JazzZeitung 2012-01

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Auflage: 15.000

37. Jahrgang Nr. 1-12 Februar-März 2012 B 07567, PVSt/DPAG Entgelt bezahlt ISSN 1618-9140

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Töne, SchweiSS und Ohrenkitzel

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Warum der Jazz wieder Kritiker braucht, die über Augenblicke schreiben

4<BUEFRU=cadiah>:V;Y 4<BUEFRU=cadiah>:l;p 4<BUEFRU=cadiah>:l;v Cecil Taylor im Neuburger Birdland im November 2011. Foto: Ssirus W. Pakzad

inhalt berichte Dt. Jazzfestival Frankfurt 2011 10 Jahre Unerhört Festival Zürich

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portrait Die Sängerin Lizzy Loeb

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aus/fortbildung Der große Kalender 2012

7–8

cds, bücher SWR Jazzhaus – neues Label

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education Hans Lüdemanns USA-Erfahrungen

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Etwas Besseres kann dem Jazz eigentlich nicht passieren: Er löst wieder Debatten aus! In der deutschen Tagespresse! Lange Spalten auf der ersten Feuilleton-Seite der „Süddeutschen“ – und das in kurzem Abstand gleich zweimal, zumindest bis zur Drucklegung dieser „Jazzzeitung“! Klasse!

Tony Oxley. Ganz aus intimer Nähe konnte man da

Brennglas des Gestaltungswillens. Auch hier: Unbe-

Musik erleben, die mehr als manche andere den

dingtheit. Musiker, die ganz und gar aufgehen in der

Augenblick in den Mittelpunkt rückt. Die den Ent-

Substanz ihres Spiels. Die ästhetisch ganz am Puls

stehungsprozess immer noch genau so radikal zum

der Zeit sind – und gleichzeitig zeigen, dass man

Ereignis macht wie zu den Aufbruchszeiten in den

diesem Puls nicht hinterher hecheln muss. Denn

Sechzigern. Das Spannende dabei: Diese Musik wirkt

Töne wie ihre werden auch dann noch vehement

nicht alt.

und aktuell wirken, wenn der Puls längst wieder ein

Und das ist so, weil sie so substanzorientiert ist. So

anderer ist. Sie haben die Intensität des einzigar-

as ist nützlich und schön. Und in einem Fall

ernsthaft und abseits von Moden. Ich konnte Cecil

tigen Moments.

auch sehr lesenswert: „Der reine Moment“

Taylor schon am Nachmittag zuhören, als er sich ein-

Solche Konzerte ragen heraus. Sie haken sich weit

hieß der Text. Das Problem nur: Kulturjourna-

spielte. Zwei Stunden lang saß dieser bald 83-Jäh-

mehr in der Erinnerung fest als etwa die perlende

listen schreiben zwar gern breite Reflexionen, aber

rige im weiten über der Hose hängenden Hemd

Glitzer-Beliebigkeit des zurzeit in viele Himmel ge-

über eben diese „Momente“ nur noch selten. Kon-

und in riesigen weißen Turnschuhen am Flügel und

hobenen Polen Leszek Mozdzer und die fast schen-

zertkritiken sind Mangelware geworden, vor allem

ging Akkorde, chromatische Eruptionen und schnel-

kelklatschende pianistische Humor-Orgie des virtu-

bei sogenannten Minderheiten-Themen. Immer noch

le Unisoni durch. Akribisch wirkte er, als er den Ort

osen Finnen Iiro Rantala beim selben Festival. Im

geistert in den Redaktions-Konferenzen das Unwort

erspürte und sich auf den Moment des Auftritts fo-

direkten Vergleich mit einem wie Wollny wird der

vom „Rezensionen-Friedhof“ herum – über Kultursei-

kussierte. Im Konzert dann: ein großer Spannungs-

Unterschied klar zwischen Musikern, die den schnel-

ten mit zu vielen Kritiken. Doch das Wort ist inzwi-

bogen, der sich aus ganz leisen, tastenden Passagen

len Effekt suchen – und solchen, die Substanz im

schen überflüssig geworden.

immer wieder zu Höhepunkten steigerte – mit einem

Sinn haben.

