTÜRZENDE MUSIKANTENSTADL haben dem Münchner Punk-Dasein einen eigenen Song gewidmet:

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BUSSI Man sagt ja immer, mit dem zweiten Album steht oder fällt alles. Jetzt habt ihr das dritte draußen und den vermeintlichen Hype hinter euch gelassen. Wann entscheidet ihr, dass es Zeit für eine neue Platte ist? Das ist interessant. Ich hör in der Tat immer wieder, dass die zweite die kritische ist, da man nach dem Debüt nachlegen muss. Dann ist die dritte eigentlich richtungsweisend. Ich glaube, dass unsere vierte unsere schwerste werden wird. Wer weiß, was wirklich wahr ist. Grundsätzlich nehmen wir aber Songs auf und kein Album. Wir gehen nicht ins Studio, um ein Album aufzunehmen, sondern nehmen ein Lied nach dem anderen auf. Und das eben schon seit über fünf Jahren eigentlich kontinuierlich und durchgehend. Das Album ist eine Endstation, aber nicht der Zweck zum Liederschreiben.

„Niente“ heißt das dritte Werk von Wanda, das die Tradition, die 2014 mit „Amore“ in unsere Herzen gebrannt wurde, konsequent fortsetzt. Am meisten freuen wir uns jedoch über den willkommenen Rettungsring der einzig wahren Schmäh-Poeten, bevor wir im Sumpf der abertausend Austro Pop-Trittbrettfahrer zu ersaufen drohen. Ehe wir Wanda nächstes Jahr endlich wieder live erleben können, klingelten wir mal eben durch und hatten MANUEL CHRISTOPH POPPE, den Mann an den sechs Saiten, am Apparat. Ein Gespräch über alles und „Niente“, von John Lennon bis Smells Like Teen Spirit.

TEXT: TIM BRÜGMANN // FOTO: WOLFGANG SEEHOFER

GUTEN FREUNDEN GIBT MAN EIN

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► niente.wandamusik.com // WANDA live: 20. März 2018 im Zenith

Ist der Song eher Fluch oder Segen? Ihr werdet ja gerne mal auf eine Formel reduziert. Boah, vielen Dank! Zu deiner Frage: Reduzieren kann uns niemand. Man kann es nur versuchen … Es ist einfach der Titel des ersten Albums und ein Schlachtruf. Den haben wir uns zu eigen gemacht. Drei Vokale, die du echt super in die Menge brüllen kannst. Eine Lebenseinstellung, ein Gesellschaftsauftrag und Kommerzschmäh auf einmal. Wie ein Überraschungsei!

Wenn wir schon bei „Bologna“ sind. Meiner Meinung nach haust du auf dem Song eines der lässigsten Gitarrensoli raus, die ich kenne. Wie kam’s dazu? Das nehme ich glatt als Kompliment, dass es für dich ein Gitarrensolo ist. Für mich ist es eher ein Liedpart. Es ist einfach der „Smells Like Teen Spirit“-Schmäh, die Gesangsrhythmik aus der Strophe auf der Gitarre nachspielen und einen Verzerrer einschalten. Ich musste da gar nicht viel gitarrenwichsen, ich hab nur die Melodie nachgespielt. (lacht)

Vor drei Jahren habt ihr das schöne Wort „Amore“ geprägt und nach Deutschland gebracht. Wie hat sich der Begriff für Wanda in den letzten Jahren verändert? Nicht sonderlich. Bei unserem Verständnis von „Amore“ geht es nicht ausschließlich um die Bella Ragazza auf der Matrazza, sondern um Nächstenliebe, um Angstbefreiung und Gewaltlosigkeit. Dass man nicht boshaft zueinander ist. Darum geht es. Boshaftigkeit ist kein Lebenszweck, würde ich sagen. Ähm, es geht nicht um Ficken … Es geht um Nächstenliebe!

Wanda als die Wiener Beatles also … wenn du das schreibst, ja, das wäre ein Kompliment! Natürlich vermessen vielleicht, aber, nein, nein! Die Wiener Beatles, das lass ich mir g’fallen! Der Sigmund Freud würde übrigens sagen: „Macht’s euch nicht zu viele Gedanken und sucht euch ein Mädchen! Das wird schon alles.“

Wenn du bei Sigmund Freud auf der Couch liegen würdest, um ihm nacheinander die Texte der drei Wanda-Platten zu erzählen. Was für ein Persönlichkeitsbild würde er zeichnen? Da müsstest du den Sigmund fragen. (lacht) Aber John Lennon ist eigentlich eines unserer Vorbilder oder Helden. Der hat zunächst mal den Blues auf eine Struktur gehoben, aus dieser klassischen Blues-Struktur heraus, und zum ersten Mal das Unbewusste in den Vordergrund gestellt. Oder überhaupt erst über das Unterbewusstsein gesungen. So gesehen ist es vielmehr so, dass John Lennon unser Song- bzw. Prinzipienstifter ist.

Nachdem Wanda von 2014 an knapp zwei Jahre durchgearbeitet haben, wunderte man sich, woher ihr das zweite Album „Bussi“ so plötzlich trotz Touralltag herzaubern konntet. Hattet ihr jetzt wenigstens ein bisschen mehr Zeit zum Schreiben? Die Beatles haben ja in den ersten Jahren jeweils zwei Alben pro Jahr herausgebracht. So könnte man auch sagen, dass wir ein ganz normales Bandgeschäft am Laufen haben. Wir haben das Glück, unsere Mieten davon zahlen zu können, und wir haben nichts anderes zu tun. Was soll man machen? (lacht) Wir spielen 100 bis 200 Konzerte im Jahr und die restlichen 150 Tage nehmen wir Lieder auf. Das ist gar nicht so stressig und so überrollend, wie es vielleicht wahrgenommen wird. Am Ende ist es doch das Einzige, was wir können und was wir immer machen wollen.

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Vom Erdinger Griechen Stavros und der Münchnerin Hanna, die Griechenland aber mindestens ebenso liebt und außerdem ihr eigenes Weißbier braut, wurde das eintägige (oder eher ein abendliche) Muhviech-Festival vor vier Jahren ins Leben gerufen; Ende Januar feiern die beiden mit der 5. Runde schon ein kleines Jubiläum. Dabei geben sich nicht nur lokale Kapellen und Bandas die Klinke in die Hand.

An bunten Hund kennt man. Der is hoid bekannt, der treibt sich umanand, der ist hier und da gesehen und immer irgendwie a bisserl anders. Eine eher unbekannte Zeitgenossin hingegen ist die bunte Kuh. Und das völlig zu Unrecht! Die bunte Kuh, das ist Kultur, Musik, Tanz, Party; wild gemischt einmal quer durch die Welt und wieder zurück. Ku(h)nterbunt eben.

A BISSERL ANDERS

KU(H)NTERBUNT

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Wir verlosen 3 x 2 Karten unter allen kreativen Heads da draußen. Malt uns eine bunte Kuh, schnell a Foto schießen, ab damit auf Instagram und häschdäggn sowie verlinken mit #curtichwillgewinnen, #curtgoesbuntekuh und @curtmuenchen.

► bunte-kuh-festival.de

„Irgendwie musste ich bei der Kuh, insbesondere bunt, halt immer ans Debüt-Cover von LaBrassBandas „Habediehre“ denken, da hab ich das Festival dann einfach in die World-Mundart Schublade geschoben“, gestehe ich. Dass das natürlich nichts Schlechtes sei, füge ich hinzu, denn ich habe das Album geliebt. Nur über den Tellerrand habe ich bei der bunten Kuh bis dato noch nicht geschaut. Dabei lohnt es sich so arg, den Blick von der Alm auf Tal und Berge zu lenken (verkitscht-bildlicher Vergleich over.)

Dass ich selbst noch nie auf dem Festival war, es namentlich aber durchaus kannte, zeigt den beiden liebevoll selbst betitelten „Almgründern“ nur umso mehr, dass es nicht alles ist, die Werbetrommel zu rühren. Das Reden über Inhalte, der Austausch der Kulturen auf, vor, hinter der Bühne: Darum geht es.