Man schreibt lieber vor den Konzerten bunte Por-

Spannungsaufbau von bezwingender Folgerichtig-

trätchen, druckt lange Interviews ab oder kulturthe-

keit. Wirbelnde Tonfolgen, Cluster, Bassfiguren wie

oretische Aufsätze. Doch die Kunst, musikalische

die des „Gnoms“ in „Bilder einer Ausstellung“ – und

Magie des Augenblicks

Augenblicke in sprachliche Bilder zu übersetzen und

dazu die rumorende Anarcho-Percussion von Tony

Diese Substanz konkretisiert sich im Jazz in jedem

damit auch gedanklich fassbar zu machen, kommt

Oxleys Trash-Drumset. Klänge und Emotionen von

Live-Augenblick neu. Was man bei Konzerten er-

in der marktschreierischen Presselandschaft im-

packender Vielfalt und Direktheit. Und eben nicht

lebt, ist unersetzbar. Radio-Mitschnitte und Film-

mer kürzer. Was schon mal in einem Festivalbericht

bloß für alte Free-Jazz-Aficionados interessant. Zwei

Aufzeichnungen geben eine Ahnung davon wieder.

gipfelt, der mehr aus Interview-Exegesen als aus

Kollegen im Alter von Mitte und Ende zwanzig waren

Und doch: Die Magie des Augenblicks, diese Einheit

Konzerteindrücken besteht und darüber hinaus das

genauso mitgerissen von der Dichte und Unmittel-

aus Musik und Ort, aus dem Kellergeruch der Wände

Hauptthema des betreffenden Festivals nicht einmal

barkeit des Erlebten wie ich.

und den Tönen, die an ihnen widerhallen – das ist

D

ein unwiederholbares Gesamtkunstwerk. Gerade im

erwähnt, weil der Berichterstatter von fünf Festival-

jazz-geschichte Eddie „Lockjaw“ Davis (Teil 2)

Paul Motian

Jazz. Von solchen Momenten lebt er wie keine an-

Der andere Moment: Anfang November in Berlin.

publik gemacht wird, dass es diese Momente gibt.

Momente

Die große Bühne im Haus der Festspiele. Dort oben:

Es stimmt: Jazz braucht ständig neue Töne, neue

Pianist Michael Wollny, Bassistin Eva Kruse und

Kriterien, ein stets erneuertes Umfeld, auf das er

„Momente.“ Ich greife zwei heraus. Der eine: Mitte

Schlagzeuger Eric Schaefer. In einem Programm von

reagiert. Doch genauso dringend braucht er Leute,

November mitten in Bayern – im Jazzclub Birdland

rund fünfzig Minuten spielten sie Musik von einer

die ihre Sprachkraft einsetzen, um zu schildern, was

in Neuburg an der Donau. Ein musikalischer Riese

geradezu magnetischen Kraft. Hämmernde Tonfol-

für große Momente man in ihr erleben kann. Töne,

in einem kleinen Club. Der Pianist Cecil Taylor, Free-

gen wie aus Heavy-Metal-Stücken, ein musikalischer

Schweiß und Ohrenkitzel – her damit! Und rein in

Jazz-Ikone und ausdrucksgieriger Maniac unzähm-

Strom aus einem Zusammenspiel, das dichter und

die Blätter!

barer Töne, im Duo mit seinem Langzeit-Begleiter

kompakter kaum denkbar ist, grenzenlose Töne im

lich in einer großen deutschen Tageszeitung.

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farewell Abschied von Frank Foster

Magnetische Kraft

tagen offenbar nur zwei besucht hat. Auch dies kürz-

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dere Musik. Und dies umso mehr, je stärker wieder

Roland Spiegel


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