Beim Gespräch mit Stavros und Hanna in der Kulttaverne Anti wird schnell klar, welche Gedanken dem Festival zugrunde liegen. „Die bunte Kuh ist einfach eine coole Party, die offene Menschen und eine offene Mentalität in den Mittelpunkt stellen und zelebrieren soll. Und das eben zu Musik aus aller Welt – wobei der Begriff World Music irgendwie ein bisschen durch ist“, wie wir einander zustimmend feststellen. „Das ist schwer greifbar und einigen fällt es schwer, sich konkret etwas darunter vorzustellen. So kamen wir also zu einem Veranstaltungsnamen, der so gar nichts mit World, International oder Ähnlichem zu tun hat und dennoch die der Veranstaltung zugrunde liegende Vielfalt wiedergeben sollte.“ Amen, darauf den dritten Ouzo, der uns während des Gesprächs immer mal wieder auffällig unauffällig über den Tisch zugeschoben wird.

The Ufoslavians beispielsweise treten die extraterrestriale Reise an und bewegen ihre Hintern irgendwo vom Balkan rüber nach Minga. Das Transatlantic Club Orchestra (kurz und lecker, TACO) klingt zwar sehr … nun ja, transatlantisch, kimmt dann aber eben doch von hier. Die fünf sind so bunt zusammengewürfelt wie ihre Musik. Tuba trifft auf Geige, Mischpult auf Percussion und Synthies auf Cumbia. Wenige Wochen ist es her, dass das Quintett als Opener für die Orishas die ausverkaufte Muffathalle einheizten, als wären draußen Minusgrade. Und nein, die hatte es damals g’wiss no ned. Die Meschpoke, Muntermonika und DJ Jahvolo komplettieren das Line-up des BKF 2018, welches das Hansa39 am 27. Januar 2018 hoffentlich so rappelvoll werden lässt wie schon in den vergangenen Jahren.

TEXT UND ILLUS: NURIN KHALIL

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Ein Bällebad in einem Swimmingpool im Keller, ein Sammelsurium an alten Filmkameras in jeder Ecke, gefühlt 20 Toiletten und Duschen, ein Green Screen in der Garage, ein Sofa mit Augen ... Die Räumlichkeiten der bumm film sind ein Erlebnis für sich – und genau das richtige Umfeld für den Chef Tommy Krappweis. Der ist nicht nur kreativ genug, um ein sprechendes Brot zu erfinden, sondern auch einfach ein Macher – vorausgesetzt, ein Thema begeistert ihn wirklich! In der neuen Firmenzentrale vor den Toren Münchens entstehen aktuell Hörbücher, es wird gefilmt, geschrieben und gesungen. ▼

ZU BESUCH BEI TOMMY KRAPPWEIS

TEXT UND FOTOS: STEPHIE SCHERR

DER IS’ JA EH ANDERS.

UND DANN GIBT’S DA NOCH DEN TOMMY.

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Deine Arbeitsweise und auch dein Werdegang sind ja durchaus „anders“, wenn man so will. Wie äußert sich das konkret? Der Tenor war schon während meiner Schulzeit: „Das ist also die Klasse … und dann gibt’s da noch den Tommy. Der ist ja eh … anders.“ Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der das nicht so war. Ich habe das nicht bewusst herausgefordert. Ich wollte nicht anders sein, aber meine Sicht- und Handlungsweise war im schlimmsten Fall einfach immer konträr zu dem, was von mir erwartet wurde. Ich war ein katastrophaler Schüler und habe lieber Theater und in der Schulband gespielt, für die Schülerzeitung geschrieben, den Schulchor gegründet oder einfach etwas gefilmt. Meinen Lehrern war es zu verdanken, dass ich nicht in der Gosse gelandet bin, wie sie später gerne betont haben. Sie haben einfach meine außerschulischen Aktivitäten bewertet. Damals war also schon klar, dass ich immer mein eigenes Ding machen würde und dabei entweder scheitern oder Erfolg haben werde. Da Scheitern aber natürlich nicht infrage kam, habe ich mich für den Erfolg entschieden. Überhaupt habe ich oft festgestellt, dass eine leicht irrsinnige Verhaltensweise sehr oft

Obwohl du mit der Firma die Stadtgrenzen Münchens verlassen hast, bist du ein waschechter Münchner, aufgewachsen in Neuperlach und Giesing. Wie sehr hat die Stadt dich in deinem künstlerischen Schaffen beeinflusst? Extrem! Allein durch die Historie der vortragenden Kunst in München. Allen voran natürlich Karl Valentin, dessen Humor so typisch münchnerisch ist und der mich schon als kleines Kind begeistert hat. Meine erste Erfahrung auf der Bühne machte ich als Karl Valentin: Ich spielte ihn in der ersten Klasse in dem Stück „Im Zoologischen Garten“. Genauso geprägt haben mich aber natürlich auch Leute wie Fredl Fesl oder „Ein Wagen von der Linie 8“ vom Weiß Ferdl. Ich glaube auch, dass man diesen Einfluss immer noch in vielen Dingen, die ich schreibe, merkt. Mara aus „Mara und der Feuerbringer“ kann man natürlich nicht mit Karl Valentin vergleichen, immerhin sieht sie auch deutlich anders aus als er. Aber ihr Blickwinkel auf die Welt, von links oben sozusagen, ist dem Valentins sehr ähnlich.

Die Räumlichkeiten sind ein wenig skurril ... und passen daher perfekt zu uns. Wir sind eine Firma voller Sonderlinge, wenn man so will. Jeder von uns hat eine ganz schwere Meise – natürlich im positiven Sinn. Und zusammen kommen wir auf die großartigsten Ideen. Es ist ein bisschen wie bei der „Katze mit Hut“. Auch wir sind ein Haus voller seltsamer Gestalten. Und dass wir einen Swimmingpool im Keller haben, der gerade als Filmset dient, oder sich hinter jeder zweiten Tür eine Toilette oder Dusche befindet, die der Vormieter eingebaut hat, passt auch einfach in das Gesamtbild.

Ihr seid erst vor Kurzem aus der Menterschwaige nach Otterfing gezogen. Warum die Entscheidung, die sehr gut gelegenen Räumlichkeiten in München zu verlassen? Ja, wir sind jetzt in Otterfing, wo ich einen Otter fing! Die Räumlichkeiten in der Menterschwaige, in denen wir wirklich lange waren, wurden uns leider zu klein und auch ein wenig zu teuer. Dazu kam, dass wir viele Flächen nicht richtig nutzen konnten – Flächen, die wir aber dringend brauchten. Studioflächen, um selbst drehen zu können und einen ordentlichen Green Screen zu haben. Aber auch banale Dinge wie Verkabelungen und das richtige „Zusammenkasteln“ der einzelnen Räume spielten eine Rolle, um den Workflow zu verbessern.

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Erfinder von Bernd das Brot Ensemblemitglied von RTL Samstag Nacht Bücher: Mara und der Feuerbringer, Das Vorzelt zur Hölle, Vier Fäuste für ein blaues Auge, Sportlerkind, Ghostsitter

WOHER KENNT MAN TOMMY KRAPPWEIS?

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► facebook.com/tommy.krappweis ► facebook.com/bummfilm

Und dann gibt es ja auch noch Bernd das Brot und Aktionen wie „Die extra-lange BerndNacht“. Was passiert hier momentan sonst? Aktuell drehen wir kein neues Material, weil einfach keine Zeit ist. Aber in den knapp 17 Jahren Bernd haben wir Abertausende Stunden gedreht, dass der KIKA auch so noch genügend Material hat, das viele Zuschauer gar nicht kennen. Bernd ist nicht nur die Nachtschleife, es gibt auch einen tollen Robin-Hood-Film, in dem Christoph Maria Herbst und Hugo Egon Balder zu sehen sind. Hier wird es also auch nicht langweilig, obwohl Bernd aktuell nicht in meinem Fokus ist. Die Idee zur Bernd-Nacht kam vom KIKA selbst, was auch zeigt, dass das Brot immer noch sehr beliebt ist. ▪

Und dabei sind viele tolle Projekte entstanden. Woran arbeitest du denn aktuell? Momentan liegt mein Fokus vor allem auf der „Ghostsitter”-Reihe. Wir haben in den letzten Wochen das Hörspiel in unserem Tonstudio hier vor Ort aufgenommen, parallel dazu habe ich den fünften Band der Reihe geschrieben und einen Titelsong eingespielt, für den wir auch noch ein Musikvideo produzieren werden. Aktuell befinden wir uns in einem Hörspiel-Moloch, wenn man so will. Wir arbeiten mit audible und Amazon zusammen, die uns wahnsinnig viele Freiräume lassen, weil sie sich darauf verlassen, dass wir wissen, was wir da tun. Sie haben uns ja engagiert, weil sie unser Können schätzen und wollen, dass wir die Projekte machen, wie wir sie machen. Parallel dazu entwickeln wir verschiedene Fernsehfilme und -serien, Dokus für Servus TV und DMAX, aber der Fokus liegt vor allem auf den Hörspielprojekten.

Wie hast du dir all das Wissen und die Fähigkeiten angeeignet? Ich habe nie Dinge so gemacht, wie man sie gemeinhin macht. Lehre, Schauspielschule, Filmhochschule … Habe ich alles ausprobiert und es ging schief. Ich lerne lieber auf meine eigene Art. Dadurch bin ich dann wahnsinnig schnell, aber vor allem auch zielgerichtet. Dinge, die ich nicht für relevant erachte, kann ich mir nicht aneignen. Es gehört ein gewisses Maß an Ignoranz dazu, aber inzwischen habe ich auch ein gewisses Maß an Demut gelernt und weiß, was ich lieber nicht anpacken soll. Aber ich war immer schon jemand, der Dinge, die ihn interessiert haben, mit absoluter Unnachgiebigkeit verfolgt und meistens hat es Gott sei Dank funktioniert.

zu Ergebnissen führt, auf die man nicht gekommen wäre, wenn man alles nur noch dem Rulebook gemacht hätte. Unser Team ist inzwischen sehr gut darin, innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen Wege zu finden, etwas Ungewöhnliches zu erschaffen.

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HÄKELANLEITUNG „SCHNEEFLOCKE“:

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TEXT: MI

K: SIMON U & ARTWOR PAWLOWA, ILL SEK, SONJA RJAM KARA

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EISKALTE FAKTEN

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2 Luftmaschen mit 1 Kettmasche zurückhäkeln, 2 Luftmaschen mit 1 Kettmasche zurückhäkeln, 1 Kettmasche; in die letzte freie Luftmasche 3 feste Maschen um sel Luftmaschenbogen; bigen Runde mit 1 Kettmasche schließen.

In in dus de

rd

h esc tri n Wasse ne

Bei Nebel kühlt der Wasserdampf ab. Schmutzteilchen bilden Eiskristalle und sinken als „Schnee“ zu Boden. Industrieschnee ist feiner als Naturschnee und glitzert stärker.

... ist eine russische Märchengestalt – die Enkelin von Väterchen Frost.

* Schneeflöckchen Die SCHNEEFLOCKENBLUME ist eine Pflanzenart innerhalb der Familie der Braunwurzgewächse. Rekord-Schnee 2006 in München:

30 STUNDEN DAUERSCHNEEFALL Öffentlicher Nahverkehr eingestellt. 83 Ampeln ausgefallen. 2 Hallen eingestürzt. Münchner Zoo geschlossen wegen unter der Schneelast umstürzender Bäume.


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Schneeflocken erreichen in der Regel weniger als 1 cm Durchmesser.

Maßstab 1:10

Anders am 28.Januar 1887 in Fort Keough in Montana, USA: Dort wurde die bislang größte Schneeflocke mit einem Durchmesser von 38 cm entdeckt.

Eiskalt erwischt: Am Münchner Flughafen wurden am 21. Januar 1942 50 40 30 20 10

Überführt: Anhand ihrer FUSSABDRÜCKE IM SCHNEE konnte die Polizei im Januar 2017 neun betrunkene Jugendliche überführen. Sie hatten 14 parkende Autos demoliert.

Bauernregel: Der

0 10 20 30

- 30,5

40 50

Grad gemessen.

muss krachen, soll der Frühling lachen.

H2O x 100 000 000 000 000 000 000

1988 entdeckte die amerikanische Wissenschaftlerin Nancy Knight ein augenscheinlich identisches Schneeflockenpaar. Dennoch: Ein Eiskristall besteht aus 100 Trillionen Wassermolekülen. Ein Zwillingspaar zu finden, ist auf atomarer Ebene eher unwahrscheinlich.


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ZURÜCK AUF START WAS WÜRDEST DU ANDERS MACHEN?

DAVID ... nicht noch einmal einen Teil meiner Plattensammlung verkaufen.

REGINE Ich hätte früher angefangen „Je ne regret rien“ zu singen.

LEA Ich würde nicht schon als Elfjährige mit dem Gitarrespielen aufhören.

CARLA Im Sandkasten weit ausholen und mehr Kids die Schaufel über’n Kopf ziehen, wenn sie‘s verdient haben.

MEL Ich hätte David Hasselhoff um den Hals fallen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.

NURIN Crushes die Liebe gestehen & Ausbildung statt Uni.

MIRJAM Mehr bunt, weniger grau. Mehr Tacheles, weniger Ja & Amen. Mehr Gebläse & Bass.

TIM Nichts ANDERS, nur vieles FRÜHER.

PETRA Ich würde wohl den musisch-bildnerischen Zweig der Hochschule wählen anstelle von Maschinenbau ...

ANNIKA Ich wäre am 22. August 2006 zu Hause geblieben.

HENRIKE Glauben, dass Helgoland eine Reise wert ist.

LARA Früher beim fabulösen curt anfangen – what else!?

CHRISTOPH Fertigstudieren und mehr tschechisches Bier trinken ...

CLAUDIA Ich würde von Anfang an weniger hudeln und dafür mehr sandeln.

STEPHIE Ich würde als Faultier geboren werden. Die haben verstanden, wie man ein gutes Leben führt!

LINDA Wenn ich ein neues Leben beginnen könnte, dann unbedingt mit 6 Monaten Urlaub. 2 x im Jahr.

JULIA M. Ich hätte mir als erste CD nicht „Blaue Augen“ von Blümchen gekauft. Aber die erste Vinyl war immerhin Pink Floyd.

JULIA S. Ich würde meinen Kaktus zurück in die Wüste bringen.


curt / Impressum 97

CvD MÜNCHEN & ART DIREKTION

MITARBEITER DIESER AUSGABE:

Melanie Castillo. ► mel@curt.de

Mirjam Karasek, Melanie Castillo, Tim Brügmann, Petra Kirzenberger, Lara Freiburger, David Eisert, Nurin Khalil, Christoph Brandt,

SCHLUSSREDAKTION & LEKTORAT

Christian Vogel, Linda Maier, Julia Fell, Simone Reitmeier, Carla Schweizer, Julia Maehner, Stephie Scherr, Christina Risinger, Regine Hader, Julia Schöpp, Lea Hermann, Annika Wagner, Heike Fröhlich, Henrike Hegner, Ronit Wolf, Lorraine Hellwig, Claudia

Mirjam Karasek. ► mirjam@curt.de

Pichler, Leni Burger, Tobias Hammerbacher, Sven Oppel und Dauerbrenner Thomas Karpati.

LITHO & FINAL COUNTDOWN

Du willst auch bei curt mitmachen? Meld dich gerne bei uns! ► muenchen@curt.de

Petra Kirzenberger. ► petra@curt.de

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DIE NÄCHSTE AUSGABE # 89 ERSCHEINT IM MÄRZ 2018.

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98 curt / Hintenraus


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